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Alles fällt auseinander      Roszak-Einleitung-1978

Jeder von uns unausweichlich / Jeder von uns grenzenlos ... 
Jeder von uns hier so göttlich  / Wie nur irgendeiner hier ist.

Walt Whitman

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"Alles fällt auseinander / die Mitte hält nicht mehr / Blanke Anarchie bricht aus über die Welt." So ruft William Butler Yeats in einer berühmten apokalyptischen Klage des 20. Jahrhunderts. Doch manchmal zerfallen Gesell­schaften auf eine Weise, die lebensbejahende Kräfte freisetzt. Und was vom Standpunkt des etablierten kulturellen Zentrums aus wie Anarchie erscheinen mag, könnte die schwere Geburt einer neuen, menschen­gerechteren Gesellschafts­ordnung sein.

Es gibt schöpferische und destruktive Formen des Zerfalls. Dieses Buch befaßt sich mit dem Punkt, an dem die menschliche Psyche und die Ökologie der Natur zusammen­treffen. Ich möchte behaupten, daß die ökologische Not der Erde als radikale Wandlung der menschlichen Identität in unserem Leben spürbar wird. Die Bedürfnisse des Planeten und die Bedürfnisse der Person sind eins geworden, und vereint haben sie begonnen, auf die zentralen Institutionen unserer Gesellschaft einzuwirken — mit einer Kraft, die zutiefst subversiv ist und dennoch das Versprechen der kulturellen Erneuerung in sich trägt.

Auf diesem Wege der Argumentation werde ich eine Untersuchung des gegenwärtigen sozialen Dissens vertiefen, die ich Mitte der sechziger Jahre mit <The Making of a Counter Culture> (deutsch: Gegenkultur) begonnen habe. Mit dieser Arbeit fand ich mich mit jenen einig, die im Aufbrechen der Widersprüche in der amerikanischen Gesellschaft eine alles in allem willkommene Befreiung moralischer Leidenschaft und ideenreicher Vitalität sahen.

Was da auseinanderfiel oder zumindest heftig erschüttert wurde, war, so schien es, ein bedrohliches, weltweites technokratisches System, das die herrschenden Eliten der fortgeschrittenen Industrie­gesellschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bienen­fleißig zusammen­gezimmert hatten. Die erwachenden Kräfte des Widerspruchs trieben auf der Suche nach den Wurzeln unserer gesellschaftlichen Mißstände ihre Sonden weiter als bis zu den direkt greifbaren Fragen nach Krieg und sozialer Unge­rechtigkeit; sie schienen viele unserer ängstlich gehüteten psychologischen Bindungen und unterschwelligen kulturellen Dogmen einer kritischen Überprüfung unterziehen zu wollen. 

Wohin man auch blickte, überall kokettierte die Pop-Kunst und Pop-Musik der Jugend mit Ideen wie Bewußtseins­erweiterung, heilsamem Wahnsinn, alternativen Wirklichkeiten. Bizarre und gefährliche Kräfte wurden da angerufen, keine Frage; aber es gab Grund genug dafür, daß der soziale Dissens auf solche Extreme zusteuerte.

* Sternchen im Text verweisen auf eine Anmerkung      wikipedia  William_Butler_Yeats (1865-1939)     wikipedia  Walt_Whitman (1819-1892)


In einer technokratischen Gesellschaft - so schrieb ich damals - ruht die politische Autorität auf einer Verklärung des wissen­schaftlichen Expertentums; es garantiert angeblich die Fähigkeit des Staates und der privaten Unternehmen, eine hoch­komplizierte industrielle Wirtschaft in Gang zu halten. Wenn die Leute sich diesem Götzendienst fügsam anschließen sollen, muß man sie dazu bringen, sich ganz und gar dem Weltbild der modernen Wissenschaft und der industriellen Disziplin zu verschreiben, die den Mythos des Fortschritts tragen. Weil dies aber eine schwere Verstümmelung der menschlichen Natur notwendig macht (es ist der Akt der Entfremdung), bezeichnete ich es als ernsten inneren Widerspruch des urban-industriellen Systems.

Es handelt sich jedoch nicht um einen Widerspruch, der sich ohne weiteres in irgendeine der herkömmlichen Ideologien des Protests übersetzen ließe. Denn wer sich dieser Verstümmelung widersetzt, kann es nicht dabei bewenden lassen, die Integrität der Politik seiner Gesellschaft anzuzweifeln; er muß die gängigen Normen geistiger Gesundheit, die etablierten Kriterien für Wissen, ja unseren kollektiven Seelenzustand in Frage stellen. Er muß die ganze menschliche Persönlichkeit, Körper, Seele und Geist, in die Arena des Widerspruchs tragen — ein entscheidendes Gegengewicht für den geschrumpften Erfahrungsraum, den das urban-industrielle System unserem Bewußtsein gelassen hat. Kurz gesagt, er muß eine Politik des Bewußtseins schaffen.

Seit dieses Buch 1969 erschien, ist kein Jahr vergangen, in dem nicht bei öffentlichen Vorträgen oder in privaten Gesprächen immer wieder die Frage auftauchte: "Was ist denn aus der Gegenkultur geworden?" Eine Wochenzeitschrift stellte mir diese Frage schon drei Monate nach der Veröffentlichung und rief auch in den nächsten fünf Jahren regelmäßig immer dann an, wenn in den Hochschulen mal Windstille herrschte — als führte ich die Fieberkurve des spät-adoleszenten Protests in Amerika.

Die Fragesteller hatten meist nichts weiter zur Hand als den Buchtitel und was sie vom Hörensagen wußten; so nahmen sie an, ich hätte eine Reportage über das propagandistische Getümmel, die wechselnden Launen und Moden geschrieben, von denen die Jugend in den späten sechziger Jahren ganz in Anspruch genommen war. Tatsächlich hatte Gegenkultur aber nach dem ersten Kapitel kaum noch etwas mit der Jugend, mit Hochschulangelegenheiten oder auch nur mit den drängenden politischen Fragen jener Zeit zu tun. Es war in erster Linie eine Studie über die weiterreichenden kulturellen Wandlungen, die sich nur deswegen auf die Hochschulen konzentrierten, weil diese zum Resonanzboden für ein paar höchst ketzerische Ideen über Natur, Erkenntnis und menschliche Bedürfnisse geworden waren.

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Geschäftige Journalisten und vorschnelle Phrasen­drescher haben den Begriff der Gegenkultur zurecht­gebogen, wie sie ihn gerade brauchten (und mir standen dabei oft genug die Haare zu Berge), während es mir darauf angekommen war, sie als Phase in der Geschichte des Bewußtseins zu beschreiben, die sich in zwei Schritten entfaltet: Zuerst der fast instinktive Impuls, sich von technokratischer Politik und von jener Sorte wissenschaftlichen Bewußtseins loszusagen, von der die Technokratie die Legitimation ihrer Macht ableitet. Dann die verzweifelte und zugleich freudige Suche nach einem neuen Realitäts­prinzip, das die verblassende Autorität der Wissenschaft und der industriellen Zwangsläufigkeit ersetzen könnte.

"Was ist denn aus der Gegenkultur geworden?" — Wenn wir damit die einfache und spontane Gefolg­schafts­verweigerung meinen, dann ist die Gegenkultur in den vergangenen zehn Jahren beträchtlich weniger sichtbar geworden, weil sie in das soziale Umfeld eingesickert ist. Als Grundstimmung von Abscheu und Unzufriedenheit hat sie sich weit über die Hochschulen hinaus verbreitet und die amerikanische Gesell­schaft, wenn nicht die gesamte westliche Gesellschaft, infiltriert — die darauf immer noch überwiegend mit Bestürzung und Verbitterung reagiert. Diese Infiltrationswirkung liegt der verbreiteten Skepsis zugrunde, die Meinungsmacher und Öffentlichkeit jetzt gegenüber den Institutionen, der Führung, den Prämissen und Versprechungen ihrer Gesellschaft offen aussprechen.

Die vernichtenden Anklagen, die junge Demonstranten einst auf den Straßen ausschreien mußten, damit sie gehört wurden, bilden jetzt schon ganz selbst­verständlich den Unterton der Tagesnachrichten, die oft von lähmendem Negativimus und Mißtrauen beherrscht sind. Es ist, als seien die Außenseiter vor zehn Jahren ein Frühwarnsystem für etwas gewesen, was Vietnam und Watergate, die von höchster Stelle sanktionierten Verbrechen von FBI und CIA, die Betrugs- und Korruptionsskandale der Behörden, die Energiekrise, die unheilbare Inflation und Arbeitslosigkeit, die chronische ökonomische Zerrüttung, der Niedergang unserer Städte und die unaufhaltsame Entartung der Umwelt nun endlich jedem klargemacht haben.

Nämlich: daß man der Machtstruktur nicht trauen kann, daß die Experten Schufte und Roßtäuscher sind, daß grenzenloser materieller Fortschritt und universeller Wohlstand leere Versprechungen sind, daß die Wirtschaft eine unmenschliche Maschinerie ist, die von Gaunern und Pfuschern gelenkt wird, daß das System außer Kontrolle gerät. Zynismus, vor allem gegenüber denen, die behördliche Macht und öffentliche Autorität besitzen, war einer der harten und zornigen Lernerfolge des Protests; inzwischen hat dieser Zynismus die allgemeine Stimmung so schnell durchsetzt, daß es vielen angesichts seiner Allgegenwart schwerfällt, in dieser Tatsache einen — wenn auch traurigen — Sieg für den sozialen Dissens der sechziger Jahre zu erkennen.

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Einige Beobachter haben jedoch erkannt und verfolgt, wie die Hochschulen dazu beigetragen haben, den neuen Geist der Skepsis und des Mißtrauens zu verbreiten. Daniel Yankelovich* und seine Forschungs­gruppe, eines der verläßlicheren Meinungsforschungsinstitute, waren am Ende der sechziger Jahre davon überzeugt, daß es "Jahrzehnte und vielleicht Generationen" dauern würde, bis die gegenkulturellen Werte der "College-Vorhut" in die breite Masse eindringen könnten — wenn überhaupt. Aber schon Mitte der siebziger Jahre mußten Yankelovich und seine Mitarbeiter ihr Urteil revidieren und zugeben, daß "wir von der Schnelligkeit, mit der dieser Prozeß jetzt abläuft, von seiner Vielschichtigkeit und von den Anpassungs­problemen, vor die er Institutionen und Gesellschaft stellt, überrascht sind."

Alle ihre Indikatoren zeigten an, daß die unorthodoxen Wertvorstellungen, "die früher auf eine Minderheit der College-Jugend beschränkt waren" — Wertvorstellungen, die einen abrupten Rückgang von Patriotismus, politischem Vertrauen und Karrierebewußtsein signalisierten —, "erstaunlich schnell" auf die nichtakademische Jugend "übergesprungen" waren und "jetzt alle Generationen durchsetzt" haben. — "Das Erbe der sechziger Jahre", bemerkt Yankelovich, "besteht in den neuen sozialen Wertvorstellungen, die in dieser schicksalhaften Zeit in den Hochschulen gewachsen und inzwischen noch stärker geworden sind."

 en.wikipedia  Daniel_Yankelovich  1924-2017

Doch Zynismus und Loyalitätsverweigerung sind nur eine Seite der Gegenkultur — der einleitende Akt zorniger und verzweifelter Ablehnung. Hinter dem "Nein" ist ein "Ja" zum Vorschein gekommen, die Bejahung einer Vision vom Leben, Teil einer Unterströmung des Denkens und der Kunst, die sich in der westlichen Gesellschaft zumindest bis auf die Romantik, wenn nicht auf viel ältere Traditionen zurückverfolgen läßt. 

Deshalb haben Gegenkultur und seine Fortsetzung, <Where the Wasteland Ends>, so viel mit religiösen Traditionen und der Psychologie der Wissenschaft, mit rhapsodischer Dichtung und Naturmystik zu tun. Mein Interesse und meine Überzeugung waren immer auf der Seite jener Kräfte des Dissens, die William Blakes Streitwagen bestiegen, um seinen <geistigen Kampf> gegen die totale Säkularisierung und Verwissen­schaftlichung der modernen Kultur mitzuführen. Denn sie kämpfen dafür, unsere Vorstellung vom Personencharakter des Menschen weiter auszudehnen, als es die industrielle Notwendigkeit dulden und der wissenschaftliche Intellekt begreifen kann.

Wenn wir die Möglichkeit einräumen, daß die gegenkulturelle Lossagung in die Suche nach einem neuen Natur- und Menschen­bild als Orientierung für unser Leben einmündet, dann erkennen wir ihren schöpfer­ischen Nachhall in den vielen Religionen des "Neuen Zeitalters", in den Therapien für persönliches Wachstum und Verwirklichung des menschlichen Potentials, und in den verschiedenen "Bewußtseins­bewegungen", die sich in den letzten zehn Jahren immer mehr ausgebreitet haben — aber auch in der Suche nach einer Wirtschaftsform mit menschlichem Maß, die unter dem Motto small is beautiful steht und uns vielleicht noch zu einer ökologisch intelligenten, wenn nicht gar ehrfurchtsvollen Beziehung zu unserer natürlichen Umwelt führen wird. 

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Auch diese positiven Werte haben sich, von einer Minderheit an den Hochschulen ausgehend, wie Flugsamen über die ganze Gesellschaft verbreitet. Im Zusammenhang mit der "Suche nach Identität und Authentie auf der persönlichen Ebene" bemerkt Hans Dreitzel dazu:     wikipedia  Hans_Peter_Dreitzel *1935 in Berlin, Soziologe

solche Werte werden allmählich für einen viel größeren Teil der Bevölkerung zu Wahlmöglichkeiten für die Organisation ihres privaten, alltäglichen Lebens ... Die Jugendbewegung der sechziger Jahre hat ein allgemeines Suchen nach einer neuen Integration der moralischen, religiösen und ästhetischen Dimension des Lebens eingeleitet, welche die psychologische Glaubwürdigkeit des industriellen Systems bedroht. Und es steht keineswegs fest, daß die politische Struktur auf lange Sicht in der Lage sein wird, sich die neuen Werte durch Abwertung zu Kulturprodukten eines inflationären Marktes einzuverleiben.* 

Ich nenne dieses beharrliche Suchen nach persönlichem Wachstum und spiritueller Erfüllung <positiv> — aber mit Bedacht und im vollen Bewußtsein des hirnlosen und großmäuligen Unsinns, den man auf diesem Feld des religiösen und therapeutischen Experimentierens ebenso findet wie in diesem ach so unkonventionell schicken Lebensstil, der sich als <einfaches Leben> ausgeben möchte. Noch viel mehr beunruhigt mich jedoch die pauschale Feindseligkeit, die selbst den besten dieser Bemühungen aus akademischen und intellektuellen Kreisen entgegenschlägt, geäußert von (oft skandalös falsch informierten) Kritikern, die finster entschlossen scheinen, alles Neue sofort als Dummheit oder Betrug zu entlarven.

Ich werde mich mit dieser panischen Reaktion aus der intellektuellen Hauptströmung später noch befassen. Hier will ich nur die Faustregel erwähnen, die ich in einer kürzlich abgeschlossenen Studie (Unfinished Animal)* über die neuen Religionen, die humanistischen und transpersonalen Therapien und die Bewußtseins­forschung im allgemeinen angewendet habe, denn sie verdeutlicht den Geist, der mich immer noch leitet.

Ich betonte, daß man zwischen der Echtheit der von den Menschen geäußerten Bedürfnisse und den untauglichen Mitteln unterscheiden müsse, die sie geboten bekommen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Mit den Sünden der Scharlatane die Verhöhnung spiritueller und moralischer Bedürfnisse der Menschen zu rechtfertigen, ist nicht besser, als die Hungernden dafür zu verachten, daß sie die verdorbenen Nahrungsmittel essen, die irgendein Lump ihnen verkauft. 

Das ist eine grausame und unsinnige Argumentation, die, wie ich argwöhne, nur jemand vertreten kann, der in Wahrheit darauf aus ist, unsere persönlichen und transzendenten Sehnsüchte noch mehr unter Kontrolle zu bringen. Sonst wäre es doch wohl die Pflicht der Kritiker, nicht einfach nur die Übel anzuprangern, sondern etwas Besseres und Vernünftigeres an ihrer Stelle anzubieten.

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Was ich an dieser Erkundung psycho-spirituellen Neulandes für positiv halte, ist der Protest gegen die Unterentwicklung des Menschen, die schon so lange, und trotz aller großen Töne über Fortschritt und kulturelle Überlegenheit, das Kennzeichen der urban-industriellen Gesellschaft ist. Das Verlangen nach Entwicklung, nach Authentie, nach Breite der Erfahrung, das in diesem Protest steckt, wird von den gleichen kulturellen Dogmen durchkreuzt, die uns alle zu diesem reduzierten und hektisch umgetriebenen Wesen namens <moderner Mensch> geformt haben. 

Auf dieses Sehnen werde ich mich in diesem Buch konzentrieren und zu zeigen versuchen, daß die gegenkulturelle Sensibilität einen breiteren und durchdringenderen Einfluß auf die Geschichte unserer Zeit hat, als es eine einzelne Gruppe, eine Bewegung oder eine politische Episode je haben kann. Ich glaube, daß diese Sensibilität zunehmend die tägliche Erfahrung der Menschen zu Hause, in der Schule, bei der Arbeit und bei ihrem Umgang mit amtlicher Autorität und Behördenmacht färbt. Das geschieht aber nicht so völlig bewußt und explizit, wie man etwa in einem Seminar an der Universität, in einer sozialen Bewegung oder in einer therapeutischen Sitzung etwas über 'Entfremdung in der modernen Welt' erfährt; vielmehr ist es eine tief beunruhigende Begegnung mit falscher Identität, das Gefühl, in einer sozialen Schablone eingeklemmt zu sein, die sich einfach nicht der eigenen Gestalt anpassen will.

Das ist — vor allen politischen Formulierungen — die Grunderfahrung, an welcher sich die Studentenrevolte der sechziger Jahre entzündete; allerdings wurde sie oft sehr schnell (wie von Studenten und Professoren nicht anders zu erwarten) zu gewichtigen sozialen Analysen verarbeitet und der Welt in Form von Manifesten übergeben. 

Die Wurzel des Ganzen war jedoch, daß eine Generation von merkwürdig sensiblen jungen Leuten (oder verzogenen Kindern, wie andere lieber sagen) sich in Karrieren und soziale Rollen, in Geschmacks- und Wertvorstellungen und ein Realitätsempfinden hineinmanövriert sah, welche von den Steuerungs­mächten einer hochindustriellen Wirtschaft für sie bereitgestellt waren. Sie entdeckten, daß sie systematisch zurechtgebogen und angepaßt wurden — benutzt von gesichtslosen Kräften, gefühllosen Institutionen, die nicht wußten und gar nicht wissen wollten, wer sie waren. 

Etwas hatte man ihnen gestohlen — was? Ihre Seele. Ihr Selbst. Ihr Recht zu tun, was ihnen paßte. Und dazu sagten sie trotz der in Aussicht gestellten Belohnung für Wohlverhalten: "Nein!" — laut und öffentlich, und genau so vehement wie die schwarze Jugend der amerikanischen Gettos sich gegen die Rassenidentität aufbäumte, welche ihr von der weißen Gesellschaft aufoktroyiert worden war.

Der Zwang, dem diese beiden rebellischen Gruppen ausgesetzt waren, unterschied sich stark im Stil und in der Direktheit — stark genug, um ihnen zwei verschiedene politische Horizonte zuzuweisen.

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Die Schwarzen und andere farbige Minderheiten sahen sich mit altbekannten, offenkundig brutalen Formen der sozialen Herrschaft und der Polizeigewalt konfrontiert; die weiße Hochschuljugend der Mittelklasse stand etwas Neuem gegenüber, nämlich äußerst raffinierten Formen technokratischer Manipulation, die unterschwellige Dispositionen geschickt ausnutzte, um sich ihre Objekte gefügig zu machen: durch gut kaschierte Bestechungen und Drohungen, durch Vorspiegelung von Autorität und Sachverstand, durch ungreifbaren psychologischen Druck.

Aber die beiden Gruppen hatten dies miteinander gemein: Hier waren Leute angetreten, die einen Strich gezogen hatten und endlich auf ihrem Recht bestanden, ihre Identität selbst zu bestimmen. Sie verlangten, daß die große geschäftige Welt anhielt und wartete, bis sie mit dieser Bestimmung fertig seien, und sie erwarteten ernsthaft, daß die Gesellschaft ihnen dann für all ihre unverfrorene Eckigkeit großzügig Platz einräumen würde. Sie würden leben, lieben, sich kleiden, sprechen, arbeiten (oder nicht), wie es ihnen paßte. Sie würden ihre eigene Musik machen, zu ihren eigenen Rhythmen tanzen. Sie würden Zigeuner, Bettler, Wilde, Zauberheiler, Rebellen, Clowns, Freaks werden, und zwar öffentlich in den Parks und auf der Straße, und niemanden um Erlaubnis fragen oder um Entschuldigung bitten.

Gewiß, einiges von dieser rebellischen Selbstdarstellung verkam zu culte-de-moi-Boheme, und manche waren naiv genug, ihre Trotzgebärden von den Medien ausbeuten und entwerten zu lassen. Aber sind solche Fehlstarts nicht zu erwarten, wenn die Leidenschaft für persönliche Echtheit etwas Umfassenderes wird als eine nur Eingeweihten verständliche existentielle Not großer Künstler und Philosophen, wenn sie aus dem akademischen Elfenbeinturm befreit und als öffentliche Angelegenheit auf die Straße gebracht wird? 

Laß 'gewöhnliche' Leute Wind von der Bedeutung der Selbsterkenntnis und der persönlichen Autonomie bekommen, und sie werden nur allzu schnell annehmen, diese Idee habe etwas damit zu tun, sich selbst überaus ernst zu nehmen, über den eigenen Vorlieben und Beweggründen zu brüten, seine Eigenheiten lautstark durchzusetzen — kurz, das zu werden, was andere dann als 'egozentrisch' und 'narzißtisch' anprangern. Oder bring ihnen bei, daß es schreiende Ungerechtigkeit in ihrer Gesellschaft gibt, und sie werden daraus den Schluß ziehen (insbesondere wenn sie jung und leicht zu beeindrucken sind), das habe etwas mit Protestieren oder Rabatzmachen zu tun — was sie dann wieder dem Vorwurf der Rüpelhaftigkeit aussetzt. Derartige Reaktionen waren nicht verwunderlich bei einer Generation, die der Krieg desillusioniert hatte und deren Lehrer mit Selbsterkenntnis ein Oberseminar über cartesianische Erkenntnistheorie meinten und unter sozialer Gerechtigkeit eine wohlrecherchierte Seminararbeit über die Bürgerrechtsbewegung verstanden.

Diese frühen öffentlichen Gebärden der Selbstbestimmung hatten also eine Impertinenz, eine Vulgarität und ein jugendliches Ungestüm, die fast überall Anstoß erregten. Dennoch war genügend Aufrichtigkeit und Fantasie dahinter — und vor allem hatte die Sache genügend moralische Substanz —, um eine historische Wirkung zu erzielen.

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Ein Riß hatte sich in der großen Mauer der Technokratie aufgetan, und ein Bild von persönlicher Autonomie entschlüpfte in die umliegende Gesellschaft, das sehr schnell zu einer Schärfung des Bewußtseins von den uns aufgezwungenen falschen Identitäten führte. Und dann türmten sich die Fragen — Fragen, auf die noch keine soziale Führung Antwort gefunden hat, welche den hartnäckigen öffentlichen Zweifel ausräumen könnten: "Wer hat das Recht zu bestimmen, was schwarz oder weiß, männlich oder weiblich, alt oder jung, normal oder verrückt ist? Kraft welcher Autorität werden uns diese Rollen zugeschrieben? Wer hat den Nutzen davon, wenn wir dieses vorgefertigte Drehbuch abspielen? Wann wird unser Leben uns gehören, damit wir es einrichten und leben können, wie wir es wollen?"

 

Und damit beginnt das Drama der gegenwärtigen Lossagung: mit dieser schmerzhaft deutlichen Erfahrung, eine Person in einer Welt zu sein, die unseren Personencharakter verachtet, einer Welt, deren Strategien darauf abzielen, alles Personale zu zermahlen, um dann die Bruchstücke zu gehorsamem, tüchtigem und obendrein fröhlichem Personal zusammenzusetzen. Es ist die Erfahrung, etwas gezeigt zu bekommen, das angeblich unser Bild in einem Spiegel ist, den die Gesellschaft uns vorhält — und dann zu entdecken, daß das gar kein Spiegel ist, sondern ein grobes, massenhaft reproduziertes Foto mit unserem Namen darunter ... oder vielleicht unserer Nummer. Wir weichen zurück und sagen: "Nein! Das bin ich nicht." Mit dieser Geste der Verweigerung, und sei es auch nur ein flüchtiger Moment des Zögerns, beginnt die Welt unsere Energie und Ergebenheit zu verlieren, die sie braucht, um dieser urban-industrielle Koloß zu bleiben, den wir jetzt bewohnen. Wir leben in einer Zeit, in der die sehr private Erfahrung, daß wir eine persönliche Identität zu entdecken und eine persönliche Bestimmung zu erfüllen haben, eine subversive politische Kraft erster Ordnung geworden ist.

So fangen die Dinge an auseinanderzufallen. Aber die 'Anarchie', die darauf zu folgen droht, könnte eine bemerkenswerte kulturelle Möglichkeit bieten: die Möglichkeit einer nachindustriellen Gesellschaft, deren höchster sozialer Wert die Selbst­entdeckung und deren wichtigster Besitz die innere Fülle der autonomen Persönlichkeit ist. Welche Art von Welt müßten wir schaffen, um diesem Unternehmen Raum zu geben und diese Fülle entwickeln zu können? 

Es reicht wohl nicht aus zu sagen, daß sie kleiner, weniger industriell und städtisch, dezentraler und partizipativer sein müßte — wenn das alles auch vollkommen richtig sein mag. Die Verletzungen des Personalen, für die wir empfindlich geworden sind, reichen hinab bis zu den Fundamenten des sozialen Lebens — Familie, Schule, Arbeitsplatz — und begegnen uns in der Statistik als hochschnellende Scheidungsrate, wachsende Neigung zum Schuleschwänzen, 'Krankfeiern' und Fluktuation in den Betrieben.

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Dies alles fließt zu einer Krise der persönlichen Identität im Leben von Millionen gewöhnlicher und anonymer Menschen zusammen, die es nicht mehr ertragen, das zu sein, was gewöhnliche und anonyme Menschen immer gewesen sind: Kinder, die so werden, wie gute Kinder nach Ansicht ihrer Eltern und Lehrer nun mal sein sollen; Männer und Frauen, die zu den Ehemännern und Vätern, Ehefrauen und Müttern werden, auf die sie gesellschaftlich programmiert sind; Arbeiter, die an entfremdeten Formen der Arbeit festhalten, unter deren Last und Langeweile sie zusammenbrechen.

Es gibt einen Punkt, an dem das Bedürfnis nach Selbstentdeckung nicht nur die Institutionen der urban-industriellen Technokratie herausfordert, sondern die kollektive Autorität über individuelle Wahlfreiheit und Lebensführung — von jeder Gesellschaft eifersüchtig gehütet — überhaupt in Frage stellt. Wir werden bei dieser Untersuchung auch vor dem scheinbar unverzichtbaren Minimum an Konformität nicht haltmachen und selbst elterliche Verantwortung, Geschlechtsrollen, Sozialisation der Jugend, Arbeitsteilung und ökonomische Zwänge im neuen Licht der Rechte der Person prüfen.

 

Das sind die größeren Fragen, die wir im Rahmen einer Untersuchung im Auge behalten werden, die einem Suchen nach persönlicher Authentie gilt, das so 'volkstümlich' geworden ist, daß es schon weidlich für kommerzielle und manipulative Zwecke ausgeschlachtet wird. 

Zweifellos kann man eine unbegrenzte Zahl flüchtiger Modetrends dem Thema zuordnen, das ich hier entwickle: die endlose Reihe von Selbsterforschungs­handbüchern in den Regalen der Kaufhäuser, Selbstfindungs-Schnellkurse, Zeitungshoroskope, Persönlichkeitstests in Illustrierten, die Flut der Gebrauchsartikel <mit persönlicher Note>, um nur einige der populären Blüten zu nennen, die der personalistischen Saat entspringen. 

Und selbst die Begeisterung der Jugend für Punk-Rock, der unter Originalität nicht mehr versteht als alberne Frisuren und unsäglich schlechte Manieren, ist eine schwächliche Gebärde rebellischer Selbstdarstellung; ebenso die CB-Funk-Welle, die den Leuten Gelegenheit zu risikolosen Identitätsspielen in ihrem eigenen kleinen Ätherwellentheater gibt. All das enthält Anstößiges genug, an dem gehässige Kritiker ihren zynischen Schnabel wetzen können, und ich wäre der letzte, der herabmindern wollte, welchen Dienst sie leisten, indem sie uns helfen, die Ratten­fänger und Schwätzer zu identifizieren, die sich in der Szene tummeln.

Ich gehe auf diese Dinge jetzt nicht weiter ein, weil sie ohnehin leicht bloßzustellen sind und ich nicht noch mehr von der Tatsache ablenken will, daß selbst Symptome wie diese, eine Beziehung zu umfassenderen und folgenreicheren historischen Bewegungen haben. Bei der Untersuchung populärer Kultur ist der Wechsel der Gezeiten immer schwer von den Schaumkronen der Wellen zu unterscheiden. Ich gehe von der Überzeugung aus, daß das wachsende Ethos der Selbstentdeckung von der gleichen moralischen Kraft erfüllt ist, die wir in den hohen Idealen der Vergangenheit, wie den Menschenrechten, der Gleichheit aller Menschen, dem Fortschritt und der sozialen Gerechtigkeit, finden.

Das Geheimnis dieser Kraft liegt in der spontanen Überzeugung und dem Staunen, die in einem Menschen wach werden, dessen Leben in den Sog der Selbstentdeckung gerät. Das Unterfangen, sich eine ursprüngliche und unverfälschte Identität zu schaffen, hat etwas unwiderstehlich Faszinierendes. Selbst wenn wir erfahren, daß es auch eine anspruchsvolle spirituelle Arbeit ist, gibt es nichts auch nur annähernd so Faszinierendes. Und niemand mehr wird uns dieses Abenteuer ausreden können, wenn wir erst auf den Geschmack gekommen sind.

Aber die Sache erschöpft sich nicht in der Freude an der Entdeckung der eigenen Person. Eine zweite und schwerer zu durch­schauende Kraft gibt dem Ethos der Selbstentdeckung eine besondere Dringlichkeit. Ich werde behaupten, daß die sich ausbreitende personalistische Sensibilität eine globale Dimension hat, welche die Suche nach einer authentischen Identität mit dem Zustand der planetaren Umwelt verknüpft.

Der wissenschaftliche Status dieser Verbindung zwischen Mensch und Erde kann auf diesen Seiten nur spekulativ bleiben; aber ich bin einigermaßen sicher, daß noch in der nächsten Generation eine ausgereifte ökologische Theorie diese subtile Verflochtenheit erhellen und ihr genügend politische Kraft geben wird, um die überkommenen Ideologien der industriellen Gesellschaft zu verdrängen. Wir werden die evolutionäre Kontinuität, die Geist und Materie, das menschliche Bewußtsein und die Chemie des Lebens zueinander in Beziehung setzt, so zu begreifen lernen, daß diese Beziehung ihren ganzen Reichtum entfalten kann. Vielleicht finden selbst die harten Wissenschaften des Westens zu einem personalistischen Modell, das den Erkennenden und das Erkannte in einem vitalen Austauschprozeß vereinigt.

Bis dahin kann ich kaum mehr tun, als den ökologischen Kontext der kulturellen Transformation, die wir durchlaufen, zu umreißen. Mein Argument ist — so bündig ausgedrückt wie möglich —, daß die Bedürfnisse des Planeten die Bedürfnisse der Person sind. Und deshalb sind die Rechte der Person die Rechte des Planeten. Wenn Achtung vor der Unverletzlichkeit der Erde und der Verschiedenartigkeit ihrer Bewohner das Geheimnis des Friedens und des Überlebens ist, dann steht uns mit dem Abenteuer der Selbstentdeckung eine lustvolle Erfahrung von sehr praktischem Wert bevor.

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