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9. - Im Weltreich der Städte 

 

 

   Das Kainsmal  

219-256

Wir reden heute viel über die Probleme der Großstädte: Finanzlücken, Kriminalität, Wohlfahrt, Wohnungsnot, Verkehr. In jeder fortgeschrittenen Gesellschaft hat jedes dieser Probleme seine eigene kleine Armee von Spezialisten, die sich über die politischen Alternativen auseinandersetzen; diese Debatten erfassen sogar höchste Regierungskreise und versprechen sich zu einem der dringlichsten und teuersten Programme im modernen politischen Leben auszuwachsen.

Aber wir geben uns kaum mit dem einen Problem ab, das keine Spezialisten hat und für das es keine politischen Strategien gibt: das Problem, vor das uns die Stadt stellt als imperialistische kulturelle Macht und Träger der Krankheit Gigantismus in ihrer ansteckendsten Form. 

Die industrielle Metropole ist das größte Kunstprodukt, das die Menschheit je geschaffen hat; in ihr erfahren all die ausweglosen Widersprüche des Übermaßes, von denen in diesem Buch die Rede ist, ihre schärfste Zuspitzung. Keine andere Form der Größe — die Größe moderner Nationen, Industrieunternehmen, Fabriken, militärisch-industrieller Komplexe und bürokratischer Institutionen — wäre ohne die Stadt denkbar, und die Stadt gewinnt überall die Oberhand. 

In Ecken der Welt, wo der Industrialismus noch Hoffnung und Traum ist, steht die Stadt schon da, rituelles Herzstück eines in alle Welt exportierten Kults, der nur noch auf Kapital und Know-how aus fernen Ländern von sagenhaftem Reichtum wartet. Glitzernde Skelette aus Metall und Glas, so erheben sich Luxushotels und Verwaltungsbauten irgendwo aus dem Dschungel, Autobahnen und Flugplätze flimmern in der Wüstenhitze, und all das verkörpert die schönsten Hoffnungen zukunftsorientierter politischer Führungsspitzen, die in ihren Ländern partout das 20. Jahrhundert einläuten wollen. Selbst die Massenbewegungen, die das Leben von Milliarden Landbewohnern revolutionieren, werden von städtischen Intellektuellen angeführt, die sich erst dann als Sieger fühlen, wenn sie die großstädtischen Zentren ihres Landes eingenommen haben.

Alle Fäden der maßlosen Expansion in der heutigen Gesellschaft laufen in der Stadt zusammen. Sie ist nicht nur das Behältnis großer Dinge; sie ist unser kollektives Bekenntnis zur Größe als way of life. Die täglichen Zwänge des Stadtlebens sind das, was Menschen in Massen und Personal verwandelt.


Allein um zu gewährleisten, daß der Verkehr rollt und das Geld von Hand zu Hand geht, muß die städtische Bürokratie die Millionen, die sie verwaltet, zu statistischen Abstraktionen und Computer-Ausdrucken reduzieren. Zugleich ist die Stadt das Zentrum der schlechten ökologischen Gewohnheiten unserer Gesellschaft. Sie ist der schlimmste Verschwender und Umweltverschmutzer; ihr ökonomischer Stil ist die größte Belastung der planetaren Umwelt. Von all den hypertrophierten Institutionen, die unsere Gesellschaft sowohl der Person als auch dem Planeten aufgebürdet hat, ist die Stadt die gewaltsamste.

Heute nehmen wir die Stadt einfach als selbstverständlich an. Wir nennen ihre Kultur schlicht 'moderne Geschichte'; wir bauen unsere Hoffnung aufs Überleben allein auf ihre Macht und Produktivität. Wir vergessen, wie neu die Stadt noch in der Geschichte der Menschheit ist und wie schlecht ihr Ruf in der Vergangenheit war. Die Bibel zum Beispiel geht auf eine Zeit zurück, in der die Stadt noch etwas Neues, Fremdes und Bedrohliches war — das Werk eines Mörders und Ausgestoßenen. Kain gründete die erste Stadt nach dem Mord an seinem Bruder Abel. Als Kain den sanften Schäfer erschlagen hatte, verdammte ihn Gott dazu, ein Vagabund und Flüchtling zu sein; die Erde sollte ihn fortan nicht mehr nähren. Kain ging in das Land Nod jenseits von Eden und erbaute eine Stadt als seine Zuflucht und Festung.

Zwar erwarten wir nicht, unsere soziologischen Einsichten aus alten Mythen zu gewinnen, doch das Wesen der urbanen Gesellschaft ist hier durchaus getroffen. Die Legende führt uns vor Augen, welchen zersetzenden Einfluß die Stadt auf die Bindungen zwischen Bruder und Bruder, Person und Erde hat. Innerhalb ihrer Mauern taten sich Verschlagenheit und Herrschsucht zusammen und konnten sich hier ungehindert von Sitten, Gebräuchen und Familienbindungen frei entfalten: der Kaufmann und der Wucherer, der Kriegsherr und der Priester, sie alle schmarotzten vom Reichtum der umgebenden Ländereien. Seit ihren Anfängen in den antiken Flußtal-Zivilisationen hat die Stadt ihr Monopol auf Geist und militärische Macht dazu benutzt, Tribute vom Land einzutreiben — und diese Ausbeutung beschönigend 'Regieren' genannt.

Selbst Großstädte, die ihre Laufbahn, wie in Europa, als bescheidene Städtchen begannen, sind von Anfang an von so unbezähmbarer Geschäftigkeit, daß ihr Expansionsdrang nicht aufzuhalten ist. Die Stadt ist von Natur aus ein Ort von Besitz- und Machtgier. Könnten wir uns alle, die wir ihrer Kultur und Wirtschaftsweise angehören, im vollen Licht dieser historischen Wirklichkeit sehen, so würden wir erkennen, daß wir dem ältesten imperialistischen Interesse der Welt dienen: dem Aufbau eines Weltreichs der Städte, das unablässig allem seinen Stempel aufprägt — den Traditionen, dem Land, der Natur. Wenn wir diesen Hang zu Bevormundung und Unterwerfung der Welt heute nicht mehr offen eingestehen müssen, so liegt das nur daran, daß wir jede Opposition wirkungsvoll niedergeschlagen haben und keine Stimme mehr da ist, die gegen uns sprechen könnte.

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Wie alle imperialistischen Mächte füllen wir das Schweigen, das unseren Raubzügen folgt, mit Gerede über historische Notwendigkeit. Wer sich uns noch widersetzt — der Bauer, der Nomade, der Wilde —, den betrachten wir als kulturellen Abfall entlang unseres Weges. Das Kainsmal ist noch auf unserer Stirn, aber wir tragen es jetzt als Krone und nennen es 'Zivilisation'. Zivilisation eine 'zivil' gemachte, verstädterte Welt.

Ich habe mein Leben lang in Städten gelebt. Erst in letzter Zeit wurde mir klar, daß die Stellung, die ich als Städter in der Welt einnehme, mehr Gewicht hat als jede andere meiner Identitäten. Alles andere kommt und geht im raschen Fluß der Ereignisse. Ich kann mir vorstellen, daß meine Rolle als Amerikaner, als Mitglied der Mittelklasse, als Mann oder als Angehöriger der Weißen Rasse in den kommenden Jahren von den revolutionären Strömungen der modernen Welt radikal verwandelt, wenn nicht gar ausgelöscht wird. Aber es ist nichts in Sicht, was mich als Städter in Frage stellen könnte, denn es gibt keine revolutionäre Bewegung, nicht einmal in der Dritten Welt, die nicht in der Stadt entstanden wäre und sie als Arena und Instrument benutzt. Wenn wir von 'Fortschritt' und 'Entwicklung' sprechen, meinen wir die Verstädterung immer weiterer Teile der Welt, gleichgültig ob wir Weiße oder Schwarze oder Asiaten, reich oder arm sind.

Alle Entscheidungen über die Zukunft unseres Planeten werden heute in Städten von städtischen Geistern gefällt. Wir glauben, das müsse so sein. Denn muß nicht jedes Land seine Hauptstadt haben? Und eine respektable Hauptstadt kann doch wohl nur eine Metropole mit hohen Türmen, überquellenden Läden und weltweiten Wirtschaftsbeziehungen sein. 

Wieviele Bauern Europa haben sollte, wird zur Zeit in Paris, Brüssel und Bonn diskutiert; das Schicksal der Wale wird in Moskau und Tokyo besiegelt; in Brasilia, Rio und Sydney entscheidet man über die Zukunft der Amazonas-Stämme und der australischen Ureinwohner; in Peking wird das Soll der chinesischen Landkommunen festgelegt; die Grenzen von Wüsten und Regenwäldern werden in New York, Zürich und Abu Dhabi geplant. Und all die Bürokraten und Bankiers, Funktionäre und Wirtschaftsplaner, die diese Entscheidungen fällen, sind Stadtmenschen.  

Reaktionäre und Revolutionäre bilden gemeinsam die siegreiche Bourgeoisie, die alle Widerstände niederwalzt — außer vielleicht den Zorn des Planeten selbst. Tacitus sagte von einem anderen Weltreich einmal, es schaffe eine Wüste und nenne das 'Frieden'. Von uns selbst könnten wir sagen, daß wir eine Steppe von Städten schaffen und das die 'moderne Welt' nennen.

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Alles, was ich hier kritisch über die Stadt sage, sage ich als Stadtbewohner, der ich seit meiner Geburt bin. New York, Chicago, London, Los Angeles, San Francisco und Berkeley ... ich habe nie länger als einige Monate außerhalb solcher Großstädte gewohnt. Sie sind meine Welt. Ich könnte nicht einmal sagen, daß ich die Stadt liebe oder hasse. Ich gehöre einfach zu ihr. Woher will ich dann wissen, daß ländliches oder primitives Leben 'besser' ist?

Nun, ich weiß es eben nicht. Das bißchen Erfahrung, das ich mit Bauernhöfen und freier Natur habe, hat mich gelehrt, daß die Welt jenseits der Stadt hohe Anforderungen stellt; ich könnte sie nicht zu meiner eigenen machen und will sie auch nicht romantisieren. Ich sage nicht, daß es außerhalb der Stadt eine bessere Art Leben gibt, oder gar, daß die Stadt durch ländliche Idylle ersetzt werden soll. Ich gebe nur zu bedenken, daß es immer auch andere Arten zu leben gegeben hat, die zur Vielfalt unserer Spezies gehörten und ihrer Schönheit, Würde und Größe Ausdruck gaben. 

Diese anderen Wege sollte man als authentische Wahlmöglichkeiten bestehen lassen. Niemand darf in diesem Stadium der Geschichte geschehen lassen oder anstreben, daß die Stadt sich über alle anderen Möglichkeiten hinwegsetzt — vor allem jetzt nicht, wo wir erkennen, daß unsere gegenwärtige Kultur unerfüllbar hohe Ansprüche an die Strapazierfähigkeit des Planeten stellt.

 

   Die urbane Marge  

 

Die Legende von Kain verrät uns noch mehr über die Natur der Stadt. Wir erinnern uns, daß Kain ein Acker­mann war, bevor er den Mord beging. Danach verfluchte Gott die Erde, die er bearbeitete, und seine Arbeit trug keine Früchte mehr. Kain, der erste Städter, hatte sich so weit von Gott und der Natur entfernt, daß der Boden unter seinen Füßen unfruchtbar wurde. Er konnte sich nicht mehr selbst versorgen.

Dieses Bild führt uns das erste Prinzip urbaner Ökonomie vor Augen: selbstverschuldete Sterilität. Es erinnert uns daran, daß Städte erst dann entstehen können, wenn man die Menschen von der Produktion ihres primären Lebensbedarfs — Brennstoff, Nahrung, Rohmaterialien — abschneidet. Wer das Land verläßt, muß von der Arbeit anderer leben, die schließlich auch für sich behalten könnten, was die Mäuler der Stadt verschlingen. "Bin ich meines Bruders Hüter?" fragte Kain, aber als er in die Stadt geflohen war, wer waren da seine Hüter? All die Brüder, die er zurückließ, um das Land zu bearbeiten, das er verlassen hatte.

Eine Gesellschaft, die sich Städte leistet, braucht wirtschaftliche Überschüsse, die es genügend Menschen erlauben, zu tun, was Kain tat: das Beackern der Erde aufgeben, um etwas Sekundäres zu tun. Nennen wir diesen Überschuß die urbane Marge entscheidender Faktor für das Überleben der Städte. Ohne sie kommt kein Land über das Agrarstadium hinaus; und wo diese Marge zu dünn wird, wie es in vergangenen Zivilisationen oft geschehen ist, zerfallen selbst die bedeutendsten Städte. 

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Ihre Türme verwittern, ihre Tempel werden den Ratten und Fledermäusen überlassen, ihre Namen verschwinden aus dem Gedächtnis der Menschen. Die Stadt braucht also ihre Marge, aber was hat sie selbst dafür zu bieten? Wie verdient sie sich ihren Teil?

Ich lebe mein Leben im Weltreich der Städte, und die Frage wird für mich Tag für Tag immer drängender — nicht als abstrakte ökonomische Überlegung, sondern als eine Gewissensfrage, die das ethische Gefüge meines täglichen Lebens sehr direkt betrifft: Was tue ich, um mein tägliches Brot zu verdienen? Was tun wir alle hier in diesen Städten, um für unsere Lebensweise aufzukommen?

Denn bedenken wir, was es allein kostet, uns in dieser quirlenden urbanen Maschinerie auch nur physisch am Leben zu halten. Stellen wir uns nur für einen Augenblick das Arsenal von Dienstleistungen, den ungeheuren administrativen Überbau vor, der um jedes unserer ökonomischen Bedürfnisse aufgebaut werden muß, wenn auch nur ein Minimum von Gesundheit und Lebensqualität garantiert werden soll. Denken wir nur an den Güterverkehr zwischen den Produktionsstätten und den Orten des Verbrauchs, der alles heranschafft, womit wir uns ernähren und kleiden und unsere Wohnung warmhalten. Welchen Aufwand erfordert allein die Beseitigung unseres täglichen Abfalls! 

 *

Inmitten dieser sausenden Apparatur wirken wir Stadtbewohner wie Millionen Astronauten, hermetisch eingesiedelt in ein seltsames Zukunftsfahrzeug, das von ungeheuer teuren und komplizierten Lebens­erhaltungs­systemen abhängig ist. Alle, die in diesen Systemen arbeiten, verdienen gewiß ihren Teil, und ihnen gebührt vermutlich mehr, als wir ihnen geben. Wenn hundert Menschen an der Produktion und Bereitstellung des Brotes beteiligt sind, das ich esse, dann sind sie alle sehr wichtig für mich. Sie erhalten mein Leben und verdienen, daß ich sie dafür bezahle. Und in ihren Augen ist meine Arbeit dadurch gerechtfertigt, daß ich mit meinem Einkommen zu ihren Löhnen beitrage. Also scheint doch jeder das Seinige für seinen Lebensunterhalt zu tun.

Doch wir müssen hier eine Unterscheidung treffen, die unsere stadtorientierte Wirtschaft so oft außer Acht läßt. Festzulegen, was jeder für die Arbeit, die er tut, von der Gesellschaft erwarten kann, ist eine Sache; eine ganz andere Frage lautet jedoch, wieviel der Planet selbst verkraften kann. Unser individuelles Einnehmen und Ausgeben spielt sich auf dem Markt ab, wo jede alberne Neuheit zahlendes Publikum find et; die urbane Marge ist indes Teil der globalen Umwelt, und deren Tragfähigkeit scheidet das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Nützliche vom Überflüssigen.

Das konventionelle ökonomische Denken (und dazu gehört auch ein großer Teil der sozialistischen Wirtschaftswissenschaft, deren Anhänger eigentlich besser beraten sein sollten) befaßt sich gar nicht erst mit dieser Unterscheidung. Es übersetzt alles in tauschbare Werte — abstrakte Geldmengen, für die es keinen Unterschied macht, ob sie für Weizen oder für Kaugummi stehen. Eine Ware ist eine Ware — denn ein Job ist ein Job und Profit ist Profit.

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Auf dem Warenmarkt stellt man keine moralischen Fragen wie diese: Bedeuten die Güter und Dienst­leistungen, die Tätigkeiten und Investitionen in unseren Augen eine gute und sinnvolle Nutzung dessen, was uns die Erde bietet? Nur der Preis, um den sie sich verkaufen lassen, zählt, oder (falls wir Sozialisten sind) ihre gerechte Verteilung. Nach solch einer Rechnung würde der Wohlstand der Welt sich mehren, wenn wir alle als Frisöre, Geschichtslehrer oder Pfeifenschnitzer gut verdienen würden.

Eine ökonomische Wissenschaft, die von solchen Voraussetzungen ausgeht, verführt uns leicht zu dem Glauben, die urbane Marge sei unbeschränkt dehnbar. Und genau das hat das Weltreich der Städte ja auch zum Ziel. Ausgehend von der Annahme, die industrielle Macht der Städte könne grenzenlosen Reichtum erzeugen, strebt die moderne Gesellschaft die Urbanisierung der Welt an und hebt damit die alte Unterscheidung zwischen einer Ökonomie ländlicher Produktion und einer Ökonomie städtischen Konsums auf. Dafür versucht jetzt die industrielle Stadt, sämtliche Produktionsfaktoren in die eigenen Hände zu bekommen, und treibt ihre ökonomische Rationalisierung voran. Sie reißt das Land an sich. Ihre Landwirtschaftsfunktionäre und agrar-industriellen Konglomerate entwickeln sich zu den erfolgreichsten 'Bauern' der Welt. Je mehr Urbanismus, so scheint es, umso besser — bis die Stadt endlich die ganze Welt zu einem integrierten industriellen System verflochten hat.

Das ist zum Beispiel die Perspektive von Constantinos Doxiadis, eines der einflußreichsten europäischen Urbanologen:

Der Mensch schreitet von einem Zeitalter des Landbaus und kleiner isolierter Dörfer zu einem Zeitalter urbaner Systeme voran. Nach einer oder zwei Generationen in wirtschaftlich starken Ländern, beziehungsweise nach fünf oder sechs Generationen in anderen, werden die Dörfer verschwunden sein. Alle Menschen, auch die Bauern, werden in urbanen Systemen leben, deren Standort, Geburt und Wachstum von den Gesetzen der Natur und des Menschen bestimmt werden.*

Doxiadis' einzige Sorge ist, daß diese unausweichliche Entwicklung vernünftig geplant wird, damit keine Geisterstädte und unnötig großen Bauwerke entstehen und die Menschen nicht mehr als nötig entwurzelt werden. Er freut sich schon auf eine durchorganisierte "Eucumenopolis", die globale Stadt, die nach seiner Schätzung fast die gesamte Weltbevölkerung auf 5 Prozent der Landoberfläche konzentrieren wird. So wie er die Idee entwickelt, hat sie etwas von Science Fiction an sich, aber tatsächlich denkt er nur die bestimmenden Fakten unserer Zeit weiter. 

Nach einer neueren Untersuchung werden am Ende dieses Jahrhunderts 60 Prozent der US-Bevölkerung in drei mächtigen Städteballungen konzentriert sein, aber auch der Rest der Gesellschaft lebt dann in kaum weniger dicht besiedelten städtischen Zonen.*

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Irgendwo im Zentrum dieser faustischen Vision einer total urbanisierten Welt verbirgt sich eine harte und wichtige Tatsache. Die industrielle Stadt ist tatsächlich etwas Neues. Sie ist nicht, wie die Städte der außereuropäischen Vergangenheit, einfach zeremonielles Zentrum, Markt oder Regierungssitz. All das kann sie auch sein, doch in erster Linie ist sie Produktionszentrum; sie mehrt den Reichtum der Gesellschaft. Das ist so, seit die Weberstädte des mittelalterlichen Flandern und Norditalien sich als Orte spezialisierter Fertigung herausbildeten. 

Wenn die urban-industriellen Gesellschaften es während der kapitalistischen Phase der Geschichte auch nicht geschafft haben, ihren Reichtum gerecht zu verteilen, so ist dieser Reichtum doch immerhin vorhanden — und heute mehr denn je. Dieser Überfluß und das Wissen, das ihn geschaffen hat, sind das strahlende Versprechen unserer Zeit; sie eröffnen die Aussicht auf nie dagewesene Freiheit, Gesundheit und Erfüllung unserer ganzen Spezies. Aber jetzt, im zweiten Jahrhundert der urban-industriellen Entwicklung, beginnen wir zu erkennen, daß dieses Versprechen nicht frei von Schattenseiten ist: die urbane Marge hat offensichtlich Grenzen, und zwei dieser Grenzen sind inzwischen jedermann offensichtlich.*

Zunächst ist da der dichte Filz aus ökonomischer Verantwortungslosigkeit und schlechten Gewohnheiten, aus dem das entsteht, was wir 'Umweltverschmutzung' nennen. Wir erkennen jetzt, daß jede Stadt in der Geschichte eine Verwahrlosung der Umwelt heraufbeschworen hat, in der Vergangenheit noch mehr als heute. Pestilenz und unmerkliche Gifte akkumulieren sich in Stadtgebieten und fordern einen schweren Tribut an Leben und Vitalität — nach der Meinung einiger Historiker haben sie sogar mächtige Weltreiche wie das römische und das der Maya zu Fall gebracht. 

Wo aber die Städte in der Vergangenheit klein und von weiten landwirtschaftlichen Gebieten oder unberührter Natur umgeben waren und das Leben einem gemächlichen ländlichen Rhythmus folgte, konnte man es getrost der Erde überlassen, die Abfälle zu beseitigen und globalen Auswirkungen vorzubeugen. Jetzt wird der Raum für Abfälle immer knapper und die natürlichen Prozesse schaffen die Beseitigung der Gifte nicht mehr allein. Keine verantwortungsbewußte Volkswirtschaft behauptet heute noch, daß man sich die Ausgaben für Säuberung und Schutz der Umwelt sparen kann. Sobald man jedoch diesen Posten in die Rechnung einbezieht, schrumpft die urbane Marge drastisch zusammen. Uns dämmert, daß wir doch nicht ganz so reich sind, wie wir gedacht haben — jedenfalls dann nicht, wenn wir 'Fortschritt' weiterhin daran messen, wieviele Menschen eine Gesellschaft in eine urban-industrielle Umwelt packen kann.

Die zweite unerfreuliche Folge der urbanen Expansion besteht in den Kosten eines immer gewaltiger werdenden Organisations­aufwands, ein Problem, dem alle überdimensionierten Institutionen gegenüberstehen. Jeder administrative Überbau erreicht in seinem Wachstum einen Punkt, wo er unter dem eigenen Gewicht zusammenbricht. 

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Allein das Problem, alles im Auge zu behalten (<Daten-Rückgewinnung> und  <Informationsfluß> nennen die Datentechniker das), nimmt allmählich mehr Zeit und Personal in Anspruch als die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen selbst. Großstädte, unsere größten und vielschichtigsten Organisationen, leiden jetzt am schwersten unter dieser Art von bürokratischer Verfettung. Zuviele Menschen ... zu großes Gebiet ... zuviele Zuständigkeiten — schließlich gibt es mehr Überwacher, Aufseher und Koordinatoren als produktive Arbeiter auf der urbanen Szene.

 

Städtische Bedienstete bilden in unseren heutigen Großstädten eine der größten Gruppen aller Beschäftigten und können die soziale Maschinerie dennoch nur notdürftig in Gang halten. Wieviel mehr Leute brauchte man wohl, um die Arbeit anständig zu tun? 

Weit über 400.000 städtische Angestellte hatte New York, bevor der Stellenplan in den siebziger Jahren zusammen­gestrichen wurde — eine Stadt in der Stadt, dreimal so groß wie das antike Athen. Allein bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben arbeiten 33.000 Angestellte. Manche, die auf den Gehaltslisten der Stadt stehen, tragen vielleicht direkt zu dem einmaligen kulturellen Klima der Stadt bei, aber sie sind eine kleine Minderheit — eine Handvoll Bibliothekare, Museumskuratoren, Zoo-Bedienstete.

Selbst wenn wir die 60.000 Lehrer von New York hinzuzählen (aufgrund der etwas gewagten Annahme, sie vollbrächten etwas von höherem kulturellem Wert als die Beaufsichtigung und Alphabetisierung von Kindern), dann gilt immer noch, daß einer von zwölf Angestellten in der größten amerikanischen Stadt nichts Kreativeres oder ökonomisch Produktiveres tut als Menschen zu transportieren, zu überwachen, zu besteuern, soziale Unfallopfer einzusammeln und Abfälle wegzukarren. 

Um dieses ausufernde Netz von Dienstleistungen und Einrichtungen zu finanzieren, muß die Stadt mehr und mehr von ihrer Substanz und ihren Reserven aufzehren, und meist beginnt sie bei Mitteln, die eigentlich für Kultur, Erziehung und Verfeinerung des Geschmacks gedacht sind — Werte, die im Ruf stehen, das rauhe Stadtleben erträglicher zu machen.

Es ist wie das Paradox der Zollbrücke. Je mehr Zolleinnehmer da stehen, desto höher die Zölle ... bis der Zoll schließlich hauptsächlich zur Entlohnung der Zöllner erhoben wird und der produktive Handelsverkehr zum Erliegen kommt. Auf der anderen Seite der Tische in den Tausenden von Amtsstuben, wo die öffentlichen Dienstleistungen so schleppend abgewickelt werden, verbringt die städtische Öffentlichkeit immer mehr Zeit mit Schlangestehen und Formulare ausfüllen — mehr Zeit als vor Sinfonieorchestern oder großen Gemälden.

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  Sind wir für die Erde tragbar?  

 

Diese Folgen des urbanen Riesenwuchses werden uns Tag für Tag immer peinlicher bewußt; allerdings haben unsere politischen Führer und Wirtschaftswissenschaftler (und ich wage zu behaupten, auch die meisten urbanen Intellektuellen) noch nicht begriffen, daß wir hier vor absoluten Grenzen stehen, sondern sie sprechen immer noch von 'Problemen', die man mit finanziellen Tricks und technologischen Patentlösungen schon wieder hinbiegen kann. 

Doch es gibt eine dritte und noch tiefer liegende Sünde, die wir noch gar nicht recht erkannt haben; sie ist sozusagen die Seele der urbanen Wirtschaftsweise. Die Stadt hat eine ganz eigene Art, menschliches Streben zu korrumpieren. Sie erzeugt eine Begehrlichkeit, die zwangsläufig über alles hinauswächst, was die urbane Marge allenfalls für eine kleine Minderheit bereitstellen kann.

Wie die Stadt das zuwege bringt, hängt sehr eng mit einigen der wertvollsten Züge urbaner Kultur zusammen. Als kosmo­politisches Zentrum spielt die Stadt die einzigartige kulturelle Rolle, ihre Bewohner und Besucher für die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten zu öffnen. Sie weckt den Wunsch zu erfahren, was andere erfahren haben, zu genießen, was andere geschaffen haben. Sie veranlaßt die Menschen, sich Dinge zu wünschen — aus Neugier oder Neid. Sie erfüllt ihre Fantasie mit täglich wechselnden Moden, die eine Menge Abfall hinter sich zurücklassen. 

Während sie aber die Imagination bereichert, schneidet sie die Menschen zugleich von den ökologischen Grundtatsachen des Lebens derart ab, daß sie zwischen Wunsch und Bedürfnis, Notwendigkeit und Luxus nicht mehr klar unterscheiden können. Der Geschmack verfeinert sich, bis er zu absurden Auswüchsen führt. Man beobachte nur, was für einen Fimmel wir für photographische Präzision, für naturgetreue Klangwiedergabe entwickelt haben — von High Fidelity zu Stereophonie und Quadrophonie, eine ungeheure spezialisierte Technologie, deren Produkte inzwischen eine kaum noch vorstellbare Ebene der Extravaganz erreicht haben. Jeder von uns könnte leicht hundert solcher Überspanntheiten nennen, deren Kosten auf der urbanen Marge lasten, aber wir erwarten einfach, daß diese Dinge jederzeit vorhanden sind, denn unser Wünschen hat jede Beziehung zu handwerklicher Arbeit, zum Land und seinen Rohstoffvorräten verloren

Städter sind in ihrer künstlichen Umwelt von der Erde abgeschnitten und können den Planeten deshalb nicht mehr als ein lebendes Wesen erfahren, mit dem sie in organischem Austausch stehen müssen. Auch die vereinigte Hirnmacht der Experten kann diesen Verlust nicht wettmachen, denn auch deren Erfahrung ist an das Imperium der Städte gebunden. Und selbst wenn einige sich von diesen Scheuklappen befreien können, werden sie gegen die ökologische Ignoranz ganzer urbanisierter Nationen wenig ausrichten, denen das Gefühl moralischer Verpflichtung für die Erde gänzlich abgeht.

 

Jeden Tag denke ich daran, wenn ich durch eine scheußliche Industrielandschaft zur Arbeit fahre, vorbei an Schloten und Abwasser­kanälen, die das Wasser der San Francisco Bay und den Himmel darüber verschmutzen. In all diesen Gebäuden arbeiten die Menschen hart für ihren Lebensunterhalt.

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Irgendwo geht aus ihrem Tun und Treiben auch das hervor, was ich für mein tägliches Leben brauche. Aber wo? Man muß schon genau hinsehen, denn das Wesentliche ihrer Arbeit wird vom Überflüssigen ganz verdeckt.

Ich fahre an einer Fabrik vorbei, in der Hunderte von Männern und Frauen beschäftigt sind. Aus den Abwasserrohren breitet sich ein öliger Film über das Wasser der Bay aus. Was wird da hergestellt? Hundefutter: chemisch haltbar gemachter Abfall in teuren Dosen. Daneben ein anderer Betrieb; hier werden Lippenstifte und Lidschatten verpackt. Weiter unten ein Warenhaus voller Sportartikel, Klimaanlagen, Motormäher ... und dahinter weite Flächen mit nichts als Wohnmobilen und allerlei Freizeitvehikeln.

Ein mit zwei Männern besetzter Lastwagen donnert an mir vorbei, ein kostspieliges Maschinenmonstrum, das eine Wolke teurer Abgase hinter sich herzieht. Wohin fahren sie? Sie liefern eine Ladung Kleenex nach Denver und kommen dann mit zwei Tonnen Napfkuchen wieder zurück.

Wer sind all die Leute, die links und rechts von mir fahren — einer pro Wagen — und an diesem Morgen Tausende von Hektolitern Benzin verfeuern, um pünktlich in der Arbeit zu sein? Sekretärinnen von Reklamefirmen, die Millionen von Dollars aufwenden, um uns parfümiertes Badeöl in eleganten Flaschen zu verkaufen... Fließbandarbeiter, die heute den ganzen Tag kleine Schrauben in den meistgekauften Vier-Stufen-Haartrockner der Welt hineindrehen werden ... der für eine Milliarde Dollar verantwortliche Vize-Verkaufsdirektor eines Rüstungszulieferbetriebs, der kleine Plastikteile produziert, die in eine hermetisch versiegelte Einheit eingebaut werden, die das Herzstück einer Maschine bildet, die die gedruckten Schaltungen eines Leitsystems preßt, mit dem eine Rakete eine Stadt in Flammen aufgehen lassen kann.

Und ich mitten unter ihnen, mit ebensoviel Spritverbrauch wie sie, unterwegs, um an der Universität die Geschichte der Tudor und Stuart an Studenten zu vermitteln, die mit viel Glück vielleicht einmal Vizeverkaufsdirektor werden, damit sie das Geld verdienen können, das sie für Hundefutter, Haartrockner und Freizeitausrüstung brauchen.

Ein Morgen eines Tages auf einer Einfallstraße einer Stadt ... wie lange sind wir für die Erde tragbar?

Natürlich ist die Stadt, durch die ich fahre, eine amerikanische Stadt, und das macht sie zu etwas Außergewöhnlichem — allerdings nur insoweit, als die amerikanische Mittel- und Oberschicht sich (mit der Hilfe massiver Inanspruchnahme von Krediten) Frivolitäten leisten kann, die sich Menschen in anderen Gesellschaften nur begehrlich in den Fernseh- und Kinofilmen anschauen können, die wir ihnen liefern. Wo immer in der Welt das magische industrielle Kaulhaus seine Tore öffnet, strömen die Menschen an die Verkaufsstände. Warum sollen sie nicht alles bekommen können, was ich habe ... und warum soll ich nicht all das haben können, was David Rockefeller haben kann?

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Das Konsumwettrennen scheint das Allheilmittel der modernen Welt zu sein. Nur die Chinesen, die Albaner und einige der neuen Volksrepubliken Asiens scheinen genügend verantwortungsbewußte soziale Disziplin zu haben, um der Massen­konsumideologie standzuhalten. Allerdings mag diese Tugend von strikter Notwendigkeit geboten sein und dauert vielleicht nur so lange, wie eine strenge Zensur über sie wacht. Die sozialistischen Länder Osteuropas (darunter auch die Sowjetunion) sind den Verlockungen des Wohlstands jedenfalls genauso erlegen wie irgendeine kapitalistische Gesellschaft.  

In diesem Bereich hat die Unzufriedenheit mit der Armseligkeit und Knappheit sowjetischer Erzeugnisse einen schwunghaften schwarzen Markt westlicher Konsumgüter entstehen lassen. Wenn irgend etwas die Einflußsphäre der Russen in ihren europäischen Satelliten bedroht, dann ist das nicht die ausländische Spionage, sondern der zersetzende Reiz amerikanischer Jeans und japanischer Transistorradios.

Solche Verschwendungsgewohnheiten entstehen nicht aus Perversität oder unheilbarer Gier, sondern einfach daraus, daß die Menschen, hat die Stadt sie erst einmal in ihren Bann gezogen, allen Sinn für Grenzen und Ausgewogenheit verlieren. Wie sollen sie den gesellschaftlichen Wert von Nahrung, Wasser und Energie noch richtig einschätzen können, wenn sie diese Dinge nur noch als Waren kennen, die im Geschäft darauf warten, gekauft zu werden oder durch Drehen an einem Hahn oder Knipsen eines Schalters einfach herzuzaubern sind? Wie sollen sie wissen, welche Umweltbelastung ihr Müll darstellt, wenn die beherrschenden Kräfte der Wirtschaft ihnen immer nur einhämmern, daß sie konsumieren sollen und dann die Abfälle ganz schnell beiseite schaffen, bevor sich jemand Gedanken über ihre Menge oder Schädlichkeit machen kann? Natürlich wird die Unwissenheit der Leute in der westlichen Wirtschaft kaltschnäuzig ausgeschlachtet, aber die Unwissenheit war — als natürliche Begleiterscheinung des urbanen Lebens — zuerst da.

Die Stadt hat schon immer für extravagante Begehrlichkeit gesorgt. Ihr ökonomisches und kulturelles Gewebe besteht aus Abstraktionen und freier Fantasie, die immer weniger Beziehung zur ökologischen Wirklichkeit haben. Diese Sünde könnte die urbane Marge noch verkraften, wenn die Stadt bliebe, was sie immer gewesen ist: die Kultur einer Minderheit. Dann könnte ihre industrielle Macht eine Bereicherung der Menschheit sein, dann wären ihre ökologischen Kosten tragbar. Beginnt diese Macht jedoch, den ganzen Planeten ihrer ökonomischen Planung zu unterwerfen, so bekommt die Sache einen jener festsitzenden historischen 'Haken', die Marx so gern "Widersprüche" nannte. Je größer die Städte werden, desto mehr schwindet die ökologische Sensibilität der Bevölkerung dahin, bis wir schließlich Unmögliches vom Planeten verlangen. Dann mehrt das urban-industrielle Establishment nicht mehr den Reichtum der Welt; im Gegenteil, administrative und organisatorische Kopflastigkeit, seine Umweltschädlichkeit und Unersättlichkeit führen dazu, daß es mehr vergeudet als produziert.

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Die Alternative zu diesen finsteren Aussichten besteht darin, eine neue Art von Größe zu finden, in die wir unsere besten Kräfte investieren können: die Größe des Innern, die weder die Person noch den Planeten unterdrückt, sondern beide von der Entfremdung und Ausbeutung befreit, die bisher alle unsere Hoffnungen auf Fortschritt zunichte gemacht haben. Und das beginnt im Kernland der urban-industriellen Kultur — bei den Bewohnern des Weltreichs der Städte, deren Verschwendung und Praßsucht die schwerste Belastung der globalen Ökologie sind. 

Wir müssen begreifen, daß die Rechte der Person, die in uns danach schreien, endlich Geltung zu bekommen, der Anfang einer Ökonomie der Beständigkeit sind, die alle ausreichend versorgen kann. Die Größe der Städte, der Fabriken, des technologischen Apparats, des Bruttosozialprodukts darf nicht länger das Wichtigste sein, sondern die Größe unseres Lebens — unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Was sich in uns danach sehnt, groß zu sein, unermeßlich, ist das Abenteuer der Selbstentdeckung. Je größer das wird, desto leichter wird die menschliche Gesellschaft für die Erde tragbar sein.

 

  Die Politik des persönlichen Wachstums  

 

Personalistische Wertvorstellungen erfordern gesellschaftliche Veränderungen. Vieles von dem, was ich in diesem Buch geschrieben habe, war der Versuch zu umreißen, welche politischen Implikationen das Projekt der Selbstentdeckung hat. Nämlich: eine weniger urbanisierte Welt, die weniger von den Zwängen industrieller Produktivität beherrscht wird, dafür aber mehr Platz für kleine, lokale Vorhaben und für persönliche und partizipative Beziehungen in Regierung und Wirtschaft bietet. 

All denen, die das große Potential, das in den Rechten der Person liegt, nicht sehen können oder wollen und deshalb nach dem totalen gesellschaftlichen Engagement rufen, das keinen Raum für spirituelle Entwicklung mehr lassen würde, habe ich genug erwidert. Ich kann jedoch nicht schließen, ohne einen Appell an die zu richten, die mit mir auf der Seite des personalistischen Ethos stehen. 

Es bleibt zu konstatieren, daß nichts an der urban-industriellen Gesellschaft sich durch bloße Diffusion der hier angesprochenen psychischen und spirituellen Bedürfnisse automatisch ändern wird. Vielleicht werden wir tatsächlich erleben, wie die großen urban-industriellen Einrichtungen ins Stocken geraten und verfallen, wenn die Basis, die sie jetzt noch in den Menschen und in der Umwelt finden, schließlich zerbröckelt; vielleicht wird die Erde sie im Zorn niederschlagen. Aber das wird keine schöpferische Auflösung sein, sondern eine globale Katastrophe, in deren Sog auch alle Chancen verlorengehen, die sich aus der Selbstentdeckung ergeben könnten.

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Wenn persönliche Bedrängnis und ökologische Krise ernst genug werden, können sie ganze Gesellschaften ins Chaos treiben; und die kopflose Reaktion auf eine Kombination aus 'Ökospasmus' und psychischer Malaise könnte auf eine Version des Totalitarismus hinauslaufen, wie sie Orwell in 1984 voraussagt — eine Technokratie der Ruinen, die sich auf Terror und politischen Aberglauben gründet. Es gibt schon genügend Anzeichen für diese grausige Möglichkeit. Wir brauchen uns nur die autoritären Kulte anzusehen, zu denen die Menschen hinströmen, wenn sie die Qualen der Identitätskrise und die ökonomische Unsicherheit nicht mehr ertragen. 

Den zugewiesenen Platz im Leben zu verlieren, kann ebenso erschreckend wie befreiend sein; wir gewinnen dabei eine anspruchsvolle Freiheit, die nicht jeden zu autonomer Selbstverwirklichung führt. Für manchen endet die Erfahrung in bereitwilliger Unterwerfung unter irgendeine Form des spirituellen oder therapeutischen Faschismus. Geben wir ruhig zu, daß es davon erschreckend viel gibt: falsche Heilsbringer, ausbeuterische Gurus, psychiatrische Unternehmer, die die Leichtgläubigkeit gequälter Seelen ausnutzen, um große Gefolgschaften zu versammeln, große Organisationen aufzubauen, großes Geld zu machen. Solche Verbrechen am Menschengeist sind das Spiegelbild all der großen und tyrannischen Strukturen unserer modernen Welt, die jetzt zu einer Bedrohung der Person und des Planeten geworden sind. Wo die menschliche Identität radikal in Zweifel gezogen wird, wandeln wir auf Messers Schneide zwischen der vollen Freiheit verwirklichter Personalität und der trügerischen Sicherheit einer neuen kollektiven Versklavung.

Wenn das Ethos der Selbstentdeckung eine wahrhaft personalistische Lebensordnung anstrebt, so wird es dabei planvoll, ideenreich und mutig zu Werk gehen müssen. Es wird sich einen eigenen politischen Stil suchen müssen, der seine besondere Sensibilität respektiert und doch die Kraft zu Widerstand und Herausforderung besitzt, die Kraft, einen radikalen Wandel einzuleiten und die Verantwortung für die revolutionären Implikationen befreiter Personalität zu tragen. Es gibt nicht viele politische Instrumente, die diesem Zweck dienen könnten. Mehrheitspolitik, Parteien, legislatives Manövrieren, konspirative und terroristische Taktiken, Massenbewegungen, propagandistische Manipulation — sie alle sind Erbe der Vergangenheit und daher ganz mit individualistischen und kollektivistischen Wertvorstellungen durchtränkt. Sie werden sich nicht ohne weiteres einer Politik der Person anpassen, und man kann ihnen auch nicht gerade nachsagen, daß sie den Bedürfnissen der planetaren Ökologie entgegenkommen.

Bis jetzt haben die personalistischen Instinkte unserer Zeit allenfalls durch den erfolgreichen Protest mancher situativer Gruppierungen einen begrenzten und sporadischen politischen Einfluß ausgeübt. Die Resultate waren beachtlich. Frauen, ethnische Minderheiten, Homosexuelle, Alte und Behinderte haben wichtige Fragen aufgeworfen — öffentliche Schlachten wurden gewonnen und haben das soziale System gelockert.

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Ich bin sogar der Meinung, daß auch solche Erfahrungen der Selbstentdeckung eine politische Relevanz haben, zu denen die Menschen sich in die stillen Zwischenräume der Welt zurückziehen. Anders als manche ungeduldige Kritiker und breitspurige Radikale möchte ich diese scheinbar apolitischen Zwischenspiele nicht vorschnell als narzißtisch oder eskapistisch verdammen. Ich sehe in ihnen die Saatzeit einer neuen Kultur. Und selbst der Verlust an Gefolgschaft und Energie, den solch ein Rückzug mit sich bringt, trägt vielleicht mehr, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen, zu einer Schwächung des Systems und einer Verlangsamung seines ökologischen Todeskurses bei.

Doch das genügt nicht. An einem bestimmten Punkt — und ich glaube, er ist erreicht — müssen wir alle, die das Abenteuer der Selbstentdeckung kennengelernt haben, uns direkt und entschlossen unseren gemeinschaftlichen Verantwortungen stellen, auch wenn unsere persönliche Suche noch andauert. Denn was wir in uns als die sich klärende Sehnsucht der Person erfahren, ist der dringende Hilferuf der Erde. Die richtige Reaktion auf diesen Ruf ist eine Verkleinerung der Strukturen und Institutionen, die die lebendige Vielfalt des Planeten bedrohen: das Übel benennen, bekämpfen und ausmerzen. Insbesondere müssen wir offen erklären, daß in einer Welt von Personen kein Platz ist für monopolistische und multinationale Konzerne, für die wahnwitzige Mittelklassen-Konsum-Religion, für völkermordende Militärapparate, für weitere urbane Expansion, für Staatssozialismus, für aufgeblähte öffentliche und private Bürokratie, für technokratische Politik. Die Erklärung muß mit unserem Stil übereinstimmen, sie muß unsere ureigene Art politischen Verhaltens sein, das sich etwa an der Arbeitsweise kooperativer Netzwerke orientieren könnte:

Entscheidungen werden durch spontanen Konsens gefällt, ohne Führer, offen, gewaltlos; nur Überzeugungskraft und sanfte Stärke dürfen ins Spiel gebracht werden, denn die Gegenseite soll nicht niedergetrampelt, sondern gewonnen werden, das institutionelle Material soll nicht einfach vernichtet, sondern wiederverwertet werden. Diese Erklärung muß abgegeben werden, denn niemand kann sich auf Dauer vor der erdrückenden Last der urban-industriellen Herrschaft in Ashrams, Wachstumszentren, Lamaklöstern und Landkommunen, in therapeutischen Gruppen oder mönchischen Einsiedeleien verstecken. Früher oder später wird das städtische Imperium in unsere Einsamkeit eindringen, alle Schutzmauern durchbrechen und uns lebendig verschlingen. Keine Einöde ist so entlegen, keine Ecke der Welt so privat, daß die Erde uns nicht erreicht, um uns mit dem Gestank der Luft, die wir atmen, dem Gift in unserem Wasser, dem Dunst, der Sonne, Mond und Sterne verschleiert, an ihre Leiden zu erinnern und an all das menschliche Elend, das mit dieser Häßlichkeit einhergeht.

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Ich glaube, daß immer mehr Menschen die Notwendigkeit einer Politik der Person spüren. In früheren Kapiteln und in den nachfolgenden Anmerkungen nenne ich Ansätze, die mit Einfühlungsvermögen und Fantasie auf dieses Ziel hinarbeiten — von den französischen Personalisten der dreißiger Jahre bis hin zu der Bewegung für einfaches Leben in der religiösen Gemeinschaft des heutigen Amerika. Aus all den Beispielen kann ich nicht schlüssig ableiten, wie das Gleichgewicht zwischen der Stille persönlichen Suchens und dem Lärm politischer Aktion herzustellen ist. Ich weiß aber, daß wir diesen Ausgleich schaffen müssen. Die Bewegungen nach außen und nach innen, gesellschaftliches Engagement und kontemplatives Forschen, müssen in einem harmonischen Lebensmuster oder Energierhythmus in Einklang gebracht werden. Nur so können wir unsere Personalität um die notwendige gemeinschaftliche Dimension erweitern und dem Abenteuer der Selbstentdeckung dahin folgen, wohin es letztlich zielt: auf die Rettung des Planeten.

Wirtschaft und Kultur brauchen die Stadt — aber nur in kleinen Dosen. Die Stadt, wenn ihre Stärken nicht zu katastrophalen Schwächen werden sollen, braucht wiederum eine Umgebung von lebensfähigen Alternativen, die ihren Verlockungen standhalten können und ihrem Wuchern Einhalt gebieten. Manche von uns in den Städten können diese Notwendigkeit vielleicht gerade eben erkennen, doch sind wir aus eigenem Vermögen nicht in der Lage, entsprechend zu handeln. Städtische Köpfe sind schlicht unfähig, die Verantwortung für die urbane Marge zu tragen. Ein anderes gesellschaftliches Interesse muß sich darum kümmern, eine unabhängige ländliche und traditionelle Alternative, die wir Städter gezielt neuschaffen müssen — nicht weil wir annehmen, diese alternativen Lebensmöglichkeiten seien weiser als unsere, sondern nur weil wir wissen, daß sie anders sind und damit Kontrast­perspektiven eröffnen können. Wir müssen das Land von der Herrschaft urbaner Prioritäten befreien und es jenen anvertrauen, die als menschliche Stimme für die organische Disziplin des Planeten außerhalb des Weltreichs der Städte leben wollen.

 

  Entstädterung der Welt  

 

Die Entstädterung der Welt hätte kaum Chancen, wenn die Millionen, die in die Städte strömen, wirklich dort leben wollten. Vieles deutet jedoch darauf hin, daß die passionierten Städter wie eh und je eine Minderheit sind. Wenn das so ist, dann braucht man die Entstädterung nicht zu betreiben, sondern nur geschehen zu lassen.

Schon die äußere Gestalt der Großstadt sagt etwas über die Wünsche ihrer Bewohner aus: sie wuchert. Sie überwächst ganze Küstenstreifen und Kontinente, sprechendes Bild für den Wunsch der Menschen, <weiter raus> zu kommen, weg von Kriminalität, Überfüllung, Schmutz und Krankheit der Innenstadt. Die traurigen Schlafstädte, die Konurbationen gibt es nur, weil viele Menschen allein um der Arbeit oder Sozialhilfe willen, die sie sonst nirgends finden, in die Stadt gehen. 

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Wo sie nur die Spur einer Chance haben, legen sie soviel Distanz wie möglich zwischen ihre Wohnung und die eigentliche Stadt. Der Vorort mit seinem Traum von ländlicher Beschaulichkeit ist so alt wie die Industriestadt; hier leben in den USA heute schon 80 Millionen der insgesamt 150 Millionen Großstadtbewohner, und die Vororte wachsen schneller als die Stadt in der Mitte. Die Vorstadt war nie, wie im Mittelalter, einfach eine Erweiterung der Stadt, der die Mauern zu eng wurden; sie war immer Ausdruck der Suche nach einer ganz anderen Lebensqualität: Sonne, saubere Luft, Gras, Bäume, Frieden und Stille. Vor allem aber versprach sie ein Leben unter Freunden mit Sicherheit und Privatsphäre, ein Leben mit menschlichem Maß. Lieblings­vorbilder sind das Dorf, der Marktflecken, die Kleinstadt, der Bauernhof.

In den meisten Vororten ist diese bukolische Bilderwelt natürlich nicht mehr als eine von verlogener Werbung vorgegaukelte Illusion. Zu oft bleibt davon nichts als nachgemachte Ziegeldächer und ein Schnellimbiß, der von außen wie eine große rote Scheune aussieht. Unter diesem dünnen Schleier aus Wunschdenken liegt die gleiche rauhe Wirklichkeit, die auch die Städte erfüllt. Ich war an solchen Orten, die sich "Country Crossroads" oder "Green Acres" nannten, sie lagen gleich neben einem internationalen Flugplatz, und alle 90 Sekunden donnerte ein Jet über sie hinweg. Ich habe üppige Vorstadt-Einkaufszentren gesehen, die "Old Orchard" hießen; da war jeder Laden eine Kettenfiliale, und die Promenade wird von morgens bis abends mit Montovani­schnulzen berieselt.

Die Armseligkeit solcher Dinge liegt auf der Hand, doch auch Illusionen sagen etwas aus. Mit diesem Vorstadt-Eskapismus erklären sich Menschen gegen die Stadt, die ökonomisch von ihr abhängig sind. Das ganze ist der mißglückte Ausbruchsversuch großer, gegen die Stadt eingestellter Bevölkerungsteile, und ihnen dürfen wir noch andere Gruppen hinzufügen, die gar nicht erst Gelegenheit zum Fluchtversuch haben: die Innenstadtbewohner, die sich auch ,nach draußen' absetzen würden, wenn sie es sich leisten könnten; auf Sozialhilfe angewiesene Familien, die von der Agrarindustrie vom Land verdrängt wurden oder in die Stadt gehen mußten, weil ihre Höfe zu ländlichen Slums verkamen; die (oft illegalen) Einwanderer, die auch nur in die Städte strömen, um der ländlichen Verelendung in ihren Heimatländern zu entgehen.

 

Sie alle leben in der Stadt, aber sie gehören nicht zur Stadt. Die Millionen, die sich in den Städten der Dritten Welt drängen, sind wohl auch kaum echte Städter; es sind Vertriebene aus ländlichen Gegenden, die im Niedergang begriffen sind, weil die Regierungen glauben, daß man hier mit neuester westlicher Technik (die für Kleinbauern unerschwinglich ist) profitable Monokulturen anlegen muß. Doch die neue Agrartechnologie ist so jämmerlich hinter der Urbanisierung der Dritten Welt zurückgeblieben, daß jetzt viele Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika (sogar einige westeuropäische Länder und natürlich die Sowjetunion) mehr und mehr auf Nahrungsmittelimporte aus Nordamerika angewiesen sind, die sie hauptsächlich für ihre hungernden Städte brauchen.

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Bei einer Meinungsumfrage in den Vereinigten Staaten gaben 1974 nur 20 Prozent der Stadtbewohner an, daß sie das Leben in der Stadt bevorzugten. 32 Prozent würden lieber in Kleinstädten leben, 31 Prozent in Vororten und 20 Prozent auf dem Bauernhof.* Auch in London gaben drei Viertel der Innenstadtbewohner an, sie würden lieber in Vororten oder auf dem Land leben. Was sie an der Stadt auszusetzen hatten, wird niemanden überraschen, und man würde wohl in allen Großstädten der Welt die gleichen Antworten hören: zuviel Schmutz, Kriminalität, Verkehr, Lärm, Einsamkeit; zuwenig Sicherheit, Mitmenschlichkeit, Spielraum für Kinder, frische Luft.

Fügen wir noch eine Tatsache hinzu, die deutlich macht, daß die Stadt ihre Leute nur noch schwer halten kann. In den Vereinigten Staaten, wo die Urbanisierung einer der deutlichsten Trends der Moderne ist, zeigen die letzten Volkszählungen (1976), daß eine Abwanderung aus den Großstadtgebieten in die Kleinstädte begonnen hat. Bezeichnenderweise wird diese Bewegung zum großen Teil von älteren Bürgern getragen, die sich, sobald sie in den Ruhestand treten, nach Florida, Arizona oder Colorado absetzen. Sobald die Menschen die Wahl haben, so scheint es, verlassen sie die Stadt. Viele dieser älteren Menschen tauschen ihr Stadtleben auch gegen ein Wohnmobil ein und reisen von da an durchs Land. Vielleicht finden sie bei diesem späten Exodus nur überfüllte Nationalparks und Campingplätze oder das Plastik-Shangrila irgendeines Baulöwen — die Stadt jedenfalls hält sie nicht.

Vielleicht werden wir Doxiadis' Eucumenopolis bauen — aber gegen die menschliche Natur, glaube ich. Nur eine kleine Minderheit findet wirklich Geschmack am Stadtleben, und so wird es auch bleiben. Es ist ein rauher, erworbener Geschmack. Die meisten Menschen werden durch ökonomische Notwendigkeit gezwungen, Städter zu sein. Wenn sie auf dem Land kein Auskommen mehr finden, dann kommen sie auch heute noch in die Stadt, wie sie vor zwei Jahrhunderten die Industriestädte erreichten — geschlagen und verzweifelt. Hier wird ihnen, wenn sie Glück haben, über das Schlimmste hinweggeholfen ... private Wohltätigkeit, öffentliche Unterstützung, mit der Zeit vielleicht irgendeine Hilfsarbeit. Doch die meisten haben nicht einmal soviel Glück. Wer in den USA heute aus den Appalachen, vom Mississippi-Delta, aus Puerto Rico, Mexiko, Korea und von den Philippinen in die Städte kommt, wird vermutlich der ersten Generation einer permanenten Sozialhilfe-Familie angehören.

Noch schlimmer in der Dritten Welt, wo nur ein verschwindend geringer Teil der in die Städte Abwandernden Arbeit findet.* Venezuela ist ein typisches Beispiel. Die rapide Verstädterung hat dort schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung erfaßt, aber weniger als 10 Prozent dieser urbanen Massen haben Arbeit. 

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Die übrigen betteln und stöbern in den Straßen nach allem, was sie bekommen können. Überall in der unterentwickelten Welt sehen die Zahlen ähnlich düster aus. Das Wort 'Stadt' wird weltweit zu einem Synonym für 'Slum', 'Getto', 'Wellblechstadt'. Es gibt auch kaum Hoffnung, daß eine ökonomische Entwicklung nach europäisch-amerikanischem Muster die gesellschaftlichen Schäden forcierter Urbanisierung wieder beheben kann. Wie Colin Norman schreibt, bedarf es einer Investition von 20.000 Dollar, um einen modernen, kapitalintensiven Arbeitsplatz in einer industriellen Wirtschaft zu schaffen.* Diese Kur würde die urbane Marge nicht verkraften. 

Die Chinesen umgehen bisher die schlimmsten Formen urbaner Verelendung, weil sie die Landwirtschaft mit großem Aufwand gestützt und damit die Menschen auf dem Land gehalten haben. Diese Politik wollte Gandhi auch in Indien durchsetzen, doch die von ihm geschaffene Wirtschaftsweise, die sich auf den Kleinbauern und arbeitsintensive Technologie stützte, wurde (unter reichlichem Zuspruch durch westliche Experten) von der nächsten Regierung schnell wieder demontiert.

Den wenigen, die genügend Gewitztheit, Bildung und Initiative besitzen, bietet die Stadt vielleicht vielversprechende Chancen, doch für alle anderen hat sie nur eine Identität bereit: urbane Masse. Das war noch nie eine Identität, die man sich freiwillig wählt. Und doch kann man die Urbanisierung wohl den teuersten sozialen Prozeß nennen, der je in Gang gesetzt wurde, um die Menschen arm und elend zu halten. Selbst auf der Ebene des äußersten Lebensminimums ist Stadtleben unglaublich teuer. Diese Kombination aus Armenhaus, Irrenhaus und Leichenhaus, wie es die Industriestadt ist, gibt es in der Geschichte sicher nicht noch einmal.

Wieviele dieser urbanen Millionen würden aufs Land zurückkehren, wenn sie eine realistische Chance hätten? Nehmen wir an, wir würden in unserem eigenen Land die nachgemachte ländliche Idylle der Vorstädte aufgeben und versuchen, wieder echtes Landleben zu schaffen — kleine, technologisch durchdachte Familienbetriebe. Angenommen, die hohe Politik stellte sich die Aufgabe, den Menschen die Ausbildung, die technische Hilfe, die Darlehen und Zuschüsse zu geben, die sie brauchen, um den Übergang vom Stadtleben zum Landleben bewältigen zu können. 

Es ist nicht zu erwarten, daß jeder dann Ackermann werden will, aber es könnten genügend sein, um einer selbständigen Landwirtschaft eine reale Basis zu geben; andere finden vielleicht Arbeit in den Dörfern und kleineren Städten, die mit dem Land kooperieren. Auch die Landbevölkerung braucht Ärzte, Lehrer, Kaufleute, vielleicht sogar ein Theater und ein Orchester, wenn sie sich aus der Isolation befreien will, die dem Landleben in der Vergangenheit stets zum Verderben wurde. Hier könnte sich das vom menschlichen Maß bestimmte und sichere Leben bieten, das die Menschen jetzt in den Vororten suchen, nur wäre es ein wirkliches und unabhängiges Leben wie es keine Schlafstadt je bieten kann.

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So könnte sich ein breites Spektrum von Möglichkeiten eröffnen und zu einer weit größeren Vielfalt führen, als wir sie jetzt im Weltreich der Städte haben. Es würde immer noch Menschen geben, die lieber in der Stadt leben, aber um den überspitzten industriellen Kern herum gäbe es ein offenes organisches Geflecht aus kleinen Städten, Dörfern, landwirtschaftlichen Kooperativen und Familienhöfen, wo sich bilden könnte, was die Welt so dringend braucht: eine Bevölkerung, die die Wirklichkeit primärer Produktion direkt erfährt und dadurch ein Gespür für die Grenzen der urbanen Marge entwickelt. So könnte das Land sich vom Einfluß der Stadt emanzipieren, und die Stadt könnte werden, was sie sein sollte: keine demographische Monstrosität, in der entfremdete Massen sich drängen, sondern Lebensraum einer oft schöpferischen, manchmal ziemlich überspannten, stets aber sehr lebhaften Minderheit — eine faszinierende menschliche Energie, die ständig des ausgleichenden und stabilisierenden Einflusses der ländlichen Welt jenseits ihrer Grenzen bedarf.

 

Wem gehört das Land?  

Die Schwierigkeit bei den meisten Diskussionen über die Stadt und ihre Probleme besteht darin, daß man sie losgelöst von ihrer ländlichen Umgebung betrachtet, als wären sie zwei Bereiche, die nichts miteinander zu tun haben. Im Denken vieler Menschen repräsentieren Land und Stadt sogar zwei historische Epochen, wobei die eine (das Land) einer sterbenden Vergangenheit angehört und die andere (die Stadt) die moderne Welt darstellt. Wer so denkt, beraubt die Stadt des einzigen Hintergrunds, der ihre Gebrechen noch heilen kann. Die scharfe Trennung unterstellt, daß man sich eigentlich nur noch in der Stadt und ihren Vororten aufhalten kann — alles andere ist Wildnis. Die so denken, wollen folgerichtig zur Rettung der Stadt auch nur die Mittel der Stadt angewendet sehen: Umstrukturierung der Stadträume, damit sie immer mehr Millionen aufnehmen können, und Aufspüren neuer Möglichkeiten, die urbane Marge immer weiter auszudehnen.

Im Extremfall landen wir bei Paolo Soleris Plänen, die wuchernden Städte lieber in die Höhe zu stapeln zu riesenhaften Ameisenhaufen, die er "Arkologien" (Arkologie = Architektur + Ökologie) nennt. Oder wir finden Gerad O'Neills mit fast manischer Akribie ausgearbeiteten Vorschlag, zylindrische Städte im Weltraum um die Erde kreisen zu lassen, wo das Leben frei vom Gesetz der Schwerkraft ist. Oder Nigel Calders Pläne für geodätische Dome im Großstadtformat, die man auf Eisbergen über die Weltmeere schwimmen läßt, innen parfümierte Luft und ewiger Frühling.* Auch das klingt alles wie Science Fiction. Aber es ist nicht so gemeint, sondern all diese Ansätze wollen den Kräften eine klare, bildhafte Gestalt geben, die sich jetzt überall im Weltreich der Städte regen. 

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In all diesen ambitionierten Vorhaben ist die Grundannahme aller gegenwärtigen Stadtplanung am Werk: daß die Stadt das Erdreich besitzen muß und daß all ihre Probleme nur Probleme der Planung und Finanzierung sind. Das aber ist von Grund auf falsch, denn Städte sind nicht einfach Gebäude oder Verkehrsnetze oder Haushaltsetats. Städte sind die Menschen, die darin wohnen. Die Probleme der Städte sind die Probleme der Menschen. Und das Grundproblem aller Städte ist heute, daß die meisten Menschen, die dort leben, lieber woanders wären — sie sind keine Städter und wollen es auch nicht sein. Das macht alle Übel der Stadt so unheilbar: wie will man Städte retten, deren Bewohner Städte hassen und ihrer Kultur keinen Wert beimessen? Die einzige Lösung: wir müssen denen, die weg wollen, die Möglichkeit geben zu gehen.

Um die Stadt von ihrem Selbstmordkurs abzubringen, kann man kaum etwas Besseres tun, als diejenigen aus ihren Fesseln zu befreien, die gehen wollen. Das aber wird erst möglich sein, wenn wir die politischen Fragen des Besitzens und der Nutzung des Landes in Angriff nehmen. Jede Stadtpolitik oder Stadtplanung, die nicht bei der Landreform ansetzt, ist Irreführung oder gar Betrug. Die Entstädterung der Welt ist die Befreiung der Menschen von den Städten, in denen sie nicht leben mögen. Das aber setzt die Befreiung des Landes zu einer echten ökonomischen und kulturellen Alternative voraus.

Es gibt nur wenige Gebiete der Erde — etwa Java, Belgien oder Bangla Desh —, wo die Überbevölkerung zwangsläufig zur Verstädterung geführt hat. Meistens bleiben bei der Flucht in die Städte offene Ländereien und verlassene Dörfer zurück. Die Abwanderung in die Städte ist ein politisches, kein Bevölkerungs­phänomen: Motor der Bewegung ist die landwirtschaftliche Großtechnologie, unterstützt durch eine rigorose Sozialplanung. In den USA kann man noch die immer weiter fortschreitende Konzentrierung des Eigentums an Grund und Boden hinzufügen, die ebenfalls die ländlichen Alternativen einschränkt. Bei uns ist das Land nicht aufgebraucht, sondern aufgekauft; nicht übergroße Bevölkerungsdichte ist schuld daran, daß es nicht mehr zur Verfügung steht, sondern es gehört einfach immer weniger Leuten. Es ist da, aber eingezäunt und mit Gesetzen verbarrikadiert.

In Amerika leben 70 Prozent der Bevölkerung auf 2 Prozent der Bodenfläche. Die Menschen, die in unseren hundert größten Städten leben, nehmen nur 0,7 Prozent der Fläche in Anspruch. Und außerhalb dieser winzigen Inseln liegt nicht etwa nur Alaska und Death Valley. Fährt man durch das Land, so sieht man Millionen von Hektar Land hinter den Zäunen brachliegen; nichts tut sich da, sie gehören nur irgendeinem abwesenden Grundbesitzer, Öl-, Holz- oder Bergwerks­gesellschaften, Eisenbahnen, Maklern und Spekulanten. Das Land hat nur die Funktion, im Wert zu steigen, ohne daß man einen Finger krumm macht, und was dabei an Steuern fällig wird, sind vergleichsweise lächerliche Beträge. 

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Reiche Subventionsbauern lassen riesige fruchtbare Landstriche gezielt unbearbeitet; sie sind nicht ernsthaft daran interessiert, Nahrungsmittel oder Rohmaterialien zu produzieren, sondern wollen nur irgendwelche Steuerabschreibungen einstreichen oder Subventionen, die die Regierung für nicht bebautes Land zahlt — eine Art Anti-Landwirtschaft, die zu einem der teuersten 'Sozialprogramme' in unserem Land geworden ist. In den sechziger Jahren hat diese saftig bezuschußte Unproduktivität fast 30 Milliarden Dollar aus dem Staatshaushalt in die Kassen von Firmen wie United Fruit klingeln lassen.

Alles in allem ist die beengende Situation in den Vereinigten Staaten im Lauf der letzten fünfzig Jahre dadurch entstanden, daß man 40 Prozent der Bauern­bevölkerung ihrer Lebensgrundlage beraubte und dadurch vertrieb. Zwischen 1940 und 1960 verließen 22 Millionen Amerikaner das Land und gingen in die Städte, eine der größten Völkerwanderungen der Moderne. Ergebnis: etwa zwei Drittel des privaten Landes liegt in den Händen von nur fünf Prozent der Bevölkerung. Und das Staatsland — es ist ein noch lukrativeres Terrain für rücksichtslose Kapitalinteressen geworden. Millionen von Hektar werden verpachtet, zusammen mit den entsprechenden Konzessionen für den Abbau von Holz, Kohle, Ölschiefer und Uran.*

Kaum jemals wird die Landreform als Bestandteil der Städteplanung betrachtet; die meisten Amerikaner denken bei diesem Wort ohnehin nur an die Probleme zurückgebliebener Länder der Dritten Welt. Aber sie ist für uns ebenso wichtig. So wie ich das Wort Landreform meine — als Plädoyer für autonome und dezentrale Landgemeinden — bedeutet es eine Aufgabe, die überall noch zu bewältigen ist, auch in vielen sozialistischen Ländern, deren Politik ebenso stadt-dominiert ist wie unsere.

Die meisten Städter, auch die gebildeten, haben geschluckt, was man ihnen an Propaganda über Effektivität und industrielle Landwirtschaft vorgesetzt hat — wie sie auch nur allzu bereitwillig glauben, daß unsere Landbevölkerung nur deshalb so rapide abnimmt, weil die Menschen alle so versessen auf das erregende und kultivierte Stadtleben sind. Sie glauben, was die Öl-, Energie- und Holzgesellschaften über die Notwendigkeit großangelegter Operationen sagen und daß sie ihre gewaltigen Nutzungsrechte zum Wohle aller ausüben. In Wahrheit wissen die Städter gar nichts über das Land; sie haben keine Ahnung, wem welches und wieviel Land gehört; sie wissen nicht, wie die Land-Erschließung (oder gezielte Nicht-Erschließung) finanziert und besteuert (oder nicht besteuert) wird. Sie übersehen geflissentlich die kriminellen Interessen, die sich in der Bodenspekulation breitmachen (und nur aufgrund der bodenlosen öffentlichen Ignoranz konnte sich dieses Betätigungsfeld zu einer der fettesten Pfründen entwickeln). 

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In allem, was die Bewirtschaftung des Landes angeht, sind die urbanen Millionen die leichtgläubigen Bauerntölpel. Das Land repräsentiert nach wie vor den eigentlichen Reichtum der Welt; die Landwirtschaft ist bei uns immer noch einer der größten Wirtschaftszweige und Devisenbringer; und die Boden­spekulation ist auch heute noch, was sie in den Tagen George Washingtons war — eines der zwielichtigsten und einträglichsten Geschäfte.

Wollte man dieses meisterlich konstruierte Labyrinth aus Korruption und Sonderprivilegien durchleuchten, so müßte man wohl eine kleine Armee von Spezialisten einsetzen. Letztlich läuft aber doch alles auf eine einzige gesellschaftliche Tatsache hinaus: Bei uns ist den Menschen das Land ebenso kaltschnäuzig weggenommen worden wie in irgendeiner Bananenrepublik — und sie zahlen für diesen Diebstahl auch noch selbst, Tag für Tag und auf viele verschiedene Arten. 

Sie zahlen dafür mit den Preisen für ihre Nahrung, ihre Mieten, mit den Steuern für Vermögen und Einkommen. Sie zahlen mit Bodenerosion, Umwelt­verschmutzung, ländlichen Slums, Sozialhilfe. Wirklich teuer, ja unbezahlbar wird diese Entwicklung aber durch die immer weiter fortschreitende Konzentrierung des Grundbesitzes, die den Lauf der modernen Geschichte ändert. Sie ist einer der Hauptgründe dafür, daß die Vereinigten Staaten ein Land großer, menschenunwürdiger Stadtgebiete geworden ist; sie ist eine der großen Kräfte, die das Weltreich der Städte aufgebaut haben. Die Menschen haben das Land nicht bereitwillig oder unter dem Druck tatsächlicher ökonomischer Notwendigkeit verlassen; sie wurden bestochen, schikaniert, betrogen und fortgetrieben. 

Und das geht noch immer weiter. Mitte der Siebziger zählt die amerikanische Landbevölkerung nur noch 8 Millionen Seelen, weniger als 4 Prozent der Gesamtbevölkerung, und die Tendenz ist fallend; seit 1970 sind 1,5 Millionen abgewandert und jedes Jahr schließen sich weitere 2000 Familien der schicksalhaften Völkerwanderung an. Sie werden nicht immer durch eine angeblich effizientere Landwirtschaft ersetzt (die sich damit brüstet, den Hunger der Welt zu stillen), sondern oft durch sterile Bodenspekulation oder bloße urbane Wucherungen. Jeden Tag verschlingen die Städte bei uns 1200 Hektar Land. Soviel fruchtbare Erde verschwindet Tag für Tag unter Vorstadtsiedlungen, Straßen, Parkplätzen und Flughäfen.* Kenner der Materie schätzen, daß dieses Land bei intensiver Nutzung sechzig bis hundert Familien ernähren könnte.

Und wo die industrielle Landwirtschaft das Land übernimmt, wird es von da an auf die teuerste und ökologisch schädlichste Art bearbeitet. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist der Verbrauch an umweltschädlichen petrochemischen Düngemitteln in der amerikanischen Landwirtschaft um 700 Prozent gestiegen, während die bebaute Fläche um 16 Prozent geschrumpft ist. Man schätzt, daß es die Amerikaner zehn bis zwölf Petrokalorien kostet, um eine Nahrungsmittelkalorie herzustellen. In China, wo die herkömmlichen Methoden überlebt haben, kommt man mit zwei Petrokalorien aus.

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Um einen Hektar Mais zur Reife zu bringen, verbraucht ein amerikanischer Bauer gegenwärtig fast 900 Liter Öl. Bei den steigenden Ölpreisen kann man das wohl nur Luxus-Landwirtschaft nennen.* Dennoch wollen unsere Chemie- und Ölkonzerne gerade diese Art der Landwirtschaft als 'Grüne Revolution', als Antwort auf den Hunger der Welt an die unterentwickelten Länder verkaufen. Wo immer diese 'Revolution' Fuß faßt, zeitigt sie die gleichen Folgen wie bei uns. Kleine Höfe werden von Großbetrieben verdrängt und die Menschen werden in die Städte getrieben, um dort in der urbanen Masse zu verschwinden.*

Die besondere Ironie des Ganzen: In vielen Fällen jammern riesenhafte Agrarkonglomerate wie American Tenneco (die in Kalifornien und Arizona mit staatlich subventionierter künstlicher Bewässerung über 700.000 Hektar bewirtschaftet) über schwere finanzielle Verluste in der Landwirtschaft. Ihre stattlichen Gewinne erwirtschaften sie anderswo: mit Steuer­abschreibungen, Weiterverarbeitung und Vertrieb der Nahrungsmittel oder mit Bodenspekulation.

Gewiß, die Großtechnologie, die von diesen Firmen eingesetzt wird, hat die Pro-Kopf-Produktion in der Landwirtschaft enorm erhöht, aber das ist auch das einzige Kriterium für ihre angeblich höhere ,Effizienz' und zudem offensichtlich ein irrelevantes Kriterium in einer Welt, in der die Menschen um Arbeit betteln. Es gibt keinen Grund, auf dem Land Arbeitskräfte 'einzusparen'. Im Gegenteil, wir könnten mehr Nahrungsmittel einer besseren Qualität pro Hektar erzeugen und brauchten dazu weniger Kunstdünger, Pestizide und Maschinen, wenn wir die Menschen einfach in vernünftig proportionierte Familienbetriebe zurück­kehren ließen.

Vor einem Jahrhundert haben die Räuberbarone der Eisenbahnindustrie unserer Gesellschaft Millionen von Hektar öffentlichen Landes abgeschwindelt. Nach hundertjährigem Prozessieren gehören den Eisenbahngesellschaften immer noch über acht Millionen Hektar vom besten Land. Standard Oil of Indiana besitzt allein weitere acht Millionen Hektar. Den großen Papier­herstellern gehören 40 Millionen Hektar in den Südstaaten. In unserem Land besitzt solch eine Handvoll Firmen Grund und Boden mit einer Ausdehnung, die etwa Spanien oder Japan entspricht. 

Landreform ist weder in unterentwickelten noch in entwickelten Ländern aus technischen oder ökonomischen Gründen unrealistisch; wenn dieser Punkt so ungern angesprochen wird, so liegt das an seiner politischen Sprengkraft, die an solchen Zahlen deutlich abzulesen ist. Das gleiche auch in sozialistischen Ländern, wo die Landwirtschaft in den Händen von Funktionären liegt, die ebenso auf gigantische und überzentralisierte Landwirtschaft eingeschworen sind. Wir alle, die wir in Großstädten leben, sind die Gefangenen eines zum Fetisch erhobenen Gigantismus — in der Stadt und auf dem Land. Große Gewinne, Macht, Technik, Märkte. Die Mauern der modernen Stadt sind unsichtbare Gitter aus Eigennutz und einer pathologischen Wirtschaftsweise.

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Städtischer Gartenbau

Aber inzwischen ... bis diese Mauern einstürzen, bis das Land vom Imperialismus der Städte befreit wird ... was sollen wir bis dahin tun?

Hier und jetzt müssen wir Stadtbewohner unseren parasitären Anspruch auf den ganzen Planeten aufgeben. Noch bevor die Entstädterung wieder echte Landwirtschaft möglich macht, müssen wir lernen, unseren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

Ökologen, die sich über die Zukunft der Welternährung Sorgen machen, schreiben die Städte heute meist schon ganz ab — Ödland, auf dem nur unverbesserlich konsumwütige Verschwender wohnen. Das ist, zumal in den Vereinigten Staaten, auch wirklich der Fall, wo einer Schätzung zufolge so viel Boden unter Rasenflächen, Golfplätzen und Friedhöfen begraben liegt, daß man damit ein Land wie Indien vor dem Hunger bewahren könnte. In autoabhängigen Städten wie Los Angeles ist die Hälfte der Gesamtfläche mit Straßen und Parkplätzen zuasphaltiert. 

Nach Angaben des British Civic Trust liegen in britischen Städten 100.000 Hektar Land brach, genug, um jedes Jahr 25 Millionen Tonnen Kartoffeln anzubauen.* Wenn wir uns damit abfinden, daß städtische Räume ein für allemal Brachland sind, dann sehen die Zahlen für die Zukunft der Welternährung ziemlich finster aus. In Amerika sind zum Beispiel in den letzten beiden Jahrhunderten über 100 Millionen Hektar Ackerland an die Städte 'verlorengegangen', und die städtische Invasion des Landes geht, wie gesagt, mit 1200 Hektar pro Tag weiter. 

Es gibt indes Beispiele für andere Möglichkeiten. Ich erinnere mich an den victory garden im Zweiten Weltkrieg. Mitten in Chicago, wo ich damals wohnte, wurden alle Hinterhöfe und freien Flächen bebaut, obgleich alle Leute arbeiten gingen und sogar Überstunden machten oder Schichtdienst hatten. Sie hatten immer noch genug Zeit für ihren Garten und empfanden diese Arbeit (so weit ich mich erinnere) als befriedigend. 1943, auf dem Höhepunkt der Bewegung, gab es in amerikanischen Städten mehr als 20 Millionen solcher Familiengärten. Zwischen 1942 und 1946 wurden hier 24 Millionen Tonnen Nahrungsmittel hergestellt.*

Aus dieser Zeit fällt mir noch ein Gegenbeispiel für die allzu üppig gewordene Lebensweise der Stadt ein; die Sammeltouren der Kinder. Jeder Straßenzug der Stadt hatte seine rot-weiß-blauen Sammelstellen für Metall, Papier, Gummi, Glühbirnen und sogar Küchenabfälle. Einmal die Woche hatten wir schulfrei und zogen mit unseren Leiterwagen herum, um alles aufzulesen. Für die größten Fischzüge waren Preise ausgesetzt und die Gewinner wurden gelegentlich im lokalen Anzeigenblättchen abgebildet.

All das sah damals jedermann als patriotische Bürgerpflicht an, eine Einstellung, die vermutlich viel mit der heroischen nationalen Sparsamkeit im heutigen China gemein hat. 

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Doch kurz nach dem Krieg — der letzte Aufruf der Regierung, den Familiengarten weiter zu betreiben, kam 1947 — verschwanden die Sammeltouren und die victory gardens so schnell, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Das war natürlich auch geschehen. In den oberen Etagen der großen Firmen, in den Büros der Madison Avenue hatte man entschieden, daß jetzt das Zeitalter des 'Wohlstands' angebrochen sei und Amerika (oder wenigstens seine Mittel- oder Oberschicht) den Weltstandard für Massenkonsum setzen werde. Die Kriegssparsamkeit fiel der Ex-und-Hopp-Moral zum Opfer, der victory garden dem Supermarkt. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre wendete die amerikanische Wirtschaftswissenschaft daran zu beweisen, daß Verschwendung gut, Sparsamkeit schlecht und die urbane Marge grenzenlos sei, weil die Rohstoffreserven der Welt niemals ausgehen würden.

 

Ungewöhnlich ist nicht, daß die Menschen im Krieg Zeit und Raum für urbanen Gartenbau fanden, sondern wie schnell das alles wieder verschwand. Seit es Städte gibt, haben die Bewohner stets in irgendeiner kleinen Ecke noch etwas angebaut. Der englische Küchengarten ist so alt wie London. In Paris ist der Dachgarten eine ehrwürdige Tradition der Arbeiterklasse. Immer hat es ein paar Obstbäume oder Gemüsebeete gegeben, man hielt Hühner oder Tauben, Kaninchen oder Bienen, zog Schnecken oder Fische, pflanzte Kräuter in Blumenkästen oder versuchte gar, von den Küchenabfällen eine Ziege zu ernähren. In manchen englischen Städten wurden im 19. Jahrhundert Schweine zur Straßenreinigung eingesetzt und mit dieser Mast zur Schlachtreife gebracht.

Solche Bräuche waren immer fester Bestandteil des Stadtlebens. Erst in jüngster Zeit finden es die meisten Amerikaner und Europäer nur noch schrullig und irgendwie barbarisch, städtische Flächen für solche organischen Zwecke zu nutzen. Die fortschrittlichsten Industrienationen haben den Trend eingeleitet, die Städte vollkommen steril zu machen und so weit wie möglich von ihren Rohstoffquellen abzuschneiden — als erfordere hohe industrielle Produktivität ein völliges Ableugnen offensichtlicher ökonomischer Verbindungen. Alles muß jetzt durch die Geld-, Dienstleistungs- und Versorgungskanäle. Und alles, was wir brauchen, muß verpackt in unsere Hände gelangen — eingewickelt, verlötet, versiegelt, in Flaschen, Dosen, Kartons, Verpackung in der Verpackung in der Verpackung ... damit ist das Verpackungsgewerbe zur viertgrößten Industrie und zum größten Abfall­produzenten geworden.

Wie durch göttlichen Ratschluß scheint es unseren Städten verboten zu sein, selbst irgend etwas zu ihrer Ernährung beizutragen. Vielmehr müssen sie ihre Erde unter Beton, Asphalt und Rasen (vorzugsweise Rasen, den man mit Motormähern und Kunstdünger traktieren muß) verschwinden lassen. Parks darf man wohl gestalten, aber keinesfalls etwas darin anbauen. Wenn man schon Tiere hält, dann müssen es reine Spieltiere sein, die von teurem Dosenfraß leben.

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Zugleich muß aber auch alles, was die Stadt verbraucht, zu Abfall werden, der dann unter Aufwendung unglaublicher Summen eingesammelt und verbrannt oder vergraben wird. Nichts darf wiederverwendet (recycled) werden — ein Wort, das erst in den letzten Jahren unter dem Einfluß der Umweltschützer in unser Vokabular eingedrungen ist.

Wenn aber die Umwelt-'Lobby' (den Ausdruck gibt es ... aber wessen Interessen vertritt sie?) sich durchsetzt und wir uns zur Wiederverwertung dieser Abfälle durchringen, dann muß für das Sortieren (das man leicht in jeder Küche von Hand erledigen könnte) eine komplizierte Technologie her. Und die organischen Abfälle — die müssen in den nächsten Fluß oder See gespült werden, so daß man dann bald wieder mit großem Kostenaufwand dem Problem der Gewässer-Überdüngung zu Leibe rücken muß. Auf keinen Fall dürfen sie kompostiert und so zu natürlichem Dünger verarbeitet werden, denn wer würde dann noch den Chemiekonzernen den teuren Kunstdünger abnehmen?

Man braucht diese Praktiken nur aufzulisten, um ihre offenkundige Absurdität zu erkennen. Es sind die Regeln einer wildgewordenen Wirtschaft, die unsere Städte in eine absolut künstliche und abhängige Umwelt verwandeln will. Mehr als die simple demographische Tatsache der fortschreitenden Urbanisierung bringt uns dieser ungesunde Stil des modernen Stadtlebens an den Rand des ökologisch Unmöglichen. Wir leben immer mehr so, als trennte uns der Beton unter den Füßen wie eine tausend Meilen weite Wüste von der Erde. Dabei ist die Erde immer noch da, erreichbar immer noch in Höfen, Parks und unbebauten Grundstücken. Sie liegt nur wenige Zentimeter entfernt unter dem Asphalt, genauso wie das Wasser und der Dünger für einen städtischen Gartenbau nicht weiter weg wären als die nächste Kläranlage. Die einzige wirkliche Barriere zwischen den Städten und der Erde ist der ökonomische Stil, der Modernisierung mit Sterilität gleichsetzt.

 

Das innerstädtische Neuland 

Doch es gibt Zeichen des Wandels, kleine, aber wichtige Zeichen. Immer mehr urbane Ökologen versuchen die Barriere zu durchbrechen. Es sind Leute, die sich mit Kompostierung und mit Verfahren der intensiven Bebauung befassen, die es einer normalen Familie auf einem durchschnittlichen Stadtgrundstück erlauben würde, ihren Bedarf an Obst und Gemüse größtenteils selbst zu decken. Sie nutzen die Dächer als Anbauflächen und entwickeln Aquakultur und Hydrokultur zu einem fast geschlossenen ökologischen Kreislauf. Sie haben entdeckt, daß Keimlinge aus Getreide, Bohnen und anderem, die man leicht selbst herstellen kann, sehr viel nahrhafter sind als all die konservierten Nahrungsmittel aus dem Supermarkt. Sie organisieren Nachbarschaftskooperativen und Tauschhandel für Waren, Werkzeuge und Know-How und bilden damit städtische Gemeinschaften, in denen die Isolation überwunden wird.*

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Noch kann man nicht absehen, wie weit solche Maßnahmen die urbane Marge ausdehnen können; im Stadtkern sind ihre Anwendungsmöglichkeiten vielleicht begrenzt — es sei denn, wir könnten uns vorstellen, daß die Autos verbannt werden und wir die Erde unter Straßen und Parkplätzen zurückerobern. Wer aber solche Bemühungen um die Rekultivierung der Stadt von vornherein ablehnt, ist Opfer einer falschen Propaganda, die städtischen Boden für endgültig verloren erklärt; die Stadt überlagert diese Erde nur, und meist für Zwecke, die den Bewohnern weniger nützen als Gartenbau und Tierhaltung.

Wir sehen diese Tatsache nicht, weil wir uns daran gewöhnt haben, Stadtgelände nur noch als Spekulations­objekt zu betrachten, das seinem Besitzer ungenutzt mehr einbringen kann als wenn er es verkauft oder irgend etwas damit macht. Profit ist aber nicht mit gesellschaftlichem Wert identisch. Manche einsichtige Stadtplaner erkennen jetzt diesen Zusammenhang und empfehlen 'planvolles Gesundschrumpfen' und 'intensivere Nutzung'. Um das Wuchern der Städte zu bremsen, wollen sie Wohngebiete und ihr kostspieliges Dienstleistungsnetz zu ökonomischeren Einheiten zusammenfassen, so daß zwischen ihnen möglichst viel freier Raum bleibt. 

Selbst in so dicht bevölkerten Städten wie New York gibt es Gebiete wie die South Bronx, die nur noch verlassene Steinwüsten sind. In allen Städten der Welt gibt es solche Gegenden, wo niemand wohnen will oder sie auch nur zu betreten wagt; meist siedeln sich dort Müllplätze, Autofriedhöfe oder Lagerhäuser an. Ihr eigentlicher ökonomischer Wert besteht aber darin, daß sie irgend jemandem gehören, der auf die Sanierung des Gebiets wartet, um dann einen kräftigen Wertzuwachs einstreichen zu können.

Wie gut würden sich solche Gebiete im Rahmen eines Programms der urbanen Verdichtung in die Pläne der 'Stadtbauern' einfügen. Hier könnten für die Ärmsten der Armen organische Nahrungsmittel erzeugt werden, die als Dünger nur kompostierte Abfälle brauchten und ohne Transportwege auf die Tische der Verbraucher gelangten. Sie sind ein innerstädtisches Neuland, das uns die Möglichkeit einer Entstädterung der Welt bietet, ohne daß die Menschen erst die Städte verlassen müßten. Um wieder mit der Erde in Kontakt zu kommen, brauchen sie nicht weiter zu gehen als bis zum nächsten Stück freien Boden, den sie finden oder zurückerobern können.*

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Die Verantwortung der Intellektuellen:
Ein Postskript zum urbanen Imperialismus und der planetaren Notlage

 

Wenn ich mir das letzte Kapitel noch einmal vor Augen halte, wird mir klar, daß meine Anregungen vielen Intellektuellen und Akademikern ziemlich utopisch erscheinen müssen. Ich vertrete die Ansicht, daß wir die urban-industrielle Dominanz brechen müssen, wenn wir die Rechte der Person und des Planeten schützen wollen. Das bedeutet, wir müssen die Städte verkleinern, das Land aus ihrer imperialen Umklammerung befreien, dem Landleben eine tragfähige Grundlage geben und mehr freie Naturräume schaffen. Und was kann ich schließlich als Weg zu diesen Zielen anbieten? Nichts weiter als ein Plädoyer für etwas so Nebuloses wie Landreform ... städtischer Gartenbau ... Nachbarschaftshilfe?

Nun, wenn solche Unternehmungen irgendeine Wirkung haben sollen, müssen sie natürlich im Kontext einer fiskalischen und ökonomischen Politik stehen, die nichts Geringeres anstreben muß als eine tiefgreifende Umschichtung des Grundbesitzes, der sich jetzt in den Händen von Unternehmen befindet, deren Gewinnsucht nur noch von ihrer Umnachtung übertroffen wird. Aber diese große Kampagne wird dem Imperium der Städte nichts anhaben können, solange sie nicht in einem neuen Gefühl für unsere Wechselbeziehung mit der Erde und dem festen Entschluß zur Wiederherstellung der nichturbanen Kulturen der Welt wurzelt.

Und ich bin überzeugt, daß dieses Leitgefühl sich hier und jetzt auf praktische und greifbare Art äußern muß, um die urbanen Millionen der Kultur und Wirtschaftsweise der Stadt zu entwöhnen. Unsere städtischen Massen — und vielleicht noch mehr ihre intellektuellen Führer und politischen Sprecher — brauchen die lebhafte tägliche Erfahrung von Alternativen zu städtischer Künstlichkeit und Abhängigkeit, von denen sie sich so lange auf die urban-industrielle Dominanz haben abrichten lassen. Sie brauchen eine Art von Arbeit, die ein intelligentes ökologisches Bewußtsein fördert. Gandhis weitsichtiger Ansatz zielte darauf, daß die Menschen dem Spinnrad und dem Ashram verbunden blieben, damit sie sich ein Gefühl der Gemeinschaft bewahren konnten und ihre Fähigkeit, sich selbst mit allem Notwendigen zu versorgen, vor Augen behielten; andernfalls hätte der Kampf um Unabhängigkeit auch hier wieder nur ein Volk von urbanen Massen entstehen lassen.

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Wenn ich mich also hier diesen eher hauswirtschaftlichen Experimenten zuwende — bessere Nutzung der Gärten und Dächer und der Abfälle —, so weiß ich, daß mein kritischer Widerspruch nicht nur gegen die Geschäfts- und Regierungseliten unserer Gesellschaft gerichtet ist, sondern auch gegen eben jene Gemeinschaft von Intellektuellen, in der dieses Buch seine Leser finden wird. Wir müssen uns endlich der Tatsache stellen, daß wir, die wir solche Bücher schreiben und lesen, die militantesten Advokaten der urban-industriellen Dominanz sind. Die Städte dienen unserem besonderen Interesse noch mehr als dem der Großunternehmen. Alle Pläne für die 'Sanierung' der Städte sickern erst nach dem Durchgang durch unser kritisch intellektuelles Filter ins allgemeine Bewußtsein, und deshalb bestimmen letztlich wir, wie 'praktikabel' oder 'realistisch' ein Vorschlag erscheint.

Viele Klasseninteressen verbinden sich mit Reichtum und Macht der Stadt, doch eines dieser Interessen ist so innig mit der Stadt verwoben, daß es unsichtbar und für Kritik unerreichbar geworden ist: das Interesse der Intellektuellen als Ureinwohner der Stadt. Die Kultur der Städte ist so unverwechselbar ihre Kultur — ihre Schöpfung, ihr ein und alles —, daß sie den Drang der Stadt zu Expansion und Herrschaft als etwas Naturgegebenes betrachten. Das Imperium der Städte ist in erster Linie das Imperium der Intellektuellen.

Die Stadt vertritt ein Klasseninteresse: das war schon immer im Begriff 'Bürgertum' oder 'Bourgeoisie' impliziert. Im Mittelalter war die Stadt als Sammelpunkt partikularer ständischer Interessen so heiß von rivalisierenden Kräften umkämpft, daß sie sich zum Schutz mit Mauern umgeben mußte. Als die Städte aber reich und selbständig genug wurden, um die Macht des Adels zu brechen, haben sich ihre inneren Grenzlinien immer deutlicher abgezeichnet. Die Kluft zwischen Besitzenden und Habenichtsen tat sich auf und wurde immer breiter; das Wort ,Bürgertum' bezeichnete fortan die besitzende und herrschende Klasse innerhalb der Städte, die kapitalistischen Zunftmeister und Unternehmer.

Die uralte Trennung von Stadt und Land wird gegenstandslos, eine atavistische gesellschaftliche Tatsache. Verteidigung des Grundbesitzes wird zum Rückzugsmanöver einer an Boden verlierenden Aristokratie, zum ohnmächtigen Kampf halsstarriger Bauern, die sich gegen den Strom der Zeit stemmen. Das Land wird nach und nach mit städtischem Geld aufgekauft und zu einem Produktionsfaktor gemacht; wie alle anderen Formen des Kapitals wird es so in den Klassenkampf zwischen städtischen Arbeitern und städtischen Unternehmern hineingezogen. Die Klassen kommen und gehen und üben abwechselnd die Herrschaft über das Land aus, doch darüber gerät ganz in Vergessenheit, daß das Land selbst auch noch da ist und all das Leben, das es ernährt. Neben der Soziologie der Klassenbeziehungen auf dem Land gibt es eine Ökologie der Beziehungen zwischen den Menschen und dem Land — ein Wechselverhältnis, das man nicht wie Maschinen, Fabriken oder Geld handhaben kann.

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Die Erde ist nicht einfach nur ein Produktionsfaktor, sondern ein Lebewesen, das einen Anspruch auf unsere Loyalität erhebt. Unsere Identität ist organisch mit ihrer Geschichte verflochten; sie hat uns aus sich selbst heraus erzeugt, geformt und ernährt. Und sie wird sich Gehör verschaffen.

All das vergessen die Menschen, wenn sie sich von der Erde losreißen und in die Stadt aufbrechen. Auch die herrschenden radikalen Ideologien haben das ganz übersehen, denn sie befassen sich nur mit dem Konflikt der industriellen Klassen in der urbanen Gesellschaft. Auf diesen kleinen Brennpunkt beziehen sie all die anderen sozialen Spannungen, als wären sie nur Wellenbewegungen, die von ihm ausgehen. Während aber unsere Aufmerksamkeit noch ganz von diesem vertrauten und inzwischen klassischen Antagonismus in Anspruch genommen ist, bildet sich in allen Ecken der Welt ein neuer und nicht weniger folgenreicher Klassengegensatz; ein Gegensatz, der alle Städter, seien sie reich oder arm, allen Dingen und Menschen gegenüberstellt, die sich außerhalb der Grenzen urbaner Kultur und Ökonomie befinden. Das Ländliche, das Überlieferte, das Primitive, die natürliche Umwelt als Ganzes — sie alle sind das ausgebeutete Proletariat der urbanen Gesellschaft geworden. Die Stadt lebt von ihrem Blut und unterdrückt sie nicht nur, sondern bedroht sie oft genug mit völliger Auslöschung.

Wie die Dinge jetzt liegen, besteht die Aussicht, daß zum Ende dieses Jahrhunderts alle vormodernen Kulturen und auch der letzte Streifen unberührter Natur der Arroganz und Ignoranz der Stadt zum Opfer gefallen sein werden. Die Pygmäen und Beduinen, die Tiger und Adler werden verschwunden sein — für immer, und mit ihnen zahllose andere Kulturen und Arten. Eine derart rapide und massive Vernichtung von Arten und Traditionen, wie wir sie zur Zeit erleben, hat es in der Geschichte noch nie gegeben. All das geschieht, damit die Städte ihre Lebensmittel, ihre Brennstoffe, ihre Luxusgüter haben: das Leopardenfell auf dem Rücken der Prominenz, der Kaffee in jedermanns Tasse. Für diese Form der Ausbeutung haben wir kein Wort wie 'Rassismus' oder 'Sexismus'. Vielleicht müssen wir bei dem heute noch ziemlich wertneutral gebrauchten Ausdruck 'Urbanismus' in Zukunft mehr auf die imperialistischen Untertöne achten.

Mir fällt dazu eine Stelle aus dem Kommunistischen Manifest ein, die über das unterschwellige Klasseninteresse der Intellektuellen Bände spricht. Marx und Engels waren wie alle wichtigen Ideologen ihrer Zeit vollkommen städtische Geister. In ihren Augen gab es nur zwei wichtige Klassen: die Bourgeoisie und die Arbeiterklasse, die auf eine revolutionäre Apokalypse zustrebten. Der Rest — und dazu gehörten auch alle Bauern und Primitiven der Welt — waren kulturelle Überbleibsel, deren einzige Rolle darin bestand, vom urbanen Proletariat, der "Klasse, die die Zukunft in ihren Händen hält", mitgerissen zu werden.

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Und "Natur" — dieses Wort taucht in der marxistischen Literatur nur als Abstraktion auf, als ökonomische Notwendigkeit oder materielle Wirklichkeit. Was sonst konnte sie Menschen bedeuten, die Bäume oder Vögel nur vom Sonntags­spaziergang im Hyde Park kannten? Im Manifest werden die Errungenschaften der Bourgeoisie als unbestreitbarer Fortschritt dargestellt: 

Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. ... Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. Sie hat enorme Städte geschaffen, sie hat die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt und so einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen. Wie sie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisievölkern, den Orient vom Okzident abhängig gemacht.*

"Idiotismus des Landlebens" — da haben wir die Welt, wie sie sich vom Lesesaal des British Museum aus darstellt. Die kühle Überheblichkeit der Worte macht uns deutlich, wie stark der Urbanismus der Intellektuellen auf die radikalen Bewegungen unserer Zeit abgefärbt hat. Selbst die Gestalten, die wir als Sprecher der Revolution auf dem Lande akzeptieren — Mao, Castro, Che Guevara, Fanon, Ho Tschi Minh —, waren ganz von der Kultur der Stadt geprägt. Ist ihnen nicht gerade deswegen das Recht eingeräumt worden, für die nach Milliarden zählende Landbevölkerung der Dritten Welt zu sprechen? Sie sprechen unsere Sprache, die Sprache der Stadt, die Sprache sozialer Theorie und ideologischer Analyse. Sie treten uns mit jener kaum zu widersprechenden Autorität entgegen, die in Hochschulseminaren, Intellektuellencafes und Zeitungen zu Hause ist. Sie sprechen aus Büchern und durch Bücher. Damit qualifizieren sie sich für ihre revolutionäre Mission: Sie kommen zu den Menschen und bringen ihnen die revolutionäre Kunde — gedruckt

Gewiß, die Landbevölkerung hat in ihrer ideologischen Planung einen Stellenwert, doch nur als vorläufiges Machtinstrument, als organisatorische Basis für den Aufbau nationaler Macht, für den "großen Sprung nach vorn" zu urban-industrieller Entwicklung. Wie jeder progressive Intellektuelle (und das haben sie mit allen kapitalistischen Technokraten gemein) wissen sie, daß alles Überlieferte, Primitive und Nicht-Menschliche nur Mahlgut für die Mühlen der Modernisierung ist. Sie nehmen sich des Elends der Welt an, doch ihr Weltbild ist das der Industriestadt. Wenn ihre Revolutionen gesiegt haben, wenn die Kräfte des europäischen Imperialismus den letzten Soldaten und das letzte Kapital, mit dem sie ihre Herrschaft ausübten, aus ihren Kolonien abgezogen haben, werden die Städte der alten imperialen Mächte noch da sein — und man wird weitere nach ihrem Vorbild aufbauen.

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Es hat bisher nur eine Handvoll radikaler Intellektueller gegeben, die bereit waren, die Würde des Überlieferten zu verteidigen und das Imperium der Städte anzugreifen. Bezeichnenderweise waren das Stimmen aus der Dritten Tradition, die für die Rechte der Person streitet. Kropotkin, Tolstoi, Gandhi, Danilo Dolci — sie und einige anarchistische Philosophen waren selbstkritisch genug, ihre eigenen intellektuellen Grundlagen zu hinterfragen.

Mit dem, was ich hier schreibe, möchte ich uns alle, die wir von der Kultur der Städte leben, zu eben dieser Selbstkritik aufrufen, denn das Problem des urbanen Imperialismus ist insbesondere das Problem der Intellektuellen — der Menschen, die mit Ideen umgehen. Für uns bereichert die Stadt das geistige Leben, wie keine andere gesellschaftliche Form es je zuvor konnte. Wir brauchen die Stadt und benutzen sie für das, was sie allein bieten kann: grenzenloses Forschen, kreatives Experimentieren, raschen Austausch von Fragestellungen und Informationen. Das sind unbestreitbare Werte, doch indem wir ihnen immer mehr Gewicht geben, verwandeln wir unsere Städte automatisch in die brain trusts der Welt. Wir räumen ihnen das Monopol über die Mittel der Produktion und Distribution von Kultur ein — die Presse, die Medien, die Erziehungseinrichtungen, die Quellen für Information und Forschung. Bildung ist schließlich eine städtische Erfindung, genauso wie Wissenschaft, Gelehrtentum, professioneller Intellekt.

Und so ist unausweichlich, daß das städtische Bewußtsein — dieses Bewußtsein, das sich so wenig mit dem Rhythmus der Jahreszeiten, dem Leben der Erde, der Sprache der Natur abgibt —, die Geschichte, die Natur, die Gesellschaft interpretiert. Die Fakten, die Neuigkeiten, die Probleme — alles muß so sein, wie die urbanen Intellektuellen es darstellen. Artikulation und Überzeugungskraft werden immer mehr ihr Monopol, bis endlich alles, was außerhalb der Stadt liegt, stumm, jämmerlich und stumpfsinnig erscheint. Es kann nicht für sich selbst sprechen ... beziehungsweise, es kann sich nicht Gehör verschaffen. Wie soll es sich auch nur in die Diskussionsarena wagen, wenn diese Arena die Stadt ist, die das Überleben von allem Nichturbanen bedroht?

Die Geschichte — gemeint ist die Geschichte, wie die Stadt sie aufzeichnet — räumt jenen Ungebildeten, die sich für die Sache der nichturbanen Welt eingesetzt haben, nur eine kleine entlegene Ecke ein. Wer sind denn für uns John Ball, Guillaume Cale, Häuptling Crazy Horse, Nestor Makhno, José Maria Morelos, Emiliano Zapata und die vielen Namenlosen der Vergangenheit? Traurige Beispiele für sprachlose und vergebliche Gewalt, weit zurückliegende Wirbel im Strom der Geschichte. Eric Wolf formuliert die orthodoxe radikale Perspektive: "Rebellierende Bauern sind von Natur aus Anarchisten" und als solche "anachronistisch".*

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Selbst wenn sich hin und wieder einige Künstler und Denker in eine ländliche Enklave absetzen, bleiben sie auf die Stadt angewiesen, denn nur hier werden ihre Werke zur Kenntnis genommen und kritisch gewürdigt. Sie bleiben immer Außenposten des städtischen Intellekts, auch wenn sie auf Bäumen oder in Höhlen hausen. Viele Intellektuelle haben das natürliche Leben des einfachen Volks gepriesen — mal aufrichtig, mal herablassend. Doch der Zauber, den sie außerhalb der Städte fanden, wurde letztlich immer nur zum Gegenstand für Gespräche in der Stadt: etwas zum Darstellen und Analysieren vor einer intellektuellen Zuhörerschaft. Virgil schrieb seine Hirtengedichte für römische Patrizier; Rousseau spann seine Gedanken über den edlen Wilden in den nobelsten Pariser Salons.

Selbst Tolstoi, der sich so sehr nach einem anonymen Leben unter den Muschiks sehnte, war als größter Romancier seiner Zeit auf sein internationales Leserpublikum angewiesen (das ihn wegen seiner häuslichen Tugenden nur umso mehr bewunderte). Ich selbst habe als Städter alles, was ich über die althergebrachte Kultur weiß, von Anthropologen gelernt, die mir die Grenzen meiner Kultur und die Werte des sogenannten Primitiven vor Augen führten. Ich habe jedoch niemals auch nur von einem einzigen Anthropologen gehört, der sich entschlossen hätte, bei den 'Wilden' zu bleiben. In diese Richtung weht der kulturelle Wind nie; die bewundernden Beobachter kommen immer wieder an ihre Universität zurück, um ihre Monographien zu schreiben und ihre Analyseinstrumente noch schärfer zu schleifen — wie auch alle Naturdichter und Landschaftsmaler ihre Werke in die Stadt schicken, damit sie die rechte Würdigung finden.

Toleranz, weites Gesichtsfeld, Geschmacksvielfalt — das sind die kosmopolitischen Tugenden, die das Wesen der Stadt ausmachen. Aber Forschen ist nicht Sein, Würdigen ist nicht Zugehörigkeit. Forschung und kritische Würdigung sind wertvolle Ziele, keine Frage. Was aber geschieht, wenn die Stadt, die spezifische Kultur der Intellektuellen, die menschliche und natürliche Vielfalt abzubauen beginnt? Dann wird die Stadt, die ihren Menschen so viele intellektuelle Möglichkeiten bietet, eine todbringende Kraft, die mehr nimmt als sie gibt.

"In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert", so lautet eine zentrale These des Marxismus, 

"nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeois-Ideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben." *

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Solche dramatischen Übertritte hat es oft gegeben; fast alle revolutionären Bewegungen der Moderne hatten Führer, die aus der Mittelklasse stammten. Die Führerschaft bürgerlicher Intellektueller, und das hat Marx selbst nie begriffen, muß jedoch schlimme Folgen haben, denn sie prägt jeder Art von revolutionärer Auseinandersetzung die Wertvorstellungen und Denkweisen der Intellektuellen auf, die niemals kritisch über ihr eigenes tieferes Klasseninteresse reflektiert haben. Mit Ausnahme von Gandhi haben wir noch keinen großen revolutionären Führer erlebt, der bereit war, sich vom kulturellen Imperialismus der Stadt loszusagen. Dem bleibt die Klassenloyalität der Intellektuellen letztlich doch verhaftet. Noch mehr als an die Gerechtigkeit glauben sie an die Stadt — so sehr, daß sie in ihr das Mittel zur Verwirklichung von allem Guten sehen. Schließlich ist ja die Stadt das Lagerhaus des Wissens; und Wissen, das hat die moderne Welt gründlich gelernt, ist der Schlüssel zur Macht — zur einzigen Form von Macht, die die meisten Intellektuellen sich je aneignen können.

Wir leben in einer Welt, in der die Städte immer größer und die Intellektuellen immer klüger werden. Wie sollte ein Intellektueller je auf den Gedanken kommen, es könne an einem kulturellen Stil, der Intellektuelle so ungeheuer klug werden läßt, etwas radikal falsch sein? Aber ist in einer Kritik an der Stadt nicht schon impliziert, daß es noch etwas jenseits der Stadt geben muß? Die gedruckten Worte, mit denen ich hier spreche, sind — wie ich selbst mit meinen Angriffen gegen die Sünden der Stadt — Produkte urbaner Kultur. Die Stadt hat uns ein breites Wissen über andere Zeiten und Orte vermittelt; wir leben in einer Überfülle von Ideen und Fragestellungen. Fragen wir aber danach, welche Möglichkeiten des Seins es für uns gibt, so werden es mit jeder Generation weniger, denn die Stadt reißt alles an sich. Die Eskimos können nicht mehr Eskimos sein, die Wälder nicht mehr Wälder, die Wale nicht mehr Wale. Alles ist dem Weltreich der Städte einverleibt, und die Alternativen, die wir erforschen, existieren bloß noch auf dem Papier.

Ich habe hier für tragfähige Existenzmöglichkeiten außerhalb der Stadt plädiert. Doch als Intellektueller plädiere ich auch für die Stadt selbst. Ihr Gigantismus beschwört nicht nur das Ende traditioneller Gesellschaften und der unberührten Natur herauf, sondern führt ebenso zum Tod echter urbaner Kultur. So aufrichtig die Intellektuellen glauben mögen, daß die Kultur der Stadt das Wesen der Zivilisation ausmacht, so klar müssen sie sehen, daß es keine echten Städte mehr geben wird, wenn die ganze Welt urbanisiert ist. Heute schon können wir verfolgen, wir unsere schönsten Städte zu amorphen Lachen zerfließen, die man dann 'städtische Großräume' nennt.

In dem Einführungskurs in Geschichte, den ich leite, mache ich beim Thema Großstädte der Vergangenheit jedesmal Halt und frage meine Studenten, wie groß ihrer Schätzung nach das antike Athen, das mittelalterliche Paris oder das Florenz der Renaissance waren.

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 Jedesmal glauben sie, es müssen Millionenstädte gewesen sein. Tatsächlich hatten diese drei Städte zusammen kaum mehr als eine halbe Million Einwohner, daran ändern auch die paar Tausend Sklaven Athens nichts. An heutigen Maßstäben gemessen waren es Städtchen, und doch haben sie unsterbliche Kulturwerte geschaffen; größere Leistungen kann auch heute kein Künstler oder Intellektueller von irgendeiner Stadt erwarten.

Städte müssen nicht groß sein, um lebensfähig zu sein. Im Gegenteil, sie können riesenhaft sein und trotzdem keinerlei Kultur besitzen — abgesehen von dem, was sie fix und fertig aus New York oder Europa importieren oder den Massenmedien abgucken. Die Kultur der Stadt hat nie mehr gebraucht als eine kleine Gemeinschaft wahrhaft städtischer Geister — Menschen, die einen besonderen Sinn für rastlose intellektuelle Aktivität, für den Zusammenprall der Ideen und den raschen Wandel von Geschmack und Wertvorstellungen haben. Nur solche Menschen können die Möglichkeiten der Stadt voll ausschöpfen, und es genügen wenige von ihnen, um eine lebendige Kultur hervorzubringen — ein paar hundert Denker, Künstler und Studenten und einige tausend Zuhörer, Gönner und Kritiker. Wir finden sie heute in Boheme- und Universitätsvierteln. Die hier leben, stöbern in Buchläden und Bibliotheken, bevölkern die Theater und Kunstgalerien. Sie nehmen vielleicht nur ein paar Straßen in Beschlag, wo sie gemütliche Cafes und Kneipen finden, aber wo immer sie sich versammeln, schaffen sie einen fruchtbaren Freiraum mitten im täglichen Kommerz. Nur hier kann die Kultur der Stadt überhaupt blühen.

Intellektuelle und Künstler bilden immer nur einen winzigen Teil der Gesamtbevölkerung einer Stadt, aber sie haben die Stadt erfunden, zusammen mit dem Kaufmann, dem Geldverleiher und dem Handwerker. Sie vereinten ihre Kräfte, denn sie alle leben von dem schwunghaften Handel mit Gütern, Geld und Ideen. Sie sind ein ganz besonderer, hyper-aktiver Schlag; sie lieben das Leben im Gewühl mentaler und monetärer Abstraktionen. Sie erzeugen enorme Nervenenergien und brennen häufig nur allzu schnell aus. Die Welt, die sie um sich herum schaffen, ist in jeder Minute erregend, und Beispiele für vernünftige Ausgewogenheit findet man hier nicht. Zu vieles wird hier zu hastig in Bewegung gesetzt; die Bewohner dieser Welt verlieren sich leicht im ständigen Gewitter von Möglichkeiten und Ablenkungen.

Das ist die dunkle Seite der städtischen Kultur. Die Stadt verlangt für ihre intellektuellen Anregungen einen hohen Preis. Sie bietet Platz für alle Arten von Exzentrik und Wahnideen, und gerade weil ihre Bewohner in einer künstlichen Umwelt leben, die sie mit ihren eigenen Abstraktionen und übersteigerten Belangen füllen, fällt die Stadt sehr leicht kollektiver Halluzination anheim. Sie läßt sich von ihren eigenen Fantasien mitreißen und versinkt in sprunghaften Stimmungs­schwankungen. Extremismus ist das charakteristische Übel urbaner Kultur: Kannibalismus von Ideen an Ideen.

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Zu dieser strukturellen Instabilität kommt noch hinzu, daß jede Stadt ihre Unterwelt und eine gesetzlose Randzone hat, wo sich Wahnsinnige, Kriminelle, Scharlatane und manchmal Genies treffen. Die Halsabschneider kommen in die Stadt und verstecken sich in der Anonymität. Betrüger und Verrückte finden im Getümmel gutgläubiges Publikum; manchmal werden sie sogar über Nacht zu gefeierten Helden und messianischen Führern, die große Dinge verkünden und großen Haß predigen. Und dann fließt unweigerlich Blut auf den Straßen. Tumult, Krieg, Hexenjagd, Verfolgung, Blutrache und Dschungelmentalität nehmen in der Geschichte der Stadt soviel Raum ein wie ihr Beitrag zu Rationalität und zivilisierten Manieren. Städte sind Brutstätten eines besonderen Verfolgungswahns, der nach außen blind auf alle wahren und vermeintlichen Feinde einschlägt und im Innern tödliche Zerrissenheit erzeugt. Heute werden die Städte seltener von politischer Gewalttätigkeit erschüttert als etwa in der Renaissance, aber nur, weil sie ihren Zorn für Kriege von globalem Ausmaß aufstauen.

Die Stadt war schon immer ein verrückter und mörderischer Lebensraum — nicht gerade ein Ort, an dem mehr als eine exzentrische Minderheit freiwillig wohnen möchte. Das schnelle Wechselspiel kreativer Kräfte und destruktiver Leidenschaften legt einen Vergleich nahe, mit dem wir die Rolle dieser Minderheit in der Geschichte vielleicht verdeutlichen können. Betrachten wir die Stadt als ein Laboratorium, in dem unsere Spezies mit ihrer machtvollsten Energieform experimentiert — der menschlichen Imagination. 

In der Stadt hat die Imagination den Spielraum, den sie sonst nirgends findet. Sie findet unbegrenzt viel Erfahrungs-Rohmaterial, kann völlig frei mit ihm umgehen und es zu genialen oder monströsen Neubildungen kombinieren. Deshalb ist die Stadt nicht imstande, ihr eigenes Tun zu beurteilen. Aus der Sicht des urbanen Intellektuellen kann jede schillernde neue Idee, die von der Presse hochgespielt wird oder die akademische Welt im Sturm erobert, als das Geheimnis grenzenlosen Fortschritts erscheinen, als die einzig sichere Art, den Lauf der Geschichte zu lenken. Jeder weisen und dauerhaften neuen Möglichkeit, die die Stadt für die Menschheit geschaffen hat, stehen hundert Eintagsmoden zur Seite. Die Stadt lebt vom elektrisierenden Augenblick, vom Buch des Monats, vom Mann des Jahres.

Wie jedes gefährliche Experiment muß die Stadt einer strikten Kontrolle unterliegen; ihr Labor ist der ganze Planet, und deshalb geht es nicht an, ihr einfach zu vertrauen. Sie ist zu unbeständig, ihre Perspektiven sind zu kurz. Unsere Städte müssen wieder das werden, was sie einmal waren: kleine Zentren rastlosen Neuerungsgeistes, deren Extreme von einer größeren, nichturbanen Umgebung abgefangen werden.

Wir haben den Punkt erreicht, wo sich nicht mehr wegdiskutieren läßt, daß der organisierte urbane Intellekt die ganze Welt gefährdet. Die urbanen Intellektuellen müssen sich selbst ein planetares Gewissen auferlegen, das sie der lebendigen Vielfalt des Planeten verpflichtet. In diesem Verzicht werden sie nicht nur Frieden mit dem Planeten schließen, sondern auch die echte und eigentliche Stadt entdecken, die jetzt unter der Last von Megalopolis erstickt.

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