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»Bloße« Metaphern, »reale« Mechanismen
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In späteren Kapiteln werden wir uns mit dem Stellenwert von Systemen in der Natur und in der wissenschaftlichen Theorie noch ausgiebiger beschäftigen. Hier wollen wir vorerst nur konstatieren, daß man über Systeme — insbesondere wenn sie so groß und so komplex sind wie Gaia — überhaupt nicht sprechen kann, ohne Metaphern des Absichtvollen oder Zielgerichteten zu gebrauchen. Man fragt, warum ein Teil innerhalb eines Systems sich so verhält, wie er sich verhält, und die Antwort wird automatisch auf ein »um ... zu« — eine Bestimmung, Zielrichtung oder Absicht — hinauslaufen.
Die Teile innerhalb eines Systems verhalten sich so, als hätten sie ein Verständnis des Ganzen. Es gibt für uns keinen anderen sinnvollen Weg, über solche Phänomene zu diskutieren. Kritiker könnten argumentieren, daß wir einem Trugschluß erliegen, wenn wir Zielgerichtetheit in die Natur hineinlesen. Aber sie übersehen die Möglichkeit, daß die Natur vielleicht zu allererst Zielgerichtetheit in uns hineingelesen hat. Wir sehen das, was zu sehen uns gegeben ist.
Oft verleugnen Wissenschaftler, daß sie sich dieses Problems bewußt sind, indem sie in einen gleichzeitig befangenen und schnoddrigen Ton verfallen, wenn sie zu Erklärungszwecken auf einen intentionalen Sprachmodus zurückgreifen. Dieser Ton soll ironische Distanz vermitteln: »Natürlich ist das nicht wörtlich gemeint...« Auf einer bestimmten Erklärungsebene geht es offenbar wirklich nur um sprachliche Vereinfachung. Mein Hausarzt erklärte mir zum Beispiel die Ergebnisse eines Labortests, bei dem die Cholesterinwerte meines Blutes analysiert worden waren, in dem er eine Art von Lipiden (HDL) als »die guten Jungs« und die andere (LDL) als »die Gangster« bezeichnete. Natürlich war das ein Scherz. Wenn er aber versucht hätte, mir den Fettstoffwechsel — das bemerkenswerte System, durch das der Körper seinen Bedarf an Cholesterin reguliert — wissenschaftlich zu erklären, wäre er wahrscheinlich auch nicht ohne eine intentionale Sprache ausgekommen, aber diese Tatsache wäre ihm vielleicht nicht so bewußt geworden.
Ein gutes Beispiel für das unbewußte Einfließen intentionaler Metaphern in die Sprache der Wissenschaft bietet das folgende Zitat aus einem Standardlehrbuch der Biologie aus den sechziger Jahren. Ich wählte das Buch aus, weil es sich an der Oberfläche ganz technisch gibt und von Begriffen aus der Datenverarbeitung strotzt, die damals das Neueste vom Tage waren und die mittlerweile in der Genetik allgemein üblich sind:
anfangen kann, auf ihre äußere Umwelt einzuwirken, muß sie die Mechanismen bereitstellen, durch die sie sich erstens»Bevor die Zelle (oder der lebende Organismus) überhaupt
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resynthetisieren kann. (...) Wie schafft die Zelle es, die große Zahl hochkomplexer chemischer Reaktionen zu hervorzubringen, die zur Synthese der Makromoleküle notwendig sind?« (Hervorhebungen vom Autor)8gegen Auflösung und Zerstörung schützen kann, und durch die sie zweitens ihre komplexeren Teile kontinuierlich aus einfacheren Molekülen
Im Gebrauch der Verben liegt die Intentionalität; die Zelle erscheint als eine aktiv Handelnde. An anderen Stellen spricht der Autor in ähnlicher Weise über Enzyme; sie »wählen«, »fordern« und »unterscheiden«. Selbst in einem Essay, der die klare Absicht verfolgt, die Existenz einer gestaltenden Intelligenz in der Natur zu widerlegen, stößt man auf Sätze wie: »Die Evolution (...) ist ein Bastler, der darauf bedacht ist, die Dinge mit minimalem Veränderungsaufwand so zusammenzufügen, daß sie funktionieren.«9 Ein Wissenschaftler, aufgefordert, diese merkwürdig anthropomorphe Wortwahl zu erklären, würde zweifellos sagen, es handle sich um »bloße sprachliche Metaphern«. Gut, lassen wir die Metaphern weg. Aber welche anderen Begriffe erfüllen die Aufgabe? Und wie entnimmt der Wissenschaftler im stillen Kämmerlein seiner eigenen Phantasie dem Verhalten des Enzyms, das er beobachtet, Sinn?
Zuweilen ist es fast zum Lachen, Wissenschaftler mit dem Problem der Zielgerichtetheit in der Natur kämpfen zu sehen, die angeblich gar nicht existiert, aber in jedem Wort mitklingt, das sie äußern. Einer der letzten militanten Verfechter des Zufallsmodells ist der englische Biologe Richard Dawkins, der es sich offenbar zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Darwinsche Orthodoxie gegen eine Horde nicht näher spezifizierter Häretiker zu verteidigen. Wie rettet er Darwin und den Zufall? Indem er die surrealistische Vorstellung »egoistischer Gene« einführt, die den Evolutionsprozeß vorantreiben. Selbst der alte Bischof Wilberforce hätte sich geniert, im Streitgespräch mit Darwin die Art von Metaphern zu gebrauchen, von denen es in Dawkins These nur so wimmelt. Dawkins personalisierte Gene sind Spieler, Rivalen, Gefährten, Architekten, Ruderer, Meister-Programmierer; sie lehren, beraten, kämpfen, ja, sie bilden sogar Gangster-Banden.
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Ein Text, dessen erklärtes Ziel es ist, die illusionäre Vorstellung von der Zielgerichtetheit der evolutionären Anpassung auszurotten, strotzt von Sätzen wie: »Der Aufbau eines Beins ist eine kooperative Gemeinschaftsleistung, an der zahlreiche Gene aktiv beteiligt sind.« Am Ende führt Dawkins uns vor Augen, daß wir die Gene natürlich nicht als absichtsvoll Handelnde betrachten dürfen; alles, was er über sie gesagt habe, sei nur eine »Kurzschrift«, eine bloße »fruchtbare Metapher«. Eliminiert man Dawkins' Metaphern, bleibt jedoch keine These mehr übrig.10
Oder nehmen wir die folgende Passage aus dem Werk einer anderen wissenschaftlichen Autorin, in der Teile des menschlichen Gehirns personalisiert werden:
11»Der Thalamus prüft die wahrgenommene Information auf ihre emotionale Bedeutung hin. Er konstatiert, daß ein Knurren Gefahr bedeuten kann. Wenn eine emotionale Reaktion gerechtfertigt ist, sendet der Thalamus Signale aus, die über zahlreiche Nervenbahnen zu anderen Hirnstrukturen weitergeleitet werden. Diese können dann die ganze Bandbreite emotionaler Reaktionen wie Furcht, ängstliche Erregung oder Freude hervorbringen.«
Warum haben wir das Gefühl, daß an solchen Äußerungen etwas Unstimmiges ist? Weil die Erklärung, die eine Absicht zugrunde legt, um dem beobachteten Prozeß Sinn abzugewinnen, diese Absicht dann auf der falschen Ebene ansiedelt - auf der Ebene der Teile nämlich und nicht auf der des Ganzen. Die Erklärung vernachlässigt das umfassende System (den ganzen Organismus, die ganze Person), in dem das Gen oder die Hirnstruktur als Teil funktioniert und dem die Aktivitäten der einzelnen Bestandteile untergeordnet sind. Wenn Intentionalität auf sinnvolle Weise in eine Erläuterung eingeführt werden soll, muß sie sich auf den richtigen Kontext beziehen; sie muß da ansetzen, wo wir das absichtsvolle Handeln erwarten, das die Teile auf ein bestimmtes Resultat hin koordiniert. Bei manchen Prozessen, wie bei der Nukleosynthese schwerer Elemente im Inneren von Sternen, ist dieser übergeordnete Kontext vielleicht das gesamte Universum; so zumindest würden die Verfechter des »starken« anthropischen Prinzips die Sache betrachten.
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Die typische Inkonsequenz von Erklärungsmodellen à la Dawkins — das gleichzeitige Leugnen und Bestätigen der Existenz von Zielgerichtetheit in der Natur — läßt sich bis zu Darwin zurückverfolgen. Im neunzehnten Jahrhundert sahen viele Biologen (wie ein Zeitgenosse es ausdrückte) in der Selektionstheorie »einen immensen Fortschritt des Denkens«, eben weil sie die Wissenschaft der Möglichkeit näherbrachte, »das scheinbar Absichtsvolle aus der Natur zu verbannen und blinde Notwendigkeit an die Stelle der Finalität zu setzen«.
Welche Linderung würde das für die »Qualen des Intellekts« bedeuten, die daraus resultieren, daß man von »Funktionen, Leistungen, Verhaltensweisen und Absichten des Organs« sprechen muß.12 Aber Darwin selbst griff häufig auf intentionale Metaphern zurück, um seine Theorie zu erläutern, wobei er immer versuchte, die Folgerungen zu entkräften, die sich aus diesem Sprachgebrauch ergaben: »Der Kürze halber spreche ich manchmal von der natürlichen Selektion wie von einer intelligenten Macht (...). Ich habe den Begriff Natur auch oft personifiziert, weil ich es schwierig fand, diese Doppeldeutigkeit zu vermeiden.«13 Wenn es um »Organe von extremer Perfektion« wie das Auge ging, stand Darwin vor einem besonderen Dilemma. Er ging das Problem auf diese merkwürdige Weise an:
»Die Annahme, das Auge, mit allen seinen unnachahmlichen Vorrichtungen, die Sehschärfe auf verschiedene Distanzen einzustellen und sphärische und chromatische Abweichungen zu korrigieren, könne sich durch natürliche Selektion entwickelt haben, erscheint im höchsten Maße absurd; das gebe ich offen zu.«
Aber, so fährt er beharrlich fort
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14»wir müssen davon ausgehen, daß es eine Kraft gibt - in Gestalt der natürlichen Selektion -, die jede minimale Veränderung in den transparenten Schichten (des primitiven Auges) aufmerksam überwacht, und die sorgsam darauf bedacht ist, jede Abweichung zu erhalten, die in irgendeiner Weise die Tendenz zeigt, ein schärferes Bild zu produzieren. Nehmen wir an, dieser Prozeß setzte sich über Millionen von Jahren fort, jedes Jahr an Millionen von Individuen vieler Arten; können wir dann nicht glauben, daß auf diese Weise ein lebendes optisches Instrument geformt wurde, das einem künstlich hergestellten Instrument aus Glas so überlegen ist wie es die Werke des Schöpfers im Vergleich mit denen des Menschen sind?«
Der anthropomorphe Bezugsrahmen und die nur teilweise rhetorische Frage am Schluß sind eindeutige Hinweise darauf, welche Mühe Darwin damit hatte, eine angemessen unpersönliche Erklärung für ein zentrales Merkmal der Natur zu finden: die allem Anschein nach absichtsvolle Gestaltung organischer Formen.
Als Lovelock und Margulis den poetischen Namen »Gaia« für ihre Theorie wählten, reihten sie sich in eine rhetorische Tradition ein, die in der Biologie seit jeher üblich war. Aber Lovelock fühlte sich zunächst mit dieser Entscheidung gar nicht wohl. Er erklärte, der Name Gaia sei nur gewählt worden, weil man auf eine »präzisere, aber esoterische« Sprache verzichten wollte, um Laien die Theorie zugänglich zu machen. Noch 1979 legte er großen Wert darauf, eines seiner Bücher mit den Worten zu kommentieren:
.), die sich so lesen mögen, als seien sie von den stets gemeinsam auftretenden Krankheiten des Anthropomorphismus und der Teleologie infiziert. (...) Ich habe Gaia oft als Kurzschrift für die Hypothese selbst benutzt. (...) Um langatmige Umschreibungen zu vermeiden, konnte ich gelegentlich nicht anders, als von Gaia so zu sprechen, als sei sie ein vernunftbegabtes Lebewesen. Das ist nicht ernster gemeint, als wenn ein Schiff von Bootsbauern und Seeleuten als >sie< angesprochen wird.«15»Es gibt Passagen (..
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Trotz dieser Dementi hätten Lovelock und Margulis ihrer eigenen Theorie keinen Sinn entnehmen, geschweige denn sie anderen vermitteln können, ohne in Kategorien von Zweckbestimmtheit und Intentionalität zu denken und zu sprechen. Ein System, das als »selbstregulierend« verstanden wird, kann ohne diese Attribute nicht auskommen. Gaia, als aktive Intelligenz verstanden, ist ganz entschieden keine bloße Metapher. Sie ist die eigentliche Substanz der Idee. Erinnern wir uns, was eine Metapher ist: die Vertauschung eines gewöhnlichen Ausdrucks mit einem bildlichen. Und der bildliche Ausdruck soll das, was wir meinen, klarer verdeutlichen, als die gewöhnlichen Worte es könnten. Es lassen sich eine Menge Möglichkeiten finden, Begriffe wie Staatsoberhaupt oder Staatsorgan durch andere Wörter zu ersetzen. Aber wenn Margulis davon spricht, daß die Prokaryoten »eine Energiequelle anzapften« oder daß »das Leben die Temperatur des Planeten regelt« — welche anderen Wörter hätte sie gebrauchen können, um das, was sie meinte, klarer und deutlicher zu vermitteln?16
Hätte sie chemische Formeln benutzen sollen? Sie diskutiert einen Prozeß, der dazu dient, ein Resultat hervorzubringen; selbst wenn der Prozeß Versuch und Irrtum oder Rundumschläge beinhaltet, wie es bei unseren menschlichen Aktivitäten sehr oft der Fall ist, läßt das Resultat sich nur dann auf einleuchtende Weise zu der Aktivität in Beziehung setzen, wenn wir annehmen, daß zwischen beiden ein zielgerichteter Zusammenhang besteht. Die einzige Sprache, die wir dafür zur Verfügung haben, ist die Sprache der Intentionalität.
Statt Gaia das Zielgerichtete abzusprechen, sollten wir besser versuchen, unser Verständnis von Zielgerichtetheit über den Bereich des menschlichen Verhaltens hinaus auszudehnen. Dann könnten Wissenschaftler die »Krankheit« des Anthropomorphismus (oder, genauer gesagt, Gynäkomorphismus, da die Natur und die Erde stets als weiblich gesehen werden) vermeiden, indem sie Intelligenz in anderen als ausschließlich menschlichen Kategorien begreifen. Ihr wirkliches Problem liegt darin, daß sie das Bewußtsein im Kosmos nirgendwo anders lokalisieren konnten als unter dem menschlichen Schädeldach.
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Ist es nicht sonderbar, daß alles, was die Wissenschaft im Menschen vorfindet — die molekularen Bausteine, die elektrochemischen Prozesse, die Energiefelder —, so verstanden wird, daß es uns durchdringt und auch jenseits der Grenzen des Körpers existiert? Das alles kam von »außen« in uns hinein. Das heißt, alles bis auf das Bewußtsein. Das Bewußtsein existiert angeblich nirgendwo anders als in den grauen Zellen unseres Gehirns.
Mit dem Problem der wissenschaftlichen Sprache, das Lovelock aufwirft, sind viele faszinierende Fragen verbunden. Warum zum Beispiel wird der in der Wissenschaft allgemein gebräuchliche Begriff »Mechanismus« nicht auch als »bloße Metapher« verstanden? Schließlich gibt es in der Natur keine Mechanismen von der Art der technischen Geräte und Hilfsmittel, die dieses Wort ursprünglich bezeichnete. Und warum ist der Begriff Mechanismus, wenn wir ihn denn gebrauchen, nicht mit dem Makel anthropomorpher und teleologischer Bezüge behaftet? Wir wissen von keinen Maschinen, die nicht von Menschen hergestellt wurden und deren Ausstattung keine Zweckbestimmtheit und Zielgerichtetheit zugrunde liegt. Es scheint doch eher, daß die Assoziation von Metallteilen, Bolzen, Muttern und Schrauben, die sich bei dem Wort »Mechanismus« einstellt, das Gefühl einer soliden physikalischen Basis vermittelt und daß dem Begriff von daher der Sonderstatus des Nichtmetaphorischen eingeräumt wurde. Trotzdem stellt eine Metapher wie »Mechanismus« uns letztlich vor dieselben Probleme, die eine personifizierte Gaia aufwirft. Wir fragen uns: Wer machte den Mechanismus, der die Kohärenz des Universums erklärt?
Gaia — eine sich selbst erschaffende Welt
Gaia ist ein großes System. Solange wir kein Leben auf anderen Welten entdecken, ist sie der größte Superorganismus, den wir kennen. Aber ihre symbiotischen Strategien, durch die sie die globale Homöostase aufrechterhält, erstrecken sich auch auf die allerkleinsten Lebensformen.
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Wir haben gute Gründe anzunehmen, daß die Symbiose eine der ältesten und erfolgreichsten Strategien der Evolution ist. Lynn Margulis meint, daß alle Lebewesen — wie die gesamte Oberfläche des Planeten — biologische Zusammensetzungen sind, quasi Kolonien symbiotischer Wesen, die sich im Lauf der Äonen zusammengeschlossen haben. In ihrer Sicht sind alle Organismen »metabolisch komplexe Gemeinschaften einer Vielzahl straff organisierter Wesen«. Selbst die archaischen Bakterien, die früher als die einfachsten Lebewesen betrachtet wurden, entwickelten sich dieser neuen Sichtweise gemäß zu Systemen, die innerhalb von Systemen existieren.
Aus einer solchen Konföderation simpler Organismen sind möglicherweise die Plastide und Mitochondrien in unseren Zellen hervorgegangen. Sie sind die Abkömmlinge von Bakterien, einst unabhängigen Gebilden, die diesen Unabhängigkeitsstatus aufgaben, so daß nachfolgende Lebewesen zu selbstregulierenden, sauerstoffatmenden Kreaturen werden konnten. Margulis bedient sich ganz unbefangen einer personifizierenden politischen Metapher, wenn sie erläutert, wie dieser Prozeß vonstatten ging: Die ersten Einzeller »kooperierten und zentralisierten ihre Funktionen so, daß sie eine neue zelluläre Regierung bildeten«.17 Anders ist der plötzliche Sprung, mit dem die Evolution von den Einzellern zur Ebene der Eukaryoten (vielzellige Lebewesen) überging, offenbar nicht zu erklären.
Obwohl Margulis ebensoviel professionelle Vorsicht walten läßt wie Lovelock, wenn es um ideologische Interpretationen von Gaia geht, leitet sie aus ihrer Forschung über »Mikrobengemeinschaften« bedeutsame Erkenntnisse ab, die den theoretischen Ansatz der Biologie grundlegend verändern. Die konventionelle Biologie betrachtet die Evolution hauptsächlich als ein Produkt der passiven Anpassung vom Glück begünstigter Individuen, die von der sich permanent wandelnden Umwelt selektiert werden. Vom symbiotischen Standpunkt aus gibt es jedoch — von den ersten Bakterien abgesehen — überhaupt keine »Individuen«. Alle Lebewesen sind »per se Gemeinschaften«.18
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Die Kontroverse zwischen dem Neo-Darwinismus und der »autopoietischen« (von griechisch autos = selbst und poiein = tun, erschaffen, erdichten; d.Ü.) Auffassung der Natur, wie Margulis sie nennt, basiert auf einer alten Streitfrage, die bis tief ins neunzehnte Jahrhundert zurückgeht. Es gab immer Biologen und Philosophen, die in der Evolution einen komplexeren Prozeß sahen, als die Darwinsche Selektionstheorie es zuließ. In seinen Reflexionen über die Ursprünge seiner Theorie bezeichnete Darwin das von Thomas Malthus formulierte Bevölkerungsgesetz als den Katalysator, der aus den in jahrelangen Feldstudien gewonnenen Erkenntnissen die Idee der natürlichen Selektion hervorgehen ließ.
Malthus' berühmter Essay »On the Principle of Population« war keine biologische Abhandlung, sondern ein Lehrstück der ökonomischen Theorie (wenn nicht der sozialpolitischen Propaganda), das den Einfluß der klassischen »neuen Schule« der Ökonomie des neunzehnten Jahrhunderts widerspiegelt. Malthus versuchte die Mechanismen, die das Wachstum und den Rückgang der Bevölkerung steuern, als ökonomischen Faktor darzustellen. Teil seiner kaum verhüllten Propaganda war seine trostlose viktorianische Auffassung von Sexualität. Als Geistlicher nahm er die Gelegenheit wahr, in seiner Abhandlung (die der klassischen Ökonomie das Etikett »die trübselige Wissenschaft« einbringen sollte) zum Schlag gegen die »Laster« der arbeitenden Klasse (das heißt, ihre unbekümmerten sexuellen Aktivitäten) und gegen die Promiskuität der Frauen auszuholen.
Malthus kam zu dem Schluß, das Proletariat sei selbst für sein Elend verantwortlich. Nach den Gesetzen des Marktes könne nur harte Arbeit, Sparsamkeit und sexuelle Abstinenz die Lage der Armen verbessern. Die ganze Strenge, Härte und Wettbewerbsorientiertheit Malthus' und der Manchester-Schule flossen in die theoretischen Grundlagen von Darwins Biologie ein. Darwin las nicht etwa das Gesetz des Dschungels in die zivilisierte Gesellschaft hinein, sondern er übertrug vielmehr die Gesetze des Manchester-Kapitalismus auf den Dschungel: Alles Leben mußte das sein, was es in den Zentren des Frühkapitalismus geworden war, ein erbarmungsloser Kampf ums Überleben.
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Gefühlvollere Geister, die einer ganzheitlicheren Auffassung der Natur zuneigten, empfanden bei diesem gewalttätigen Modell der organischen Welt immer Unbehagen. Was ihnen eindrucksvoller erschien, war die spontane Harmonie, die man ebenso häufig in der Natur beobachten kann. Niemand brachte das deutlicher zum Ausdruck als der russische Naturalist und politische Philosoph Prinz Peter Kropotkin, der zu dem Schluß kam, daß es zwischen den Arten mindestens ebensoviel Kooperation gibt wie blutige Konflikte. Kropotkin war einer der ersten Kritiker der Darwinschen Lehre, die zu diesem Zeitpunkt den Status eines unangefochtenen Dogmas erlangt hatte. Kropotkins Überzeugung nach waren komplexe Kooperationssysteme zwischen den Arten — »wechselseitige Hilfe«, wie er es nannte — bedeutungsvoller für den Evolutionsprozeß als Rivalität und Konkurrenz zwischen Individuen. Kooperative Systeme förderten die gesellschaftliche Entwicklung, erhielten die Harmonie in der Natur und waren gut für die Seele.
Sogar Raubtiere wie der Wolf und der Löwe hatten innerhalb solcher Systeme die rauhe, aber effektive Funktion, unter ihren Beutetieren die Schwächsten »auszusortieren« und so die gesamte Gruppe in ihrer Überlebensfähigkeit zu stärken. Mittlerweile ist der Beitrag, den Kropotkin zur Evolutionstheorie leistete, indem er den Aspekt der Kooperation zwischen den Arten hervorhob, allgemein anerkannt. In Margulis' Forschungsergebnissen über die zelluläre Symbiose und die Koevolution von Mikrobengemeinschaften hätte Kropotkin wahrscheinlich eine Bestätigung seiner eigenen Theorie gesehen, übertragen auf ein uranfängliches Niveau des Lebens. Darwin selbst erkannte schließlich an, daß Faktoren wie die Schönheit der Farben und Formen — unter Vögeln zum Beispiel — bei der Erhöhung der Vermehrungschancen eine ebenso große Rolle spielen konnten wie Gewalt, Raub und Plünderung. Nun erscheint es sogar so, daß jedes Individuum einer Art von seiner genetischen Ausstattung her das ist, was Margulis »eine Mannigfaltigkeit koevolvierender Verbündeter« nennt.
Sicherlich können symbiotische Evolutionsprozesse — einige Anstrengung vorausgesetzt — mit der Selektionstheorie vereinbart werden, wenn man sie als die Art von Vorteilen interpretiert, die das Überleben begünstigen und dann zum Teil des genetischen Erbes werden.
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Aber die »autopoietische« Auffassung der Natur kommt unweigerlich zu ganz anderen Bildern und Metaphern als den in der Standard-Biologie seit so langer Zeit üblichen. Wie so oft in der Wissenschaft macht der Ton, in dem das Beobachtete geschildert wird, die rhetorische Struktur der Theorie, den wesentlichen Unterschied aus. Der Neo-Darwinismus bevorzugt eine mechanistische und simple Darstellungsweise: Das Leben ist passiv und meistens in Gefahr, gefangen zwischen dem zufallsbedingten Puzzle-Spiel der Gene und den unvorhersehbaren, willkürlichen Veränderungen der Umwelt. Man verfolgt den Verlauf der Evolution anhand von einzelnen Strängen adaptiver Vorteile und Nachteile.
Der generelle, kooperative Aufbau von Ökosystemen, die bei der elementaren Einheit der Zelle beginnen, bleibt unberücksichtigt. Die Gaia-Theorie vermittelt dagegen ein ganz anderes Bild; anstelle der chaotischen, willkürlichen Kollisionen atomisierter Individuen und »egoistischer« Gene sehen wir hier komplexe Formen von Gleichgewicht, Harmonie und Kooperation. So betrachtet ist dem Evolutionsprozeß eine tiefe Systematik eigen; auf der globalen Ebene wird er zum kreativen teleologischen Entwicklungsprozeß Gaias, die alle ihre Kinder nährt und sie in die Gemeinschaft des Lebens einwebt.19
Von Gaia lernen
Wir werden im nächsten Kapitel zu den größeren philosophischen Fragen, die eine autopoietische Gaia-Biologie aufwirft, zurückkehren, insbesondere zu jenen, die mit der Bedeutung von Systemen für unser Naturverständnis zusammenhängen. Halten wir hier vorerst nur fest, was die Hypothese auf ihrem zurückhaltendsten Minimalniveau besagt. Definieren wir sie - so pragmatisch wie möglich - als natürliches kybernetisches System, das auf diesem Planeten einen lebensfördernden Zustand der Homöostase aufrechterhält.
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Lovelock sagte, wenn er seiner Hypothese nicht den poetischen Namen Gaia gegeben hätte, wäre er vielleicht auf eine Bezeichnung wie »Universale biokybernetische Systemtendenz« verfallen. Aber welchen Namen wir auch wählen, wir haben es in jedem Fall mit einem superorganischen System zu tun, in dem auch unsere Spezies ihren Platz findet.
Aber wie ist dieser Platz definiert?
Vermutlich sind wir Gaias Anpassungs- und Kontrollstrategien ebenso unterworfen wie alles andere in der Natur — ob Tier oder Pflanze oder Mineral. Dennoch bleibt die Frage offen: Wie wird dieses System mit Organismen, wie wir sie darstellen, fertig? Wie überwacht und steuert es unser Verhalten? Die einfachen Tropismen, chemischen Signale und instinkthaften Abläufe, die ausreichen, um andere Lebewesen zu beeinflussen, reichen bei uns nicht aus; sie wären keine verläßlichen Mittel der Kommunikation. Zwischen uns und unseren noch vorhandenen Instinkten liegen die Barrieren der Kultur, dieses Produkts unserer ungebundenen Intelligenz, die das Glanzlicht und der Fluch unserer Spezies ist. Selbst unser Überleben wurde im Lauf der Zeit mehr und mehr von unserer Fähigkeit abhängig, unmittelbare Impulse und drängende physische Notwendigkeiten aufzuschieben oder sogar zu ignorieren. Bevor wir agieren oder reagieren, erwägen wir Alternativen, spielen Szenarien durch, stellen uns mögliche Folgen vor. Wir fangen die Welt in einem Netz von Sprache ein und spielen mit den vielen Möglichkeiten, die die Zukunft für uns bereithalten könnte.
Also arbeitet das große biokybernetische System, wenn es um das menschliche Leben geht, vielleicht mit eben dieser Intelligenz, im Vertrauen auf das Faktum, daß wir innerhalb des globalen Rückkopplungssystems die einzige Spezies sind, die über die Fähigkeit verfügt, ihre Lebensbedingungen zu analysieren. Lovelock und Margulis trugen die Erkenntnisse, die sie aus ihrer Forschungsarbeit gewonnen hatten, mit einem Nachdruck vor, der den Gefährdungen der Biosphäre endlich die dringend erforderliche Aufmerksamkeit verschaffte; verdanken sie die Eingebung, aus der ihre Hypothese erwuchs, und die Symbolik, mit der sie sie ausstatteten, einer subtilen Einflußnahme Gaias? Eine Verbindung zu Gaia, die über den wissenschaftlichen Intellekt führt, ist zwar wichtig, reicht aber allein nicht aus.
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Um als ganze Spezies diesen Weg zu gehen, müßten wir ein kollektives Wissen erwerben, eine Gewißheit über die ökologischen Fakten erlangen und zu einer Einmütigkeit finden, für die die Zeit wahrscheinlich nicht ausreicht. Unsere Intelligenz - die Gewohnheit abzuwarten, die Dinge zu beobachten und zu überdenken - könnte in diesem schicksalsträchtigen Moment sogar gegen uns arbeiten, indem sie uns dazu bewegt, in Details herumzustochern und endlose Debatten zu führen, bis es zu spät ist. Außerdem besteht offensichtlich keine verläßliche Beziehung zwischen unserer Rationalität und unserer emotionalen Energie; die letztere ist nicht immer bereit, sich von der Vernunft leiten zu lassen. Nicht selten mischen sich sogar psychotische Verzerrungen ein und beherrschen die Bühne; manchmal treiben sie Individuen in den Selbstmord und Gesellschaften in die Katastrophe.
Wie also wirkt das große biosphärische Feedback-System unterrichtend und beratend auf uns, seine in einzigartiger Weise kulturgebundene, psychologisch einzigartig strukturierte Spezies ein?
Die Antwort liegt vielleicht in einer Entwicklung, die von den strikt wissenschaftlichen Verfechterinnen und Verfechtern der Gaia-Theorie nicht vollends gutgeheißen wird. Bei manchen ihrer wissenschaftlichen Kollegen provozierten Lovelock und Margulis vielleicht aufgebrachte Reaktionen und scharfe Kritik, aber unter Umweltschützern und anderen politisch Engagierten außerhalb der wissenschaftlichen Fachwelt gewannen sie eine begeisterte Anhängerschaft. Das wurde für sie zeitweilig zu einem größeren Problem als der kritische Widerstand innerhalb ihrer eigenen Profession. Die weltweite ökologische Bewegung ist ein vielfarbiges Gemisch; die unterschiedlichsten Truppen marschieren unter ihrem Banner. Manche Gruppen feiern Gaia als die Wiedergeburt der heidnischen Naturverehrung in unserer Zeit; andere nehmen sie als Basis für eine neue Mystik, wieder andere sehen in ihr eine Verbündete für die politischen Ziele des Ökofeminismus.
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Die Äußerungen und Aktivitäten dieser Gruppen, auf die wir in späteren Kapiteln noch zurückkommen werden, haben mit den Zielen und Motiven praktizierender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermutlich wenig zu tun. Aber dennoch sind es die begeisterten Laien, die der Hypothese, oder zumindest ihren allgemeinverständlichen Lesarten, die emotionale und moralische Kraft geben, die sie braucht, um politisch wirksam zu werden.
Die Situation ist nicht präzedenzlos. Genau dasselbe geschah mit der Newtonschen Wissenschaft im achtzehnten Jahrhundert, als sie mit den politischen Zielen der liberalen Demokratie identifiziert wurde. Dasselbe geschah im neunzehnten Jahrhundert mit Darwins Lehre, als sie von den Sozialdarwinisten und schließlich von den Marxisten übernommen und als Beweis für den Sinn des historischen Kampfes interpretiert wurde. Thomas Jefferson legte die Naturgesetze als gültige Begründung für die Menschenrechte aus; er berief sich auf sie, als er das Recht auf Leben und Freiheit als selbstverständlich und naturgegeben proklamierte. Das war keine Vergewaltigung der wissenschaftlichen Rationalität, sondern eine gerechtfertigte Bemühung, die Welt der Natur und die menschliche Welt in einer Weise zu verbinden, die zentrale Werte festschrieb. Wissenschaftler schrecken vielleicht vor dem bloßen Gedanken zurück, daß blutige Laien ihre sorgfältig definierten Arbeiten aufgreifen und sie auf den politischen Bereich übertragen, aber das geschieht unweigerlich und immer wieder. Es ist eine der großen Qualitäten der Wissenschaft, daß sie der Kultur, aus der sie erwächst, wichtige Impulse zurückgeben kann.
Damit soll nicht gesagt sein, daß alles erlaubt ist. Jede wissenschaftliche Idee macht gewisse Veränderungen durch, wenn sie auf ethische oder politische Inhalte ausgedehnt wird, aber es gibt einen Unterschied zwischen Interpretationen, die von solider Sachkenntnis geleitet sind, und groben Verzerrungen. Ich meine, daß bei der Verwendung einer wissenschaftlichen Idee für politische Zwecke vor allem ein Faktor zählt: die moralische Integrität der Motive. Der Gebrauch, den Voltaire, Jefferson und Paine von Newtons Wissenschaft machten, war humanitär und befreiend. Wissenschaft wurde in den Dienst der Menschenwürde gestellt und dadurch geadelt. Der Gebrauch, den die Imperialisten und Faschisten von Darwins Lehre machten, war gewissenlos, brutal und mörderisch. Sie korrumpierten und erniedrigten die wissenschaftliche Idee.
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Die Motive und Methoden der politischen Verfechterinnen und Verfechter der Gaia-Idee beeindrucken im großen und ganzen durch Mut, Mitgefühl und leidenschaftliche Parteinahme für das Leben. Ökologische Politik hat oft etwas Poetisches; sie beschwört die Ebenbürtigkeit der Wesen, verweist in bescheidener und liebevoller Weise auf die großen, edlen Tiere, die Schönheit der Landschaften, die Erhabenheit unseres Planeten. Es gibt Bemühungen, die gefährdeten letzten Stammeskulturen der Menschheit zu retten, deren Überlieferungen als Hymne an Gaia ausgelegt werden können. Die »grüne Religion« fördert Gemeinschaftsdenken, tritt für Vielfalt ein, lehrt die Solidarität unter allen Lebewesen. Es wäre vermessen, alle diese Bemühungen zurückzuweisen, weil sie mit schwärmerischen Ausschmückungen gewisser Aspekte der Gaia-Hypothese arbeiten.
Obwohl Lovelock sich von den vielen poetischen und religiösen Ablegern der Gaia-Hypothese distanzierte, nahm er in seinen späteren Schriften jenen gegenüber, die sich diese Freiheiten herausnahmen, eine mildere Haltung ein. Er beschreibt seine eigene Haltung als »positiven Agnostizismus« und legt Wert darauf, daß die Hypothese bescheiden und »handhabbar« bleibt. Zwar kann er Gaia nicht als »beseelt und vernunftbegabt« betrachten, aber er drückt seine Befriedigung darüber aus, daß die Theorie neben der wissenschaftlichen auch eine spirituelle Aufnahme gefunden hat. Von Seiten eines professionellen Naturwissenschaftlers ist das eine sehr großzügige Konzession.
Die Ausdehnung der Gaia-Theorie auf spirituelle und politische Anliegen könnte aber dennoch eine größere Bedeutung haben, als Lovelock wahrnimmt. Eine Hypothese, die davon ausgeht, daß das große Biofeedback-System die gesamte lebende Fracht des Planeten Erde in einer nach Homöostase strebenden Weise beeinflußt, muß an einem bestimmten Punkt die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Gaia-Politik — ihre ökofeministischen und mystischen Extreme eingeschlossen — zu den Formen gehört, in denen diese Tendenz sich in unserer Spezies ausdrückt.
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Die poetische Freiheit und die religiöse Inbrunst dieser Bemühungen sind vielleicht sogar die effektivsten Mittel der Selbstverteidigung, die der Planet einsetzt — weitaus effektiver als die kühle Präzision der Mathematik und das Gewicht der Fakten. Gaia wurde schließlich aus Staunen und ekstatischer Begeisterung geboren.
Was die Gaia-Gemeinde bei ihren zuweilen sentimentalen Darstellungen der Großen Göttin jedoch häufig übersieht, ist die dunkle Seite der matriarchalen Tradition. Nicht alle Aspekte der Großen Mutter sind durch Güte, Liebe, Fürsorge und Wohlwollen charakterisiert. Sie erscheint auch als Kali und Hekate, strafend, unnachsichtig und todbringend, oder als löwenköpfige Sekhmet, die einst drohte, die gesamte menschliche Gattung ihres Ungehorsams wegen zu verschlingen. Gaia kennt auch Strenge und Härte; sie schützt und hegt die Geschöpfe, die ihre Ordnung respektieren, aber jenen, die ihre Gesetze übertreten, zeigt sie ihre ganze Zerstörungskraft.20
Der Nobelpreisträger Joshua Lederberg warnt uns vor eben dieser Möglichkeit, wenn er anmerkt, wir könnten uns durchaus nicht in der Sicherheit wiegen, daß die Evolution zu unseren Gunsten verlaufen wird. Ein nahezu arteigener chauvinistischer Stolz macht uns für unheilvollere Ausgänge blind.
»Menschliche Intelligenz, Kultur und Technologie haben dafür gesorgt, daß alle anderen Tier- und Pflanzenarten aus dem Wettbewerb ausgeschlossen sind. (...) Aber wir machen uns zuviele Illusionen darüber, daß wir die noch nicht kolonisierten Territorien, die der Mikroben, durch unsere Klugheit beherrschen könnten. In letzter Instanz bleiben die Mikroben unsere mächtigsten Konkurrenten, wenn es um die Herrschaft über den Planeten geht. Bakterien und Viren wissen nichts von nationaler Souveränität. Es gibt keine Garantie, daß wir aus dem natürlichen Wettbewerb der Evolution als die Überlebenden hervorgehen werden.«21
Wenn die Erde ein selbstregulierender Organismus ist, hat ihre regulierende Kraft vielleicht den Charakter eines Stoffwechselsystems: leistungsfähig, unpersönlich, erdrückend effizient. Dieses Bild steht mir häufig vor Augen, wenn ich nach einer symbolischen Verkörperung der Gaia-Hypothese suche.
Wenn überall um mich her, auf dem gesamten Planeten, eine integrative Intelligenz am Werk ist, dann empfinde ich sie nicht als menschliche Intelligenz. Sie ist etwas viel größeres und gleichzeitig viel Ursprünglicheres, eine Weisheit wie die des Körpers, ein unbeeinflußbarer Wille, die Aufgaben zu erfüllen, die das Überleben des Gesamtorganismus verlangt. Im klassischen metaphysischen Sinn war dies die Bedeutung von »Seele«; sie war das innerste Prinzip des physischen Lebens, das nur Gott erschaffen konnte, aber sie wirkte auf der stofflichen Ebene, die der Ebene des Geistes untergeordnet war.
Das lateinische Wort für Seele, »anima«, legt eine engere Verbindung mit dem »Animalischen« (dem Instinkt) nahe als mit dem Intellekt. Vielleicht ist dies die Beziehung, in der Gaia, die Weltseele, zu ihrer am höchsten entwickelten Schöpfung steht. Wenn dem so ist, dann wird sie in ihrer wilden Entschlossenheit, die Vielfalt und die Quantität des Lebens, das sie trägt, zu verteidigen, vielleicht an irgendeinem Punkt zu dem Schluß kommen, daß diese ach so kluge Spezies Mensch für den Gesamtorganismus ein zu großes Risiko darstellt.
Die Immunreaktion, die sie dann vielleicht für angemessen hält, wird alles andere als sanft und mild verlaufen.
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Von Theodore Roszak 1992