Start    Weiter

6.4  Das Prinzip Verantwortung (Jonas)  

 

6.5 Heuristik      6.6 Ehrfurcht     Zusammen 6 

"Der Mensch ist verurteilt frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, 
andererseits aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles 

verantwortlich ist, was er tut."  Jean-Paul Sartre, 1986

 

Auch der Begriff der Verantwortung erfreut sich relativ großer Beliebtheit, wie ein Blick in das Verzeichnis lieferbarer Bücher 1995 zeigt: So gibt es u.a. den "Ruf nach Verantwortung", "Einsicht und Verantwortung", "Erziehung und Verantwortung", "Forschung und Verantwortung", "Freiheit und Verantwortung", "Gebet und Verantwortung", "Gentechnik und Verantwortung", "Geschichte und Verantwortung", "Macht und Verantwortung", "Retortenbefruchtung und Verantwortung", "Sexualität und Verantwortung", "Aids - unsere Verantwortung", "Unsere Verantwortung für Gottes Erde", "Wege zur universellen Verantwortung", "Die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler", "Widerstand aus Verantwortung", "Verzicht aus Verantwortung: Maßnahmen zur Rettung der Ozonschicht" oder einfach nur "Verantwortlich Mensch sein". 

Es gibt außerdem noch individuelle Appelle wie "Aber die Verantwortung liegt doch bei Dir!" und politische Fragen wie "Was heißt politische Verantwortungsethik heute?". Alles in allem wird der Verantwortungsbegriff weniger inflationär gebraucht wie die Vorgängerbegriffe der Angst und Hoffnung. Auffällig ist bei diesem Vergleich vor allem, daß es so gut wie keine literarischen Werke zu dem Thema gibt. Verantwortung erstreckt sich aber praktisch auf alle Lebensbereiche des Individuums und der Gesellschaft und scheint in der wissenschaftlichen Diskussion insbesondere angesichts des anhaltenden technischen Fortschritts zunehmend an Bedeutung zu gewinnen, z.B. in der modernen Medizin.

Verantwortliches Handeln gilt bei den meisten Menschen unserer Gesellschaft als erstrebenswert. Es ist nicht nur ein implizites Erzeihungsziel, sondern auch explizit in der universitären Ausbildung in Deutschland gesetzlich verankert: Lehre und Studium sollen die angehenden Akademiker zu verantwortlichem Handeln befähigen (Hochschulrahmengesetz, vgl. Gebert 1986). So steht die gesellschaftliche Relevanz des Themas außer Frage. Verantwortung ist wissenschaftlicher Gegenstand verschiedener Disziplinen, insbesondere der Rechtswissenschaft, der Philosophie und neuerdings auch verstärkt der Psychologie. Dort gibt es auch einige wenige theoretische Traditionen. 

So sind z.B. Berkowitz und Lutterman (1968) innerhalb der Persönlichkeitspsychologie schon lange auf der Suche nach einer situations­übergreifenden Persönlichkeitsdimension "Verantwortung". Als klassisch sind aus der Entwicklungspsychologie die Arbeiten von Kohlberg zur Moralentwicklung zu nennen. 

Im Alltag ist Verantwortung auch stark mit dem Berufsleben assoziiert, was wissenschaftlich wiederum von der Arbeits- und Organisations­psychologie aufgegriffen wird (vgl. Hoff 1992). Wie Auhagen (1994) bilanzierend bemerkt, wurde Verantwortung bisher fast ausschließlich auf einer rationalen Ebene untersucht, die emotionale Seite blieb ausgeblendet, obwohl Verantwortungssituationen nicht selten mit Angst und Ärger, manchmal auch mit Freude einhergehen. Unter dem Titel "Zur Sozialpsychologie der Verantwortung" nimmt die Autorin eine erste Bestandsaufnahme dieses "forschungstheoretisch reizvollen und lebenspraktisch wichtigen Themas" (Auhagen 1994, S.245) vor, der wir uns im folgenden kurz zuwenden wollen.

 

Graumann (1979) unterscheidet drei Ebenen sozialpsychologischer Forschung: eine mit Schwerpunkt auf das Individuum, eine zweite mit Fokus auf der Interaktion und die dritte mit dem Gewicht auf soziale Strukturen. Um die Sozialität der Verantwortung deutlich werden zu lassen, wird Sozialwissenschaftlern vorgeschlagen, sich von der Frage "Wer ist wem für was verantwortlich?" leiten zu lassen (Graumann 1994, S.184). Entscheidend für eine adäquate sozialwissenschaftliche Konzeption der Verantwortung sei nicht nur eine erfolgreiche Empirisierung der drei genannten Relate (wer-wem-wofür), sondern ein interaktives Verständnis. 

Zur Frage der Interpretierbarkeit verantwortlichen Handelns hat Schwartz (1977) im Kontext der Altruismus-Forschung darauf hingewiesen, daß für verantwortliches Handeln entscheidener als soziale Normen die persönlichen Normen des Individuums sind, die wiederum im Verlauf von Sozilisation und sozialer Interaktion internalisiert werden. Mieg (1994) versteht Verantwortung als "Leistung" und beruft sich dabei auf eine Idee von Luhmann (1964), nach dem Verantwortung sich in der Art und Weise ausdrückt, mit Ungewißheit umzugehen. Obwohl viele Explikationen der Verantwortung einen bewußten Aspekt zugestehen und sie damit eher dem Erwachsenenalter zuordnen, haben auch kleine Kinder so etwas wie ein Verantwortungsgefühl (Goodnow 1988). Was die Entstehungsbedingungen von Verantwortung betrifft, existieren Hinweise auf die besondere Bedeutung von Vorbildern (Hoffman 1979). Was die Entwicklung eines zukunftsorientierten Verantwortungssinns angeht, vertreten Schönbach und Bergmann (1994) die Auffassung, daß die Wurzeln einer solchen Entwicklung eher in 'weiblichen' als in 'männlichen' Auffassungen von Verantwortung zu finden sind, wobei unklar bleibt, was darunter genau zu verstehen sei.

 

Die empirische Messung von sozialer Verantwortung diskutiert Bierhoff (1994) auf handlungstheoretischer Grundlage. Empirische Ergebnisse zeigen, daß Empathie und expressive Orientierung einerseits und eine internale Kontrollüberzeugung sowie der Glaube an eine gerechtere Welt andererseits bedeutsame Korrelate von sozialer Verantwortung sind, welche auch mit Handlungsbereitschaft und prosozialem Verhalten einhergehen. In zwei Studien in der Nachfolge der berühmten Milgram-Experimente (Milgram 1969, vgl. Kap. 1.3) von Meeus und Raaijmakers (1990) fand die Hypothese empirische Unterstützung, nach der Menschen, die sich für die Konsequenzen ihres Handelns verantwortlich glauben, im Gegensatz zu solchen, die dies nicht tun, weniger gehorsam sind. Als ein mit dem Konstrukt der Verantwortung verwandtes Konzept gilt die sog. Zivilcourage, die sich nach Singer (1992) v.a. durch folgende Merkmale auszeichnet: seine Meinung offen und öffentlich auch vor Vorgesetzten ausdrücken, das öffentliche Wohl im Auge haben und nach seinem Gewissen handeln. Der letztgenannte Aspekt vermittelt den Eindruck, daß Phänomene wie Verantwortung, Zivilcourage und Gewissen durchaus miteinander verwandt zu sein scheinen. Klare Abgrenzungen sind bisher nur schwer auszumachen. Der gegenwärtige psychologische Forschungsstand zur Definition der Verantwortung hält insgesamt "kaum mehr als eine vage Antwort" bereit, wie Auhagen (1984, S.241) resümierend feststellt. Das Wesen von Verantwortung beschreibt sie mit einer sog. Ambivalenzthese als Gradwanderung zwischen einer als angenehm erlebten Herausforderung und einer als unangenehm wahrgenommenen Bedrohung: "Verantwortung, scheint es, gleicht einem Vexierbild: eine schöne, junge Frau, die sich im selben Augenblick in eine Hexe verwandeln kann" (Auhagen 1994, S.246).

 

Kommen wir zu der Frage, wie der Begriff der Verantwortung philosophisch gefaßt wird. Bevor wir uns etwas eingehender mit dem Ansatz von Jonas (1979) beschäftigen, der die Verantwortung zum "Prinzip" erhoben hat und auch die Grundlage für eine empirische Operationalisierung des Begriffs darstellt, seien zur Einführung einige Gedanken von Meyer-Abich (1990) aufgeführt. Meyer-Abich unterscheidet zwei Arten von Verantwortung: Auf der einen Seite die sprachgeschichtlich und philosophisch ältere Verantwortung für sich selbst, die von einer Rechenschaftspflicht des eigenen Handelns ausgeht ("Vergangenheitsverantwortung"), und auf der anderen Seite die Verantwortung für andere und anderes, die sich auf zukünftiges Handeln bezieht ("Zukunftsverantwortung"). Meyer-Abich bezeichnet die Zukunftsverantwortung als "Verantwortung im eigentlichen Sinn" (1990, S.57), was zunächst paradox erscheint, bedenkt man, daß das deutsche Wort "Verantwortung" vom Lateinischen ("responsio") kommt und dort im Sinne einer Antwort, z.B. vor Gericht, verstanden wird.

 

Als Beispiel einer Vergangenheitsverantwortung führt Meyer-Abich das Konzept von Kant an, der die Ansicht vertrat, daß Verantwortung letztlich gegenüber demjenigen bestehe, vor dem wir uns gegebenenfalls zu rechtfertigen hätten. Wer z.B. seinem Nachbarn verspricht, dessen Blumen zu gießen, übernimmt danach nur gegenüber seinem Nachbarn eine Verantwortung, während die Blumen lediglich ein Reflex dieser Beziehung seien. Sie werden zwar begossen, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern nur in ihrer Funktion als Eigentum des Nachbarn. Als Plädoyer für die Art der Zukunfts-verantwortung wertet Meyer-Abich dagegen die Auffassung von Picht (1969), der die in der Philosophie weitgehend vernachlässigte Frage der Verantwortlichkeit des Menschen in der heutigen Zeit schon vor fast drei Jahrzehnten gestellt hat: "Der Mensch verdankt es der Natur, daß er Mensch sein kann (...). Wer die Verantwortung für Tiere, für Pflanzen, für Rohstoffe, für den Wasserhaushalt und demnächste vielleicht für das Klima aus der Definition der Verantwortung ausklammern will, weil diese Formen der Verantwortung sich aus dem Rückbezug auf das Subjekt nicht mehr interpretieren lassen, der verkennt das Wesen menschlicher Verantwortung bereits im Ansatz" (Picht 1969, S.318).

 

Meyer-Abich unterscheidet sieben sog. "Verantwortungskreise", denen ebensoviele Formen der Ethik entsprechen, und versucht damit zu zeigen, warum menschliche Verantwortung heute seiner Ansicht nach über eine bloße Rechenschaftspflicht hinausgeht. Im engsten Kreise ("Egozentrik") ist jeder Mensch ausschließlich für sich selbst verantwortlich. Im Lockeschen Naturzustand ist es allerdings nicht unmoralisch, daß jeder nur an sich denkt, insofern wird der abwertende Ausdruck Egozentrik der Unschuld dieser Selbstbezogenheit nicht ganz gerecht. Die Moral der Sippe ("Nepotismus") ist ein erster Schritt über das Ich hinaus und schließt Familie und Freunde, Verwandte und Bekannte ein. In einem dritten Schritt ("Nationalismus") achtet eine Gemeinschaft von Landsleuten seine eigenen Mitbürger, wobei nationaler Überschwang leicht zu einem Chauvinismus führen kann. In einer internationalen Gemeinschaft achten sich die Menschen nah und fern, dieser Zustand gilt ebenso als "Anthropozentrik" wie die Abgrenzung der menschlichen Gesellschaft gegenüber den anderen Lebewesen. Der "Mammalismus" umfaßt als nächste Stufe alle "höheren" Lebewesen. Von einer Gemeinschaft aller Lebewesen ("Biozentrik") spricht man im Sinne Albert Schweitzers (vgl. Kap. 6.6). Im Rückblick von dieser Stufe aus erweist sich das anthropozentrische Weltbild als ein menschlicher Chauvinismus. Eine Steigerung wäre schließlich noch eine "Physiozentrik", welche auch die sog. unbelebte Welt in ihren Verantwortungskreis miteinbezieht. Meyer-Abich postuliert in diesem Sinne einer Überwindung anthropozentrischer Ethik, welche letztendlich die Umwelt zur Mitwelt macht: "Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern alles, was mit uns ist, ist das Maß unserer Menschlichkeit" (Meyer-Abich 1990, S.82).

 

Einen differenzierteren Verantwortungsbegriff als Meyer-Abich legt Hans Jonas (1979) vor. Jonas (1903-1993), der zusammen mit Anders studierte und bei Heidegger promovierte, mußte als Jude während des Nationalsozialismus Deutschland verlassen und emigrierte über England und Palästina nach Amerika, wo er auch seine akademische Laufbahn beendete. Für "Das Prinzip Verantwortung" erhielt Jonas 1987 den Friedens-preis des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede (Jonas 1987) verdeutlichte er die politischen Dimensionen des Prinzips Verantwortung mit der Forderung, die demokratischen Grundrechte durch "Grundpflichten" zu erweitern. Jonas geht davon aus, daß nur eine Ethik, die sich ontologisch versteht und auf alles Sein gerichtet ist, in der Lage ist, den modernen globalen Herausforderungen der vor allem durch Naturwissenschaft und Technik entstandenen Probleme gerecht zu werden. Für Jonas (1979, S.7) symbolisiert der "endgültig entfesselte Prometheus" eine möglicherweise bis zur Selbstzerstörung der Menschheit losgelassene Technik und den fast unvermeidlichen, schicksalhaften Mißbrauch von Freiheit infolge der Versuchung durch technische Macht. Wie Anders kritisiert Jonas die schon in der Antike ursprünglich mythische, dann philosophisch-ethische und neuerdings ökologisch erkannte menschliche Hybris.

 

Nach Jonas schließt eine Zukunftsethik eine Pflicht gegenüber den Nachkommen ein, verbunden mit einer Abwehr des positivistischen Dogmas der Differenz von Sein und Sollen. Der Entwurf einer Theorie der Verantwortung basiert sowohl auf der rationalen Voraussetzung eines legitimierenden Grundes der Verpflichtung als auch auf der subjektiv emotionalen Bereitschaft des Gefühls der Verantwortung. In Umkehrung des Kantschen Satzes "Du kannst, denn du sollst" wird das menschlich-technische Können zur Wurzel des Sollens der Verantwortung, die sich in einer Ethik der Erhaltung und Bewahrung auch im "Prinzip Bescheidung" (Jonas 1993, S.90) ausdrückt. Jonas sieht in der von den Naturwissenschaften bereitgestellten Macht des Wissens über die Natur die Hauptgefährdung für den Menschen und hält weder ein marxistisches, noch ein kapitalistisches Gesellschaftsmodell prinzipiell für eine Lösung der Probleme geeignet, solange beide der Fortschrittsidee verpflichtet bleiben.

 

Jonas zeigt zwei Axiome auf, die der menschlichen Verantwortung zugrundeliegen können. Das erste wäre ein rein anthropozentrisch-utilitaristisches Interesse des Menschen, seine eigene Art zu erhalten und sich selbst nicht die Natur als Lebensgrundlage zu zerstören. Der Mensch als Maß aller Dinge hätte danach für die Natur nur insoweit eine Verantwortung, wie sie das Überleben der Menschheit garantiert. Demgegenüber stellt Jonas eine nicht-anthropozentrische Ethik, die der Natur ein "sittliches Eigenrecht" einräumt. Hier wäre die Natur nicht mehr ein reines Objekt, sondern ein Subjekt mit einem normativen Anspruch, "nicht nur um unsretwillen, sondern auch um ihrer selbst willen und aus eigenem Recht" (Jonas 1979, S.29). Die jeweiligen Konsequenzen, die aus diesen beiden Grundverpflichtungen der menschlichen Verantwortung erwachsen, sind grundlegend verschieden: Eine anthropozentrische Ethik der Verantwortung, die der Natur kein sittliches Eigenrecht einräumt, könnte mit der Natur nach Belieben verfahren, solange das Dasein künftiger Menschen gesichert wäre. Diese Position erhält angesichts der Entwicklung der Gentechnik zunehmende Brisanz ("Was spricht gegen Plastikbäume?", vgl. Tribe 1980). Die nichtanthropozentrische Sichtweise, die sich in früherer Zeit mit einer mythologischen Perspektive verband (das griechische Wort "Kosmos" wurde als "schöne Ordnung" oder "Schmuck" verstanden), verschwand im Zuge der "Aufklärung". In der Abqualifizierung von Naturreligionen sind sich wissenschaftliche Aufklärung und monotheistische Transzendenzreligionen einig.

 

Eine Sonderstellung des Menschen sieht Jonas in der Tatsache begründet, daß "nur er allein Verantwortung haben kann" (1979, S.185). Indem er sie aber haben kann, hat er sie auch schon. Insofern steht der Mensch zwar inmitten, dennoch in gewisser Weise auch "über" der Natur. Aus dieser Sonderstellung leitet Jonas nicht nur die Macht, sondern auch die Pflicht zur Verantwortung ab, eine Pflicht der Zukunftsverantwortung. Sie ist keine kausale Zurechnung begangener oder unterlassener Taten, sondern eine Verantwortung für Zu-Tuendes. Sie ist keine Ethik in der Zukunft, sondern eine Ethik in der Gegenwart, die sich um die Zukunft kümmert und erfordert über Furcht und Klugheit hinaus auch Ehrfurcht. Jonas hält eine Affizierung des Verantwortungsgefühls für nötig, da Ratio seiner Auffassung nach in der Regel nicht ausreicht, um auch verantwortungs-volles Handeln in Gang zu setzen. Mit einem sog. "ontischen Paradigma" postuliert Jonas in diesem Sinne "das elementare Soll im Ist des Neugeborenen, dessen bloßes Atmen unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich seiner anzunehmen" (1979, S.235). Für Jonas ist das Kind das zeitlose Urbild aller Verantwortung und ihr vollkommenstes Paradigma, denn "mit jedem Kinde, das geboren wird, fängt die Menschheit im Angesicht ihrer Sterblichkeit neu an" (1979, S.241).

 

Läßt sich ökologisches Handeln mit diesem Konzept der Verantwortung vorhersagen? Dieser Frage widmet sich eine Studie (Neuberger 1992 bzw. Auhagen & Neuberger 1994), in der die Umweltethik von Jonas zerlegt wurde in die Komponenten Sollen, Wollen und Können, die ihrerseits in die psychologischen Konzepte Einstellung gegenüber der Umweltzerstörung, durch sie hervorgerufene Bedrohung und perzipierte Kontrolle in bezug auf Umweltschutz übertragen wurden. An der Feldstudie nahmen 29 Studierende teil, die nicht nur einen Fragebogen auszufüllen hatten, sondern zwei Wochen lang ein Umwelttagebuch führten, das umweltschützende Handlungen im Haushalt dokumentierte. Ziel der Studie war es, das Konzept der Verantwortung auf der Grundlage einer philosophischen Theorie in psychologische Konstrukte umzusetzen und empirisch zu überprüfen. Sowohl die Idee als auch die Ergebnisse der Studie sind für die vorliegende Arbeit von Interesse, so daß nachfolgend kurz darauf eingegangen wird.

 

Ausgehend von der Annahme, daß das Konzept der Verantwortung, das als ethisch-moralischer Begriff auch mit der Werte-Forschung in Zusammenhang steht, eine wichtige Rolle bei der Vorhersage von Umweltschutzverhalten spielt (Wortmann, Stahlberg & Frey 1988), wurde das "Prinzip Verantwortung" von Jonas (1979) unter dem Aspekt seiner Relevanz für die Vorhersage von moralischen Handlungen untersucht. Drei Komponenten wurden identifiziert: Erstens das "Sollen", die rationale Einsicht in eine Verpflichtung, die von der Vernunft geleitete Erkenntnis zu handeln, zweitens das "Wollen", die emotionale Empfänglichkeit, für diese Verpflichtung zu handeln, und drittens das "Können", die Möglichkeit, die Handlung auch ausführen zu können (Auhagen & Neuberger 1994, S.322). Die Autorinnen übersetzen dabei als Können dasjenige, was Jonas als Macht bezeichnet: "Das also, was Wollen und Sollen überhaupt verknüpft, die Macht, ist eben dasselbe, was Verantwortung ins Zentrum der Moral rückt" (Jonas 1979, S.233).

 

Ausdrücklich betont wird unter Berufung auf Jonas, daß moralische Appelle gewöhnlich erst dann in moralische Handlungen münden, wenn sie eine emotionale Antwort finden. Angesichts der fortschreitenden Umweltzerstörung sei die zentrale Emotion des Wollens ein Gefühl der Verantwortlichkeit: "Verantwortung entsteht nur dann, wenn uns die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen, affiziert, wenn wir zum Schutz des Verantwortungsobjekts beitragen wollen" (Neuberger 1992, S.16). Die Tatsache, daß Jonas das Wollen als notwendige Ergänzung zum Sollen ins Zentrum der Betrachtung rückt, ist bemerkenswert, da bei ethischen Modellen sonst eher unüblich. Häufig wird dem Gefühl beim Zustandekommen einer moralischen Handlung keinerlei Bedeutung eingeräumt (vgl. z.B. Sabini & Silver 1987, S.165). Jonas dagegen spricht von einem "psychologischen Grund" (1979, S.66) und einer ethischen Pflicht: "Das angemessene Gefühl nun, von dem wir sprechen, ist in großem Umfang die Furcht. Früher von geringem Ansehen unter den Emotionen, eine Schwäche der Furchtsamen, muß sie jetzt zu Ehren gebracht werden, und ihre Kultivierung wird geradezu zur Pflicht" (Jonas 1985, S.66). Auch in der Psychologie gibt es Konzepte, die besagen, daß Werthaltungen nur dann verhaltenswirksam sind, wenn auch emotionale Prozesse aktiviert werden (vgl. Jones & Gerard 1967). Ohne emotionale Unterstützung sei jede Norm "ein lebloses Gebilde, eventuell in der Lage, ein schlechtes Gewissen hervorzurufen, doch ganz sicher nicht ausschlaggebend für umweltschonendes Handeln" (Neuberger 1992, S.37).

 

Im Gegensatz zu Jonas, bei dem auch die Hoffnung, etwas ausrichten zu können, als eine zentrale Emotion für verantwortliches Handeln angesehen wird (vgl. Kap. 6.4), wurde in der berichteten Studie von einer Operationalisierung des Konzepts mit der Begründung abgesehen, daß die Emotion der Hoffnung stark mit dem dritten Verantwortungsfaktor (der perzipierten Möglichkeit, etwas ausrichten zu können) konfundiert sei und weiterhin ein unspezifisches Gefühl der Verantwortung ausgesprochen schwer zu fassen sei (Neuberger 1992, S.95). Analog zu Jonas vertreten viele Psychologen zumindest die Auffassung, daß Umwelthandeln einer positiven Einschätzung der individuellen Kontrollmöglichkeiten bedarf (vgl. z.B. Fietkau 1984). Dabei wird die Verantwortung gegenüber der Umwelt als kollektive Verantwortung gesehen. Bandura (1982) z.B. postuliert neben der Empfindung von 'self-efficacy' noch die Empfindung einer 'collective-efficacy'. Nach der sog. Allmende-Klemme (Hardin 1968) stehen individuelles Handeln und kollektive Ziele manchmal in einem für alle bedrohlichen Konflikt. Die Annahme, daß Menschen nicht auf "dem Ast sägen, auf dem sie sitzen", wird in der Literatur als "kollektivistischer Fehlschluß" bezeichnet (Opp 1983, S.96). Wenn alle Menschen Kontrolle nur für egoistische Zwecke einsetzen, wird die Natur genau "so lange ausgebeutet, bis alle vor dem Nichts stehen" (Auhagen & Neuberger 1994, S.330).

 

Aus ihren Vorüberlegungen leiten die Autorinnen schließlich drei Hypothesen ab: Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen dem normativen Befürworten von Umweltschutz und umweltschützenden Handlungen (H1). Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen dem durch die Umweltzerstörung hervorgerufenen Bedrohungserleben und umweltschützenden Handlungen (H2). Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen perzipierter umweltpolitischer Einflußmöglichkeit und umweltschützenden Handlungen (H3). Operationalisiert wurde auf quantitativer Ebene die erste Hypothese mit einer Umweltbewußtseins-Einstellungsskala von Schahn (1989), die zweite und dritte Hypothese mit einigen zusammengestellten Items zum emotionalen Bedrohungserleben durch die Umweltzerstörung bzw. zum Erleben von Kontrollüberzeugungen. Gegenstand des Umwelttagebuchs waren alltägliche Verhaltensweisen beim Einkaufen, Putzen, Waschen, Kochen, Abspülen und bei der Müllbeseitigung.

 

Auhagen & Neuberger fassen ihre Befunde wie folgt zusammen: "Wer glaubt, etwas für die Umwelt tun zu müssen, sich von der Umweltzerstörung bedroht fühlt, sowie - in Grenzen und gemeinsam mit anderen - glaubt, die Umweltkatasrophe beeinflussen zu können, verhält sich eher umweltschützend" (1994, S.319). Den Ergebnissen der Studie zufolge ist das Vorliegen der Verantwortungskomponenten 'Wollen' und 'Sollen' bei den meisten Versuchspersonen gewährleistet. Die Mehrheit fühlt sich sowohl durch die Umweltzerstörung bedroht als auch verpflichtet, gegen sie vorzugehen. Der normative Anspruch, etwas gegen die fortschreitende Umweltzerstörung zu unternehmen, sowie die diesbezügliche emotionale Betroffenheit scheinen zwar mit umweltfreundlichem Handeln in Verbindung zu stehen, offen bleibt jedoch, warum diese Konstellation nicht immer in umweltschützende Handlungen mündet. Die dritte Komponente des 'Könnens' erwies sich als weniger erfolgreich zur Vorhersage des Umweltverhaltens. Es zeigte sich, daß viele Befragte eine ausgeprägte Ohnmacht gegenüber der Umweltzerstörung empfinden, was mit dem Phänomen der kollektiven Kontrolle nach Bandura (1982) erklärt wird, nach dem das Individuum seinen Einsatz nur dann als lohnend ansieht, wenn auch andere das gemeinsame Ziel verfolgen. Das Konstrukt der kollektiven Kontrollüberzeugung wurde jedoch empirisch nicht erfaßt.

 

Auch wenn die Ergebnisse angesichts der kleinen und selektierten Stichprobe mit Vorsicht interpretiert werden müssen, können die Resultate der Studie als eine erste empirische Basis der Theorie von Jonas angesehen werden. Gerade die theoretischen Überlegungen sind für die vorliegende Arbeit von heuristischem Interesse. Zu der gleichen Einschätzung kommen wir auch bei der Betrachtung der ökologischen Verantwortungstheorie von Hoff (vgl. Kap. 5.4). Auch hier ist die Philosophie von Jonas Ausgangspunkt einer Konzeptualisierung von ökologischer Verantwortung (vgl. Hoff 1995). Wir kommen nun zur Integration der Teilkonzepte ökologischer "Angst", "Hoffnung" und "Verantwortung" im Rahmen des postulierten ökologischen Gewissens.

 

 

#

 https://detopia.de      ^^^^  

Ökologisches Gewissen  #  Dr. Sven Sohr  # Die Zukunft der Erde aus der Perspektive  von Kindern, Jugendlichen und anderen Experten #  2000