6.5 Ökologisches Gewissen als heuristisches Modell ^^^^ Ehrfurcht Zusammenfassung
Ziel dieses Abschnitts ist es, aufbauend auf den vorausgehenden Überlegungen das Konstrukt "Ökologisches Gewissen" zu bestimmen. In einem ersten Schritt rekurrieren wir noch einmal auf drei bereits vorgestellte Ansätze, die ökologisches Erleben und Handeln ebenfalls mit Hilfe von drei Komponenten zu erfassen versuchen und die für die Entwicklung eines Modells eine inspirierende Wirkung ausüben. Es handelt sich um die Arbeiten von Hoff (vgl. Kap. 5.4), Neuberger (Kap. 6.4) und Preuss (Kap. 5.6).
In einem zweiten Schritt werden die drei von uns postulierten Prinzipien des ökologischen Gewissens, also die Prinzipien der ökologischen Angst, Hoffnung und Verantwortung begrifflich abgegrenzt, bevor in einem dritten Schritt die einzelnen Prinzipien in einem Gesamtmodell des ökologischen Gewissens integriert und operationalisiert werden. Auf einer abstrakten Ebene wird im abschließenden Theoriekapitel (Kap. 6.6) ökologisches Gewissen als Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben verstanden.
(1) Drei Drei-Komponeten-Modelle
Beginnen wir mit dem Ansatz, der zur Zeit wohl am elaboriertesten das Konstrukt der ökologischen Verantwortung theoretisch faßt: Es handelt sich um die Theorie der Arbeitsgruppe um Hoff, die in Kap. 5.4 ausführlich vorgestellt wurde. In dem Modell setzt sich das Superkonstrukt "Ökologisches Verantwortungsbewußtsein" aus den drei Teilkonzepten des ökologischen Denkens, der ökologischen Kontrollvorstellungen und der ökologischen Moralvorstellungen zusammen. Ökologisches Denken umfaßt strukturelles Wissen über ökologische Zusammenhänge unter Berücksichtigung der zeitlichen und räumlichen Reichweite. Ökologische Kontrollvorstellungen zeigen sich in der Einschätzung individueller Macht und Ohnmacht hinsichtlich ökologischer Probleme. Ökologische Moralvorstellungen offenbaren sich schließlich in ethischen Begründungen, die für individuelles Handeln gegeben werden. Auf der höchsten Stufe der ökologischen Verantwortung denkt das Individuum dem Modell gemäß komplex systemisch, interaktionistisch und äquiliberiert. Wir haben das Grundmodell in Form eines Dreiecks in Abb. 8 visualisiert.
Die Theorie der ökologischen Verantwortung ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Im Gegensatz zu den meisten Ansätzen der Umweltbewußtseinsforschung thematisiert sie ausdrücklich die Täterschaft des Menschen als Verursacher von Umweltproblemen. Diese grundlegende Tatsache wird in den meisten psychologischen Modellen schlichtweg ausgeblendet. Weiterhin ist die Theorie ein Produkt mühevoller und jahrelanger Grundlagenforschung. Die Theorie befindet sich in einem ständigen Prozeß der Weiterentwicklung.
Sie steht dabei auf relativ festem Grund: Die Teilkonzepte der Kontroll- und Moralvorstellungen fußen auf etablierten psychologischen Theorietraditionen (die Schulen um Rotter bzw. Kohlberg), das Teilkonzept des ökologischen Denkens versteht sich sogar in einem interdisziplinären Kontext (es werden Prinzipien der Ökologie aufgegriffen). Ein besonderes Verdienst stellt die Ausarbeitung der dritten Komponente dar. Die Bestimmung ökologischer Moral entzieht sich der traditionellen Fragebogenforschung und bedarf aufwendiger Dilemmata-Interviews. Auf diese Weise können universelle Prinzipien, die sich am "System Erde" und an künftigen Generationen orientieren, herausgearbeitet werden. Im Sinne von Kohlberg orientiert sich ein Mensch auf den höchsten Stufen der Entwicklung letztlich am eigenen Gewissen.
Wie bereits in Kap. 5.4 angemerkt, erscheint neben den methodischen Problemen, die sich aus dem Anspruch der Theorie ergeben, die einseitige kognitive Ausrichtung des Ansatzes problematisch. Außerdem verführen A-priori-Vorstellungen über kognitive Strukturen manchmal dazu, auf eine empirische Überprüfung zu verzichten. Ein weiteres inhaltliches Problem, das sich im Zuge der Validierung der Theorie ergab, veranlaßte die Forschergruppe in jüngerer Zeit zu einigen Modifikationen bzw. zu Erweiterungen der Erhebungsinstrumente. Ausgangspunkt waren ambivalente Erfahrungen mit dem Teilkonstrukt der ökologischen Kontrollvorstellungen. Es zeigte sich, daß psychologische Handlungstheorien zu kurz greifen, wenn sie auf individuelle Handlungseinheiten beschränkt bleiben. Erforderlich ist vielmehr eine soziologische Konzeptualisierung, die auch kollektives und kommunikatives Handeln in ihre Überlegungen miteinbezieht.
Auslöser für diese Überlegungen waren auftretende Paradoxien, auf die in ähnlicher Form auch schon de Haan (in Kap. 5.3) aufmerksam gemacht hat: Persönliches Handeln wird internal, globales Handeln dagegen external attribuiert (beispielsweise durch die Statements "Natürlich kann ich selbst etwas beitragen, indem ich meinen Müll trenne, (...) das hat aber letztlich doch keinen Sinn", (vgl. Hoff u.a. 1995, S.38). Beispielhaft für kollektiv-kooperatives Handeln in einem interaktionistischen Sinne sind demgegenüber Aktionen von Greenpeace, sie basieren nicht auf einer isolierten Form von ökologischem Handeln. Da nur eine Minderheit in dieser exponierten Weise engagiert ist, könnte es sein, daß ökologische Ohnmacht allgemein viel verbreiteter ist als bisher angenommen wird.
Ein weiteres Drei-Komponenten-Modell, das im Zusammenhang mit der Konstruktion eines ökologischen Gewissens als sehr hilfreich erscheint, stammt von Neuberger (1992) und wurde im vorherigen Kapitel vorgestellt. Neuberger übersetzt das "Prinzip Verantwortung" von Jonas (1979) in die Komponenten "Sollen", "Wollen" und "Können" (in dieser Reihenfolge). Die Komponente des Sollens beinhaltet die Einschätzung gegenüber der Umweltzerstörung. Wird das Problem überhaupt als solches erkannt? Das "Sollen" meint die rationale Einsicht in eine Verpflichtung bzw. die von der Vernunft geleitete Erkenntnis zu handeln.
Auf der Grundlage dieser rationalen Einsicht kann die Komponente des Wollens wirksam werden. Sie stellt die positive Antwort auf die Frage dar, ob die Umweltzerstörung überhaupt als eine Bedrohung wahrgenommen wird. Das "Wollen" beschreibt die emotionale Empfänglichkeit für die Verpflichtung zu handeln. Für Jonas ist die Affizierung des Gefühls die Voraussetzung dafür, daß Verantwortung auch wirklich übernommen wird. In diesem Kontext ist es zu verstehen, daß Jonas dazu auffordert, entsprechende Gefühle zu "kultivieren" (Jonas 1985, S.66). Er spricht damit indirekt aus, was Anders etwas deutlicher als "Erziehung zur Angst" genannt hat (vgl. Kap. 6.2). Ein Verdienst von Neuberger ist die Einbindung dieser emotionalen Komponente, die bei der Theorie von Hoff praktisch auf der Strecke bleibt. Wer sich jedoch auf Jonas beruft, kommt um eine emotionale Übersetzung des "Prinzip Verantwortung" wohl nicht herum. Neuberger vervollständigt diese Übersetzung, in dem sie die Komponente des Könnens zu den Komponenten des Sollens und Wollens hinzufügt. Unter "Können" wird die perzipierte Kontrolle verstanden, also die Möglichkeit, Handlungen auch tatsächlich ausführen zu können. Jonas zufolge handelt es sich hierbei um eine Frage der Macht. Abb. 9 zeigt eine Visualisierung des Grundmodells.
Wie bereits ausgeführt (vgl. Kap. 6.4), hat Neuberger versucht, die philosophische Theorie empirisch-psychologisch zu bestätigen. Im Ergebnis zeigte sich, daß die Komponenten "Sollen" und "Wollen" sehr gut dazu geeignet sind, Umweltschutzverhalten vorherzusagen. Die Komponente "Können" jedoch nahm eine "Sonderstellung" (Neuberger 1992, S.83) ein: Ein Zusammenhang zwischen dem perzipierten Einfluß auf die Umweltpolitik und Umweltschutzhandeln konnte nicht bestätigt werden, stattdessen offenbarte sich bei den meisten Untersuchungsteilnehmern eine große Ohnmacht hinsichtlich der Einschätzung eigener Einflußmöglichkeiten. Neuberger erklärt dieses von ihren Hypothesen abweichende Ergebnis mit dem Hinweis auf das Konzept der "kollektiven Kontrolle" nach Bandura (1982). Sie findet einen entsprechenden Hinweis auch bei Jonas:
"Mit anderen Worten, das meiste, was wir uns heute sittlich zu fragen haben, ist nicht so sehr: Wie führe 'ich' mein Leben sinnvoll und anständig? (das bleibt immer noch bestehen), sondern: Was können 'wir' dazu tun, 'wir', nämlich dieses ganze große, als Ganzes handelnde Super-Subjekt, die heutige technisch-zivilisierte Menschheit - was können wir dazu tun, daß sie sich nicht so verhält, daß die zukünftigen Möglichkeiten von Menschen, wie wir es sind, oder wie sie sein sollten in einer annehmbaren Welt, im voraus in Frage gestellt werden?" (1985, S.275).
Für Jonas ist die "Hoffnung" die zentrale Emotion, die darüber entscheidet, ob das Individuum als Teil dieses Super-Subjekts auch den "Mut zur Verantwortung" aufbringt (Jonas 1987, S.391). Neuberger hat leider in ihrem Ansatz von einer Operationalisierung der Emotion Hoffnung abgesehen, da dieses "unspezifische Gefühl der Verantwortung ausgesprochen schwer zu fassen wäre" (1992, S.95). Die Autorin befürchtete eine Konfundierung der Komponenten "Sollen" und "Können". Die Ergebnisse von Neuberger auf der Basis der Theorie von Jonas zeigen, daß auf die Emotion der Hoffnung nicht verzichtet werden darf, wenn es um die Vorhersage von ökologischem Handeln geht.
Während die Arbeiten von Neuberger und Hoff das Superkonstrukt der ökologischen Verantwortung zu erfassen versuchen, geht Preuss (vgl. Kap. 5.6) vom Konstrukt der Angst vor der Umweltzerstörung aus und konstatiert in ihrem Dreikomponenten-Modell grundlegende Ängste: Existenzängste des Opfers, Versagensängste des Retters und Gewissensängste des Täters.
Existenzängste resultieren nach Preuss aus der erlebten massiven Bedrohung der physischen Existenz. Sie werden als angemessene Realängste beschrieben, die sich auf die menschliche Grundangst des Ausgeliefertseins bzw. auf die Angst vor dem Tod zurückführen lassen. Versagensängste des Retters resultieren aus individuellen Hilfeimpulsen, die angesichts der Globalität und Komplexität der ökologischen Probleme letztlich zum Scheitern verurteilt seien. Gewissensängste des Täters resultieren aus dem Gefühl der Mitverantwortung, einer permanenten Mittäterschaft, der sich der einzelne nicht entziehen könne. Die Beziehungen dieser drei Ängste bzw. Identitäten untereinander beschreibt Preuss mit einem Kreislauf. Die erste Begegnung mit der Umweltzerstörung führe zunächst in die defensive Position des Opfers, im weiteren Verlauf drängt das Wissen um die eigene Verantwortung ins Gewissen und die potentielle Reaktion und Übernahme der Retter-Rolle münde früher oder später wieder in die Opfer-Rolle, wenn die eigene Ohnmacht bewußt wird. Preuss zufolge pendelt das Individuum meist zwischen der Opfer- und Täter-Identität hin und her, wobei sich das Pendel tendentiell eher zum Opfer und weniger zum Täter hin bewege, für die Retter-Rolle wird eine mittlere Wahrscheinlichkeit angenommen.
Wie bereits erwähnt lautet das Superkonstrukt bei Preuss nicht "ökologische Verantwortung", stattdessen spricht sie vom Ideal der "pro-ökologischen Persönlichkeit" (in Abb. 10 haben wir dieses Modell als Dreieck visualisiert). Pro-ökologisch ist nach Preuss eine Persönlichkeit zu nennen, der es gelingt, alle drei Rollen ohne Abwehrhaltung zu integrieren. Dieses Modell findet auch in der Psychotherapie seine Entsprechung, zum einen (wie von Preuss erwähnt) in der nondirektiven Gesprächspsychotherapie nach Rogers, der von einer "fully functioning person" im Zustand der Kongruenz von Organismus und Erfahrung spricht (Rogers 1987, S.59), zum anderen in der Transaktionsanalyse nach Berne. Aufbauend auf dem letztgenannten Ansatz hat Karpmann (1968) mit den Begriffen des Opfers, Täters und Retters ein dreiteiliges Rollenkonzept im Zuge seines therapeutischen Settings verwendet. Die Übertragung dieser individuellen Rollen auf die ökologisches Situation, wie sie von Preuss (1992) vorgenommen wurde, erscheint uns sehr angemessen.
Setzt man diese Idee von Preuss in Beziehung zu den in Abb. 11 in einer vergleichenden Übersicht dargestellten Modellen, sind einige Parallelen augenscheinlich. Insbesondere die Spalten mit den jeweils zweiten und dritten Komponenten offenbaren frappierende Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Modellen. Unterschiede beziehen sich vor allem auf die Grundausrichtung der Modelle, sie sind weniger aus dem Titel des übergeordneten Konstrukts ableitbar. So enthalten die Arbeiten von Neuberger und Preuss im Vergleich zu Hoff auch emotional besetzte Komponenten, obwohl sowohl Neuberger als auch Hoff eine Erklärung des Begriffs der ökologischen Verantwortung im Visier haben.
(2) Drei Prinzipien des ökologischen Gewissen
In Verbindung mit den Gedanken, die Jonas in seinem "Prinzip Verantwortung" entwickelt - Jonas postuliert als Ergebnis seiner Suche nach einer Ethik für technologische Zivilisation die Kombination von "Furcht, Hoffnung und Verantwortung" (Jonas 1979, S.391) - erscheinen uns die folgenden Konstrukte zur Bestimmung des ökologischen Gewissen adäquat: Ökologisches Gewissen vereint potentiell die Angst des Opfers, die Hoffnung des Retters und die Verantwortung des Täters. Durch ihren philosophischen Überbau als grundlegende "Prinzipien" gewinnenen die drei Konstrukte an Gewicht. Wir haben die Prinzipien "Angst" (Anders), "Hoffnung" (Bloch) und "Verantwortung" bereits ausführlich beschrieben (vgl. Kap. 6.2-4) und halten es an dieser Stelle für angebracht, noch einmal eine kurze definitorische Verdichtung bzw. Präzisierung der drei Begriffe vorzunehmen.
Ausgehend vom "Prinzip Angst" (Anders) ist ökologische Angst eine existentielle Besorgnis, die durch die Bedrohung der globalen Umweltzerstörung ausgelöst wird. Angesichts der Komplexität dieser Bedrohung scheint es angebracht, den Begriff der (tendenziell unspezifischen) Angst gegenüber dem Begriff der (eher spezifischen) Furcht vorzuziehen. In einem umfassenden, zeitlichen und räumlichen Sinne handelt es sich bei der ökologischen Angst um "Endzeitangst" (Bopp 1987) bzw. um "Weltangst" (Richter 1992). Als Emotion ist Angst von Ängstlichkeit als Persönlichkeitsdisposition zu unterscheiden. Ökologische Angst sorgt sich weniger um die eigene Person als um den Fortbestand des Lebens an sich. Angst als Prinzip verstanden glaubt an die positive "Kraft" (Butollo 1986) dieser Emotion. Demzufolge gilt Angst als "ein unentbehrlicher Motor für jede Form von Entwicklung und Veränderung" (Petri 1987, S.16). Im "Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst" (Anders 1987, S.265) drängt sich das Gebot einer "Wiederbelebung der betäubten Sinne" (Dreitzel 1990, S.188), eine "Kultivierung" der Furcht (Jonas 1985, S.66), wenn nicht sogar die Notwendigkeit auf, unsere Mitmenschen "zur Angst zu erziehen" (Anders, S.13), um nicht aus "Angst vor der Angst" ökologisch überlebenswichtige Rettungsmaßnahmen zu unterlassen.
Ausgehend vom "Prinzip Hoffnung" (Bloch) bezeichnet ökologische Hoffnung den grundsätzlichen Glauben, daß die Umweltzerstörung nicht zwangsläufig zu einer endgültigen Katastrophe führen muß. Hoffnung ist sowohl eine Emotion als auch eine rationale Einstellung und drückt eine Erwartung an die Zukunft aus. Individuelle Hoffnung kann auch gesellschaftlich determiniert sein. Hoffnung ist als "eine psychische Begleiterscheinung von Leben und Wachstum (...) ein aktiver Seinszustand" (Fromm 1968, S.27) und gilt als ein lebenswichtiger Bestandteil von psychischer Gesundheit (Schnoor 1988). Hoffnung als Prinzip verstanden ist "als Phänomen der Not jenseits aufklärerischer Anstrengungen angesiedelt" (Schnoor 1988, S.233). In diesem Sinne gibt Hoffnung den Glauben an die Möglichkeiten der Veränderung nicht auf, "ganz gleich wie die Situation der Welt ist" (Schaffer 1989, S.10). Angesichts der ökologischen Bedrohung steht die individuelle Hoffnung heutzutage vor einer besonderen Herausforderung. Auch Bloch war sich der Gefahr bewußt, daß Hoffnung enttäuscht werden kann ("Hoffen und harren hält manchen zum Narren", vgl. Horster 1989, S.110).
Durch die Konfrontation mit der Globalität der ökologischen Krise wird das Individuum vor ein "durch individuelles Handeln nicht lösbares Paradoxon" gestellt (von Fromberg 1989, S.50). Es besteht die Gefahr von ökologischer Hoffnungslosigkeit als einem "Gefühl der Unabwendbarkeit von globalen Katastrophen angesichts makrosozialer Bedrohungen" (Sohr 1993, S.36). Individuelle Hoffnungslosigkeit als klinisches Phänomen ist definiert als "generalisiertes System negativer Erwartungen" (Beck et al. 1974) und korreliert mit Suizidalität. Ökologische Hoffnungslosigkeit wird als gesellschaftlicher "Luxus" (Sölle und Steffensky 1995) moralisch in Frage gestellt. Demgegenüber kann alternativ die These vertreten werden, ob ökologische Hoffnungslosigkeit - als Kontinuum verstanden, dessen höchste Ausprägung zur Zeit noch eher unwahrscheinlich ist - nicht auch ein Motor des Handelns sein könnte, der in Bewegung kommt, wenn die Hoffnung als Prinzip angegriffen wird. Ob ökologische Hoffnungslosigkeit jedoch auch zu einer Gefährdung für die individuelle, auf das eigene Leben bezogene Hoffnung führen kann, ist eine offene Forschungsfrage.
Ausgehend vom "Prinzip Verantwortung" (Jonas) ist ökologische Verantwortung das Bewußtsein der Notwendigkeit und Verpflichtung, für den Schutz der Umwelt etwas zu tun. Verantwortliches Handeln gilt in unserer Gesellschaft als erstrebenswert und wird mit prosozialem Verhalten oder Zivilcourage in Verbindung gebracht (Singer 1992). Sozialpsychologisch wurden als Korrelate der Verantwortung u.a. auch internale Kontrollüberzeugungen und Empathie identifiziert (Bierhoff 1994). Verantwortung kann als angenehme Herausforderung erlebt und als unangenehme Bedrohung wahrgenommen werden. Während Verantwortung im ursprünglichen Sinne auf die Vergangenheit gerichtet mit einer "Antwort" reagiert, betonen moderne Auffassungen von Verantwortung gerade den auf die Zukunft gerichteten agierenden Charakter der Verantwortung. Als Prinzip der Bescheidenheit ist ökologische Verantwortung im Jonasschen Sinne eine individuelle und kollektive ethische Pflicht gegenüber den Nachkommen und auf das Sein an sich gerichtet. Jonas begründet die Notwendigkeit der Entwicklung eines ökologischen Verantwortungsbewußtseins sowohl mit dem Axiom der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz - das "elementare Soll im Ist des Neugeborenen" als "ontisches Paradigma" (1979, S.235) - als auch mit einem "sittlichen Eigenrecht der Natur" (1979, S.29).
(3) Synthese der Prinzipien im Modell des ökologischen Gewissens
Das eigene Modell wird mit Hilfe der Abb. 12 und 13 visualisiert. Abb. 12 zeigt die drei Grundprinzipien der Angst, Hoffnung und Verantwortung sowie das umfassende Prinzip Trotz, das nachfolgend noch erläutert wird, Abb. 13 hebt die philosophischen Begründer der jeweiligen Prinzipien hervor: Günther Anders, Ernst Bloch, Hans Jonas und Robert Jungk.
Auch wenn es nach dem bisherigen Gang der Untersuchung durchaus sinnvoll erscheint, das heuristische Modell des ökologischen Gewissens auf die Basis der Konstrukte der Angst, Hoffnung und Verantwortung zu stellen, kann es keine logisch zwingenden Beweise für diese Annahmen geben. Warum zählen wir eigentlich Äpfel, Birnen und Zitronen zum Obst, die Zwiebel jedoch zum Gemüse? In den Sozial-wissenschaften haben Definitionen in der Regel den Charakter von Konventionen über Kriterien. In unserem Falle fließen sicherlich auch alltägliche und wissenschaftliche Erfahrungen sowie die Orientierung an anerkannten Autoritäten in den Entscheidungsp-rozeß ein: "Angst allein genügt nicht" heißt es z.B. bei Böhm u.a. (1989), Furcht bedarf auch der "Ehrfurcht" könnte Jonas (1979, S.8) antworten und ergänzen, daß auch die Hoffnung ein unabdingbarer Begleiter der Verantwortung ist, die irgendwo "zwischen Angst und Hoffnung" (Jungk 1990) angesiedelt ist. Es ließen sich leicht weitere Hinweise ausfindig machen, die die These stärken, daß die drei Konstrukte zusammengenommen eine eigene Dynamik enthalten. Letztlich gilt es, die Annahmen einer empirischen Überprüfung zu unterziehen.
Was die Operationalisierung betrifft, so möchten wir an dieser Stelle eine erste Orientierung geben, ohne auf die Instrumente im einzelnen einzugehen. Wie lassen sich die drei postulierten philosophischen Grundprinzipien empirisch-sozialwissenschaftlich so übersetzen, daß ihr jeweils spezifischer Charakter erhalten bleibt? Abb. 14 zeigt eine vereinfachte Darstellung im Sinne der Standardkonzeption wissenschaftlicher Theorien (Hempel 1970), die von Groeben und Westmeyer (1975, S.61f.) durch zwei übereinander schwebende Netze veranschaulicht wurden. Theoretische Begriffe auf der oberen Ebene und Beobachtungsbegriffe auf der unteren Ebene sind über Zuordnungsregeln miteinander verbunden (ausführlichere Erklärungen zum Modell der Zweisprachigkeit finden sich in Kap. 7.2). Die Knoten des "theoretischen" Netzes (als Quadrate) stellen die grundlegenden Aussagen (Axiome) der Theorie dar: Ökologisches Gewissen als Superkonstrukt wird durch die drei Konstrukte der ökologischen Angst, Hoffnung und Verantwortung bestimmt. Diese drei nicht direkt beobachtbaren Konstrukte sind über bestimmte Zuordnungsregeln (vertikalen Fäden) mit den Beobachtungsbegriffen (ovale Kreise) verbunden. Die Zuordnungsregeln symbolisieren die Operationalisierung der Konstrukte, die jeweils mit qualitativen und quantitativen Meßnstrumenten erfaßt werden.
Eine Besonderheit der Operationalisierung ergibt sich aus dem Verlauf der bisherigen Diskussion. Die Ausprägung des Prinzips der Hoffnung wird mit einer Skala zur Erfassung ökologischer Hoffnungslosigkeit gemessen. Dabei wird davon ausgegangen, daß Hoffnung als Prinzip in dem Maße tangiert wird, in dem ökologische Hoffnung und Hoffnungslosigkeit gleichzeitig artikuliert wird. Mit anderen Worten: Auf das "Prinzip Hoffnung" setzen Personen, die sich einerseits der ökologische Gefährdung in ihrem ganzen Ausmaß bewußt sind, andererseits aber dennoch nicht ihre Hoffnung aufgeben, dieser Katastrophe Widerstand leisten zu können.
Diese auf den ersten Blick vielleicht widersprüchlich erscheinende Messung ist vor dem Hintergrund der vorgestellten philosophischen Grundgedanken und psychologischen Erfahrungen durchaus plausibel: Im Gegensatz zu Anders und Jonas trägt der Hoffnungsbegriff bei Bloch Züge eines unreflektierten Fortschrittsoptimismus (vgl. Kap. 6.3). Möglicherweise war es auch kein Zufall, daß die empirischen Drei-Komponenten-Modelle zur Bestimmung ökologischer Verantwortung von Hoff und Neuberger jeweils ihre größten Schwierigkeiten mit der mittleren Komponente hatten, die als ökologische Kontrollvorstellung ("Können") bezeichnet wurde. Genau diese Komponente scheint uns aber der "Schlüssel" zum Verständnis ökologischen Engagements zu sein, zumal gerade bei jugendlichen Stichproben nach den vorliegenden Befunden tendenziell mit einer starken Ausprägung ökologischer Besorgnis und einem Bewußtsein der gefährdeten Umwelt (Verantwortungs- bzw. Umweltbewußtsein) zu rechnen ist.
So ist die Frage der Hoffnung versus Hoffnungslosigkeit ausschlaggebend für die Entwicklung eines ökologischen Gewissens, das zusammen mit den anderen Komponenten in einem "Prinzip Trotz" (Jungk 1988, S.9) aufgeht: Postuliert wird, daß eine ausgeprägte ökologische Hoffnungslosigkeit - die in Verbindung mit einer grundsätzlichen Zustimmung zur Hoffnung auch als "hoffnungslose Hoffnung" bezeichnet werden könnte - nicht zu einer untätigen Verzweiflung führt, sondern eher zu einer verstärkten Aktivierung des ökologischen Gewissens und damit potentiell zu einem ökologischen Engagement. Das Prinzip Trotz ist demnach Ausdruck der Gesinnung, etwas gegen die Umweltzerstörung aus Angst tun zu wollen, aus Hoffnung tun zu können, aus Verantwortung tun zu sollen und aus Gewissensgründen etwas tun zu "müssen".
Die Empirie wird darüber entscheiden, ob dieses heuristische Modell des ökologischen Gewissens hilfreich für die Vorhersage ökologischer Aktivität ist bzw. ob die Kombination der drei Komponenten möglicherweise mit ganz anderen Phänomenen einhergeht. Fest steht, daß zumindest das weithin anerkannte Konstrukt des Umweltbewußtseins hinsichtlich der Verhaltensvorhersage nicht allzu erfolgreich war. Wir erwarten ein lebendiges ökologisches Gewissen im Unterschied zu den gängigen Umweltbewußtseins-Konstruktionen als stärker emotional getönt. Im Sinne der Einstellungs-Verhaltens-Forschung geht es nicht um die klassische Verbindung zwischen Umweltbewußtsein und umweltbewußtem Verhalten, sondern um den Zusammenhang zwischen ökologischem Gewissen und ökologischem bzw. politischem Engagement. Im Mittelpunkt des Interesses steht also nicht nur - wie meist üblich - das individuelle, sondern vor allem auch das kollektive Handeln in einer Gruppe. Postuliert werden unterschiedliche Grade der Aktivität: Auf einer ersten Stufe steht das individuelle, private Umweltschutzverhalten (Mülltrennung etc.). Auf einer zweiten Stufe findet ökologisches Handeln im Engagement in einer Umweltgruppe statt. Schließlich halten wir nach einer dritten Stufe Ausschau, auf der ein langfristiges, tendenziell lebenslanges politisch-ökologisches Engagement praktiziert wird.
Abschließend soll der Versuch unternommen werden, das Konzept des ökologisches Gewissens über die operationale Bestimmung hinaus zu definieren. Mit Hilfe der Prinzipien Angst, Hoffnung und Verantwortung wurden bereits die von uns als besonders wesentlich postulierten Facetten des ökologischen Gewissens vorgestellt. Ein Blick zurück auf das dritte Kapitel erinnert an die Vielfalt der Perspektiven, die sich bei der Frage nach dem Gewissen ergeben.
In Kapitel 2.6 wies Roszak bereits auf die Idee eines angeborenen Gewissens hin: Kropotkin definierte Gewissen als "moralische Energie der Persönlichkeit" bzw. als "das unbewußte Gewahrsein der Kraft, die jedem Menschen durch die Praxis der wechselseitigen Hilfe verliehen ist, das tiefe Wissen darum, daß das Glück jedes einzelnen vom Glück aller abhängig ist" (1914, S.9).
Die in dieser Definition bereits vor über 80 Jahren stark ausgeprägte systemische Sichtweise gilt in der modernen Ökologie als Allgemeingut. In einem nichtantropozentrischen Sinne könnte ökologisches Gewissen als Sensibilität für den Schutz der Würde der Natur verstanden werden. Letztlich handelt es sich um das, was Fromm (1986) die "Liebe zum Leben" (Biophilie) oder Schweitzer die "Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben" (vgl. nächstes Kapitel) nennt. Während Jonas (1979) eine ökologische "Ethik für die technologische Zivilisation" suchte, geht es in dieser Arbeit um die Identifikation eines ökologisches Gewissens beim Individuum - in der Annahme, daß jedes Individuum auf geheimnisvolle Weise mit der Komplexität des Lebens verbunden ist. Die Bestimmung des ökologischen Gewissens kann wie folgt zusammengefaßt werden:
Ökologisches Gewissen kann definiert werden als Sensibilität für den Schutz der Würde der Natur.
Ökologisches Gewissen kann operationalisiert werden als Synthese der Prinzipien ökologischer Angst, Hoffnung und Verantwortung.
Ökologisches Gewissen kann in Kombination der drei Prinzipien als Prinzip Trotz seinen Ausdruck in einem ökologischem Engagement finden..
6.6 Ökologisches Gewissen als "Ehrfurcht vor dem Leben" ^^^^
"Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will"
Albert Schweitzer (1991, S.111)Nachdem das Konstrukt "Ökologisches Gewissen" theoretisch soweit bestimmt wurde, daß es empirisch faßbar ist, stellt sich noch die Frage, ob es nicht auch eine ethische Bestimmung des Gegenstandes gibt. Wo hat Ethik ihre wissenschaftliche Adresse heutzutage? Hans Jonas konstatierte ein "ethisches Vakuum" unserer technologischen Zivilisation (Kap. 6.4). Auf der Suche nach den tieferen Wurzeln des ökologischen Gewissens ist uns die "Ethik der Erfurcht vor dem Leben" nach Albert Schweitzer begegnet. Wer den bisherigen Verlauf des Argumentationsgangs verfolgt hat, konnte feststellen, daß der Name Schweitzer bereits sowohl bei Drewermann (Kap. 2.8) als auch bei Petri (Kap. 5.7) fiel. Diese Anregungen haben uns veranlaßt, einigen Originaltexten von Schweitzer nachzugehen, um festzustellen, daß hier in der Tat eine Ethik proklamiert wird, dessen Kern Ausdruck des ökologischen Gewissens ist.
Albert Schweitzer wurde 1875 im Elsaß geboren. Er studierte und promovierte zuerst Theologie und Philosophie, daran anschließend Medizin in Straßburg, bevor er 1913 in den Kongo nach Lambarene (Äquatorialafrika) ging, wo er als Urwaldarzt bis zu seinem Tod 1965 tätig war. Im Jahr 1954 erhielt er den Friedensnobelpreis in Oslo. Auch wenn die "Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben" mit dem Namen von Schweitzer in Verbindung gebracht wird - die Formel war das "philosophische Kind seiner ersten afrikanischen Einsamkeit" (Steffahn 1996, S.14) - sei darauf hingewiesen, daß Schweitzer sicherlich nicht der "Erfinder" dieser Weisheit war, sondern daß eine praktizierte Ehrfurcht vor der Natur in vielen archaischen Kulturen zu finden ist, z.B. bei den Indianern.
Das besondere theoretische Verdienst von Schweitzer besteht vor allem darin, dieses universelle "Grundprinzip" aus theologischen und philosophischen Voraussetzungen formuliert zu haben - als sittliche Verpflichtung für die lebendige Natur. Dieses Grundprinzip "gilt allen Bereichen, in denen menschliches Handeln Leben begegnet, es fördern oder schädigen kann, vom mitmenschlichen Leben, dem Verhalten des einzelnen zur Natur bis zu den zentralen Fragen der Zeit, dem Problem des Friedens, den Entwicklungen der Gesellschaft, der Kultur, der Forschung, der Umwelt" (Bähr 1991, S.7). Schweitzer selbst sieht in seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben "die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe" (1991, S.156), wie sie in allen großen Religionen verkündet wird.
Obwohl Schweitzer aus einem christlichen Glauben heraus lebte, war er die Auffassung, daß die ethische Religion der Liebe auch "ohne den Glauben an eine ihr entsprechende, die Welt leitende Gottespersönlichkeit" (S.49) möglich sei. Der Antidogmatiker Schweitzer glaubte vor allem an die Offenbarung der Liebe durch praktisches Handeln. Die Idee der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben setzt Welt- und Lebensbejahung voraus. Diese "ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt" ist im Sokratischen Sinne "die Konsequenz unseres Nichtwissens um die Welt" (S.98).
Wir schließen diesen Abschnitt mit einem längeren Text ab, den Schweitzer (1991, S.99ff.) nach fast zwanzigjährigem Wirken in Afrika unter der Überschrift "Rückblick und Ausblick" am 7. März 1931 in Lambarene verfaßte (Hervorhebungen S.S.):
"Was wir mit einem griechischen Fremdwort ethisch, mit einem lateinischen moralisch nennen, besteht ganz allgemein in unserem Wohlverhalten gegenüber uns selbst und andern Lebewesen. Wir empfinden die Verpflichtung, uns nicht einzig und allein um unser eigenes Wohlergehen zu bekümmern, sondern auch um das der andern und der menschlichen Gesellschaft. (...)
Die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben ergibt sich als die sachliche Lösung der sachlich gestellten Frage, wie der Mensch und die Welt zusammengehören. Von der Welt weiß der Mensch nur, daß alles, was ist, Erscheinung vom Willen zum Leben ist, wie er selbst. Die einzige Möglichkeit, seinem Dasein einen Sinn zu geben, besteht darin, daß er sein natürliches Verhältnis zur Welt zu einem geistigen erhebt. (...)
Als tätiges Wesen kommt er in ein geistiges Verhältnis zur Welt dadurch, daß er sein Leben nicht nur für sich lebt, sondern sich mit allem Leben, das in seinen Bereich kommt, eins weiß, dessen Schicksale in sich erlebt, ihm, so viel er nur immer kann, Hilfe bringt und solche durch ihn vollbrachte Förderung und Errettung von Leben als das tiefste Glück, dessen er teilhaftig werden kannn, empfindet.
Wird der Mensch denkend über das Geheimnisvolle seines Lebens und der Beziehungen, die zwischen ihm und dem die Welt erfüllenden Leben bestehen, so kann er nicht anders, als daraufhin seinem eigenen Leben und allem Leben, das in seinen Bereich tritt, Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen und diese in ethischer Welt- und Lebensbejahung zu betätigen. Sein Dasein wird dadurch in jeder Hinsicht schwerer, als wenn er für sich lebte, zugleich aber auch reicher, schöner und glücklicher. Aus Dahinleben wird es jetzt wirkliches Erleben des Lebens. (...)
Auf die Frage, ob ich pessimistisch oder optimistisch sei, antworte ich, daß mein Erkennen pessimistisch und mein Wollen und Hoffen optimistisch sei. Pessimistisch bin ich darin, daß ich das nach unseren Begriffen Sinnlose des Weltgeschehens in seiner ganzen Schwere erlebe. Nur in ganz seltenen Augenblicken bin ich meines Daseins wirklich froh geworden. Ich konnte nicht anders als alles Weh, das ich um mich herum sah, dauernd miterleben, nicht nur das der Menschen, sondern auch das der Kreatur. Mich diesem Mit-Leiden zu entziehen habe ich nie versucht.(...)
Auch in der Beurteilung der Lage, in der sich die Menschheit zur Zeit befindet, bin ich pessimistisch. Ich vermag mir nicht einzureden, daß es weniger schlimm mit ihr steht, als es den Anschein hat, sondern bin mir bewußt, daß wir uns auf einem Wege befinden, der uns, wenn wir ihn weiter begehen, in eine neue Art von Mittelalter hineinführen wird. (...)
Dennoch verbleibe ich optimistisch. Als unverlierbaren Kinderglauben habe ich mir den an die Wahrheit bewahrt. Ich bin der Zuversicht, daß der aus der Wahrheit kommende Geist stärker ist als die Macht der Verhältnisse. Meiner Ansicht nach gibt es kein anderes Schicksal der Menschheit als dasjenige, das sie sich durch ihre Gesinnung selber bereitet. Darum glaube ich nicht, daß sie den Weg des Niedergangs bis zum Ende gehen muß."
Zusammenfassung 6
30. Ausgehend von der defizitären Lage des Forschungsstandes ist nach erweiterten Perspektiven zu suchen. Neuerdings wird verstärkt eine Überwindung der Dichotomie von Rationalität und Emotionalität gefordert, wie das Beispiel von Goleman (1996) für die Intelligenz-Forschung zeigt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird daher das Konzept eines ökologischen Gewissens vorgeschlagen, das die Prinzipien der Angst, Hoffnung und Verantwortung vereint (Kap. 6.1).
31. Kennzeichnend für die Wirksamkeit des Prinzips der Angst (nach Anders) ist eine existentielle Besorgnis, die durch die Bedrohung der globalen Umweltzerstörung ausgelöst wird. In einem umfassenden zeitlichen und räumlichen Sinne handelt es sich bei der ökologischen Angst um "Endzeitangst" (Bopp 1987) bzw. "Weltangst" (Richter 1992). Angst ist in diesem Sinne überlebensnotwendig (Kap. 6.2).
32. Kennzeichnend für die Wirksamkeit des Prinzips der Hoffnung (nach Bloch) ist der grundsätzliche Glaube, daß die Umweltzerstörung nicht in einer ökologischen Katastrophe enden muß. Hoffnung gilt sowohl als Emotion wie auch als rationale Einstellung. Als Phänomen der Not wird Hoffnung jenseits aufklärerischer Anstrengungen (Schnoor 1988) angesiedelt (Kap. 6.3).
33. Kennzeichnend für die Wirksamkeit des Prinzips der Verantwortung (nach Jonas) ist das Bewußtsein der Notwendigkeit, für den Schutz der Umwelt etwas zu tun. Als Prinzip der Bescheidenheit impliziert ökologische Verantwortung eine individuelle und kollektive Pflicht gegenüber nachkommenden Generationen (Kap. 6.4).
34. Ökologisches Gewissen, definiert als Sensibilität für den Schutz der Würde der Natur, vereinigt als Modell die Prinzipien ökologischer Angst, Hoffnung und Verantwortung und findet als Prinzip Trotz seinen Ausdruck in ökologischem Engagement (Kap. 6.5).
35. Im Sinne der "Ehrfurcht vor dem Leben" nach Albert Schweitzer kann das ökologische Gewissen auch ethisch bestimmt werden (Kap. 6.6).
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Ökologisches Gewissen # Dr. Sven Sohr # Die Zukunft der Erde aus der Perspektive von Kindern, Jugendlichen und anderen Experten # 2000