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§ 1

 

Es gibt Worte und Begriffe, die für uns über den Zeiten stehen, weil sie einer tiefen Sehnsucht, einer Hoffnung, einem Orientierungs­bedürfnis des Menschen Ausdruck geben. Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit sind solche Begriffe; aber auch Christentum, Humanismus und Sozialismus. Wie viele Verbrechen sind im Namen dieser großen Postulate schon begangen worden. Wieviel Unterdrückung mit Freiheit gerechtfertigt. Und trotzdem: Alle Scheiterhaufen am Wege der Geschichte, alle Heuchelei, aller Mißbrauch des Wortes Christentum konnten diesen Begriff nicht auslöschen. Diese Begriffe haben so starke Wurzeln, daß kein Schwert der Zerstörung sie tilgen kann. So ist es auch mit dem Sozialismus. 

W.  von Knoeringen, 1967     wikipedia  Waldemar_von_Knoeringen  *1906 in Oberbayern bis 1971 (64) SPD-Politiker

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Nun ist es also aktenkundig: der Wettbewerb der <Systeme> ist entschieden. Der sogenannte <reale Sozialismus> ist endgültig auf der Strecke geblieben, gesiegt haben wir. Wir, das sind alle, die Demokratie und Menschenrechte umstandslos mit Kapitalismus gleichsetzen, die die westliche Lebensweise und die westliche Form des Wirtschaftens für das letzte Wort der Geschichte halten. 

Wer differenziert, wer jenseits der falschen und schon immer das Denken lähmenden Alternative <Entweder SU-Sozialismus oder US-Kapitalismus> nach dritten, vierten, fünften Möglichkeiten Ausschau hält, gilt den meisten als Nörgler, Spielverderber, schlechter Verlierer, zumindest als jemand, der die so schön mediengerecht aufbereitete Weltlage unnötig und bösartig kompliziert.

Daß es die Völker Mittel- und Osteuropas selbst waren, die den Zusammenbruch der poststalinistischen Herrschaftsstrukturen erzwangen, ist fast schon vergessen. Gesiegt, so scheint es, haben nicht die Menschen in Danzig und Warschau, in Budapest und Prag, in Leipzig, Ost-Berlin und Bukarest, gesiegt haben wir, gesiegt hat <der Westen>, gesiegt hat <unser System>. 

Und diesen Sieg wollen wir uns nicht zerreden lassen, nicht von besorgten Umweltschützern, die den ungetrübten Optimismus bezüglich der Leistungen <unseres Systems> nicht teilen können, und schon lange nicht von Schriftstellern und Intellektuellen, die die »Unverfrorenheit« besitzen — so die FAZ in einem Kommentar —, immer noch einem <demokratischen Sozialismus>, einem Sozialismus mit <menschlichem Antlitz> das Wort zu reden. 

Schluß sein soll jetzt mit dem Herummäkeln an unserem Gesellschaftssystem, mit den warnenden Einreden, mit der ständigen Differenziererei! Die Geschichte hat entschieden, der Sieger steht fest, und damit basta!

Es ist nicht nur der Ton, der stört, der spießerhafte Dünkel, die freche Gewißheit, schon immer in allem recht gehabt zu haben, das herausfordernd erhobene Kinn: Wer hat denn schließlich Bankrott gemacht und hält nun die Hand auf, wir oder die? Es ist zu befürchten, daß die selbsternannten Sieger übersehen, daß auch ihre, unsere Welt nicht so bleiben kann, wie sie ist, daß sie sich grundlegend verändern muß, wenn das nächste Jahrtausend nicht das letzte in der Menschheitsgeschichte sein soll.

Es gibt keinen Grund, dem sogenannten <realen Sozialismus> auch nur eine Träne nachzuweinen; sein ideologischer Bankrott ist längst vielfach besiegelt, und seine sogenannten Errungenschaften standen zumeist ohnehin nur auf dem Papier. Aber es gibt auch keinen vernünftigen Grund, anzunehmen, daß nun, da der große Gegenspieler des Westens am Boden liegt, nun, da die Ost-West-Konfrontation einem mehr oder weniger friedlichen Miteinander weicht und die westliche Demokratie und Wirtschaftsform sich unaufhaltsam auf dem ganzen Globus durchsetzt, die wesentlichen Probleme der Menschheit im Prinzip gelöst seien und uns ein neues Goldenes Zeitalter bevorstehe.

Natürlich: daß Idee und Praxis der Demokratie endlich auch in Mittel- und Osteuropa wieder Fuß fassen können, daß nach Jahrzehnten stalinistischer und poststalinistischer Diktatur sich der Wille zur Freiheit schließlich doch durchsetzen kann, das ist ein geschichtlicher Fortschritt, wie wir ihn uns zumeist wohl kaum noch erhofft haben. Und daß damit auch die Chancen wachsen, den drohenden Zusammenbruch der Biosphäre und einen näherrückenden mörderischen Nord-Süd-Konflikt doch noch zu verhindern, ist sicher richtig.

Allein die historisch einmalige Möglichkeit zu weitgehender Abrüstung könnte ein Großteil jener Mittel freimachen, die wir dringend benötigen, um der Lösung der großen Zukunftsprobleme der Menschheit um einige Schritte näher zu kommen.

[ "SU-Sozialismus" = Sozialismus in der Sowjetunion (SU) ]     10


Freilich wäre es allzu naiv, eine neue Politik bezüglich der Umweltprobleme und des Massenelends in der sogenannten <Dritten Welt> als natürliches Ergebnis der veränderten Weltlage zu erwarten. Der Zusammenbruch des sogenannten <realen Sozialismus> und der weitere große Geländegewinn für Demokratie und Marktwirtschaft garantieren keineswegs, daß das Vernünftige sich durchsetzt und alles getan wird, um die herannahende Katastrophe zu verhindern. 

Im Gegenteil:

Nun, da die ganze Welt den ökonomisch-technischen Strategien der <westlichen> Industrienationen offen steht, da der Aktionsraum der großen Kapitalien wirklich global geworden ist, wächst die Gefahr, daß noch größere, demokratisch kaum kontrollierbare Machtballungen entstehen, erhöht sich die Wahrschein­lichkeit, daß wir bei weiter zunehmender Geschwindigkeit und Reichweite der technisch-ökonomischen Entwicklung Irrtümer begehen, die allein schon aufgrund ihrer Größenordnung nicht mehr korrigierbar sind. 

Was vielen in Ost und West heute so einleuchtend erscheint, daß nämlich der Zusammenbruch der planwirtschaftlichen Systeme des Ostens gleichbedeutend sei mit dem endgültigen Sieg unserer westlichen Form des Wirtschaftens und unserer westlichen Lebensweise, dies könnte sich schon bald als ein folgenreicher Irrtum erweisen. Siege, das wissen wir aus der Geschichte, können auch zu groß ausfallen und sich dann alsbald als Pyrrhussiege erweisen. 

Es hätte vermutlich fatale Folgen, wenn es dem Kapitalismus und Wirtschaftsliberalismus, die einen weltweiten Triumph zu feiern scheinen, tatsächlich gelänge, das soziale und ökologische Widerspruchspotential — wenn auch nur für eine kurze Phase — lahmzulegen, wenn mit dem Zusammenbruch der poststalinistischen Systeme zugleich jener utopische Impuls — vorübergehend oder auf Dauer — versiegte, aus dem heraus seit eh und je wirklicher Fortschritt erwachsen ist und aus dem auch die Kraft und die Phantasie zur Gestaltung einer menschlichen Zukunft wird kommen müssen.

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Die Gegenwart — das ist nicht zu leugnen — ist dem Flug der Phantasie nicht eben günstig, jedenfalls nicht, wenn sie sich auf eine grundlegend andere, bessere Welt, eine vernünftigere Ordnung der Dinge richtet, so wie sie zum Beispiel in der sozialistischen Tradition gedacht wurde. 

Charles Fourier, Robert Owen, Saint-Simon, Karl Marx, Ernst Bloch — wie weit sind sie, die doch noch vor kurzem in so vieler Munde waren, ins Vorgestern zurückgefallen! Verflogen ist der Geist der hoffnungs­froheren, vielleicht auch naiveren 60er Jahre. Wenn es nur so wäre, daß der Überschwang des Glaubens dem geschärften Realitätssinn hätte weichen müssen, so wäre dies womöglich heilsam. 

Aber die Vernunft selbst ist in Verruf geraten.

Sie selbst, so scheint es vielen Zeitgenossen, ist schuld an unserem vielfältigen Unglück, eine Verführerin, die uns als Möglichkeit vorgaukelt, was die condition humaine nie und nimmer erlaubt, lebensfeindlich, zerstörerisch, sie selbst, die sich als Retterin gibt, Ursache der tiefsten Unmenschlichkeit. Nicht der Schlaf der Vernunft, sondern ihr Traum, der Traum von einer besseren, vernünftig geregelten Welt — so wird das doppeldeutige Goya-Wort heute zumeist ausgelegt — erzeugt Ungeheuer. Im postmodernen Zwielicht haben viele die Orientierung verloren, lassen den Mut sinken, folgen in verzweifelter Hoffnung hier und da aufflackernden Irrlichtern oder arrangieren sich zynisch mit dem Vorgefundenen.

Dabei ist die Welt alles andere als statisch. Wissenschaft und Technik eröffnen neue Horizonte, Basisinnovationen wie die Halbleitertechnik und die Biogenetik beginnen die Welt um und um zu kehren, der Weltmarkt vollendet sich als Geld- und Kapitalmarkt, das Schlagwort von der Weltinnenpolitik nimmt mehr und mehr faßbare Konturen an, ja, zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten erscheint die Konfrontation zwischen Ost und West überwindbar, Abrüstung machbar, gesicherter Frieden möglich, weil die kommunistischen Systeme sich des endogenen Wandels fähig erweisen, sich zu demokratisieren beginnen oder in atemberaubender Geschwindigkeit in sich zusammenfallen.

*   wikipedia  Francisco_de_Goya  1746-1828 

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Zeichen der Hoffnung, gewiß, historische Chancen, wie sie die Geschichte nicht oft zu bieten hat. Chancen auch für den viel geschmähten oder spöttisch belächelten, oft schon totgesagten, aber immer noch lebensfähigen demokratischen Sozialismus?

Vielleicht, vielleicht ist die Reihe der Niederlagen doch noch nicht lang genug, um daraus auf die Unmöglichkeit des humanistischen, demokratischen, demokratisch-sozialistischen Projekts zu schließen. Utopien sind zählebig, ganze Eiszeiten können sie überstehen in vergessenen Bibliothekswinkeln, in Kinderliedern, Spottversen und Ammenmärchen. So real, möchten wir glauben, kann weder ein sogenannter Sozialismus noch ein Kapitalismus sein, daß ihm die Spannkraft der Utopie nichts anhaben könnte.

Oder geht es vielleicht gar nicht um die Utopie von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (beziehungsweise Schwesterlichkeit, wie wir im Lichte neuerer sozialer Erfahrungen ergänzen müssen)?

Sind es hier wie dort nur die gleichen Produktivkräfte, die sich die ihnen adäquate <moderne>, <technokratische> Gesellschaft schaffen?

Das mag in Mittel- und Osteuropa nicht ohne ein bißchen mehr Demokratie, Meinungsfreiheit und Ideenpluralismus zu bewerkstelligen sein, aber anderswo, zum Beispiel in der sogenannten <Dritten Welt>, die nun vielleicht allmählich zur <Zweiten> wird, könnte Demokratie, souveräne Mitsprache der Völker uns im reichen Norden des Planeten durchaus hinderlich sein. Was soll aus dem sich abzeichnenden, in den Chefetagen, Entwicklungslabors und Marketing­abteilungen der großen Konzerne geplanten und von den meisten unserer Politiker bereitwillig übernommenen Fortschritt werden, wenn überall auf der Welt die Mühseligen und Beladenen ihr Recht auf Leben und Selbstbestimmung, ihre Freiheits- und Glücksansprüche geltend machen?

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Auch wenn es zur Zeit für viele wieder einmal so aussieht, als bliebe dem Rest der Welt gar nichts anderes übrig, als könne ihm auch gar nichts Besseres passieren, als sich an unserem, dem <westlichen> Fortschrittsmodell, an unserer Lebens- und Wirtschaftsweise zu orientieren, die Selbstgewißheit, mit der die Macher und die Propagandisten dieses Fortschritts auftreten, ist zu schrill, um wirklich überzeugend zu wirken.

Der Schock der täglich erneuerten Erkenntnis, daß unser Fortschritt zugleich ein Prozeß gigantischer Zerstörung ist, sitzt tief, so tief, daß selbst das Triumphgeschrei, das die Sieger im großen Systemwettstreit anstimmen, zuweilen wie lautes Singen im dunklen Wald anmutet.

Daß der sich in Wissenschaft und Technik manifestierende Fortschritt, die ständig weiter getriebene Vermehrung von Produktion und Konsum, das Höher, Schneller, Weiter der modernen Zivilisation sich unter dem Strich zur Wohltat summiere, die Freiheitschancen der Menschen erweitere, ihn gar glücklicher mache, das vermag heute — zumindest in der Bundesrepublik — nur noch eine Minderheit umstandlos zu bejahen. Immer mehr Menschen ist die Janusgesichtigkeit des Fortschritts durchaus geläufig. Dieselben Menschen, die Fortschritte (im Plural!) anerkennen, manchmal feiern und bejubeln, zweifeln nicht selten daran, daß alle diese kleinen und größeren Fortschritte in der Summe noch Fortschritt bedeuten. Aber dieselben Menschen, die der technisch-ökonomischen Entwicklung mit Skepsis, ja mit Angst entgegensehen, unterwerfen sich ihr zumeist widerstandslos: zur Skepsis, zum Pessimismus gesellt sich der Fortschrittsfatalismus .

Wohin man auch schaut auf der Welt, es sind keine attraktiven Alternativen in Sicht. Und das Neue aus sich selbst zu schöpfen, wer traute sich das schon zu? Die meisten verlangen Garantien für das Gelingen, ehe sie sich auf Veränderungen einlassen. 

 

<Keine Experimente!>, der in den 50er Jahren so erfolgreich eingesetzte Slogan, findet wieder Anklang, ganz besonders dort, wo die Menschen jahrzehnte­lang dem verfehlten Experiment eines sich selbst zur welthistorischen Alternative erklärenden Systems ausgesetzt waren, das aller Fortschritts­rhetorik zum Trotz doch weit und immer weiter hinter dem angeblich längst überlebten <Kapitalismus> zurückfiel.

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Die konservative Beweislastregel, die vom Neuen verlangt, als in der Praxis zuverlässig Bewährtes zur Welt zu kommen, blockiert die öffentliche Diskussion: Nennen Sie mir ein Land, wo das, was Sie vorschlagen, funktioniert! Nennen Sie mir ein System, das <unserem System> nachweislich überlegen ist!

detopia-2022: Hier passt auch das Kurzaudio im dlf von Markus Reiter von der FAZ von 2014 

Wo immer Phantasie sich tastend auf Neuland vorwagt, werden sogleich fertige und erprobte systemare Alternativen verlangt. Entweder — oder! Entweder Sie akzeptieren das Bestehende, oder Sie bieten eine komplette, in allen Details auf Funktionstüchtigkeit getestete Alternative. Das Träumen, das Erwägen anderer Möglichkeiten, die Kritik, die nicht zugleich einen fertigen Ersatz des Kritisierten anbietet, dies alles gilt wieder einmal als brandgefährliche Spielerei. 

»Nehmt Abschied vom Sozialismus. Nehmt Abschied von der Utopie!« rief der Schriftsteller Horst Bienek kürzlich in der ZEIT seinen Kollegen zu. Auf dem Teppich bleiben sollen wir. Aber der wird uns allen ja immer wieder durch das Treiben der vorgeblichen Realisten unter den Füßen weggezogen.    wikipedia  Horst_Bienek  *1930 in Oberschlesien bis 1990 (60)

Gewiß, wir sind alle gebrannte Kinder des Fortschritts. Es macht in der Tat einen Unterschied aus, wie Joseph Huber zurecht betont, daß wir nicht mehr »in Erwartung des Fortschritts« leben, sondern ihn »aus Erfahrung« kennen.1) Aber ist das ein Grund, utopisches Denken schlechthin zu diskreditieren, ein veritables Utopieverbot zu verhängen?

Ulrich Greiner hat sich — ebenfalls in der ZEIT — gegen ein solches Utopieverbot gewandt, »weil nämlich diese Gesellschaft ohne den tätigen Widerspruch der Linken und der Sozialisten ziemlich finster aussähe.«

1  SZ vom 21.10.1989, Wochenendbeilage  

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Freilich haftet seiner Ehrenrettung, so mutig und weitsichtig sie gerade zu diesem Zeitpunkt war, ein kräftiger Schuß Resignation an. 

»Von der unseligen Verwirklichung des Dranges, die Utopie auf die Erde zu holen«, schreibt er, 

»sind wir für lange Zeit befreit. Aber die Hoffnung können wir nicht entbehren. Ob wir sie <Sozialismus> nennen, ist nur noch eine Frage der Terminologie. Es gibt christliche, anarchistische, ökologische Sozialisten. Mit Lenin haben sie nichts mehr und mit Marx nur noch wenig zu tun. Sie alle stehen einstweilen auf verlorenem Posten. Aber das ist ein richtiger und anständiger Platz für die Intellektuellen.«2

Es scheint schlimm zu stehen für die Sache des Sozialismus. Von denjenigen, die seine Ideen heute weitertragen, wird erwartet, daß sie sich schon dankbar erweisen, wenn man ihnen in unserer Gesellschaft einen verlorenen Posten zuweist, ein Plätzchen am Rande, von dem aus sich der Lauf der Welt kommentieren, nicht aber beeinflussen läßt. Ein »richtiger und anständiger Platz« für Sozialisten? Wohl kaum. Denn Sozialisten sind auch als Intellektuelle notorisch auf Einmischung versessen, ihr Denken drängt zur Praxis, will sich verwirklichen, ist sich eben gerade nicht selbst genug. Wer das utopische Denken retten will, indem er es in ein Reservat einsperrt, so daß die Gesellschaft von dem »unseligen Drang«, die Utopie hier auf Erden zu verwirklichen, befreit bleibt, verkennt den eigentlichen Charakter des utopischen Denkens, seine auf Praxis gerichtete intentionale Struktur.

Eine solche Selbstbescheidung, wie sie viele heute den linken Intellektuellen nahelegen, käme den Verwaltern des herkömmlichen Fortschritts nie in den Sinn. »Der Fortschritt ist nur eine Verwirklichung von Utopien«, dieser Satz Oscar Wildes steht als Motto über einer zweiseitigen Werbeanzeige der Daimler-Benz A.G. »Fortschritt«, heißt es darin, »ist im Grunde nichts anderes als die Realisierung menschlicher Träume und Phantasien.«

2)   ZEIT vom 8.12.1989

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Gemeint sind technische Träume, die Träume vom »besten Auto der Welt«, Produkte einer um die gesellschaftlich-moralische Dimension verkürzten <instrumentellen> Vernunft. Das ganze Pathos von Aufklärung und Fortschritt wird hier bemüht — »Die Wissenschaft entdeckt immer neue Geheimnisse, sie erfüllt uns immer kühnere Träume« —, als hätten wir nicht längst allen Grund, diesem linearen Fortschrittsdenken zu mißtrauen. Der »Drang, die Utopie auf die Erde zu holen«, wird nicht verschwinden, wenn die Linke sich kleinlaut ins Abseits begibt. Er wird zum Monopol derjenigen werden, die den Fortschritt als Geschäft betreiben und damit nicht selten den wirklichen menschlichen und sozialen Fortschritt eher behindern als fördern.

 

Gewiß, der Begriff <Sozialismus> — darauf hat Vaclav Havel zurecht hingewiesen — ist diskreditiert durch das, was in seinem Namen jahrzehntelang angerichtet worden ist. Für die meisten Menschen in Mittel- und Osteuropa ist er ein Synonym für Mißwirtschaft und Unterdrückung. Es ist verständlich, daß sie nach allem, was sie durchmachen mußten, davon nichts mehr wissen wollen, daß sie nun auf jenes andere <System> setzen, das so offensichtlich humaner und erfolgreicher ist und das ihnen als einzige Alternative erscheint.

Aber was, wenn sich herausstellen sollte, daß der Wettstreit der <Systeme> zum Teil um völlig falsche, unsinnige Ziele geführt wurde? Gereicht es dem Sieger zum Ruhm, daß er sich auch bei der Verfolgung unsinniger Ziele als zweifelsfrei effizienter erwiesen hat?

Das Geschäft der Intellektuellen ist es, zu unterscheiden, auch dort auf Genauigkeit zu insistieren, wo der Zeitgeist uns ein einfaches Entweder-Oder aufdrängen möchte. Aber auch die Praktiker der Politik können es sich auf Dauer nicht leisten, ihren eigenen simplifizierenden Schlagworten zu glauben, wenn sie etwas bewirken wollen. Wer sich denkend und handelnd auf Realität einläßt, muß notwendig Unterscheidungen treffen, zum Beispiel zwischen Kapitalismus und Demokratie, zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft, zwischen Stalinismus und Poststalinismus auf der einen und demokratischem Sozialismus auf der anderen Seite.

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Dabei geht es nicht eigentlich um die Wörter, es geht um die Sache, die sie benennen, um die Inhalte, die sich im Laufe der Geschichte, mit diesem oder jenem Wort verbunden haben. Mit dem Wort <Sozialismus> verhält es sich wie mit dem Wort <Christentum>: Es wurde im Laufe seiner Geschichte sehr verschieden interpretiert, mußte für vieles, auch Schreckliches herhalten. Jene Propagandisten, die uns weismachen wollen, zwischen Stalinisten und Sozialdemokraten gebe es allenfalls graduelle, nicht wesentliche inhaltliche Unterschiede, weil sie schließlich beide das Wort <Sozialismus> verwendeten, verhalten sich nicht geistreicher als jemand, der die Greuel der Inquisition und die Praxis der Befreiungstheologie oder die wahnhafte Dämonologie des <Hexenhammer> und die katholische Soziallehre eines Nell-Breuning ineinssetzt, nur weil alles dies im Namen des Christentums ans Licht getreten ist.

Es gibt keine reinen Anfänge. Wir müssen uns damit abfinden, daß das Hoffnungspotential, das in Begriffen wie <Christentum> und <Sozialismus> gebündelt ist, immer Gefahr läuft, verdunkelt zu werden durch das Schreckliche, das diesen Begriffen anhaftet. Auch die Geschichte unserer Begriffe ist Teil unserer Geschichte, auch aus ihr können wir nicht willkürlich aussteigen. Versuchten wir es, sie holte uns dennoch ein. Also müssen wir uns erklären, als Christen und Sozialisten ebenso wie als Liberale und Konservative, müssen differenzieren, die Begriffe mit Attributen versehen, damit wir nicht allzu leicht, arglos oder böswillig, mißverstanden werden, damit deutlich wird, worin wir uns von anderen unterscheiden, die dieselben Begriffe verwenden. Ein mühsames Unternehmen, dem keineswegs immer Erfolg beschieden ist.

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Die Aufgabe ist nicht neu.

Die Geschichte des Abendlands war häufig nichts anderes als die streitige Explikation ihrer zentralen Begriffe, und selbst dort, wo das Denken sich dem vermeintlich müßigen Ideenstreit zu entziehen trachtete, um ganz dem Leitfaden der Erfahrung zu folgen, blieb es dennoch eben jenen Ideen verhaftet, bewegte sich methodisch und bei der Auswahl seiner Gegenstände in ihrem Horizont.

In der neueren politischen Geschichte Europas sind es Begriffe wie <Liberalismus> und <Sozialismus>, wie die Trias der Französischen Revolution <Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit>, die, eben weil sie mit Geschichte aufgeladen, weil sie hochkomplex und nicht frei von Widersprüchen sind, in jeder historischen Situation und von verschiedenen Standpunkten jeweils verschieden ausgelegt werden. Kein Machtsystem, weder der sogenannte <reale Sozialismus> noch irgendein anderes >System< kann diesen Streit um die Begriffe dadurch beenden, daß es sich selbst zur einzig möglichen, endgültigen Verwirk­lichung dieser oder jener Idee erklärt.

Und wenn nun jenes Herrschaftssystem, das wahrheitswidrig (denn es gibt ja seit langem eine konkurrierende freiheitliche Tradition des Sozialismus) behauptete, es sei die einzig wahre und mögliche Verwirklichung der sozialistischen Idee und das diesen ideologischen Monopolanspruch in seinem Machtbereich mit brutaler Gewalt, mit Lüge und Manipulation durchzusetzen suchte, wenn nun dieser sogenannte <reale Sozialismus> heute überall auf der Welt zusammenbricht, so heißt das keineswegs, daß mit ihm auch die Idee des Sozialismus untergehe. Wer dies kleinlaut einräumt oder triumphierend behauptet, macht sich noch nachträglich zum Vollstrecker der monopolistischen Machtansprüche kommunistischer Dogmatiker.

Der Sozialismus war von allem Anfang an vielgestaltig. 

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Christliche, anarchistische, jakobinische, lassalleanische, marxistische Impulse sind in ihm zusammengekommen und haben schon früh zu verschiedenen Ausprägungen der Idee und zu unterschiedlicher Praxis geführt. Die beiden wichtigsten Traditionslinien in der jüngeren Geschichte des Sozialismus sind die sozialdemokratische oder demokratisch-sozialistische und die kommunistische oder marxistisch-leninistische beziehungsweise stalinistische. Schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war der Gegensatz zwischen diesen beiden Auffassungen über Weg und Ziel des Sozialismus groß; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er durch die bedrückenden Erfahrungen mit der kommunistischen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa noch größer.

Im Gegensatz zu den anderen schriftgläubigen und dogmatischen Formen des Sozialismus war die Geschichte der Sozialdemokratie auch immer eine Lerngeschichte, eine Geschichte des permanenten Revidierens der eigenen Ansichten und der eigenen Praxis. Schon seit Eduard Bernstein und erst recht seit der Spaltung der Arbeiterbewegung ist sie zugleich eine Geschichte der kritischen Auseinander­setzung mit jenen Sozialisten und Kommunisten, die, wie schon Marx und Engels im <Kommunistischen Manifest> behaupteten, »der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung« vorauszuhaben,3 und die daraus mit Lenin das Recht ableiteten, die Menschheit auch mit Gewalt zu ihrem vermeintlichen Heil zwingen zu dürfen.

Zumeist waren es die in der Sozialistischen Internationale zusammengeschlossenen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien, die die Hauptlast der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Kommunisten zu tragen hatten. 

Das ist nicht verwunderlich, denn sie, die zum Teil aus der gleichen Wurzel stammen, die sich zum Teil auf dasselbe Erbe berufen wie die Kommunisten, waren viel unmittelbarer betroffen von dem Elend, das im Namen des Sozialismus über so viele Völker kam, als Liberale und Konservative, denen dieses Ärgernis immer äußerlich blieb, die sogar davon profitierten, weil die abschreckende Wirklichkeit des sogenannten <realen Sozialismus> ihnen unschätzbare Dienste bei der Legitimierung ihrer eigenen Politik leistete.

3   Karl Marx / Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. 28. Aufl., Berlin-Ost o.J., S. 58       *   F.Engels bei detopia

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So falsch und obendrein bösartig es wäre, Sozialdemokraten und Marxisten-Leninisten beziehungsweise Stalinisten in einen Topf zu stecken, so falsch und obendrein unehrlich wäre es, wenn demokratische Sozialisten nun ihrerseits sich zu den Hütern des einzig wahren Sozialismus erklärten und so täten, als hätte das, was jahrzehntelang in Mittel- und Osteuropa schreckliche Wirklichkeit war, nichts mit Sozialismus zu tun, als ließe sich eine ursprünglich reine und unschuldige Idee unversehrt in die Zukunft hinüberretten, um so einen neuen, unbelasteten Anfang zu machen.

Wie schon Ernst Bloch fragte: »Hat sich der Marxismus im Stalinismus nur bis zur Unkenntlichkeit oder streckenweise auch bis zur Kenntlichkeit verändert?«,4 so muß jeder, der in Zukunft mit dem Traditionsbestand sozialistischer Ideen arbeiten will, prüfen, was davon nach den schrecklichen Erfahrungen, die die Menschheit gemacht hat, Bestand haben kann und was sich als untauglich erwiesen oder seine inhärente Inhumanität im Prozeß der Realisierung offenbart hat. 

»Der Sozialismus«, heißt es im Godesberger Programm der SPD, »ist eine dauernde Aufgabe«, und nicht zufällig knüpft auch das neue, das Berliner Programm der SPD an diese Formulierung wieder an. 

Gemünzt war dieser Satz auf jene heilsgewissen Sozialisten und Kommunisten, die zu wissen meinten, daß die Geschichte mit Notwendigkeit einem sozialistischen Endziel entgegengehe und die sich den Sprung in das Jenseits aller bisherigen Geschichte von einer großen revolutionären Umwälzung erhofften. Er gilt aber auch in dem Sinne, daß die eigenen Überzeugungen, das bewährte Wissen, die Tradition im Lichte neuer Erfahrungen immer wieder kritisch gesichtet, überprüft und korrigiert werden müssen.  

In diesem Sinne ruft auch Oskar Negt zur gründlichen Revision des Sozialismus auf. 

»Alles muß, soll die vom fatalen Erbe des Stalinismus befreite sozialistische Utopie ihre Kraft in den Emanzipationsbewegungen der Menschen eigensinnig entfalten, neu durchdacht werden. Ideen haben allesamt in diesem Jahrhundert ihre politische und moralische Unschuld verloren.«  

Die Hoffnung, die er an diesen Prozeß der Selbstreinigung und der kritischen Selbstverständigung knüpft, mag manchem Zeitgenossen allzu kühn und trotzig klingen. Aber vielleicht ist sie gerade deswegen unentbehrlich, weil sie sich dem Zeitgeist so ostentativ entgegenstellt: 

»Solange es den Stalinismus als eine für jedermann sichtbare Mißgeburt des Sozialismus gab, hatte der Kapitalismus in den hochentwickelten Industrieländern keine ernsthafte Konkurrenz zu befürchten; es ist, nimmt man das nicht als eine Stufenmetaphysik, sondern als Chance, unter diesen Bedingungen nicht auszuschließen, daß wir nicht am Ende, sondern am Anfang eines sozialistischen Zeitalters stehen.«5

Auch wenn es heute so aussieht, als siege der eine Teil der alten Welt über den ihm antagonistisch verbundenen anderen und als müßten an der triumphalen Macht der neuen Fakten alle sozialistischen Träume zerschellen, so dürfen wir vielleicht doch hoffen, daß der Zeitgeist auch diesmal vom wirklichen Geist der Zeit wenig begreift, daß es nicht nur darum geht, das verfehlte stalinistische Experiment endgültig abzubrechen und dem Kapitalismus den Rest der Welt zu erschließen, sondern auch im siegreichen Westen verkrustete Strukturen aufzubrechen und ein neues Denken in Gang zu setzen.

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Ernst Bloch, <Marx, aufrechter Gang, konkrete Utopie>. In: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Frankfurt/M. 1970, S. 449

Oskar Negt:  Ein <einig Vaterland> schafft neue Mauern und Teilungen; Auf der Schädelstätte des Sozialismus: Ende oder Anfang einer Utopie?  In: Fr.Ru. vom 17.3.1990

 

    wikipedia  Waldemar von Knoeringen  1906-1971, SPD-Politiker 

 

 

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