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2.3 - Zugerichtete Welt

Taxacher-2012

 

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Meine Beschreibung der sozialen Weltkrise wird - insbesondere da sie den Terminus Peripherie verwendet - an die so genannte Dependenztheorie erinnern, die in den 1970er Jahren en vogue war, heute aber gern als »obsolet« bezeichnet wird. Die Dependenztheorie wollte einen Kausalzusammenhang zwischen dem Reichtum der reichen und der Armut der armen Welt nachweisen, also eine Abhängigkeit des ökonomischen Erfolgs der Industrieländer von der Stagnation der Entwicklungsländer. Darin verstand sich die Theorie als Weiterführung der marxistischen Kapitalismusanalyse unter den Bedingungen des nachkolonialen Weltmarkts.

Das marxistische Theoriekorsett brachte eine mechanistische Engführung mit sich: Dependenz musste eine strenge ökonomische Gesetzmäßigkeit sein, eine dem ökonomischen System geradezu inhärente mathematische Formel. Dieser Anspruch machte die Theorie angreifbar. Er erklärte komplexe Verhältnisse nur linear, mono-kausal. Politische und historische Differenzen wurden nivelliert. Dem ökonomischen Mechanismus entsprach in der Popularisierung der Theorie ein moralisches Schwarz-Weiß-Denken, in dem Gut und Böse nun statt auf Ost und West auf »Süd« und »Nord« aufgeteilt wurden.

Die klassische Dependenztheorie spricht deshalb von »abhängigen Wirtschaften« der Peripherie. Die Industrieländer bauen in den Entwicklungsländern nur eine Industrie und Infrastruktur auf, die auf ihre Import- und Exportinteressen zugeschnitten sind. So wird dort die Technologie nicht wirklich übernommen und auch die finanzielle Abhängigkeit bleibt.(85) »Die innere Entwicklung ist abhängig von den Außenbeziehungen (transnationale Konzerne).«86 Verstärkt wird dies durch das Patentrecht, welches den Erwerb von technischem Know-how an seinen Besitz bindet, während arme Länder von Lizenzen abhängig bleiben.87

Deshalb wird die Einbindung in die faktisch bestehende Weltwirtschaft für die Peripherie als Quelle der Ausplünderung gesehen, gegen die nur die »Abkoppelung (Dissoziation«)88 und der Aufbau einer autonomen Versorgung auf Basis einer Agrarreform helfen können. Nun stimmt es gewiss, dass man anhand der Beobachtung, »wer wie viel wo investiert,... die Verteilung wirtschaftlicher Macht auf dieser Erde ablesen«89 kann. Aber deshalb schafft nicht jede ausländische Investition automatisch mehr Abhängigkeit, selbst die multinationaler Konzerne nicht unbedingt.

Auch steckt in den »Terms of Trade« - den Tauschverhältnissen im internationalen Handel - als solche kein Gesetz, nach dem stets die Weltmarktpreise für Rohstoffe und Agrarprodukte der Peripherie fallen, die für Industrieprodukte jedoch steigen. Mit Preiskampf wegen wachsender Konkurrenz haben auch die Reichen zu kämpfen, und der Faktor der Arbeitskosten lässt sie gegenüber tatsächlichen oder potenziellen »Tigerstaaten« angreifbar sein. Differenzierende Kritiker der Dependenztheorie wollen deshalb die Analyse von »Mechanismen der Ausbeutung nicht zurücknehmen, sondern davor warnen, dass man sie sich zu einfach vorstellt«.90

 wikipedia  Terms_of_Trade     wikipedia  Dependenztheorie     wiktionary  en_vogue     wiktionary  obsolet 

Die angedeuteten Fehler machten es der Mainstream-Ökonomie leicht, die Dependenztheorie links liegen zu lassen. Systemkonform oder -immanent, d. h. also »liberal« denkende Ökonomen benutzen jedoch ebenfalls eine ökonomische Regel-Logik, nämlich die des idealisierten Marktes, um die Verhältnisse von Dependenz und Zerteilung ausblenden zu können. So ist für einen liberalen Ökonomen die gesamte Kritik der »Terms of Trade« schon deshalb Unsinn, weil es ökonomisch gesehen, marktwirtschaftlich also, »gerechte« und »ungerechte« Preise nicht gibt. Jeder Preis ist faktisch angemessen, anderenfalls korrigiert ihn das Marktgeschehen automatisch.

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Die Ökonomie formuliert hier eine Semantik, in der eine für jeden unvoreingenommenen Beobachter offensichtlich schreiende Ungerechtigkeit einfach unsichtbar bleibt, weil sie nach ihren Regeln nicht formulierbar ist. Dagegen halte ich die These immer noch für richtig: »Wer heute noch leugnet, dass unser Reichtum mit der Armut vieler Völker ursächlich zusammenhängt, ist ökonomisch wie politisch blind.«91 Auch ein linker Ideologie wenig verdächtiger Futurologe schreibt 1970: Das »Problem der Unterentwicklung ist zum guten Teil eine Folge des Egoismus der reichen Länder«.92

 

   Jenseits der klassischen Dependenztheorie  

Im Grunde kranken die strenge Dependenztheorie wie auch die liberale Ökonomik an mangelnder geschichtlicher Tiefenschärfe. Ökonomische Gesetze sind keine Naturgesetze; sie entstehen, funktionieren und verändern sich mit geschichtlich gewordenen Verhältnissen. Die Zerteilung der Welt und die Dependenz der Peripherie von der »Zentrale« sind Prozesse, die sich über Jahrhunderte erstreckten und dabei ihre ökonomische Gestalt mehrfach wechselten. In diesen Prozessen ereignete sich eine immer extremere Spannung zwischen Siegern und Verlierern. »Die Weltentwicklung ist gespalten: ein und derselbe irreversible Prozess bringt eine Aufwärts- und eine Niedergangsbewegung hervor.«(93)

Dependenz heißt für mich nicht, dass die Reichen quasi automatisch reicher werden, weil die Armen ärmer werden - und umgekehrt. Es ist unbestritten, dass die Industrienationen den meisten Reichtum in Handels­beziehungen untereinander herstellen. Aber Abhängigkeit wird dauerhaft dadurch produziert, dass die politische Steuerung der Weltwirtschaft bei dem angeblichen Versuch, mehr Gerechtigkeit herzustellen, im Ergebnis stets das Gefälle von ökonomischer Macht und Ohnmacht perpetuiert.

»Freihandel« bedeutet für die Industriestaaten etwas anderes als für die agrarischen Entwicklungsländer. Subventionen, Wirtschaftsförderung und staatlichen Investitionen der reichen Staaten in ihre Infrastruktur können jene nur durch die Dumping-Konkurrenz ihrer billigen Arbeitskräfte begegnen. So stellen die Entwicklungsländer ein echtes Weltproletariat:

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Sie sind nur noch dadurch für den Weltkapitalismus interessant, dass sie arm sind und deshalb käuflich. Die Weltwirtschaft ist liberal, und das heißt auch hier: »frei« nur für den »Tüchtigen«. Über Kreditabhängigkeit, also auch über so genannte Entwicklungspolitik, wird diese Politik im Dienst der Sicherung bestehender ökonomischer Macht in die Entwicklungsländer hineingetragen, indem die Kreditgeber die Sozialpolitik dieser Länder praktisch diktieren und dabei häufig als Türöffner für ihre Unternehmen agieren.

Es ist kein bloßer Symbolismus, dass sich die Proteste der Globalisierungskritiker an den G8- oder G20-Konferenzen, an Weltbank- und Währungsfond, GATT- und WTO-Abkommen festmachen.

Denn hier sind tatsächlich die Schaltstellen, die dafür sorgen, dass die Industrienationen ihre Vorstellungen einer weltwirtschaftlichen Rahmenordnung auch durchsetzen. So ordnete der IWF in zahlreichen Ländern wie Tansania, Niger, Ruanda oder Honduras zur Schuldentilgung die Privatisierung öffentlicher Versorgungssektoren für Strom, Wasser und Telekommunikation an.(94) Das holt westliche Firmen ins Boot. Für die Armen aber steigen die Preise. Die Verträge der Welthandelsorganisation, welche den Unterzeichnerstaaten den Zugang zum Weltmarkt und zu Krediten sichern, bedeuten strukturell eine schleichende Entdemokratisierung. Über ihre Sanktionsmechanismen wird die Souveränität von Zivilgesellschaften des »Südens«, ihre Gemeinwohlinteressen selbst zu regeln, ausgehebelt. Diese politische Enteignung wird weitgehend in Konferenz-Zirkeln entschieden, die und deren Akteure die breite Öffentlichkeit überhaupt nicht wahrnimmt.(95)

Die reichen Staaten nennen sich beim Thema Schuldenkrise und Entwicklungspolitik gern »Geberländer«, womit sie ihre Nehmerqualitäten sprachlich unter den Teppich kehren. Tatsächlich flossen nach UN-Schätzungen Anfang der 1990er Jahre aus Afrika etwa 200 Milliarden Dollar jährlich auf ausländische Banken: »Das sind 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der südlich der Sahara gelegenen Länder.«96 Der Schuldendienst, eingerichtet, um Entwicklung zu fördern, würgt sie so ab. »Für die Tilgung der großzügig gewährten Kredite werden die Armen zur Kasse gebeten.«97

Ganze Volkswirtschaften müssen sich, um im Weltfinanzsystem nicht unterzugehen, nicht nach dem Volk und seinen Grundbedürfnissen, sondern danach richten, was

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Devisen bringt: Bergbau statt Ackerbau etwa, wie in Ghana. Dabei zerstört der Bergbau großer ausländischer Konzerne dort weite Wald-und Ackergebiete der Bauern.98

Ähnlich steht es mit den so genannten »hausgemachten« Problemen der Armen. Es ist wahr: »Unterentwicklung ist... zu einem ganz erheblichen Teil auch das Produkt der Interessen, Organisationsformen, Verteilungs­strukturen und Kompetenzen in den Entwicklungsländern selbst, womit deren Eliten eine entscheidende Rolle zufällt.«99 Häufig lässt sich ein Niedergang von Entwicklungsländern beobachten, den die dort Herrschenden mit Slogans von Autarkie und dem Widerstand gegen die bösen Auswirkungen der Weltwirtschaft inszenieren - eine denkbar schlechte Anwendungsform der Dependenztheorie. Bei genauerem Hinsehen sind aber gerade diese Eliten mit den reichen Staaten enger verbunden, als sie selbst zugeben, und sie stellen gewissermaßen im Mikrokosmos globale Machtverhältnisse nach.

Die Fähigkeit, Elite zu sein, rührt weitgehend gerade daher, sich nicht mit dem eigenen Volk zu identifizieren, sondern mit den Reichen der reichen Länder, selbst wenn sie ideologisch das Gegenteil behaupten. »Die Eliten leben zu einem beträchtlichen Teil parasitär ... und identifizieren sich häufig auch wenig mit den zentralen Problemen der Nation.«(100) Ahmen sie dadurch nicht die Eliten nach, die sie beerbt haben, die Kolonialbeamten, in deren Schulen sie gingen, oder die einst eingewanderten Conquistadoren? Und wurde ihr Verhalten, von Marcos bis Mobutu, von Idi Amin bis »Baby Doc« nicht vom Westen immer wieder honoriert, der sich Anti-Kommunismus und später Anti-Islamismus und scheinbare Stabilität auch von Diktatoren und korrupten Regimen garantieren ließ?

Auch Anwälte der armen Länder übersehen nicht, dass die Regierungen der Entwicklungsländer häufig die Dependenztheorie als Entschuldigung ihres eigenen Fehlverhaltens missbrauchen. Die neue Spielart dieses Missbrauchs besteht darin, mit Verweis auf Unterentwicklung und Armut einen Raubbau zu rechtfertigen, der meist völlig gegen die Interessen der eigenen Armen betrieben wird.101 Auch die Schulden werden in armen Ländern häufig nicht für die Bedürfnisse der Armen, sondern für Prestigeprojekte der Elite und für das Militär aufgenommen.

Dabei verdienen ebenso wie bei den von der Weltbank

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systematisch empfohlenen Staudamm-Großprojekten vor allem westliche Firmen.102 Gleichzeitig fließt das Kapital von Regierenden aus Entwicklungsländern, mitunter die Frucht von Veruntreuung und Korruption, auf die Konten ausländischer Banken. Diese Form der »Kapitalflucht«103 aus den armen in die reichen Länder ist der konsequente Ausdruck der Zugehörigkeit dortiger Eliten zu einer anderen Hemisphäre als der ihrer Länder.

Bei der Analyse »hausgemachter« Miseren bleibt jedoch die Frage, woher die »bestehende Macht-, Besitz- und Privilegstruktur«104 denn kommt. Ob die Misere in vielen afrikanischen Ländern »auf die Kolonisierung« oder aber »auf die Macht- und Reichtumsgelüste der afrikanischen Führer zurückzuführen ist«105, stellt eine falsche Alternative dar. Macht- und Reichtumsgelüste gibt es überall, nur Rassisten können sie für Afrika als naturgegeben stärker ansehen als anderswo. Die Frage ist, warum hier Gesellschaften diesen Gelüsten hilflos ausgeliefert sind, warum es keine Strukturen, Traditionen und Kräfte gibt, die Warlords und korrupte Politiker in Schach halten. Woher stammen die Strukturen, die oft eine geradezu ausweglose Verstrickung in den Misserfolg bewirken? Bis auf wenige Ausnahmen einiger »Tiger-» und Ölstaaten hat sich über Jahrzehnte das Systemgesetz einer geteilten Welt gegen alle Entwicklungspolitik der Industriestaaten und alle Eigenanstrengungen armer Länder durchgehalten. »Die dargelegte Situation ist statisch: Seit dem Bericht der Brandt-Kommission (1980) bis heute haben sich die Verhältnisse nicht verändert, wenn sie sich nicht für die ärmsten Länder sogar verschlechtert haben.«106

Geschichtlich betrachtet, beginnt der Fehl-(Um)Bau der heutigen Welt mit jener ersten Globalisierung im Zeitalter der so genannten Entdeckungen, das lange vor dem klassischen staatlichen Kolonial-Wettlauf des 19. Jahr­hunderts begann. Dieser Umbau der Welt von Europa aus ist so einschneidend, dass die Diskussion um von außen kommende oder »hausgemachte« Ursachen wirtschaftlicher und sozialer Miseren dagegen oberflächlich bleibt. Denn es gibt in der Welt außerhalb Europas seither kein »Innen«, kein »Haus« mehr, das sich losgelöst von seiner Bestimmung durch den imperialen Machtzugriff von außen bestimmen ließe.

Das ist die geschichtliche Dimension von Dependenz, bei der es nicht um Schuldzuweisung und Entschuldigung heutigen Verhaltens geht, sondern um das Verständnis eines Prozesses, dessen Konsequenzen wir heute in der zweiten Globalisierung erleben.

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»Kein Kontinent hat sich je leichter modernisiert als Europa«, und warum? »Das war zum größten Teil der neuen Welt zu verdanken - und geschah auf dem Rücken von amerikanischen Eingeborenen, afrikanischen Sklaven und Kontraktarbeitern.«107 Der Reichtumstransfer von Amerika und Afrika, später auch aus Asien, förderte eine Kapitalakkumulation, die den Weg zur industriellen Revolution nicht allein ebnete, aber wesentlich erleichterte. Natürlich ist die Modernisierung Europas eine europäische Geschichte mit vielen Faktoren auf dieser Kontinentalhalbinsel. Aber die kritische Masse, die dafür zusammengebracht werden musste, stammte zu großen Teilen aus Übersee.108 Europa - und später Nordamerika - hing nicht einfach die übrige Welt durch seinen Fortschritt ab. Die Weltentwicklung ist kein Wettlauf, bei dem die Armen zu langsam waren. Europa zerstörte durch seinen Kolonialismus die einheimischen Strukturen der »entdeckten« Kontinente auf eine im Grunde irreparable Weise.

Die »entdeckten« Kontinente sind also durch die erste Globalisierung geworden, was sie sind: nicht etwa unter-, sondern fehlentwickelte Gesellschaften, sozusagen zerstörte Wirtsbäume des europäischen Schmarotzers. Sie wurden »von Europa aus in eine Entwicklung hineingerissen, in der sie - vielfach - leicht und immer wieder ins Hintertreffen geraten müssen«.109 Das ist der Grund, warum sie in der zweiten, der postmodernen Global­isierung von Anfang an die Verliererrolle übernahmen.

Das Urteil des Wirtschaftshistorikers stellt also nur die letzte Strecke einer Entwicklung fest, deren Rollen schon in den Jahrhunderten zuvor vergeben wurden: »Die industrielle Revolution hat die Welt enger zusammen­geschlossen, sie verkleinert und homogenisiert; aber zugleich hat sie den Globus gespalten und Gewinner und Verlierer einander entfremdet. Sie zeugte eine Vielzahl von Welten.«110 Auch das Ende der Kolonien brachte keine echte Entkolonisierung, keine Überwindung der historisch gewachsenen Dependenz, sondern deren Überführung in die Gestalten des Neokolonialismus und des Binnenkolonialismus.

Neokolonialismus meint, dass die Abhängigkeit armer Länder vom Export bestimmter Produkte und von ausländischen Krediten oder

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Investitionen aus der Vergangenheit ererbt ist und sich im »freien Spiel« der ungleichen Kräfte auch nicht aufheben lässt.

Zur einseitigen Exportabhängigkeit kommen politisch die willkürlichen Grenzziehungen durch die Kolonialmächte, die das Entstehen von nationalen Identitäten verhindern.111 Es sind diese Erblasten, welche - perpetuiert durch die wirtschaftlichen Interessen der Industrieländer und die politischen Blockbildungen - die »Modernisierung« vieler Entwicklungsländer immer wieder im Keim erstickt haben.(112)

Binnenkolonialismus meint, dass in den unabhängig gewordenen Staaten zur Macht gekommene, neue Eliten meist eine Art Fremdherrschaft im eigenen Land errichteten. Sie verlängern die Ausbeutung von außen durch die Enteignung von oben. Es fehlte in den ehemaligen Kolonien eine moderne Zivilgesellschaft, die dem Einhalt gebieten könnte - denn die traditionellen vormodernen Strukturen, die sich organisch weiterentwickeln könnten, wurden durch die Fremdherrschaft zerstört. »Die meisten früheren Kolonien taten sich schwer, den richtigen Weg zu finden. Ihre Kolonialherren hatten ihnen, aus Furcht vor aufkeimendem Nationalismus und in Geringschätzung ihrer Fähigkeiten, nicht gerade viel beigebracht... Die weißen Herrscher hatten große Angst vor gebildeten Eingeborenen«, und wo es die gab, waren sie »ihrer Stammeskultur entfremdet.«113 Etablieren konnten sich meist die Herrscher, welche im Kalten Krieg die Unterstützung der UdSSR oder der USA erhielten. Wo die Einflusssphären unklar blieben, entstanden jahrzehntelange verwüstende Stellvertreterkriege wie in Indochina, Angola und Mozambique. Wenn aus der Sicht einer Supermacht echte Unabhängigkeit drohte, ermordete mitunter auch ein Geheimdienst einen Staatschef, wie geschehen bei Patrice Lu-mumba im Kongo. Statt seiner unterstützte der Westen jahrzehntelang den korrupten Diktator Mobutu von Zaire, der das ehemalige Sklavenhaus des belgischen Königs noch tiefer ins Elend führte.

Als Fazit lässt sich festhalten: Die Dependenztheorie hat nicht Recht, wenn sie das Wirtschaftssystem synchron als ein stählernes Gehäuse beschreibt, das zwangsläufig nach inhärenten ökonomischen Gesetzen Armut in den Entwicklungsländern und davon kausal abhängig Reichtum in den Industrieländern produziert. Aber auch ihre Bestreiter haben Unrecht, wenn sie diese Weltwirtschaft für einen freien Markt halten, auf dem alle ihre Chance erhalten, aber unterschiedlich gut nutzen.

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Dependenz ist vielmehr diachron beschreibbar als Ergebnis eines Prozesses, in dem sich die zukünftigen Industrieländer an der Zerstörung der von ihnen »entdeckten« Welten bereicherten und entwickelten. Dieses Ergebnis verteidigt heute die Weltmarktpolitik der Mächtigen gegenüber einer von dieser Zerstörung gezeichneten Welt, die als »Dritte« oder »Vierte« nicht mehr aus sich, sondern nur noch in Abhängigkeit zur »Ersten« definiert wird und real existiert.   wikipedia  Diachronie 

 

   Die Lüge von der Entwicklung  

Als Ausweg aus dieser Misere propagiert die Politik seit Jahrzehnten das Zauberwort Entwicklung. Doch der Begriff »Entwicklungsländer« setzt voraus, was erst zu beweisen wäre: dass es eine angleichende Entwicklung der armen an die reiche Welt gibt und dass diese die erwünschte Eine Welt herzustellen vermag. In Wahrheit ist beides nicht der Fall.

Im Begriff der Entwicklung steckt die Lüge, unser westlicher Lebensstil sei ein global übertragbares und nachhaltig funktionierendes Gesellschaftsmodell. Der Begriff Entwicklungsland definiert die damit bezeichneten Staaten sozusagen als Vergangenheit der Industrieländer. Sie werden, was diese sind, weil diese angeblich früher auch waren, was die Entwicklungsländer jetzt sind. Das stimmt - wie gezeigt - weder historisch, noch spricht die Gegenwart für diese Prognose. Außerdem unterschlägt der Entwicklungsbegriff, dass sein verheißenes Ergebnis global überhaupt nicht tragbar und also nicht wünschbar erscheint, weil es ohne einen radikalen Umbau unserer Wirtschafts-und Lebensweise die Grenzen des Wachstums eindeutig überziehen würde. »Wollten alle Menschen auf dem Niveau des westlichen Standards leben, brauchten wir drei bis vier Planeten.«(114) Pointiert gesagt: Die behauptete Entwicklung findet nicht statt, und wenn sie stattfände, wäre sie selbst die Katastrophe.

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1. Zirkelschlüsse: Typisch für eine Begriffslüge ist, dass sie eine in ihr enthaltene Reflexionslücke versteckt. Der Begriff Entwicklungsland enthält ein synthetisches Urteil, das einfach, indem der Begriff benutzt wird, seine notwendige Begründung überspringt. Dem entspricht dann der quasi-axiomatische Umgang mit dem in ihm enthaltenen Postulat von Entwicklung.   wikipedia  Postulat

Björn Lomborg präsentiert etwa eine Grafik, in der das Wachstum des Brutto-Inlandprodukts von Industrie- und Entwicklungsländern von 1950 bis zum Jahr 2000 zwei fast deckungsgleiche Kurven durchläuft, nur dass für beide Kurven weit auseinanderliegende Einkommens-Werte eingetragen werden. Die Entwicklung, so soll die Statistik nahelegen, ist die gleiche, nur auf unterschiedlichem Niveau. Aber ist es als erfolgreiche Aufholjagd zu werten, wenn das Jahreseinkommen der Armen durchschnittlich von 500 auf 2500 Dollar ansteigt, das der Reichen im gleichen Zeitraum aber von 4000 auf 14.000 Dollar? Vor allem beweist die Kurve überhaupt nicht, dass die Entwicklungsländer eine reale Chance auf Angleichung hätten. Die Kluft, die zwischen beiden Welten liegt, beträgt hier am Anfang 3500 Dollar, 50 Jahre später liegt sie schon bei 11.500. Für Lomborg aber lehrt uns das: »In den letzten 40 Jahren hat jeder - in den Industrie- wie in den Entwicklungsländern - seinen Reichtum mehr als verdreifacht.«(115) Erliegt hier der Statistiker der Suggestionskraft seiner eigenen Schaubilder? Wer ist in dieser Aussage »jeder« und was meint »Reichtum«? Ich denke an Afrika und weiß nicht, ob der Satz Zynismus oder Ignoranz verrät.

Die Fortschrittsoptimisten begehen einen Zirkelschluss im großen Stil. In der Debatte um die demografische Entwicklung lautet er: weniger Kinder, wenn die Menschen erst reicher werden - mehr Reichtum, wenn die Bevölkerungsentwicklung ihn nicht mehr auffrisst. In der ökologischen Debatte heißt er: Industrielle Ausbeutung der Natur ist für mehr Reichtum notwendig - nur mehr Reichtum ermöglicht eine bessere Umweltpolitik. Diese Argumentation reicht bis hinein in die theologische Ethik, wenn diese sich »realistisch« geben will: Das Modell einer alternativen Bedarfswirtschaft sei unrealistisch, sagt A. Auer, weil es für zu viele Menschen »eine drastische Senkung des Lebensstands« bedeuten würde. Auer zitiert dabei Teilhard de Chardin, den Vordenker katholischen Fortschritts-Optimismus: »Heute verlangt jeder Mensch täglich nicht nur sein Brot..., sondern auch seine Ration Eisen, Kupfer und Baumwolle, seine Ration Elektrizität, Erdöl und Radium, seine Ration Entdeckungen, Film und internationale Nachrichten.«(116)

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Das klingt global gedacht und ist doch eine Verschleierung der geteilten Welt: Für einen Großteil der Menschheit würde eine funktionierende »reine Bedarfswirtschaft« keinen Verlust an Lebensqualität, sondern einen Fortschritt bedeuten, weil er nämlich seinen Grundbedarf nicht decken, geschweige denn die von de Chardin genannten Verlangen befriedigen kann.

Es ist eine reiche Minderheit der Menschheit, die sich selbst als natürlichen Endpunkt der Entwicklung definiert und das reine Weitermachen auf dem Status Quo als Einladung an die anderen verkauft, ihr auf die Insel der Seligen zu folgen. Was sich als Fortschrittsprogramm ausgibt, ist in Wahrheit ein ideologisches Postulat, das qualitativen Fortschritt, d. h. eine Veränderung der Lebensweise gerade vermeiden soll: »Wir brauchen vermehrt Produktionsmethoden, die es uns ermöglichen, mit möglichst wenig Energieeinsatz und Rohstoffverbrauch, mit möglichst geringem Verbrauch an unvermehrbaren Naturgütern möglichst hochwertige Erzeugnisse herzustellen, die ihrerseits die Umwelt so gering wie möglich belasten und die wir auf dem Weltmarkt zu konkurrenzfähigen Preisen verkaufen können.«(117) Auf den Punkt gebracht: Damit alles so bleiben kann wie es ist und dabei auch die Armen noch reich werden, brauchen wir das Perpetuum mobile.

2. Eine unredliche Verheißung: Der Mythos von der Entwicklung wurde 1959 bei der Antrittsrede des US-Präsidenten Harry Truman geboren, der bei diesem Anlass die Welt in eine Liste entwickelter und unter­entwickelter Länder einteilte.118 Die Entwicklung ist also von Anfang an ein Projekt der Ersten Welt, angestoßen als eine »Mission« der Führungsmacht USA. Trumans Länder-Liste wurde in der Folge dieser Mission weiter ausdifferenziert, aber das Prinzip der Aufteilung blieb: Die Entwicklung sortiert die unterentwickelte Welt in »Schwellenländer«, »Dritte« und »Vierte« Welt.

Wenn man den Status von nicht-industrialisierten Ländern als unterentwickelt definiert, richtet sich das Konzept zu ihrer Entwicklung auf eine Angleichung an die Industriestaaten.

Das war von Anfang an der Sinn der Truman-Doktrin. In diesem Entwicklungskonzept geht notwendigerweise der Blick für andere Entwicklungsmöglichkeiten, für nicht-westliche Lebensformen und deren Stärkung verloren.

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Kritik daran wird als Sozialromantik und Isolationismus abgetan. Dabei hat die Entwicklungsideologie zahlreiche zu Tage liegende, gescheiterte Projekte aufgestülpter, fremdbestimmter Entwicklungshilfe produziert: Industrialisierungsruinen, den ökologischen Wahnsinn von gigantischen Staudamm- und Bewässerungsprojekten, die Abhängigkeit von einzelnen Exportprodukten bei gleichzeitigem Verlust der Fähigkeit, sich selbst zu ernähren. Sie hat Massenarbeitslosigkeit in Ländern erzeugt, in denen es in der Subsistenzwirtschaft genug Arbeit gäbe; sie hat Landflucht und Slumbildung gefördert und viele Entwicklungsländer durch großzügige Kredite in den finanziellen Ruin getrieben. Denn Entwicklung war hier nie an dem vor Ort Möglichen und für die Menschen Notwendigen orientiert, sondern am Modell einer Angleichung, die faktisch immer neue Zerteilung produziert. In einer wenig beachteten UN-Erklärung von 1974 heißt es schon:

»Ein Wachstumsprozess, der nur der wohlhabenden Minderheit nützt und die Gefälle zwischen den Ländern und innerhalb der Länder noch vergrößert, ist keine Entwicklung. Es handelt sich vielmehr um Ausbeutung. ... Deshalb verwerfen wir den Gedanken: Zuerst einmal Wachstum, Gerechtigkeit bei der Verteilung des Nutzens später!«(119)

Dass es partiell Entwicklung im Sinne des Truman-Programms gibt, ist nicht zu leugnen. »Tigerstaaten« und »Schwellenländer« bilden inzwischen einen brisanten Faktor, den die Industriestaaten mit einer eigenartigen Mischung von freudiger Erwartung und Angst betrachten - so als sei es denn doch nicht ganz recht, wenn die ausgegebenen Entwicklungsziele einmal erreicht werden. Allerdings verzerren viele Berichte aus Indien und China auch die Wirklichkeit: Hohes Wirtschaftswachstum sagt noch wenig über die wirklichen Lebensverhältnisse der Menschen aus. Die Zahlen täuschen darüber hinweg, dass die Entwicklung bei der Mehrheit kaum ankommt. Die Ideologie der Entwicklung hat zudem dazu geführt, Gerechtigkeit und Menschenrechte sozusagen als Appendix ökonomischer Prosperität zu betrachten. Ländern, die »Fortschritte machen«, wird deshalb von den Führungsstaaten der Welt jeder Verstoß gegen die Menschenrechts- und die UN-Sozialcharta verziehen.(120)

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Noch verlogener zeigt sich die Entwicklungs-Ideologie, wenn man die ökologische Dimension mit einbezieht: »Ein Viertel der Menschheit lebt auf eine Weise, die vollständig auf stabilem Klima, billigem Wasser und schnellem ... Wirtschaftswachstum beruht. Die Mehrheit der übrigen Menschheit strebt verständlicherweise danach, auf dieselbe Art leben zu können.«121 Genau das hat ihr die Entwicklungspolitik ja immer versprochen. Aber nun ist plötzlich Panik angesagt, wenn sich auch nur partiell das ereignet, was man doch immer angekündigt hat. Dabei konnte man schon 1972 schreiben: »Der größte ökologische Eklat, das absolute Desaster steht also ... dann bevor, wenn die so genannten Unterentwickelten erst einmal anfangen, sich zu entwickeln.«(122-Amery) Sollen sie sich also lieber doch nicht entwickeln? Man hat Entwicklung à la Truman gepredigt, obwohl man wissen konnte: »Die Welt hält es nicht aus, wenn China und andere Drittweltländer auf dem Niveau der Industrieländer leben.«(123.Diamond)

Mahatma Gandhi hatte die Konsequenz aus dieser Erkenntnis schon 1928 für sein Volk gezogen: »Gott wollte nicht, dass Indien je auf Art des Westens industrialisiert werden sollte.... Wenn eine gesamte Nation von 300 Millionen eine ähnliche wirtschaftliche Ausbeutung betreiben würde, würde dies die Welt kahl fressen wie Heuschrecken.«124 Indien hat heute 1,2 Milliarden Einwohner und die westlichen Konsumgewohnheiten haben sich in den vergangenen achtzig Jahren enorm entwickelt. Gandhi hat die Truman-Rede schon zwanzig Jahre, bevor sie gehalten wurde, widerlegt. Dennoch ist seine angeblich göttlich verordnete Bescheidung für die Inder keine Haltung, die wir bequem übernehmen könnten. Seine Botschaft an uns Westler lautet im Gegenteil: Wenn es so ist, dass unsere Lebensweise, global übertragen, die Welt zugrunde richten würde, dann ist es an uns, sie zu ändern - und nicht an den anderen, aus Rücksicht auf uns zu stagnieren.

Aber genau in diese Richtung dreht sich der Wind: In den neueren Debatten zum Klimaschutz gilt China schon als einer der größten Umweltsünder. Tatsächlich macht sein Wirtschaftswachstum etwaige CO2-Einspareffekte bespielsweise in Europa zunichte. Auch die übrigen Faktoren sind beängstigend: China ist inzwischen eine der größten Importnationen für Tropenhölzer. Der Fleischverbrauch vervierfachte sich in 25 Jahren, das Aufkommen von Pkw stieg gar um das 130fache.

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In der Folge des Fortschritts ist »von der Wüstenbildung durch Überweidung und Landgewinnung mittlerweile mehr als ein Viertel Chinas betroffen; in Nordchina wurden allein in den letzten zehn Jahren rund 15 Prozent der verbliebenen Acker- und Weidefläche auf diese Weise zerstört.«125 Führt hier nachholende Entwicklung im Schnelldurchgang zum Zusammenbruch, der auch andere Teile der Welt mit sich ziehen könnte?

Die Gefahr ist real. Die Argumentation verschleiert aber, dass immer noch die allermeisten Chinesen viel weniger Energie verbrauchen als ein Europäer. China hat seine Entwicklung in den 1980er Jahren auf einem Niveau begonnen, das bei den Treibhausemissionen pro Kopf etwa bei einem Fünftel eines Bundesbürgers lag.126 Auch heute liegt der Rohstoffverbrauch Chinas pro Kopf weit unter dem der Europäer oder Nordamerikaner. Die Chinesen sind also immer noch kleinere Umweltsünder als wir - aber mehr. Das macht uns Angst: »Wenn China den Standard der Industrieländer erreicht, werden sich Ressourcen-ausbeutung und ökologische Schäden auf der ganzen Welt ungefähr verdoppeln.«127 Auch bei technologisch bestens angeglichenen Standards würde ein Energieverbrauch aller Chinesen und Inder nach westeuropäischem Muster den Treibhauseffekt so sehr anheizen, dass man sich alle weiteren Konferenzen zum Thema sparen könnte. Und mit China wäre es bei weitem nicht getan. »Eine Anhebung der Wirtschaftskapazitäten auf das Fünf- bis Zehnfache wäre erforderlich, um auch den Armen dieser Erde einen westlichen Lebensstandard zu bieten. Das kann das Ökosystem Erde entschieden nicht verkraften.«128

Über Zahlen mag man streiten, etwa auch darüber, ob die Welt ökologisch nur etwa zwei Milliarden US-Bürger mit ihrem Lebensstil anno 1970 verkraften würde.129 Gewiss ist jedoch, dass unser westliches Lebensmodell heute nicht mehr globalisiert werden könnte. Das heißt aber für die Entwicklungsländer, dass »eine >erfolgreiche< nachholende Entwicklung in einer quantitativ relevanten Größenordnung - beispielsweise für drei Milliarden Menschen - eine ökologische Katastrophe nach sich ziehen«130 müsste. Die Ideologie der Entwicklung ist nicht nur eine Unwahrheit, sondern wirklich eine Lüge, weil sie etwas zu verheißen vorgibt, was ihre Propagandisten nicht wirklich wollen.

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Die Verheißung der Entwicklung für die Armen müsste, wäre sie ernst gemeint, das Konsummaß der Westler weltweit zulassen. Aber sollte »im 21. Jahrhundert der Massenkonsum in China, Indien, Nigeria und Brasilien Einzug halten ..., so sind dramatische Entwicklungen unausweichlich.«131

Wir wissen im Grunde, dass zehn Milliarden Menschen nicht so leben können wie wir. Also ist es eine Lüge, den anderen dieses Leben als Entwicklungsziel zu verheißen. In Wirklichkeit fehlt der reichen Welt genau das, wovon sie ständig redet: ein Konzept, eine Vision globaler Entwicklung, die gerecht und nachhaltig tragfähig wäre und so die Entwicklungsländer tatsächlich als Partner einbeziehen könnte. Aber dafür müssten die Reichen mit der Veränderung beginnen.

 

3. Fortschritt und Katastrophe: Geschichtlich betrachtet ist die Lüge von der Entwicklung kein Irrweg der vergangenen Jahrzehnte, ausgerufen seit der Truman-Rede. Im Grunde ist sie die Lebenslüge der europäischen Zivilisation in ihrer Begegnung mit der anderen Welt, die immer eine Eroberung, Unterwerfung und Ausbeutung war. Zunächst hatte diese Lüge die Gestalt der religiösen Missionierung: Man beglückte die Welt mit der Rettung der Seelen, während man die Leiber versklavte. Seit der Aufklärung und insbesondere seit dem Kolonialismus bekam diese Lüge die neue Fassung der Zivilisations-Mission: Man beherrschte die Welt, um ihr Fortschritt und Humanität zu bringen. Diese Losung wirkt bis heute, etwa in dem US-Krieg gegen den Irak als Demokratisierungs-Mission, nach. Sie wurde aber im praktischen Materialismus der Post-Kolonial-Ära nochmals umgemünzt in eine reine ökonomische Entwicklungs-Doktrin: Der Weltmarkt werde auf Dauer alle gleich und reich machen.

»Die radikale Veränderung der letzten hundert Jahre besteht nicht in dem Ende der fortschrittlichen Entwicklungen, sondern darin, dass unser faktischer Fortschritt alle früheren Erwartungen erfüllt und sogar übererfüllt, ohne jedoch die Hoffnungen zu rechtfertigen, die sich ursprünglich auf ihn gründeten.«132

Dieser Satz von Karl Löwith ist nun schon wieder ein halbes Jahrhundert alt, in dem sich dieser Selbstverbrauch des Fortschritts nochmals rapide beschleunigte. Vielleicht begleitet dieses Paradox das neuzeitliche Fortschritts-Projekt schon seit seiner Entstehung: dass nämlich die Fortschritts-Utopisten genauso Recht behalten wie die Unheils-Propheten, dass also Fortschritt und Zusammenbruch keine Alternative darstellen, sondern konvergieren.

Die Lüge von der Entwicklung ist nichts anderes als die neuzeitliche Fortschritts-Ideologie, übertragen auf jene, die nicht Subjekte, sondern Objekte des westlichen Fortschritts sind. Das macht auch die innere Wider­sprüch­lichkeit der Entwicklungs-Voraussage aus, die stets entweder nicht wahr ist oder - wo sie sich doch bewahrheitet - gleich von ihren Verkündern gefürchtet wird. Inzwischen sind wir in der Verknüpfung der ökologischen und der sozialen Entwicklung der Menschheit an einen Punkt gelangt, an dem die Folgen der Entwicklungsdoktrin der gesamten Fortschritts-Ideologie den Spiegel vorhalten. Dieses Spiegelbild zeigt, dass Fortschritt, wie wir ihn betrieben haben, stets den Fortschritt der Zerteilung bedeutet und schließlich ins Katastrophische umschlägt. Dadurch berühren sich inzwischen die Extreme: Fortschritts-Glaube und Apokalyptik. Die Apokalypse tritt dort in den abendländischen Horizont wieder ein, wo der Fortschritt nicht mehr nur erhofft und verheißen wird, sondern sich verwirklicht und verselbstständigt. Er macht den Schatten des Untergangs wieder stark, den er doch vertreiben sollte.

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https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Löwith  1897-1973

 

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(2) 3. Zugerichtete Welt