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2.4 - Reaktionen in der Sackgasse -2-

 

 

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Wie bei der Analyse der ökologischen Krise(133) gehört auch zur Analyse der sozialen Katastrophe die Diskrepanz zwischen tatsächlicher Lage und der Reaktion auf sie - bewusst formuliert vom Standort des Autors in Westeuropa aus. Denn ebenso wie die ökologische ist auch die soziale Katastrophe keineswegs unabwendbar.

Es fehlt nicht an den Gütern, sondern an Gerechtigkeit und Frieden einschließlich ihrer Durchsetzung etwa durch Demokratie und Gewaltenteilung, durch ein verändertes Weltwirtschaftsreglement, durch andere politische und ökonomische Zielsetzungen. Aber die tatsächlichen Reaktionsweisen auf die soziale und auf die ökologische Krise entsprechen sich.

Der Verdrängung des ökologisch drohenden Szenarios entspricht die Ignoranz gegenüber dem Verelendungsprozess der Vierten Welt. Der Kosmetik durch ein mehr sich selbst als der Welt helfendes Öko-Gebaren entspricht die herablassende Geste der Spende. Dem merkantilen Zynismus, der das ökologische Desaster schon »einpreist«, entspricht die Verteidigung des Reichtums durch den Aufbau einer Festung.

Beginnen wir mit diesem Aspekt.

   Festung 

Was auf Innenministerkonferenzen und dann an den Außengrenzen der Insel der Seligen geschieht - sei es im Mittelmeer, sei es an der mexikanischen Nordgrenze, sei es auf Flughäfen, in Abschiebegefängnissen und -lagern oder bei Patrouillen an der Grünen Grenze zu Osteuropa -, ist die Vorbereitung zu einem Krieg. Es ist ein Krieg, den die Reichen aus einer Wagenburg heraus führen und den sie nur verlieren können.

Erst die Revolutionen in Nordafrika brachten die Ertrinkenden im Mittelmeer in die Schlagzeilen. Dabei starben schon zwischen Ende 2005 und Mitte 2006 etwa 3000 Menschen auf der Flucht aus Afrika.134 Was täten die Regierungen der EU, wenn eine humanitäre Katastrophe unter ihren Bürgern Opfer in einer ähnlichen Größenordnung fordern würde? Eine Analyse der politischen Reaktionen der EU auf die Flüchtlingskatastrophe an ihren Südgrenzen kommt zu dem Ergebnis, dass zur Ursachenbekämpfung in den Herkunftsländern der Flüchtlinge »vage Absichtserklärungen« verfasst werden, während die Politik so genannte »sicherheitsrelevante Fragen ... sehr viel konkreter behandelt«135, u. a. in enger Zusammenarbeit mit den inzwischen gestürzten Diktatoren in Libyen und Tunesien. Die EU reagiert durch Abschreckung, Abwehr und Rückführung.

Vergleichbar ist die Situation an einer anderen Grenze, die den Riss zwischen den Teilen der Welt markiert: »Die Sperrzone an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten ist zum Kriegsgebiet geworden.« Der Ausbau der Grenzbefestigung, an der die US-Nationalgarde eingesetzt wird, und die Taktik des Abdrängens hat zwischen 2002 und 2006 etwa 3600 Menschen das Leben gekostet.136 Inzwischen scheint Einmauern sogar zum Statussymbol eines Schwellenlandes zu werden; jedenfalls baut Indien an einem Abwehrgrenzzaun zu Bangladesch.137

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Die Charta der Menschenrechte besagt in Artikel 13 ihrer Allgemeinen Erklärung: »Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen.« Das westliche Konzept der Menschenrechte wird, wenn die Armen kommen, ebenso außer Kraft gesetzt, wie es nicht galt, als sich der Westen die Welt der Armen Untertan machte. Weiterhin ist die Zerteilung der Welt auch deckungsgleich mit der Zerteilung der Humanität.

Nach dem Urteil des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz begehen »die Industrieländer den kapitalen Fehler und verwechseln ihre eigenen Interessen mit den Interessen der Weltgesellschaft«.138

 wikipedia  Joseph_E._Stiglitz *1943 in Indiana

Pessimisten sehen in diesem Verhalten schon das typische Gebaren einer Zivilisation, die ihre Zeit hinter sich hat und die Kraft für notwendige, rettende Veränderungen nicht mehr besitzt: »Unser gegenwärtiges Verhalten ist typisch für fehlgeleitete Gesellschaften im Zenit ihrer Gier und Arroganz. Das ist der Dinosaurier-Faktor: kategorische Ablehnung aller Veränderungen, die dem Eigeninteresse entgegenlaufen könnten, und Unbeweglichkeit in allen sozialen Schichten.«(139,Wright) Der Hinweis auf <alle Schichten> ist tatsächlich angebracht. Denn die Festungs-Mentalität ist nicht auf die politischen Machthaber beschränkt. Auch die Bevölkerung in den westlichen Demokratien trägt hier Verantwortung. Denn was ihr politisch zur Wahl steht, ist auch Ausdruck dessen, was die Mehrheit akzeptiert.

A. C. de Tocqueville hat diesen Schatten des Erfolgs schon 1840 für die junge USA vorher gesehen:

»Es gibt in der Tat einen sehr gefährlichen Übergang im Leben demokratischer Völker. Entwickelt sich ... die Vorliebe für materielle Genüsse schneller als die Bildung und die freiheitliche Gewohnheit, so kommt ein Augenblick, da die Menschen vom Anblick begehrter Güter wie außer sich sind. Man braucht derartigen Bürgern Rechte, die sie besitzen, nicht erst zu entreißen, sie lassen sie selber gern fahren.«140

Tatsächlich kann man derzeit beobachten, dass der - wegen Bedrohungen von außen - latent dauerhaft ausgerufene Ausnahmezustand sich auch im Innern auswirkt.

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Immer neue Sicherheitspakete, Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte, sowie die Durchlöcherung des Datenschutzes, der Unschuldsvermutung, ja des Folterverbots, werden von der berüchtigten »schweigenden Mehrheit« mit stoischer Gelassenheit hingenommen, solange nur ihre Ruhe und ihre Wohlfahrt gesichert scheinen. Es ist sehr unsicher, ab welchem Grad von in ihrem Namen verübten Gräueltaten ihr Gewissen sich regen würde.

Jedenfalls zeigt die gegenwärtige Erfahrung, dass Demokratien  - entgegen einer alten Hoffnung - sehr wohl in der Lage sind, ungerechte Kriege zu führen, die keineswegs echter Selbstverteidigung, sondern der Vorne-Weg-Verteidigung ihres Reichtums dienen. Anstatt seine Verstrickung in die Weltprobleme zu lösen, ruft der Westen »den Ausnahmezustand aus und verharrt in ritualisierter Selbstbehauptung«. (141,Assheuer)

 

  Spende 

Spenden an die Armen der Welt als modernen Ablasshandel, als insgesamt wirkungsloses Verhalten, das vor allem der Beruhigung des eigenen Gewissens dient, zu geißeln, ist leicht und gegenüber den Einzelnen auch unfair. Viele Menschen in den reichen Ländern spenden nicht nur, sie engagieren sich auch ehrenamtlich in Hilfsorganisationen, Kirchengemeinden, bei Patenschaften. Außerdem wissen die meisten Spender sehr wohl darum, dass ihre Hilfe nur der berühmte »Tropfen auf den heißen Stein« ist und haben deshalb kein ruhiges Gewissen. Sie fühlen sich den globalen Verhältnissen gegenüber ohnmächtig und wissen sich gleichzeitig in dieser Ohnmacht schuldhaft verstrickt.

Dennoch markiert die Spende ein Grundverhältnis zwischen reicher und armer Welt, welches die bestehende Zerteilung der Menschheit mehr stabilisiert als aufhebt. Es teilt die Menschen in Gebende und Nehmende ein, es reproduziert auf gut gemeinte Weise noch einmal die Struktur der Abhängigkeit. In der Spende manifestiert sich die Zerteilung der Welt noch im ohnmächtigen Bemühen, gegen sie anzukämpfen.

»Man weiß um den Hunger in der Welt und hält sich daran, den armen Leuten etwas Geld und gebrauchte Kleider zu schicken. Aber das grundsätzliche Problem, die dauerhaften, strukturell bedingten Missstände, die sich jenseits jeglicher Vorstellung von einem menschenwürdigen Leben befinden, werden kaschiert.« (142, Chiavacci)

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Dass die Spenden Verhältnisse von Abhängigkeit stabilisieren, gilt manchmal sogar ganz direkt: Die akute Nahrungsmittelhilfe bei Hungerkatastrophen wird häufig zur chronischen und trägt dazu bei, dass die heimische Landwirtschaft nach der Dürre weniger konkurrenzfähig ist, die regionalen Märkte aus dem Gleichgewicht geraten. Ähnlich verhält es sich mit den verstärkt von kommerziellen Firmen betriebenen Altkleider­sammlungen: Die abgelegten Textilien der Reichen konkurrieren auf den Märkten der Armen mit einheimischer Ware. Sie bringen die dortigen Kleinstunternehmer um ihren Verdienst.

Zum grundsätzlichen Spende-Verhältnis zwischen reicher und armer Welt muss auch die staatliche Entwicklungshilfe gerechnet werden, die seit Jahrzehnten die einst selbst gesteckten Zielsetzungen -z. B. die an sich schon peinliche 0,7-Prozent-Marke der öffentlichen Haushalte - niemals erreicht. Sie ist, inzwischen ganz offen so deklariert, weitgehend eine Export- und Investitionsförderung für die Wirtschaft der Industrieländer.

Im christlichen Kontext ist die Spende mit einem hohen ethischen Anspruch versehen, sie wird unter Titeln wie »Teilen« und »Gemeinschaft« propagiert. Teilen aber würde bedeuten, dass die Geber etwas von ihrer Substanz geben und nicht nur einen geringen Teil ihres Überflusses. Teilen bedeutet, dass man den Besitz als gemeinsam betrachtet, dass man über ihn nach Bedürfnis und nicht nach Besitz verfügt. Teilen verändert die daran Teilnehmenden; im Vorgang des Teilens verschwindet die Hierarchie. Solches Teilen aber üben nicht nur die einzelnen reichen Christen (bis auf meist unbekannte Ausnahmen) nicht, es prägt auch nicht das Verhältnis reicher und armer Kirchen als Organisationen. »Das Almosen ist die charakteristischste Beteiligungsform des Privatchristentums, das aus dem Überfluss den leicht zu verschmerzenden Betrag abwirft.«143 Nicht die Frage, ob echtes Teilen realistischer Weise erwartet werden kann, steht hier zur Debatte, sondern die Tatsache, dass Verlogenheit mit der Höhe der angeschlagenen Töne eher steigt.

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  Ignoranz  

Auf dem Gemälde »Landschaft mit dem Sturz des Ikarus« von 1558 präsentiert Pieter Brueghel die antike Sage wie in einem Suchbild. Irgendwo an der Küste stürzt Ikarus ins Meer, aber der Betrachter wird die Szene zunächst kaum bemerken, ist er doch abgelenkt durch eine weitläufige, idyllische Steilküstenlandschaft mit Schiffen, einer Stadt, einem pflügenden Bauern und einer Hirtenszene im Vordergrund. ».Landschaft mit dem Sturz des Ikarus< wirft uns in die Gegensätze von Schönheit und Grauen, die zeitlos sind«, schreibt Richard Sennet. »Es ist... nicht weniger als das Abbild eines Ortes, an dem merkwürdige Ereignisse und fremde Anwesenheiten schlicht geleugnet werden.«144

Nur zeitlos ist dieses Gemälde aber doch nicht. Auch Sennet interpretiert es vor dem Hintergrund der Entstehung der neuzeitlichen Stadt, ihrer Anonymität bürgerlicher Subjekte, die nicht mehr füreinander verant­wortlich sind. Für mich ist Brueghels Gemälde auch ein Bild der zerteilten Welt: In der florierenden Eigenwelt, die für ihre Bewohner den Vordergrund bildet, wird der Untergang im Hintergrund nicht wahrgenommen. Er geschieht still und beiläufig. Seine Anwesenheit wird »schlicht geleugnet«.

»Ein alltäglicher Postmodernismus der Herzen hat sich ausgebreitet; er rückt die Not und das Elend der so genannten Dritten Welt wieder in eine größere antlitzlose Ferne.«145 Zwar gibt es noch Dritte-Welt-Initiativen und Eine-Welt-Läden, aber die Zeit, in der die Zerteilung der Welt als schmerzvolle Wahrnehmung gerade zum Reifungsprozess der Jugend gehörte, die eine Welt nicht so akzeptieren konnte, wie sie sie vorfand, scheint vorbei. Längst ist uns der Glaube abhandengekommen, man könnte die Armut in absehbarer Zeit abschaffen. Resignation geht in Gleichgültigkeit über. In den Zeitungen haben wieder Erklärungsmuster Konjunktur, die Armut tendenziell zur Schuld der Armen erklären und die Zerteilung zu einem bedauerlichen Normalzustand. Wir haben längst begonnen, uns »an die Armutskrisen der Welt zu gewöhnen, die sich ohnehin immer mehr verstetigen und die wir Europäer deshalb achselzuckend an eine anonyme, subjektlose gesellschaftliche Evolution delegieren«.146

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In Umfragen erscheint die globale soziale Krise auf der Sorgenskala längst nicht mehr weit oben; schließlich hat man mit den Wirtschaftskrisen und sozialen Problemen innerhalb der reichen Länder mental schon genug zu tun. Den Globalisierungskritikern fehlt ein Resonanzboden in der Mitte der Gesellschaft.

Trotz andauernder Globalisierungs-Rhetorik ist der Westen geprägt von einem »mentalen Isolationismus« und einem »taktischen Provinzialismus«147, der ausblendet und ignoriert, was außerhalb unserer nächst­liegenden Interessen liegt.

Der mentale Isolationismus symbolisiert sich im Umgang mit dem eigenen, wohl genährten, verwöhnten Körper, der zu einer existenziellen Wichtigkeit stilisiert wird, als bestünde die Krise der Gegenwart vor allem in den Falten alternder Reicher. Gesundheit wird nicht nur zum Hauptinteresse der Bürger, sondern auch zum wichtigsten Erziehungsziel staatlicher Institutionen. Gesund und arbeitsfähig alt zu werden avanciert zu einem kategorischen Imperativ, unter dem Essen, Trinken und Rauchen zu vorrangigen Moralfragen werden. Längst beschäftigt Öffentlichkeit und Politik das Übergewicht mehr als das globale Hungerproblem. Die neurotische Angst, den eigenen Körper nicht gesellschaftsfähig genug zu stylen, zeigt das Ersatzverhalten einer Gesellschaft, die sich mit ihrer wahren Bedrohung nicht mehr konfrontieren kann. An unseren Körpern führen wir den letzten Stellvertreter-Krieg. Hier allein vermögen wir uns noch umfassend humanitär, ökologisch korrekt, sensibel und verantwortlich zu verhalten.

Gleichzeitig fördert die Information die Abstumpfung auch durch ihre mediale Qualität: Wir sind Zuschauer der globalen sozialen Katastrophe, die uns in ganz unterschiedlichen Genres von der Tagesschau-Nachricht über die Reportage, den Spielfilm bis hin zu den beliebten Benefizgalen in der Vorweihnachtszeit nahegebracht wird. Sie unterliegt damit der universalen Verwandlung aller Botschaften, all dessen, was uns etwas angehen sollte, in den Aggregatzustand des Konsumierbaren.

T.W. Adorno hat schon in den 1940er Jahren den Bedeutungswandel des Wortes »Sensation« so gedeutet: Ursprünglich bezeichnet es einfach den Sinnesreiz, der Wahrnehmung auslöst. In der Moderne wird daraus der unbedingte Reiz des Neuen, der Lust auslöst. Dabei können gerade auch die Katastrophen, die Schrecken, das Grauen Sensationen werden.148 Als Sensation ist die unerträgliche Realität ein konsumierbares »Format« geworden.

Man hat die Epoche der Moderne insbesondere seit dem Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« auch als nach-utopisches Zeitalter bezeichnet. Die großen politischen und sozialen Hoffnungs-Visionen haben sich selbst erledigt, die Gegensätze von links und rechts aneinander aufgerieben; was bleibt, ist der Streit um das Klein-Klein des Krisenmanagements. Viele empfinden das als erleichternd, haben die Utopien doch katastrophale totalitäre Energien freigesetzt. Diese freudigen Realisten übersehen allerdings, dass unsere angebliche Normalität selbst so wenig normal, nämlich im Gegenteil so katastrophal ist, dass sie des starken Geistes des Widerspruchs bedarf, um uns nicht alle in ihren Strudel zu ziehen.

Was aber, wenn uns die Kraft abhandengekommen ist, Alternativen zu denken und zu erstreben? Dann richtet sich der neue Realismus ein....

»...in dem <stählernen Gehäuse> der kapitalistischen Zivilisation im Stadium ihrer Globalisierung und akzeptiert nur, was in diesem Rahmen im egoistischen Eigeninteresse mess- und zählbar ist. Der Preis indes für diese Entwicklung - sollte sie epochenbestimmend werden - könnte hoch sein.« (149-Saage)

Wohl wissen es viele und sprechen es auch aus: »Ohne tiefgreifenden Wandel von Wirtschafts- und Lebensweise wird man nicht durch das sich gerade warmlaufende 21. Jahrhundert kommen (150-Welzer2011 Aber der diese Gesellschaft bestimmende Diskurs ignoriert dies. »Die Politik tritt auf der Stelle, weil Privilegiensicherung zum einzigen Inhalt des Politischen geworden ist. Man kann das als Diktatur der Gegenwart auf Kosten der Zukunft bezeichnen.« (150-Welzer2011)

Genau darin steckt das Apokalyptische unseres Umgangs mit der sozialen Menschheitskrise.

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