Start      Zitate     Literatur   Weiter

5.4 - Die neuen Weisen

Taxacher-2012 

 

197-202

Weisheitliche Perspektiven prägen einen nicht unerheblichen Teil biblischer Schriften, und doch tut sich die biblische Theologie immer wieder schwer mit deren Denkweise, weil sie sich nicht ohne Weiteres in das biblische Geschichtsdenken einschreiben lässt.(52) Die Weisheit unterläuft gewissermaßen die geschichtstheologische Konzentration von Deuteronomistik und Apokalyptik. Sie sucht nach gläubigen Lebensmöglichkeiten im Hier und Jetzt.

Die ursprüngliche Weisheit Israels tut dies in einer freudigen und freundlichen Integration des Weltwissens in den Glauben, indem sie schöpfungstheologisch die Naturwissenschaft und ethisch die Pädagogik in die Theologie einbezieht (Sprüche, Weisheit, Jesus Sirach). Der späteren Weisheit erscheint diese Integration naiv: Weil die Hoffnungen des Glaubens geschichtlich nicht aufgehen, treibt sie die Skepsis so weit, wie es unter der Nennung des Namens Gottes überhaupt möglich ist. Dass die Bücher Ijob und Kohelet schließlich in den biblischen Kanon aufgenommen wurden, zeigt ein Bestreben, genau diese Frage auszutragen: wie viel Skepsis biblische Vernunft aushalten kann. Die theologische Qualifikation der Gegenwart wird hier aufgehoben in die Erkenntnis, dass Geschichte stets dem Gericht verfallen ist, dass die himmelschreienden Sünden permanent um uns sind und dass es »nichts Neues unter der Sonne« gibt.

Mit dieser skeptischen Weisheit erhalten auch Melancholie und Tragik ihren begrenzten Platz auf dem Boden der biblischen Vernunft: Auch im Angesicht Gottes kann der denkende Mensch nicht anders, als einmal Zuschauer seiner selbst (Kohelet) zu sein oder als Leidender der ohnmächtig Anklagende seines schweigenden Gottes (Ijob). Darin sind sie dann der Apokalyptik wieder erstaunlich nah, ohne deren heiße Eschatologie zu übernehmen: Sie können sich nur noch zurückziehen auf ihr Überstehen und in einer Art negativen Dialektik an den Schöpfungswillen erinnern.

So ist es vielleicht doch nicht so verwunderlich, dass Jesus seine apokalyptisch begründete Reich-Gottes-Botschaft in weisheitlichen Gleichnissen verbreitete. Das müssen zu seiner Zeit schon manche apokalyptische Aussteiger ähnlich getan haben. In seinen naturalen und alltäglichen Gleichnissen - vom Samenkorn oder vom Sauerteig, von der Perle oder vom Schatz im Acker, vom barmherzigen Vater oder von dem gewitzten Schuldknecht - mitten in einer unheilen Welt stellt Jesus sprachlich dar, was er mit seinem Leben wie in einer Symbolhandlung bezeugt: Die Gegenperspektive Gottes wird, weil sie die reale Zukunft ist, einfach beim Wort genommen, mitten im Gericht eine neue Praxis der neuen Schöpfung installiert.

198/199

In Jesu unerhörter Synthese von Apokalyptik und Weisheit wird die Fixierung reiner Apokalyptiker auf den Vorhang des Gerichts und die Vertagung der Zukunft Gottes durchbrochen. So wie die ältere Weisheit fragt, wie in der theologischen Qualifikation der Gegenwart denn Alltag lebbar sei, so beantwortet Jesus die Frage, wie sogar und gerade im apokalyptischen Gericht gelebt werden kann, sozusagen ohne Rücksicht auf das Gericht aus dem Heilswillen Gottes heraus, der auch hinter dem Gericht steht.

In der modernen apokalyptischen Situation scheint dagegen vor allem die skeptische Variante der Weisheit eine naheliegende Reaktion. Wenn alles verloren ist, wie soll man sich dann im Leben einrichten? Am besten doch in einer Art melancholischen Einübung in den Tod, die alle Hoffnung fahren lässt, wie Kohelet, der »kein Glück unter der Sonne« sieht darin seine Freiheit findet, dass »er isst und trinkt und sich freut« (8,15). Die Hoffnung fahren zu lassen und die Menschheit insgesamt einfach so unabwendbar dem Tod entgegengehen zu sehen wie das Leben des Einzelnen, dies könnte als Schlag durch den gordischen Knoten unserer heutigen Verzweiflung erscheinen.

In Reinform hat Gregory Fuller eine solche moderne Skepsis dargelegt. Seine Geschichtsphilosophie ist ein universalhistorisches »Vanitas vanitatum«:

»Das Universum ist, wie es ist, und der Homo sapiens tritt kurz auf und dann wieder ab, and than he is heard no more. Den Mensch trieb es dazu, seine kleine Sinngravur in das Weltgeschehen einzuritzen. Er brachte jedoch nichts zustande als eine vergiftete Furche

Fullers Urteil über die Gegenwart ist ein apokalyptisches: »Die Endzeit bricht an.« Aber es ist eine Apokalyptik ohne biblische Vernunft nämlich ohne den Stachel des Protests, der in negativer Dialektik auf der Utopie des Schöpfungs­willens Gottes als der eigentlichen Ontologie gegen die des Status Quo und seiner Untergangsdynamik beharrt. Dagegen lehrt Fullers skeptische Weisheit das umfassende Einverständnis: »Man lerne, sich und die Welt so anzunehmen, wie sie sich nun einmal entwickelt hat. Die Entwicklung mag schlecht sein, aber gab es eine Alternative? Nein.«(53)

199/200

Exakt in dieser Alternativlosigkeit trennt sich Fuller von der biblischen Vernunft. Es geht nicht einfach darum, dass hier - wie Theologen stets als Erstes feststellen - Gott fehlt. Die biblische Vernunft funktioniert auch nicht so, dass sie der Welt- und Geschichtserkenntnis einfach Gott hinzufügt. Dann wäre ja immer noch die Frage, um welchen Gott es sich handelt - und es ist durchaus ein Gott des universalen Einverständnisses und der melanchol­ischen Weltüberwindung denkbar. Für dessen Theologie wäre dann die Situation säkularer Apokalypse kein Anlass, vom Gericht zu sprechen, sondern von einer Art unsanften letzten Pädagogik Gottes, die uns lehrt, was wir längst hätten begreifen sollen: dass es auf diese Welt überhaupt nicht ankommt.

Fullers Skepsis gibt sich nicht in dieser Weise religiös, ist aber im Ergebnis von einer solchen fröhlichen Weltentsagung nicht weit entfernt. Wie meine Analyse erkennt auch Fuller, dass Pessimismus erstmals keine philosophische Entscheidung mehr ist, sondern das Ergebnis der Tatsachen, ein neuer Realismus. »Ich stelle nur fest. Die neue Hoffnungslosigkeit ist eine Reaktion, eine Antwort auf das Unabwendbare.«

Aber die Hoffnungslosigkeit ist dann doch nicht einfach eine Feststellung, sondern eine Lösung: Wir sollen deshalb »der Hoffnung entsagen, damit unsere Seelen Frieden finden«. Fuller spricht ganz offen aus, dass dies eine psychologische Lösung ist. »Ich leugne es nicht: Die Akzeptanz entpuppt sich als Mantel des Selbstschutzes.«(54)

Durch Fuller sehe ich meine Analyse von Melancholie und Tragik angesichts der apokalyptischen Situation bestätigt. Ich habe darin eine Haltung gesehen, die aus einer Distanzierung von der ethischen Situation entspringt, in der wir als verantwortliche Subjekte stehen. Genau das fordert Fuller: »Man lerne, Distanz zu gewinnen.« Wenn aber in der Distanz der Schrecken der Apokalypse vergeht, dann doch deshalb, weil sie nicht den äußeren Schrecken ändert, wohl aber den inneren, den unseres Gewissens beseitigt.

Fuller will ausdrücklich »keine Moralphilosophie«.55 Er geht sogar so weit, den Kampf gegen die Katastrophe radikal zu destruieren: »Ökologisch sich verhalten heißt, den Gattungstod verzögern.«(56) Aber nur, wer »das große Schauspiel von der Vogelwarte aus betrachtet, lebt in relativer innerer Harmonie. Wer das evolutionäre Ende mit Grazie hinnimmt, hört die sich steigernde Schlusskakophonie angstfrei.« Das ist Fullers Ziel: »Ich überlasse mich der Ruhe der Resignation.«(57)

Natürlich ist Fullers Philosophie eine aus der Perspektive der Reichen, der letzten - und nicht der ersten - Opfer der Katastrophe. Nur die Reichen genießen das Privileg, der Apokalypse aus der Vogelperspektive und gar »mit Grazie« zuzuschauen. Der moderne Stoiker sitzt im Wohnzimmer und beobachtet, wie draußen die Welt untergeht.

Die moderne skeptische Weisheit angesichts der säkularen Apokalypse hält die Höhe biblischer apokalyptischer Vernunft nicht, weil sie mit ihrem melancholischen Einverständnis deren Grundintention aufgibt, die Menschheits­geschichte am Negativ unseres Ungenügens zu messen. Weisheit auf dem Boden der biblischen Vernunft kann durchaus mit viel Skepsis und Pessimismus einhergehen, aber sie kann sich nicht den Schmerz ersparen, der aus ihrer Voraus-Setzung eines anderen Sinns der Wirklichkeit entspringt. Sie kann nicht einfach einverstanden sein damit, dass alles den Bach hinuntergeht.

Es gibt die moderne Weisheit durchaus auch in religiöser Variante. Der Kulturpessimist Oswald Spengler hat einer solchen neuen religiösen Weisheit sogar eine große Karriere vorausgesagt, wenn die Dynamik des neuzeit­lichen Fortschritts­optimismus einmal aufgebraucht sei. Dann führe von...

»der Skepsis ... ein Weg zur <zweiten Religiosität>, die nicht vor, sondern nach der Kultur kommt. Man verzichtet auf Beweise; man will glauben, nicht zergliedern. Die kritische Forschung hört auf, ein geistiges Ideal zu sein.«58

Das klingt, als habe Spengler die postmoderne Esoterik beschrieben. Diese neue Weisheit angesichts der apokalyptischen Situation nimmt aber nicht nur von der Kritik Abschied, sondern auch von der Geschichte. Sie verabschiedet sich damit von dem Hoffnungs-Gegen-Stand biblischer Vernunft und definiert mitunter sogar die Religion gerade aus diesem Abschied - so wie Eugen Drewermann, der gegen die unheilvolle politische Tradition des Christentums die Wahl »der träumenden Duldsamkeit des Religiösen«59 empfiehlt. Hoffnung auch in der Resignation wird hier erhalten, indem die Hoffnung das Terrain räumt das in der Entstehung der biblischen Vernunft einmal das ihre war, auf dem sie sich selbst überhaupt erst bewusst wurde.

Bewusstwerdung ist auch das Stichwort, mit dem sich das prekäre Verhältnis von Apokalyptik und Weisheit erfassen lässt: Wo sich Vernunft ihrer selbst und ihres besonderen Weges bewusst wird, da ist - wie schon die biblischen Schriften zeigen - eine gewisse Selbst-Distanz, ein Wechsel in eine Vogelperspektive unausweichlich. Wenn also Weisheit der Reflexion biblischer Vernunft auf sich selbst entspringt, dann verursacht sie unweigerlich eine innere Krise dieser Vernunft. Biblische Vernunft entdeckt so die Kritik biblischer Vernunft.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass angesichts der säkularen apokalyptischen Situation die Weisheit die Gestalt einer skeptischen Kritik am Geschichtsparadigma der Offenbarung annimmt. Angesichts des drohenden großen Scheiterns wird die theologische Selbstreflexion auch ihre eigene Verwicklung in unser Scheitern reflektieren. Sie wird sogar die biblische Vernunft selbst verdächtigen, mit ihrer Fixierung auf Geschichte einen Grund für deren ausweglosen Verlauf gelegt zu haben. Noch steht die Theologie erst am Anfang, die biblische Vernunft für ihre eigene Kritik in Anspruch zu nehmen, in ihr die Spuren des Verhängnisses und die Fingerzeige der Rettung zu unterscheiden.

Praktisch, als Lebensform, wird sich solche Weisheit in der apokalyptischen Situation der Gegenwart eher unauffällig geben. Sie wird der Geist sein, der modernen Deuteronomisten ihre Gradwanderung wischen Aktivismus und Verzweiflung ermöglicht. Sie wird modernen Apokalyptikern prophetische und symbolische Kraft geben, die keiner sektiererischen oder zynischen Selbststilisierung bedarf. Sie wird oft einfach in der Konsequenz bestehen, mit der Einzelne auch das Private als politisch begreifen und hier, bei ihren Nächsten, wo sie tatsächlich keine Entschuldigung der Ohnmacht haben, real und symbolisch für das einstehen, was sie im Großen nicht werden retten können. Theologisch gesagt, ist diese Weisheit die Wirkung des Geistes Gottes, dessen Gegenwart auch für die Apokalypse der Welt verheißen ist, auch wenn von seiner Verdunkelung in solcher Zeit die Rede ist.

202

#

 

 

www.detopia.de    ^^^^