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1.2 - Geschichte als Schicksal   aus der Verlagsleseprobe

 

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Schicksal ist etymologisch das, was geschickt wird, gebracht oder zugeteilt, und was uns trifft.(5) Wir haben es also nicht selbst gemacht, sondern es kommt von außen, von oben, mit größerer oder höherer Notwendigkeit als der unserer eigenen Taten. Diese sind kontingent, willkürlich, zufällig.

Aber wenn sich in der Geschichte eine große Kontinuität zeigen lässt - ein ewiger Kreislauf, ein ständiger Fortschritt oder ein unaufhaltsamer Niedergang - dann waltet in der Gesamtgeschichte ein Schicksal, das uns selbst übersteigt und in sich aufhebt, und das uns zugleich erklärt - als kleinen Punkt, als einen Eintrag im Gesamtgeschehen.

  2.1   Kreisläufe  

Das schicksalhafteste Bild von Geschichte ist das des ewigen Kreislaufs. Häufig wird es mit asiatischem Denken identifiziert - und tatsächlich bezeichnet der Religionswissenschaftler Mircea Eliade die Vorstellung von periodischem Untergang und Wiedererstehen des Kosmos als "pan-indisch".(6) In der Theologie der hinduistischen Brahmanen wird die göttliche Schöpferkraft Prajapati erschöpft, je länger die Schöpfung besteht - deshalb bedarf es der Opfer, durch die die Welt immer wieder erneuert wird.     wikipedia  Mircea_Eliade  1907-1986

In der tibetanischen Mythologie gab es am Anfang der Schöpfung eine paradiesische Periode, in der die Götter bei den Menschen wohnten. Dämonen brachten jedoch das Übel auf die Welt und die Götter zogen sich in den Himmel zurück. Hunderttausend Jahre wird die Welt immer schlechter. Das klingt nach einem Schema des Niedergangs. Doch nach dem Tiefpunkt der Gottlosigkeit werden die Götter wieder erscheinen und auch die Toten werden auferweckt und die Geschichte beginnt von neuem.

Eine ganz ähnliche Vorstellung findet sich nicht in Asien, sondern im alten Ägypten. Auch hier gibt es ein goldenes Zeitalter zu Beginn, auch hier müssen Kult und die gute Regierung des Pharao die Weltordnung - Maat genannt - stets erneuern und erhalten, aber auch hier gibt es ein Altwerden der Welt, dem ein Neubeginn folgt.

Der Kosmos insgesamt folgt dem Gesetz von Jahreszeiten. Auch im altgriechischen Denken lösen „Aufstieg und Niedergang, Wachsen und Welken unweigerlich einander"(7) ab. Das Kreislaufdenken lässt sich bei den Vorsokratikern finden, aber auch die römischen Stoiker wie Cicero und Seneca sehen ihre alt gewordene, dekadente Welt vor einem Untergang, der reinigend wirkt und nach der Katastrophe einen neuen Anfang verheißt.

Die Geschichtsschreiber haben die mythische Vorstellung rationalisiert, indem etwa Isokrates anhand der Geschichte Athens einen Kreislauf von Aufstieg, wachsender Stärke, dadurch wachsender Dekadenz, Verweichlichung und schließlich Verfall erkennt. Polybios und auch Aristoteles zeichnen einen Kreislauf der Verfassungen, in dem das Königtum zur Tyrannis tendiert, von der Aristokratie gestürzt wird, sich zur Demokratie entwickelt, die durch ihre anarchischen Tendenzen schließlich wieder in eine Alleinherrschaft mündet.

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In diesen rationalen Theorien der frühen Historiker deutet sich schon eine andere Gestalt des zyklischen Denkens an: Entmythisiert man den Kreislauf, so bleibt die Stagnation, Das Rad der Geschichte dreht sich, aber es ändert sich eigendich nichts - „Was geschehen ist, wird wieder geschehen. Was man getan hat, wird man wieder tun. Es gibt nichts Neues unter der Sonne", sagt der biblische „Prediger Salomo" (Kohelet 1,9) in hellenistischer Zeit.

Der muslimische Historiker Ibn Khaldun sekundiert eineinhalb Jahrtausende später, es ähnele „doch die Vergangenheit der Zukunft wie ein Wassertropfen dem anderen."(8) Dies ist im Grunde bis heute das Bekenntnis jener Geschichtsphilosophen geblieben, die jeder Geschichtsphilosophie skeptisch gegenüber stehen.  wikipedia  Ibn_Chaldun  *1332 in Tunis

Einen klassischen Ausdruck hat Johann Wolfgang Goethe dieser Haltung gegeben. Geschichte ist ihm einerseits ein Friedhof von Irrungen und Wirrungen, andererseits eine Asservatenkammer des immer gleichen Menschlichen. Im Grunde liefert Goethe Variationen zur Weisheit Kohelets: Alles hat seine Zeit, es gibt nichts wirklich Neues, und deshalb auch kein Ziel, keine Teleologie, keinen Sinn - außer den des Individuellen, des unendlichen Bemühens, in allem Elend seine eigene Gestalt, seine eigene Geschichte, wenn es gut geht: seinen Stil auszubilden und so melancholisch dem Sturm des Ganzen zu trotzen. "Die Zeitalter sind sich immer gleich geblieben", was zählt, sind allein "die echten Menschen".   wikipedia  Kohelet

Einer ähnlichen zyklischen Melancholie huldigt auch die einflussreiche Außenseiter-Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers.

Meist wird er allerdings als Künder von Niedergang und Dekadenz angeführt, weil er eben den sprichwörtlich gewordenen <Untergang des Abendlandes> geweissagt hat. Aber dieser Untergang ist in Spenglers Geschichts­philosophie doch nur einer unter anderen. Er meint ihn sicher ausrechnen zu können, weil er die „Morphologie" der Weltgeschichte entziffert hat: Alle Kulturen verhalten sich wie Pflanzen, sie keimen auf, wachsen, entfalten sich, altern, verblühen und gehen ein.

Der Gedanke ist nicht originell; im 19. Jahrhundert hatte ihn schon Ernst von Lasaulx zur Grund seiner Geschichtsbetrachtung gemacht.(9)  wikipedia  Ernst_von_Lasaulx  1805-1861

Originell ist die innere Charakteristik der Kultur bei Spengler. Für ihn ist es die Sehnsucht jeder Kultur nach Unvergänglichkeit selbst, die ihren Untergang schafft: Diese "Sehnsucht ... wird zur Angst" vor dem Tod. So ist jede "Kultur ... ein Zeichen verlorner Unschuld des Daseins", Ausdruck verlorener Unmittelbarkeit des Lebensgefühls.

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Das Leben selbst kennt keine Geschichte und so auch kein Ende. Erst indem Menschen bewusst Geschichte machen, schaffen sie, "was alle Kultursprachen Zeit nennen. ... Mit dem Bilde der Zeit wurde das Wirkliche zum Vergänglichen."(10) Während das Leben weitergeht, haben Kulturen deshalb jeweils ihre Zeit. Es gibt also auch für Spengler keine Gesamtteleologie der Weltgeschichte, sondern jede Kultur stellt eine eigene kollektive Individualität dar, die sieh auslebt und stirbt. Das Ganze ist zyklisch und statisch zugleich.

Im Anschluss an Spengler und seinen optimistischeren, christlichen Nachfolger Arnold Toynbee hat Franz Borkenau - ein weiterer geschichtsphilosophischer Außenseiter des 20. Jahrhunderts - Aufbau und Zerfall von Kulturen als notwendigen Phasenwechsel beschrieben: Zivilisatorischer Fortschritt produziert „Tendenzen zu Zersetzung und Chaos" und führt deshalb in Krisenperioden. Aber Fortschritt ist ohne diesen Preis nicht zu haben. Dabei ist keine Phase gegen die andere - als gute alte Zeit gegen den Niedergang - auszuspielen. Letztendlich ist "alle Kultur tragisch, denn alle Kultur muss mit dem Aufgeben primitiver Tröstungen der menschlichen Seele bezahlt werden."(11)

Was die Tragiker der Moderne geschichtsphilosophisch begründen, haben manche Mythen in ihren Bildern schon vorweggenommen — sogar die biologistische Metaphorik: So erzählt die spätgermanische Mythologie um die Zeitenwende das archaische Bild vom Weltenbaum, aus dem der Kosmos herauswächst, so weiter, dass die Wurzeln dieses Baumes in einem unteririschen Brunnen tauchen, in dem sich das Schicksal versteckt. In ihm ist Menschen und Göttern und schließlich auch der Welt insgesamt ihr Ende schon vorbestimmt. „Der Baum - das heißt der Kosmos - kündigt durch sein Erscheinen selbst den Verfall und letztlich den Ruin an"(12), nach dem er in einem neuen kosmischen Zyklus jedoch wiedererstehen kann.

 

    Niedergang  

Die Melancholie des Kreislaufs und der Stagnation kann allerdings leicht umschlagen in eine Theorie der Dekadenz, des Niedergangs. Merkwürdigerweise begleitet die Menschheit ein Bewusstsein, in einer späten, alt gewordenen, untergehenden Welt zu leben, seit sie über ihr Geschichtsbewusstsein Aufzeichnungen macht. "Das Dekadenzbewusstsein ist die früheste nachweisbare Geschichtsphilosophie".(13)

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Für unser Geschichtsbewusstsein besonders prägend geworden ist die griechisch-römische Version dieser Dekadenztheorie.

Gleich zu Beginn einer schriftlichen Systematisierung der griechischen Mythologie hat Hesiod die Geschichte von den fünf Menschengeschlechtern überliefert. Deren erstes lebte an der Seite der Urgötter, ohne Krankheit und Alter im sprichwörtlich gewordenen goldenen Zeitalter. Die darauf folgende silberne Menschheit vernachlässigt sträflich die Verehrung der Götter und wird deshalb von Zeus vernichtet. Der ersetzt sie durch ein Geschlecht aus Erz, riesenhafte Kriegergestalten, die sich selbst in die Unterwelt befördern.

Ihnen folgen die alten Helden der homerischen Zeit, sie sind inzwischen aber entrückt und bewohnen die fernen Inseln der Seligen. Hesiods Pointe besteht darin, dass die heutige Menschheit mit diesen Vorgängern nichts zu tun hat. Sie erklären nicht, wie wir geworden sind. Hesiod beschreibt auch nicht die Entstehung des fünften Geschlechts. Er beklagt es nur: „Müsste ich doch unter dem fünften Geschlecht nicht leben auf Erden." Denn es ist geprägt von Mühsal und Elend; Brüder lieben einander nicht; selbst die alternden Eltern werden nicht geehrt; es gibt keine Scham und die Faust spricht Recht.

Hesiod erzählt also eine Geschichte des Niedergangs, die aber eigentlich gar keine Geschichte ist, denn es gibt keinen wirklichen Zusammenhang zwischen uns und den früheren Geschlechtern. Schicksalhaft finden wir uns im letzten Glied der Schöpfungskette wieder, und deshalb auch ausweglos. An anderer Stelle, im Mythos von Prometheus, erzählt Hesiod eher eine Ursache für das gegenwärtige Elend: Prometheus hat den Menschen nicht nur das Feuer gebracht, er hat auch bei der Erfindung des Opferkultes die Götter betrogen. Die erhalten nur die fettüberzogenen Knochen, die Menschen behalten das Fleisch für sich. Als Rache für diesen Schachzug schickt Zeus den Menschen die schöne Pandora mit ihrer fatalen Büchse. Hier entspringt alles Elend der Welt einem Machtkampf zwischen dem Herrschergott Zeus und dem Halbgott Prometheus, an dem die Menschen gewissermaßen nur indirekt Anteil haben. Nach einer späteren Tradition hat Prometheus die Menschen sogar selbst geformt, sie sind also gewissermaßen Figuren seines Machtwillens« Ihr Schicksal ist ein tragisches.

Jahrhunderte später hat der römische Dichter Ovid die Geschichte von den Weltzeitaltern wieder aufgenommen. In seiner Version liest sich der Niedergang der Weltzeitalter fast schon wie eine Zivilisationskritik á la

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Jean Jaques Rousseau: In der goldenen Zeit lebten die Menschen „ohne Gesetz, von selbst bewahrte man Treue und Anstand, ,.. Soldaten bedurften die Völker nicht."

Selbst die Erde war „vom Dienste befreit, nicht berührt von der Hacke, unverwundet vom Pflug, gewährte sie jegliche Gabe". Das goldene Zeitalter ist also das einer natürlichen, friedlichen Anarchie und eines ökologischen Schlaraffenlandes. Erst im silbernen Zeitalter „suchte man Obdach: die Häuser bestanden aus Höhlen", und jetzt erst „warf man den Samen in längliche Furchen, und es stöhnten die Stiere, die jungen, vom Joche geknechtet." Hier ist eine regelrechte Kulturtheorie gedichtet: Das Paradies endet, indem der Mensch sich eine notdürftige künstliche Umwelt schafft, indem er Pflanze und Tier zu domestizieren beginnt und sich so aus der Natur entfremdet.

Aber warum geschieht dieser Bruch? Ovid spricht von keinem Sündenfall, sondern davon, dass Jupiter die Herrschaft vom gestürzten Saturn übernimmt und die Jahreszeiten einführt: harte Winter, heiße Sommer, wetterwendische Herbste und kurzer Frühling. Es ist also eine durch die Revolution in der Götterwelt ausgelöste Klimakatastrophe, die das goldene Zeitalter beendet. Die Austreibung aus dem Paradies ist für die Menschen von oben verhängtes Schicksal. Unter diesem Schicksal wandeln sich die Menschen zur Eisenzeit und fallen noch tiefer. Ovid verbindet diesen Verfall sehr modern mit dem Beginn der Industrie, nämlich des Bergbaus - "in der Erde Tiefe drang man, die Schätze zu graben, Lockmittel des Bösen" - und mit der Entstehung des Privateigentums: "Und der Boden, der früher Gemeingut war wie die Lüfte und wie das Licht, jetzt ward er genau mit Grenzen bezeichnet."

Philosophen und Historiker haben schon in der Antike diese mythische Sicht auf Geschichte als Niedergang rationalisiert. Spenglers Vorstellung vom Wachsen, Leben und Altern der Kulturen gewissermaßen vorweg­nehmend, deutete man Geschichte nach dem Gleichnis der Lebensalter. Dabei ist der Niedergang keine einfache Rutschbahn, sondern eine natürliche, schicksalhafte Kurve. "Jeder Körper, jeder Staat, jede Handlung hat ihre naturbedingte Zunahme bis zum Gipfelpunkt, und dann folgt der Niedergang wie in der belebten Natur."(14) Diese Vorstellung findet sich insbesondere bei römischen Schriftstellern, die - wie etwa Sallust oder Seneca - damit dem römischen Reich den Spiegel seiner Dekadenz vorhielten. Aber das Motiv ist älter und taucht offenbar gerade dann gern auf, wenn in der Gegenwart das Bewusstsein aufkommt, einen politischen Höhepunkt überschritten zu haben.    wikipedia  Sallust  -86 bis -34

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So sah auch Platon den Sieg der Griechen über die Perser als einen kritischen Höhepunkt der Athener Macht an, nach dem der Abstieg eingesetzt habe. Als Symptome nennt er die geradezu zum Allgemeinplatz gewordene "degenerierende Wirkung des Luxus", aber neben dem "politisch-moralischen Niedergang" auch ökologische Warnzeichen wie "die Verkarstung der Landschaft."(15) Platon deutet den historisch zu beobachtenden Niedergang als Symptom der grundlegenden Ferne der Welt zu ihrem göttlichen Ursprung, die mit der Zeit zunimmt. Allerdings erwartet Platon auch, dass Gott zur Erhaltung der Welt wieder eingreift und den Kosmos wieder auf Spur bringt. Niedergang und Zyklus liegen also auch hier nahe beieinander.(16)

Die Theorie der Dekadenz ist seit der Antike nicht auf das Abendland beschrankt; Im "fernen Osten" fußt die gesamte Lehre des Konfuzius auf der These, dass die "früher vorhandene, mehr oder weniger als ideal angesehene Ordnung durcheinander geraten ist". Konfuzianismus ist seither eine Lehre von immer wieder versuchter Rückkehr zum Ideal der Vergangenheit.(17)

Im "nahen Osten" hat der nordafrikanische Gelehrte Ibn Khaldun im späten 14, Jahrhundert das Gleichnis von der Lebenskurve für die politischen Gemeinwesen geradezu wissenschaftlich systematisiert. Der arabische Historiker nimmt als ideale Ursprungszeit nicht eine mythische Vorzeit, sondern die nomadische Vergangenheit der arabischen Wüstenbewohner. Ihr anspruchsloses, unzivilisiertes Leben einerseits und die Gruppensolidarität der Clans und Stämme andererseits seien ihre Stärke gewesen, aus der heraus sie zu Eroberern und Reichsgründern wurden.

Für Khaldun zeigen "Nomaden im Vergleich zu den sesshaften Leuten weitaus weniger böse Handlungsweisen"(18); sie stellen also in aller Kargheit eine Art guten Naturzustand dar: „Sie sind der primär anerschaffenen Art näher." Trotzdem sieht Khaldun in der "Seßhaftigkeit das Endziel der Kultur" - aber eben auch den "Ausgangspunkt ihrer Zersetzung sowie das Endziel des Bösen."(19) Geschichte ist also ein unentrinnbares Dilemma: Kultureller Fortschritt ist durchaus begrüßenswert, aber gleichzeitig trägt er den Keim seiner Zersetzung in sich: "Dynastien haben, wie Individuen, eine natürliche Lebensdauer."(20)

Der gläubige Muslim Khaldun sieht wohl in der Offenbarung an Mohammed und in der Zeit der muslimischen Urgemeinde das einzigartige Erbe der arabischen Welt. Aber als historischer Rationalist weiß er diese Zeit als unwiederholbar und baut seine Theorie der Geschichte nicht auf der Religion auf, sondern auf einer geradezu soziologischen Analyse politischer Einheiten.

Auf die Eroberungsphase der Nomadenstämme folgt die Gründung von Dynastien, von Städten und Reichen.

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Die Klientelpolitik der Herrschenden muss ihre alten Unterstützer versorgen, dazu muss nach der Phase der Siege nun durch die Ausbeutung der Untertanen, durch immer höhere Steuern gesorgt werden. Das lässt den alten Zusammenhalt verfallen. Khaldun unterscheidet nach dem Sieg die Phasen Herrschaft, Muße und Ruhe, Genügsamkeit und Friedfertigkeit, schließlich Maßlosigkeit und Verschwendung.(21)

Durch diese Dekadenz werden die alt gewordenen Reiche anfällig für inneren Umsturz oder äußere Eroberung, "weil die Gruppensolidarität sich zersetzt hat und den Leuten der Mut entschwunden ist."(22)

Die "Zeichen des Zusammenbruchs" und „chronischen Krankheiten der Altersschwäche" zeigen sich in den „Angewohnheiten von Luxus, sesshaftem Leben, Unbeweglichkeil, Ruhe und Verweichlichung in allen Bereichen."(23) Diese Einsicht schöpft Khaldun nicht nur aus seinen historischen Studien, sie spiegelt auch seine Reflexion der Gegenwart: Denn zu seiner Zeit überrennen türkische und mongolische Reitervölker die etablierten arabischen Reiche, so wie diese einst das Erbe der Byzantiner und Perser übernahmen.

Khalduns Melancholie des Niedergangs der Reiche, sobald sie ihren Höhepunkt erreicht haben, war auch im osmanischen Reich beliebt: Sie beeinflusste über 200 Jahre später die Werke der Geschichtsschreiber Mustafa .'Mi und Katib Celebis, Für letzteren zeichnet sich die Altersperiode von Imperien vor allem durch die Dominanz des militärischen Apparates aus.24 Solche Melancholie ist für Intellektuelle in Gesellschaften mit reicher Vergangenheit und in Zeiten des Umbruchs geradezu typisch. „Ich empfinde mich am Ende einer alten, dominanten Zivilisation", noüert auch Fernando Pessoas Hilfsbuchhalter Bernardo Soares.2* Die Theorie von den verweichlichten Kulturen, die Opfer der noch aggressiven Barbaren werden, ist - ganz unabhängig von Khaldun - geradezu ein Klischee der Kulturkritik und seit dem 19, Jahrhundert auch rechtsgerichteter Politik geworden.

Gegenwärtig erfreut sich das Geschichtsschema vom Niedergang vor allem durch die ökologische Krise einer Renaissance. Gerade die Erfolgsgeschichte des Menschen erscheint nun nicht mehr als Aufstieg, vielmehr erblickt man "einen Weg in die wachsende Naturentfremdung" und ahnt, "dass sich durch die gesamte menschliche Geschichte ein dunkler Grundton von ökologischem Niedergang zieht."(26)

Autoren, welche die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Menschen in solch eine universalhistorische Perspektive stellen, neigen dabei zum Paradigma des Schicksals. Mit Friedrich von Hayek ahnen sie pessimistisch, "unsere Zivilisation sei uns einfach passiert."

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Wer reflektiert, wie allmählich und unmerklich die Menschheit in ihre Situation hineingeschliddert ist, der sieht auch, "wie überflüssig die Suche nach dem Schuldigen ist. Niemand trägt Schuld."(27) Schließlich haben Menschen über Jahrtausende die Folgen ihres Handelns an der Natur nicht abschätzen können: "Wir haben das alles als Schlafwandler getan."(28) Der Keim des Niedergangs steckt eben schon in den Anfängen humaner Evolution. "Die Geschichte der Menschheit war immer die Geschichte der Ausbeutung der Natur und damit der Anfang vom Ende."(29) Die Frage, wie wir geworden sind, was wir sind, erübrigt sich. Wir sind eben so, wie wir sind.

Evolutionsbiologen mögen dieses ausweglose Fazit sogar weit hinter den Beginn der Menschheitsgeschichte zurück verlegen. Dann könnte das verlorene Goldene Zeitalter gar mit dem Präkambrium identisch sein, als das Leben in symbiotischen Flechten und Bakterien bestand, die sich in ungeschlechtlicher Zellteilung fortpflanzten.

"Man hat jene Welt auch den <Garten Ediacara> genannt, worin die Vorstellung von der <Zeit vor dem Sündenfall> mitklingt, von dem ab echte Tiere auftauchten — Räuber und Ausbeuter, die, von Sexualität und Aggression getrieben, mit ihrer Flegelhaftigkeit den symbiotischen Frieden der Urzeit zunichte machten."(30)

Dieser "Sündenfall" hätte sich dann schon vor etwa 550 Millionen Jahren angebahnt, in der sogenannten Kambrischen Revolution, in der erstmals maritime Raubtiere auftreten und die "Kettenreaktion eines evolutionären Wettrüstens" auslösen.(31) So lässt sich auch die gesamte Evolution, diese naturwissenschaftliche Grundlage des Fortschrittsdenkens seit dem 19, Jahrhundert, in einem Niedergangsschema lesen. Dann hätte ein Goldenes Zeitalter unter den Menschen nie eine Chance gehabt und Darwin wäre wider Willen ein Untergangsprophet.

 

 Fortschritt  

 

Ein neues Schema

Im Gegensatz zu den von den Anfängen der mythischen Geschichtsreflexion bis heute immer wieder erneuerten Paradigmen von Kreislauf und Niedergang ist der Fortschritt keins ihrer Grundmotive vor Beginn der europäischen Neuzeit. Diese These ist nicht unumstritten. Denn natürlich haben etwa die antiken Griechen ein Bewusstsein "von den Anfangen der zivilisatorischen Entwicklung", wissen "um die Verbesserung der Lebensumstände, die Perfektion der Technik und namentlich um die Vermehrung des Wissens."(32)

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Aristoteles etwa beschreibt die Entfaltung der menschlichen Gesellschaft von den primitiven familiären Anfängen bis zur Stadt, von Barbaren und Naturvölkern bis zur verfeinerten Kultur, als Entfaltung der Natur zu den in ihr angelegten Möglichkeiten.

Aber genau in diesem Modell verbirgt sich der Unterschied zum modernen Fortschrittsdenken. Denn was die Natur entfalten kann, liegt von Anfang an fest. Fortschritt ist bei Aristoteles zwar nicht mehr wie bei seinem Lehrer Platon "ein ursprüngliches tragisches Fortgeschrittensein aus der angestammten himmlischen Heimat" - also eigentlich ein Niedergang -, aber doch nur "die Entwicklung der eingewickelten Spannung des Möglichen in die zutage getretene Verwirklichung."(33) Damit ist deutlich, dass Aristoteles wie viele andere antike Autoren das Ziel, den Telos dieser Entwicklung in der eigenen Gegenwart sieht. Die antiken Zivilisationstheorien sind also Äitiologien der eigenen Kultur, keine Theorien eines offenen, unendlichen Progresses.

Auch spätere, mittelalterliche Autoren wie etwa der schon erwähnte arabische Historiker Ibn Khaldun kennen einen notwendigen Aufstieg der Zivilisation, aber keine Fortschrittsdynamik als Grundrichtung der Geschichte. Khaldun glaubt, darin optimistischen Aufklärungs-Philosophen recht nah, dass der Mensch "in seinen natürlichen Anlagen und seiner rationalen Verstandeskraft den guten Eigenschaften näher als den schlechten sei", denn das Böse sei nur "Ausfluss der ihm auch innewohnenden animalischen Kräfte."

Diese werden in der Zivilisierung gebannt, indem sich die Menschen - ganz ähnlich wie in der aufgeklärten Theorie von Gesellschaftsvertrag! - „zusammenschließen", durch Regierung die „Anarchie" überwinden, die mit „Ungerechtigkeit und Gewalt gegeneinander in der animalischen Natur liegen."(34)

Trotz dieser optimistischen Perspektive einer Kultivierung des Wilden im Menschen sieht Khaldun, wie gezeigt, das Schicksal der Kulturen und Reiche nicht in dauerhaftem Aufstieg, sondern in ihrer Entfaltung, im Überschreiten des Höhepunkts und dann in notwendigem Verfall. Der Zivilisationsprozess ist also für Khaldun ein Rückblick, er ist abgeschlossen und kein Programm für die Zukunft.

Häufig wird darauf verwiesen, dass mit dem Christentum das zyklische Denken der heidnischen Antike ersetzt worden sei durch ein lineares Geschichtsbild, durch eine große Erzählung, die von der Schöpfung bis zur Erlösung und zum endgültigen Reich Gottes fuhrt. Daran ist sicher richtig, dass schon die biblische, jüdische Heilsgeschichte, dass Messianismus und Endzeiterwartung einen neuen Rahmen und einen neuen Akzent in das Geschichtsbild gebracht haben.

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Darin einen direkten Vorläufer der modernen Vorstellung von der Weltgeschichte als eines Fortschrittsprozesses zu sehen, stellt jedoch eine schlechte Vereinfachung der Forschungen von Karl Löwith dar. Die Geschichtstheologie des Augustinus etwa, die für die westliche kirchliche Tradition maßgeblich wurde, zeigt bis zum Ende der Welt den gleichbleibenden Kampf zwischen irdischem Abfall und göttlicher Gnade. Deshalb spielen „Dekadenz und Fortschritt im Geschichtsdenken Augustins keine Rolle." - „Ebenso fern steht frühchristlicher Anschauung der Gedanke einer Entwicklung der Menschheit."(35)

Das bleibt auch lange so: Der kirchlichen Mission zur Erziehung der Menschheit zu Christus steht die Erwartung des Antichrists und seines wachsenden Erfolgs gegenüber, der Hoffnung auf das Reich Gottes die Schrecken der ihm vorangehenden Apokalypse. Die Zukunft ist zwar von Gott vorherbestimmt und in seiner Hand und wird deshalb am Ende das Heil bringen. Aber dieser Glaube ist „nicht von dieser Welt" und lässt sich deshalb nicht sozusagen profangcschichtlich hcruntcrbrcchcn.

Erst in der Neuzeit ändert sich das. Das Wesentliche der menschlichen Geschichte liegt jetzt erstmals in der Zukunft, In der Aufklärung findet man zu diesem Optimismus empirische und philosophische Beweise, Fortschritt ist jetzt nicht mehr Schicksal der Menschheit, sondern das Gesetz ihrer Entwicklung. Ihr Weg sind laut dem Marquis de Condorcet — einem adligen Anhänger und Opfer der französischen Revolution — Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Ihr Ziel ist das „Menschenglück", das die Globalisierung auch zu den Kolonialvölkern bringen wird.

Am Ende steht eine vollkommene Welt, das Elysium. v> August Comte hat im 19. Jahrhundert das antike Gleichnis von den Lebensaltern aufgegriffen und auf das neue Fortschrittsbewusstsein umgedeutet: Der Kindheit der Menschheit entspricht ihr Verharren in der Religion, der Jugend ihr Aufbruch in die Philosophie, dem Erwachsensein die moderne Naturwissenschaft. Senilität und Tod fallen bezeichnenderweise aus. „Der Fortschritt vollzieht sich nach Comte ... mit naturgesetzlicher Notwendigkeit."17

Indirekt an Comtes Versuch, die Aufklärung in Wissenschaft zu überführen, orientieren sich zeitgenössische Entwürfe, die trotz aller (post-) modernen Anfechtungen an der neuzeitlichen Gewissheit des Fortschritts festhalten.

Ich möchte sie ihrer Grundlage und Tendenz nach naturalistische Fortschrittsphilosophien nennen — und hier kurz streifen,

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um zu zeigen, dass Fortschrittsdenken nicht einfach von gestern ist.

Seine Verteidiger versuchen ihn heute gegen die verbreitete Skepsis mit Statistik zu belegen. So tritt der Evolutionspsychologe Steven Pinkerden Beweis an, dass die Menschheit im Lauf der Geschichte zunehmend friedlich geworden sei.38 Trotz der modernen Weltkriege und Völkermorde sei insgesamt die Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, von 15 Prozent in der Steinzeit und der Zeit der frühen Kulturen auf unter 1 Prozent in der Moderne gesunken.

Der Geograf und Evolutionsbiologe Jared Diamond bestätigt diesen Befund mit Blick auf heute noch existierende traditionelle Gesellschaften von Jägern und Sammlern oder Bauern ohne staats-ähnliche Organisation: Die andauernden Kleinkriege in diesen Gesellschaften fordern proportional zur geringen Bevölkerung deutlich mehr Opfer als die großen Kriege der Zivilisationen.xxx

Hauptgründe dafür sind für Pinker wie für Diamond die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und der Prozess der Zivilisierung durch die Aufklärung, der Gewalt zunehmend ächtet, unsere Blendung durch die großen Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts sei also aufs Ganze gesehen eine statistische Täuschung,

Kritiker Pinkers verweisen zum einen auf den unsicheren Boden seiner Statistiken, welche alte Chroniken mit ihren bekanntermaßen oft völlig übertriebenen Opfcrzahlcn einfach mit modernen Rrhcbungcn gleichsetzen - und sehen deshalb in den „mehr als 101) Millionen4* Toten der Kriege des 20, Jahrhunderts eher einen Beleg dafür, dass „der Preis der Geschichte*1 tatsächlich steige.Mi Außerdem verweisen sie darauf, dass Pinkcrs Definition von Gewalt und ihren Folgen nicht eindeutig sei - da viele Menschen auch heute an indirekten Folgen von Krieg und Verwüstungen sterben. Schließlich stellt sich die Frage, ob der Charakter von Gewalt sich tatsächlich rein quantitativ, durch Opferzahlen erfassen lässt; Ist der industrielle Massenmord von Auschwitz, sind die Vernichtungsschlachten schon des 1. Weltkriegs nicht qualitativ etwas Anderes als etwa die Blutrachefehden zwischen Stämmen — nämlich eine neue, den Menschen verändernde Dimension des „kalten*1 Bösen? All das gilt es hier nicht zu diskutieren. Entscheidend ist, dass Pinker den Fortsehritt als eine Art evolutionären Prozess schildert, der sich ganz allmählich und deshalb für die Zeitzeugen kaum wahrnehmbar durchsetzt.

Ähnlich und weit ausgefeilter statistisch erfasst zeigt sich das Wachstum menschlicher Machtenrfaltung in dem großen Geschichtskonzept des Archäologen lan Morris. Er misst die Energieausbeute, die Größe der Städte und den Stand der Kriegs- und In forma tionstechnik als lndi-

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zes für die Fähigkeit von Gesellschaften, in ihrer Umwelt - und gegenüber anderen - ihren Willen durchzusetzen.

Diese menschliche Machtentfaltung ist seit der Steinzeit trotz mancher Rückschläge im Grunde ständig gestiegen, seit der Industrialisierung geradezu rasant, Was Morris' Erklärung dieser Kurve nach oben den naturalistischen Charakter verleiht, ist seine Fesdegung auf evolurionsbiologische Faktoren zusammen mit den Determinanten der Umwelt: Der Mensch bringt als im Grunde immer und überall gleiche Grundausstattung die Handlungsmotive „Faulheit, Angst und Habgier*4 mit41 — hinter der unterschiedlichen Entwicklung dieser Handlungsmustcr in verschiedenen Zivilisationen steckt für Morris stets „dieselbe simple Tatsache ...: die Geographie.*'42 Die Faktoren des menschlichen Strebens und der sie determinierenden Umwelt führen zu einem „kumulativen Muster", welches erklärt, „warum sich Fortschritte in der gesellschaftlichen Entwicklung beschleunigen ..,: Je weiter die gesellschaftliche Entwicklung fortschreitet, desto schneller kann sie wachsen."43 Allerdings werden Zivilisationen in dieser Kumulation auch immer anfälliger für Krisen und Zusammenbrüche, wiederum verursacht durch die immer gleichen menschlichen I Leidenschaften und durch Umweltveränderungen, auf die nun komplexe Gesellschaften reagieren müssen. Morris zeichnet deshalb eine Art Spiralbild des Fortschritts: Er dreht sich oft im Kreis, erleidet Rückschläge, aber setzt sich auf Dauer stets nach oben fort,

Die Frage» ob sein Geschichtsbild deterministisch sei, hält Morris für zu kurz gegriffen. Er leugnet nicht die menschliche Freiheit und die Bedeutung bedeutender geschichtlicher Fjnxelentscheidungen. Die Kurve des Fortschritts ist für ihn „weder langfristig festgeschrieben noch das Produkt kurzfristiger Zufalle. Sie ergab sich eher als Folge langfristig gültiger Wahrscheinlichkeiten."44 Der Fortschritt ist gewissermaßen nicht linear-kausal, wohl aber statistisch determiniert. Deshalb glaubt Morris auch - hierin in der Tradition klassischer Geschichtsphilosophie - „dass wpir eine ziemlich genaue Vorstellung davon gewinnen, wfie sich die Dinge im 2L Jahrhundert entwickeln werden"45, d.h. er glaubt, dass Geschichtsanalyse auch Zukunftsprognosen ermöglicht.

In der Gegenwart sieht Morris die globalisierte Zivilisation in einer globalen Existenzkrise, hinter der seine historische Ixitfrage nach der Dominanz des Westens oder des Ostens verblasst, Der Fortschritt hat ein Maß erreicht, durch das wir uns „der größten Diskontinuität der Geschichte" nähern, in der es darum geht, ob wir die düsteren Folgen des Fortschritts - „Klima-

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wandel, Hungersnöte, Staatszerfalle, Wanderbewegungen, Seuchen" - in den Griff bekommen,*'

Um einer Apokalypse der Menschheit zu entgehen, sieht Morris nur eine für einen Archäologen überraschende Möglichkeit: Ks muss sich „vor allem die Gattung Mensch verändern**, und zwar durch die Aufzüchtung ihrer Gehirne mit „Neuronen und Chips". Morris setzt tatsächlich auf „eine robotergesteuerte Gesellschaft", die „zwangsläufig zu einer posthumanen Weltzivilisation verschmolzen" sein wird. In ihr leben dann „die ersten postbiologischen Mensch-Maschine-Wesen", ein neues Ergebnis der Evolution, das allein genug Rationalität besitzt, um die Folgen des bisherigen Fortschritts zu bewältigen.47

Das Erstaunliche und doch auch wieder wenig Überraschende an diesem Ende der Gcschichtsanalysc durch Ian Morris ist die Pointe, dass der menschliche Fortschritt am Ende durch die Abschaffung des Menschen in einen technisierten Übermenschen hinein gerettet wird. Obwohl der I-eser durch die ixktürc von Morris' großer Erzählung wenig auf diese Lösung vorbereitet wird, liegt sie doch schon im Ansatz verborgen: Mit seiner Kombination der Gcschichtsfaktorcn menschlicher Biologie plus Geografie steht Morris in einer langen Tradition, welche die Geschichte durch die menschliche Natur und das Klima erklärt. Morris selbst nennt Montesquieu, also die Aufklärung, aber auch Ihn Khaldun halte es im Grunde nicht anders gesehen.4*4 Im modernen Gewand erscheint dieses naturalistische Geschichtsbild als eines der Evolution, die schließlich über den domo sapiens hinaus den neuen Homo tcchnologi-cus hervorbringen wird. Seine Sicherheit gewinnt dieser neue Fort-Schrittsoptimismus aus seiner naturwissenschaftlich und statistisch fundierten Methodik, deren rationale oder philosophische Voraus-Setzungen allerdings kaum mehr reflektiert werden.

 

Eine klassische Begründung

Genau dies, worauf der heutige naturalistische Empirismus weitgehend verzichtet, hat die Philosophie des deutschen Idealismus in der kurzen Zeit zwischen dem Aufbruch der Aufklärung und ihrer Verzweigung in die Einzelwissenschaften eingehend wie keine andere versucht: Sie hat die Denkbedingungen des neuzeitlichen Fortschrittsglaubens reflektiert. Deshalb müssen wir hier in einem Rückgriff den klassischen Höhepunkt eigentlicher Geschichtsphilosophie näher in den Blick nehmen.

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Immanuel Kant wollte den Optimismus der Aufklärer teilen, aber er war kritisch genug, ihn unter Ideologieverdacht zu stellen. Der offenkundige Fortschritt in Technik und Wissenschaft allein bedeutet ja noch nicht, dass die Verhältnisse der Menschheit sich wirklich bessern.

Dazu müsste der Fortschritt ein sittlicher sein, und auf diesen bezogen sieht Kant nun die drei Geschichtsanschauungen miteinander konkurrieren, die auch ich in diesem Kapitel verfolge: „Das menschliche Geschlecht ist entweder in kontinuierlichem Rückgange zum Ärgeren oder in beständigem Fortgange zum Besseren in seiner moralischen Bestimmung, oder im ewigen Stillstände ... (mit welchem die ewige Umdrehung im Kreise um denselben Punkt einerlei ist)/* Kant ist sich wohl bewusst, dass in der Beobachtung der Zeitgenossen häufig die erste Befürchtung dominiert, dass „beim Anwachs großer wie Berge sich auftürmender Gräucltaten und ihnen angemessener Übel gesagt wird: Nun kann es nicht mehr ärger werden, der jüngste Tag ist vor der Tut"*. Aber dann, meint Kant, ist die Geschichte auch bald vorbei und die Diskussion erübrigt sich.

Stärker wiegt für ihn der berühmte Einwand von Jean Jaques Rousseau, nach dem ein glücklicher Naturzustand durch den verderbenden Zivilisa-tionsprozess erst zerstört wird. Noch in Kants Nachlass findet sich die Notiz: „Rousseau: vom Schaden ... der Ungleichheit der Menschen hat er ganz recht ... Rs lässt sich schwer ausmachen, ob die Kultivierung und Zivilisierung mehr Übel bei sich führe als die rohe Natur/*511 Aber dass dieser rohe Naturzustand das reine Glück gewesen sei» das will Kant nicht einsehen: „Rohe Zeitalter sind grausam, gewalttätig.** D.h.: „Der erste Zustand ist der schlechteste."S1 Der „Naturzustand" ist gerade „ein Zustand des Krieges, wenngleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben.**52

Hinter dieser Einschätzung steht Kants Menschenbild: Der Mensch ist von Natur aus gut und böse zugleich — womit Kant den bis heute anhaltenden Streit der Aufklärer klug unterläuft. Er ist „der Neigung nach böse", also stets gefährdet, dem Gefälle zum Bösen nachzugeben, aber er ist gleichzeitig „zum Guten vorbestimmt ... und auch dazu gut, um die moralische Vollkommenheit hervorzubringen."*3

Der wahre Zivilisationsprozess ist nicht der äußerliche Fortschritt, sondern ein echtes Fortschreiten zur Vollkommenheit, zur Verbesserung des Menschen und seiner gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Fortschritt ist für Kant also eigentlich nicht historisch beweisbar, sondern ethisch gefordert, er ist das Sollen der Geschichte. Die Kultivierung des Menschen ist an sich noch wertfrei: „Nun bedarf er moralisiert zu werden".

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Die größten Hindernisse "der Menschengattung zu ihrer Bestimmung" sieht Kant in den Naturtrieben, mit Rousseau aber auch in den Dekadenzerscheinungen der Kultur, und schließlich und grundsätzlich in der „Freiheit: Zwei einander widerstreitende Bestimmungen, Er hat immer mit Schwierigkeiten zu kämpfen."5*

Kants Bild vom zugleich bösen und guten Menschen entspringt seiner Philosophie der Freiheit. Aus dem Gedanken der Freiheit lässt sich aber eine eindeutige Tendenz der Weltgeschichte nicht begründen. Alles bleibt unentschieden, weil es an Entscheidungen hängt. Einerseits gilt die selbstbewusste Forderung der aufgeklärten Europäer: „Wir müssen im Okzident den kontinuierlichen Fortschritt des menschlichen Geschlechts zur Vollkommenheit und von da die Verbreitung auf der Erde suchen," Andererseits sieht er: „Wir sind von der Vollendung unserer Bestimmung noch sehr weit entfernt." Woher nimmt er dann die Sicherheit zu dieser Formulierung „Das menschliche Geschlecht erreicht endlich seine Bestimmung völlig. Diese ist nur durch die Vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung und dadurch der Staatverfassung, d.i. des Natur- und Völkerrechts möglich"55?

Kant steuert an, woraufhin heute noch gearbeitet wird: Weltgemeinschaft, universale Menschenrechte, Die Sicherheit, mit der er dieses Ziel für erreichbar hält, nimmt er aus „Geschichtszeichen", welche „die Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen ... beweisen"50. Das für ihn entscheidende Geschichtszeichen dieser Art besteht in der französischen Revolution - aber genau genommen nicht in der Revolution als solcher (deren Ziele er teilt, deren Verlauf er jedoch mit Erschrecken wahrnimmt), sondern in der in ganz Europa zu beobachtenden Erregung der Zeitgenossen, die „eine Teilnahme dem Wunsche nach" zeigen. Es ist für Kant also „die Denkungsart der Zuschauer", welche „eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben" muss.57

Kant glaubt also daran, dass der ethisch geforderte Fortschritt auch geschichtlich wirklich wird, weil diese Tendenz im Menschen zutiefst angelegt ist. Das Gesetz, welches nach Comte die Menschheit sicher voran bringt, ist für den weit kritischeren Kant kein naturalistisches Evolutionsgesetz, sondern die Anlage der menschlichen Freiheit selbst, die stets gefährdet, stets ins Böse abgleitend, im Ganzen und am Ende doch zur Vernunft und deshalb zu vernünftigen Zuständen strebt. So gelingt es Kant, einen angefochtenen und doch sicheren Fortschrittsoptimismus mit einer Philosophie der Freiheit zu verbinden.

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Warum ordne ich dann diesen neuzeitlichen» reflektierten Fortschritts-gedanken dennoch dem Paradigma des Schicksals zu?

An dieser Frage hängt die gesamte geschichtstheologische Beurteilung dieses Typs von Fortschrittsdenken, der ja bis heute — trotz aller Einsprüche gegen ihn und aller geschichtlichen Brüche - prägend geblieben ist. Kant kennt, wie die meisten Geschichtsphilosophen, die Alternative von Niedergang, Zyklus oder Fortschritt, nicht aber eine Unterscheidung, die der meinen von Schicksal oder Fall entspricht. Dies liegt an seiner - und der dem deutschen Idealismus gemeinsamen - Deutung der biblischen Geschichte vom Sündenfall. Schließlich sind die Philosophen dieser Zeit alle -meist protestantische — Christen. Sie müssen sich also mit dem biblischen Menschenbild von der gefallenen Natur, vom erlösungsbedürfti-gen Sünder auseinandersetzen. Kant setzt auch hier den entscheidenden Akzent: In einem Aufsatz über den „Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte" legt er die Genesis geschichtsphilosophisch aus. Darin erscheint der paradiesische Adam als Bild eines noch dem Tier vergleichbaren menschlichen Naturzustandes. Die berühmte Geschichte mit der Frucht vom verbotenen Baum schildert demnach nichts anderes als die Menschwerdung selbst, nämlich die Entdeckung der Vernunft, die zugleich Entdeckung der Freiheit ist. Der Sündenfall bedeutet „den ersten Versuch von einer freien Wahl". Dass den Menschen laut Bibel dabei „die Augen auf* gingen, bedeutet: „Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine l^ebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Tieren an eine einzige gebunden zu sein/* Und der Ungehorsam, den die Bibel darin sieht, meint eigentlich die logische Konsequenz, nach der man „aus diesem einmal gekosteten Stande der Freiheit ... unmöglich, in den der Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instinkts) wieder zurück" kann.58

Der biblische Sündenfall schildert also mythisch verklausuliert den Ausbruch der Freiheit aus der lnstinktfesdegung. Dass die Bibel dies als Abfall und schließlich als Austreibung aus dem Paradies versteht, ist nur zu verständlich: „Mit Endassung aus dem Mutterschoße der Natur verbunden" ist „eine Veränderung, die zwar ehrend, aber zugleich sehr gefahrvoll ist." Insgesamt aber schildert die Bibel hier einen guten und notwendigen Schritt: den „Übergang aus der Rohigkeit eines bloß tieri-schen Geschöpfes in die Menschheit, aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit".59

Der Mensch wird also

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eigentlich erst in diesem Sündenfall, im Verlassen des Paradieses zum Menschen,

Noch in den Notizen seines Nachlasses kommt Kant auf diese Anschauung zurück. Er versteht wohl die These: „Tierheit und Instinkt ist gut/1 Denn das bedeutet „Einfalt in Bedürfnissen, Gnugsamkcit im Suchen derselben, Zufriedenheit und Unschuld als Früchte derselben. Der natürliche Zustand ist in der Idee ein goldenes Zeitalter, das der Rohig-keit und Unwissenheit/4 Demgegenüber erscheint die Rntwicklung des Menschen wirklich wie ein Fall „Tierheit und Freiheit (mit Vernunft) ist böse", denn erst jetzt steht der Mensch im moralischen Zwiespalt, erst jetzt muss er sich entscheiden, erst jetzt gibt es Schuld. Aber der Mensch hat keine Wahl, denn sonst wäre er gar nicht Mensch* Der Zustand natürlicher Unschuld ist einfach nicht sein Zustand, „der Mensch kann sich darin nicht erhalten und geht aus dem Stand der Natur". Das muss aber für Kant letztlich deshalb sein, damit Freiheit und damit auch das Gute möglich sind- Denn das Tier ist weder böse noch gut- Deshalb ist der Sündcnfall letztlich auch die Geburt des Guten und es bleibt unter dem Strich: „Das Böse ist die Triebfeder zum Guten."60

Friedrich Schiller hat auf Kants Aufsatz über die mutmaßlichen Anfange des Menschengeschlechts unmittelbar mit einer Abhandlung reagiert, die Kants 'ITiese weitergehend „nach dem Ixritfadcn der mosaischen Urkunde" prüft, also anhand der biblischen Geschichte nach dem Sündenfall fortschreibt. Dabei verbindet Schiller nun ausdrücklich die These von der Notwendigkeit des Sündenfalls mit der vom sicheren Fortschritt der Menschheit. Der Sündenfall ist nun geradezu „die glücklichste und größte Begebenheit in der Mcnschcngcschichtc", weil er „das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen", Deshalb haben die Theologen wohl das „Recht, es einen Fall zu nennen - denn der Mensch wurde aus einem unschuldigen Geschöpf ein schuldiges". Aber auch der „Philosoph hat Recht, es einen Riesenschritt der Menschheit zu nennen, denn der Mensch wurde dadurch aus einem Sklaven des Naturtriebes ein freihandelndes Geschöpf" Hatte es diesen Fall nämlich nicht gegeben, „so wäre aus dem Menschen das glücklichste und geistreichste aller Tiere geworden, - aber ... frei und moralisch wären seine Handlungen niemals geworden, über die Grenze der Tierheit war er niemals gestiegen," Deshalb ist der Sündcnfall eigentlich eine Bestimmung der göttlichen Vorsehung über die Geschichte.

Mit der Austreibung aus dem Paradies setzt diese Vorsehung den Prozess geschichtlichen Fortschrittes — und zwar des

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qualitativen, sittlichen Fortschritts im Sinne Kants - in Gang: „aus dem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft sollte er sich, war es auch nach späten Jahrtausenden, zu einem Paradies der Erkenntnis und der Freiheit hinaufarbeiten,"61 Das Paradies hinter uns muss also verloren gehen um des Paradieses vor uns willen.

Diese Auslegung der Genesis ist Allgemeingut des Idealismus geworden- Sie dient ihm später gerade dazu, Kants doch bleibende Unsicherheit bezüglich des Fortschrittsprozesses zu überwinden. Was bei Kant noch ein Sollen und eine abgesicherte Hoffnung war, erscheint nun als notwendiger Wcltprozcss. Denn wenn der Mensch die Unschuld des Paradieses verliert, um auf die Spur der Verwirklichung seiner Vernunft gesetzt zu werden, dann ist der Fortschritt nichts anderes als die Selbst-cntfaltung dieser Vernunft.6-

Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel kennt noch den Einwand des Rousseau gegen den Zivilisationsprozess und beobachtet durchaus - und geradezu postmodern in Nähe zu heutigen ökologischen Denkern: „Völker, die mehr in der Einheit mit der Natur leben, haben einen stärkeren Zusammenhalt mit ihr als wir, die wir von der Natur uns losgerissen haben.4* Aber mit Kant romantisiert er diesen Zustand nicht: „Der Naturzustand ist der Stand der Rohheit, Gewalt und Ungerechtigkeit"63, also alles andere als ein Paradies. Das Paradies liegt gedanklich noch davor: Es ist der Zustand der Unschuld vor der Menschwerdung- Aus ihr muss der Mensch herausfallen, um Mensch zu werden,

Was Kant experimentell gedeutet hatte, kann Hegel schon mit einer gewissen ironischen Schnoddrigkeit voraussetzen; „Die Sünde besteht hier nur in der Erkenntnis ... das Böse im Bewusstscin ... Das Paradies ist ein Park, wo nur die Tiere und nicht die Menschen bleiben können. ,,. Der Sündenfall ist daher der ewige Mythos des Menschen, wodurch er eben Mensch wird. Das Bleiben auf diesem Standpunkte ist jedoch das Böse**.64

Hier ist nun die wörtliche Bedeutung der biblischen Geschichte in ihrer philosophischen Deutung geradezu umgekehrt: Das Böse ist nicht der Sündenfall, sondern dessen Verweigerung- Denn dann hätte sich der Mensch aus Furcht vor der Freiheit seiner eigenen Bestimmung verweigert. Die Furcht ist begründet: Dem Verlust tierischer Unschuld folgt der rohe Naturzustand der unzivilisierten Menschheit. Aber in einem langen, dialektischen Prozess wird sie sich daraus hervorarbeiten, mit vernünftig anzunehmender Sicherheit. So wird „das Böse mit eben der gleichen Notwendigkeit, durch die es entstanden ist, auch wieder überwunden'*,65

Das Böse ist in jedem Moment der Geschichte

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die Endlichkeit, in der sich der Mensch gern einrichtet, die er in einem neuen Fort-Schritt entgrenzen, überwinden muss.

Sünde ist auch für I lege] wie für die Theologen Trennung von Gott, aber für I legel ist solche Trennung als Schritt zur Freiheit notwendig. Sünde ist eine Durch-gangsibrm zur höheren Einheit der menschlichen Freiheit mit der Wirklichkeit insgesamt. Das Böse ist ein notwendiges „Schicksal" des Menschen, weil Hegel es „in die Einheit und Notwendigkeit des Geistes mit einbezogen*4 hat/'6

Damit ist aber die Philosophie der Freiheit auch zu einem Ziel geführt, in dem sie sich gewissermaßen selbst in die Vernunft der Geschichtsphilosophie aufhebt. Sie ist nämlich eine Freiheit, die wohl noch im und beim Einzelnen, aber nicht mehr insgesamt schief gehen kann, Das beruht schon darauf, dass der Fall eigentlich kein Fall ist, kein Bruch, sondern ein Autbruch. So wie das neuzeitliche Geschichtsdenken das in der Antike vorherrschende Paradigma des Kreislaufs in das des Fortschritts wandelt, so überfuhrt sie die mythische Kategorie des Schicksals in die vernunftgemäße Notwendigkeit, in ein philosophisches Gesetz. Aber während der Kreislauf damit wirklich durchbrochen ist^ bleibt das Schicksal — wenn auch auf einer anderen Reflexionsstufe — erhalten.

Diese hegelianische Deutung des Sündenfalls ist schon zu seiner Zeit so tonangebend geworden, dass Heinrich Heine sie sozusagen in die biblische Geschichte selbst zurückliest und die Schlange im Paradies ironisch als "kleine Privatdozentin" bezeichnet, "die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie vortrug."(67) Diese Lesart haben später auch dem Fortschritt gegenüber wesentlich skeptischere Philosophen beibehalten: Ganz unhegelianisch kann sich Hans Blumenberg durchaus vorstellen, "die Geschichte der Menschheit wäre ohne Entstehung der Negation verlaufen"; dann lebten die Menschen in ihrer „Lebenswelt", ohne sie zu transzendieren.

Das Paradies ist also auch hier eine Unbewusstheit: "Es war nicht zweierlei, die Erkenntnis von Gut und Böse zu gewinnen und aus dem Paradies vertrieben zu werden, um an den Baum des Lebens nicht mehr heranzukommen —, es war ein und dasselbe."(68) Die Vertreibung ist bei Blumenberg kein notwendiges, sondern nur unser faktisches Schicksal, aber das idealistische Deutungsschema bleibt. Selbst der jüdische Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin sieht im Urzustand des Menschen ein „Paradies der erkenntnislosen Naivität" und im Fall seinen Eintritt in die "Zone der Reife".(69)

Popularisiert findet sich diese Deutung des Sündenfalls heute auch in psychoanalytischen Beschreibungen der problematischen Subjektwerdung des Menschen.(70)

Karl Marx wiederum, der Hegels Geschichtsphilosophie "vom Kopf auf die Füße" stellen wollte, hat die Vernunft-Notwendigkeit des Geschichtsprozesses in eine ökonomisch-politische Notwendigkeit überführt. Die wissenschaftlich begründete Schicksalhaftigkeit und damit Vorhersehbarkeit des Fortschritts bleibt jedoch auch bei ihm erhalten.

Der dialektische Weg der Verwirklichung der Vernunft durch alle ihre Gegensätze, wie Hegel ihn zeichnete, wird nun der Weg zur Verwirklichung einer freien, klassenlosen Gesellschaft durch alle Unterdrückungsphasen der Sklavengesellschaft, des Feudalismus und des Kapitalismus hindurch.

"Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form" geschichtlicher Dialektik, mit ihr schließt "daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab",(71) d.h.: die eigentliche Geschichte des wirklichen Fortschritts beginnt erst jetzt, weil erst jetzt die wahre Freiheit beginnt — das jedoch mit Notwendigkeit! Denn "die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist die Negation der Negation."(72)

In waschechter hegelianischer Terminologie wird hier der notwendige, also durch alle Freiheit der Menschen hindurch für die Menschheit doch schicksalhafte Prozess des Fortschritts gewahrt. „Waren es bei Hegel die Fortschrittsstufen im Freiheitsbewusstsein des Geistes, so sind es bei Marx progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformationen"'(73)

Beide gegensätzlichen Modelle teilen den Anspruch, zu „erklären, warum die Geschichte eine Richtung hat." Dabei teilt Marx mit dem bürgerlichen Fortschrittsoptimismus seiner Zeit auch die Einschätzung, dass diese Gerichtetheit der Geschichte „die zunehmende Befreiung des Menschen von der Natur und seine wachsende Fähigkeit, sie zu beherrschen", zur Grundlage hat.(74)

Diese Strukturgleichheit des Fortschrittsdenkens in bürgerlicher und marxistischer Theorie ist häufig bemerkt worden. Und doch gibt es bei Marx zwei Grundfaktoren, die sein Denken nicht so in sich geschlossen wirken lassen wie das Hegels: Es ist die Frage nach dem verlorenen Paradies, welches Marx die Urgesellschaft nennt, und es ist die geschichtliche Triebkraft der Revolution. Mit beidem scheint Marx dem Paradigma des Falls näher zu stehen als Aufklärung und Idealismus — und damit dürfte die Verwandtschaft des dialektischen Materialismus zum biblischen Denken vielleicht sogar größer sein als die der mit theologisch-protestantischem Geist getränkten Idealisten.

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