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10 - Wann kommt das große Sterben?  

Taylor-1970

 

Überfüllte Wohngebiete    Die Verhältnisse in den Großstädten       Überbevölkerungs­probleme im Tierreich    Vorstädte verdrängen die Natur  -  Optimale Bevölkerungsdichte

 

263-293

1916 wurden 4 oder 5 Sika-Hirsche auf James Island ausgesetzt, einer unbewohnten Insel von 1,3 Quadratkilometer in der Chesapeake Bay, kaum eineinhalb Kilometer von der Küste entfernt. Als der Ethologe John Christian 1955 auf die Insel kam, war die Herde auf nahezu 300 Stück angewachsen. Christian glaubte, daß die Populationsdichte von Tieren unter anderem einer Rückkoppelungssteuerung unterliegt. Er brauchte nicht lange zu warten. Während der ersten drei Monate des Jahres 1958 starben mehr als die Hälfte der Hirsche. Im darauffolgenden Jahr ging das Sterben weiter, bis die Zahl auf ungefähr 80 abgefallen war.

Dies ist in etwa der normale Verlauf eines Bevölkerungszusammenbruchs: Die Population fällt ganz rasch auf zirka ein Drittel des Ausgangswertes ab. Interessanterweise lebten die Tiere zwar in hoher Zahl auf engem Raum zusammen, doch noch lange nicht so dicht aufeinander, wie das Ergebnis glauben machen könnte: Auf ein Tier kamen immer noch 40 Ar, und das vorhandene Futter reichte vollauf. Zwölf der toten Hirsche wurden näher untersucht: Sie schienen in gutem Zustand, hatten glänzendes Fell und Fettpolster zwischen einer wohlausgebildeten Muskulatur. Warum waren dann 190 Tiere eingegangen?

Christian zerlegte zwölf der Hirsche und untersuchte sie sehr gründlich; Gewicht, Fett und Mageninhalt wurden notiert; er analysierte die Nebennieren und andere Drüsen sowie die wichtigsten Organe unter dem Mikroskop, 1960 - nach dem großen Sterben - wiederholte er diese Untersuchungen. Bei einem Vergleich der Nebennieren stellte sich heraus, daß diese bei den während des Zusammenbruchs gestorbenen Tieren um 46 Prozent schwerer waren als bei jenen Tieren, die 1960 eingegangen waren. Bei jungen Hirschen waren die Unterschiede noch größer: 81 Prozent Gewichtsdifferenz.

Histologische Veränderungen in den Nebennieren dieser Tiere bestärkten die Vermutung, daß sie am Streß gestorben waren. Denn die Nebenniere reagiert auf eine andauernde Streß-Situation mit Vergrößerung. Der kalte Winter 1958 in der Gegend hatte den Streß zweifelsohne noch verstärkt, doch hätte er allein nicht dieses Massensterben bewirkt.

Der Gedanke, daß Streß ein Regulationsfaktor für eine Population sein könnte, war zum ersten Male während des Zweiten Weltkrieges aufgetaucht. Bereits 1939 hatte man beobachtet, daß Schneehasen an plötzlichen Krampfanfällen eingingen; sie zeigten seltsame Kontraktionen an Kopf und Hals; sie streckten die Beine weg, machten ruckartige Sprünge und fielen beim Landen in einen Krampfzustand. Andere jedoch waren lethargisch oder komatös. Bei der Sektion der Tiere fand man Hämorrhagien in den Nebennieren, in der Schilddrüse, im Gehirn und in den Nieren sowie eine fettige Degeneration der Leber. Bei den Lemmingen folgt einer explosionsartigen Vermehrung eine Massenwanderung; dabei ist die Anspannung so groß, daß manchmal der Anblick eines Weibchens genügt, damit ein Männchen tot umfällt; der zusätzliche Streß auf die Nebennieren macht das Maß voll. Starker Lärm kann ebenso wirken.

Trotzdem war die Bedeutung dieser Beobachtungen übersehen worden, bis Christian, der Leiter des Tierlabors des Marineforschungs­institutes in Bethesda, seine klassische Arbeit <The Adreno-Pituitary System and Population Cycle in Mammals (Über den Zusammenhang zwischen dem adreno-hypophysären System und dem Populationszyklus von Säugetieren) im Jahre 1960 veröffentlichte. 


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Christian führte aus, daß Tiere nach einem harten Winter, der zusätzliche Anstrengungen bei der Futtersuche mit sich brachte, im Frühjahr einen Streß der Nebennieren durchmachen und all ihren Zucker verbrennen. In dieser Situation führt jeder zusätzliche Streß zu weiterem Zuckerverlust und einem Aushungern des Gehirns.

Ein schlagender Beweis ist die Tatsache, daß manche amerikanische Kriegsgefangene in Korea ebenso lethargisch wurden oder an Krämpfen starben; man nannte die Krankheit <Aufgeberitis>.

Der Gedanke, daß eine Bevölkerung sich so lange vermehrt, bis ihre Nahrungsversorgung gefährdet ist, stammt von Pfarrer Thomas Malthus. Seine Sorgen, daß das Bevölkerungs­wachstum in naher Zukunft zu Hungersnot führen könnte, erwiesen sich als unbegründet; denn - und die Ökonomen weisen gern darauf hin - die Nahrungsmittel­produktion wurde in der Neuen Welt und in Australien durch die Erschließung neuen fruchtbaren Landes zusammen mit industriellem Wachstum und verbesserten Anbautechniken enorm gesteigert. 

Doch es gibt zahlreiche Beobachtungen, daß zumindest bei Tieren Hunger nicht notwendigerweise der limitierende Faktor ist. Wie Conways Bericht über die Schädlinge, die die malaysischen Kakaobäume befielen, zu entnehmen ist, bildet Raub einen weiteren limitierenden Faktor. Doch hat man beobachtet, daß Steppenhasen auch wegstarben, obwohl Futter in Mengen vorhanden und die Zahl der Raubtiere nicht größer als gewöhnlich war. Allerdings fand man auch bei ihnen Streß-Symptome. Ähnlich zeigten Mäuse, die an der Universität von Wisconsin in Käfigen gehalten wurden, eine zahlenmäßige Fluktuation, obwohl dort weder Raubtiere noch Futtermangel herrschten und jahreszeitliche Belastungen ausgeschlossen waren.

Die Studien der Biologen über die Regulierung tierischer Populationen brachten zahlreiche Mechanismen zum Vorschein, durch die verhindert wird, daß die Tierzahl bis zu dem Punkt ansteigt, da Hunger überhandnimmt. Blumenkäfer zum Beispiel produzieren, wenn sie in zu großer Zahl auftreten, ein Gas, das ihre eigenen Larven abtötet und auch antiaphrodisische Wirkung besitzt. Viele Tierarten, von Fischen und Krabben bis zu den Nagern und Löwen, bringen ihre Jungen um oder fressen sie auf, wenn sie auf zu engem Raum zusammenleben müssen; Kindstötung wurde auch unter primitiven Stämmen praktiziert.


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Dr. Hudson Hoagland von der Worcester Foundation erklärt: »Bei allen Spezies, die bisher experimentell untersucht worden sind, wurde gefunden, daß die Sterblichkeit von der Populationsdichte abhängt und unterhalb einer kritischen Dichte stark nachläßt.«

Zur Zeit ist man der Ansicht, daß eine Bevölkerungsexplosion dann auftritt, wenn die verschiedenen Regulationsmechanismen zusammenbrechen; dann kann die Population bis zu einem Punkt wachsen, wo Hunger zum Regulator wird, es sei denn, der Druck ließe sich durch Abwanderung vermindern. Führt das Bevölkerungswachstum jedoch zu einer ernsthaften Uberfüllung und ist kein Raum zur weiteren Ausbreitung vorhanden, so könnte der Streß das Limit setzen. Die Lemminge suchen in ihrer Panik nach mehr Raum, verzweifelt durchschwimmen sie vereiste Flüsse und ertrinken. Die Heuschrecken wandern, sobald sie alles aufgefressen haben, weiter und rennen nur ins Verderben, wenn sie kein Futter mehr finden. Die Sika-Hirsche konnten sich nicht ausbreiten.

Der Mensch unterliegt ebenso den Gesetzen des Populationswachstums. Er hat die Kindstötung aufgegeben, doch bis jetzt war er immer noch in der Lage, sich in neue Gebiete auszubreiten und so die Entwicklung von Streß zu vermeiden. Aber eine weitere Ausbreitung wird immer schwieriger, zumal seine Vorliebe für das Leben in Großstädten ein neues Element ins Spiel bringt. 

Ist es nicht wahrscheinlich, daß er jetzt mehr durch Streß eingeschränkt wird als durch Hunger? In jedem Fall, so läßt die Biologie vermuten, wird sich die Bevölkerungszahl nicht, wie Malthus glaubte, von selber begrenzen, sondern weiter wachsen, bis sie durch eine Katastrophe dezimiert wird. 

Wenn nicht etwas Unvorhergesehenes geschieht, müssen wir uns darauf gefaßt machen, daß die Menschheit einem Zusammenbruch entgegengeht. Ist es aber möglich, den Zeitpunkt dieses Zusammenbruchs vorauszusagen? Diese Frage ist so faszinierend, daß man eigentlich annehmen sollte, derartige Prognosen seien bereits unternommen worden. Doch sind mir keine bekannt, und ich bin daher gezwungen, meine eigenen Prognosen zu unterbreiten.


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   1  Überfüllte Wohngebiete   

 

Wenn die Menschheit an Platzangst leiden und sich daher möglichst gleichmäßig über die gesamte bewohnbare Fläche der Erde verteilen würde, wieviel an Einsamkeit und eigenem Raum würde dann einer einzelnen Person zustehen? Jeder Mensch, ob Mann, Frau oder Kind, würde sich etwa 140 Meter von seinen nächsten Nachbarn entfernt befinden. Bis zum Jahre 2000 ist die Entfernung auf 110 Meter zusammengeschrumpft und im Jahre 2070 auf ungefähr 55 Meter. Als die Hirsche auf James Island an Gehirnblutungen eingingen, betrug der Abstand etwa 75 Meter.

Aus diesen Gründen ist es zweifellos sehr günstig, daß die Menschen sich nicht in dieser Weise ausbreiten, sondern sich in Städten zusammenballen, was allerdings die Frage nach dem Streß kompliziert. Außerdem sind die Menschen in den verschiedenen Ländern und Regionen ungleich verteilt. Beide Faktoren sind daher zu untersuchen.

Unglücklicherweise müssen wir bei der Diskussion über Bevölkerungsdichten auf Grund des statistischen Materials politische Einheiten heranziehen. Eine Umrechnung auf Regionen, die als soziologische Einheiten von Interesse sind, ist dringend nötig. So erscheint Großbritannien mit 1470 Personen pro Quadratkilometer dichter bevölkert als Indien mit 1000 und viel dichter als die Vereinigten Staaten mit 150 Personen pro Quadratkilometer. 

Doch zu Großbritannien gehören auch noch Schottland und Wales mit ihren vielen Bergen, wo nur die Täler bewohnbar sind, sowie das dünnbesiedelte Irland. Nehmen wir dagegen England allein, so kommen wir auf 2350 Personen pro Quadratkilometer, eine Zahl, die die Dichte des indischen Bundesstaates Madras (mit etwa der gleichen Fläche] um einiges übertrifft und wahrscheinlich die höchste auf der Welt für eine Verwaltungseinheit von vergleichbarer Größe ist. In Indien liegt nur der kleine Staat Kerala (39.000 Quadratkilometer) mit der erschreckenden Dichte von 3060 Personen pro Quadratkilometer darüber. Ist es nur Zufall, daß Kerala der Staat in Indien ist, der am stärksten zum Kommunismus tendiert?

*detopia-2015: Hier haut irgendwas nicht hin, mit der Bevölkerungsdichte.  wikipedia  Vereinigtes_Königreich  Es kann ein Ü-Fehler sein: Quadratmeilen. 1 Meile = 1,6 km; also 1qMeile = 2,6 qkm; aber das haut auch noch nicht richtig hin.


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Die Bedeutung solcher Zahlen wird deutlicher, wenn wir uns den anderen Faktor vor Augen führen: das Wachstum der Städte. Professor Kingsley Davis, der Leiter des Internationalen Forschungsinstitutes für Bevölkerungs- und Stadtprobleme in Berkeley, rechnete aus, daß 1990 mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern leben wird. In den 40 Jahren zwischen 1920 und 1960 verdreifachte sich die städtische Bevölkerung auf der Erde (als städtisch werden Siedlungen mit mehr als 20.000 Einwohnern definiert), während die nichtstädtische Bevölkerung nur um ein Drittel wuchs.

1920 gab es 6,4mal mehr Landbewohner als Städter; 1960 betrug das Verhältnis 3:1. Im Jahre 2000 werden die Städter die Landbewohner übertroffen haben. Professor Davis meint, daß man »weder die Geschwindigkeit der Entwicklung noch die Tatsache, daß es sich dabei um eine junge Erscheinung handelt, allgemein zur Kenntnis genommen hat«. In den Entwicklungsländern wachsen die Großstädte in einem erschreckenden Tempo und übertreffen dabei den Großstadtboom des 19. Jahrhunderts bei weitem. Die größten Sprünge gab es in Südamerika, wo jetzt mehr als 21 Millionen Menschen in Millionenstädten leben; 1920 gab es dort überhaupt noch keine Millionenstadt. Eine Stadt verdoppelt ihre Einwohnerzahl innerhalb von 15 Jahren; manchmal geht es sogar noch schneller. So hatte Caracas 1963 1,507 Millionen Einwohner im Vergleich zu 159.000 im Jahre 1941. Sao Paulo hatte 1930 879.000, jetzt liegt es bei 6,9 Millionen und kommt Schätzungen zufolge bis zum Jahr 2000 auf 19,2 Millionen. 

In Rußland gibt es heute 204 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern einschließlich 8 Millionenstädten. Fast über Nacht kamen unbekannte Namen auf die Liste der Großstädte: Kasan (837.000), Tiflis (866.000), Tscheljabinsk (851.000), Donezk (855.000), Perm (811.000) und so weiter. Die Sowjetunion behauptet, daß bereits 55 Prozent der russischen Bevölkerung in Städten und Großstädten leben und daß der Prozentsatz bis 1980 auf 70 Prozent steigen wird. Im Durchschnitt werden jedes Jahr zwanzig neue Städte errichtet.


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Gewöhnlich wird der Grad der Verstädterung auf der Grundlage der Einwohnerzahlen der Städte mit 20.000 und mehr errechnet; doch was wirklich zählt, sind, wie wir sehen werden, die Großstädte; und diese wachsen rascher als die anderen Städte. In den vergangenen 40 Jahren vervierfachte sich die Bevölkerung der Großstädte, während sich die Gesamtheit aller Stadtbewohner nur um den Faktor 3 steigerte. Gegenwärtig gibt es auf der Erde schätzungs­weise 300 Städte mit mehr als 1/2 Million Einwohnern.

Der Hauptgrund, wenn auch nicht der einzige, für das phänomenale Wachstum der Großstädte ist die Mechanisierung der Landwirtschaft. Man kann sagen, daß, über den Daumen gepeilt, in einem unter­entwickelten Land 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft und 20 Prozent in der Industrie beschäftigt sind, während in den hochentwickelten Staaten das Verhältnis umgekehrt ist. Die meisten der 60 Prozent, die aus der Landwirtschaft verdrängt werden, wenden sich den Städten, und zwar wahrscheinlich den größten, wo sie Arbeit zu finden hoffen, zu. Was bedeutet es, wenn diese Wanderungen mit einem raschen Bevölkerungs­wachstum zusammenfallen? 

Nehmen wir den Fall der Türkei, wo gegenwärtig 27 Millionen auf dem Lande arbeiten, und 7 Millionen in Städten leben, ein Verhältnis von etwa 80:20. Jetzt wächst die türkische Bevölkerung um zirka 1 Million pro Jahr und verdoppelt sich alle 25 Jahre. Die Geburtenziffer liegt mit 55 auf 1000 nahe dem theoretischen Maximum (60 von 1000). Die Sterbequote liegt bei 21 von 1000. Man hat errechnet, daß die Bevölkerung im Jahre 2010 an die 110 Millionen heranreicht, wobei 20 Millionen auf dem Lande und 90 Millionen in den Städten wohnen werden. Ich möchte wiederholen: Die Stadtbevölkerung wird dann von 7 Millionen auf 90 Millionen angewachsen sein. Wie sollen hierfür Häuser und Schulen gebaut und öffentliche Dienste eingerichtet werden in einem Land, das erst am Anfang der Industrialisierung steht? 

Picken wir nur ein Einzelproblem heraus: Diese Entwicklung erfordert zusätzlich 30.000 neue Lehrer pro Jahr, wobei noch nicht einmal berücksichtigt ist, daß das gegenwärtige Ausbildungspotential unzureichend ist.

Was hier jedoch besonders interessiert, ist die Frage, welche Bedingungen in solchen Städten herrschen werden. Werden sie möglicherweise ihre Bewohner einem unerträglichen Streß aussetzen? Danach erst wollen wir die ganz andersartigen Probleme der Großstädte in industriell fortgeschrittenen Gemeinwesen diskutieren.


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Das extremste Beispiel für das Wachstum einer Stadt ist wohl Kalkutta, das zur Zeit um jährlich 300.000 wächst. Kingsley Davis schätzt, daß diese Stadt zur Jahrhundertwende mit einer Einwohnerzahl zwischen 36 und 66 Millionen zu rechnen haben wird, berücksichtigt man die Bevölkerungs­expansion, die Modernisierung der Landwirtschaft und vor allem die zentrale Lage dieser Stadt. Die soziale Ordnung in Kalkutta ist bereits durcheinandergeraten. Die städtische Planungskommission hat erklärt, daß sie »keine Möglichkeit« sieht, die Bevölkerung in den nächsten 25 Jahren unterzubringen. Momentan fabriziert man Wetterdächer ohne Seitenwände, um wenigstens irgendein Obdach zu bieten. Zwanzig oder dreißig Menschen müssen sich einen Wasserhahn teilen. Die Abwässer fließen in offenen Rinnsteinen auf den Straßen und können bei Hochwasser überall hingespült werden. Die Menschen waschen ihre Kleider und sich selbst in dem Dreckwasser. Andere Teile der Stadt sind selbstverständlich hochzivilisiert — doch der notleidende Sektor wird größer. Die Verkehrsprobleme sind akut, besonders an der Hauptbrücke über den Fluß, die täglich von einer halben Million Fußgänger sowie von Tieren und motorisiertem Verkehr überquert wird. Es ist unvorstellbar, wie diese Stadt bei 30 Millionen Einwohnern noch weitermachen kann.

 

New York hat eine viel längere Erfahrung und findet es hart genug, bei 12 Millionen Menschen funktionsfähig zu bleiben. Es ist kaum zu verhindern, daß Städte wie Kalkutta zu Dschungeln werden, wo Verbrechen überhand­nehmen, wo die nötige Gesundheitsfürsorge zusammenbricht und Menschen auf der Straße sterben, ohne daß dies überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Viele Städte, die in den unterentwickelten Ländern nur so aus dem Boden schießen, bestehen aus einem entwickelten Kern, der umgeben ist von Hüttensiedlungen kolossalen Ausmaßes, wo rechtlose Ansiedler leben. In Mexiko City lebt ein Drittel der 1,5 Millionen Einwohner in den colonias proletarias — den Proletariersiedlungen, wie sie genannt werden. In Ankara wohnt die Hälfte in den gecekondu-Distrikten; in Kinshasa, dem früheren Leopoldville, ist die Hüttensiedlung größer als die Stadt selbst. Lima grenzt an zwei Siedlungen mit jeweils mehr als 100.000 Einwohnern — die eine davon ist gar die drittgrößte Stadt des Landes.


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Obwohl aus Benzinkanistern und anderem Material, das man so findet, zusammengebastelt, sind diese Bezirke nicht notwendigerweise Slums. Oft sind die Bewohner Handwerker mit einem regelmäßigen Einkommen; sie arbeiten unermüdlich an der Verbesserung ihrer Verhältnisse, nicht selten gegen die Vorstellungen der Regierung, die für solche Gegenden langfristige Entwicklungspläne hegt. Die Bewohner möchten verständlicherweise lieber jetzt eine Schule, wenn sie auch baufällig sein mag, als eine schöne in zwanzig Jahren. Andere Viertel verkommen immer mehr und mehr; ihre Bewohner resignieren im täglichen Kampf ums Dasein.

Wahrscheinlich verschlimmert sich die Lage noch, da die Behörden mit ihren Maßnahmen bei dem Bevölkerungswachstum nicht mehr nachkommen. Lima zum Beispiel hatte vor 25 Jahren 600.000 Einwohner und wird in 25 Jahren 6 Millionen haben; und während heute ein Viertel der Bevölkerung in den barriadas wohnt, werden es 1990 drei Viertel sein. Ich kann mir vorstellen, daß die Welt schon lange vorher explosive Unruhen in solchen Städten erleben wird.

 

   2  Die Verhältnisse in den Großstädten    

 

Die physischen Bedingungen in Großstädten sind im allgemeinen schlechter als in Kleinstädten. Studien in England und Amerika zeigten, daß eine waagerechte Fläche in der Großstadt 15 Prozent weniger Sonnenschein bekommt (30 Prozent weniger UV-Strahlung im Winter) und 10 Prozent mehr Regen, Hagel oder Schnee. Es gibt 10 Prozent mehr Wolkentage, 30 Prozent mehr Nebel im Sommer und 100 Prozent mehr Nebel im Winter. In zehnmal mehr Stunden beträgt die Sichtweite 1 Meile oder weniger. Die Temperaturen liegen allerdings 3 bis 8 Grad höher, und die Windgeschwindigkeiten sind niedriger. Kleinstädte, die im Windschatten einer Großstadt liegen, zeigen ähnliche Eigenschaften.

Zahlreiche Krankheiten treten in den Großstädten beträchtlich häufiger auf, und zwar nicht die einfachen Infektionskrankheiten. So ist das Vorkommen von Bronchialkarzinomen (Lungenkrebs) in Städten mit einer Million und mehr Einwohnern genau doppelt so häufig wie auf dem Land; auch Bronchitis tritt viel häufiger auf.


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Noch bedenklicher sind die Ziffern für Kriminalität und Geisteskrankheiten. In den dreißiger Jahren führten Faris und Dunham in Chicago eine klassische Untersuchung durch. Die Stadt wurde in 11 typische Bezirke und diese wiederum in 120 Unterbezirke unterteilt; für jeden Bezirk und Unterbezirk wurden die betreffenden Zahlen ermittelt. Im Zentrum waren die Werte durchgehend am höchsten und sanken gleichmäßig ab, je weiter man nach außen kam. So gab es in der Innenstadt auf 1000 Einwohner 362 Fälle von Schizophrenie; in der Peripherie fiel die Quote auf 55,4 ab. Im Zentrum fand man auf 1000 Bewohner 240 alkoholische Psychosen, am Stadtrand nur noch 60. Kriminalität, Suizid und Drogenverbrauch zeigten ein ähnliches Bild.

Selbst an der Peripherie lagen die Quoten noch höher als in Kleinstädten. Stichproben in Providence auf Rhode Island ergaben für Schizophrenie Zahlen zwischen 45 und 0 gegenüber 362 bis 55 in Chicago.

Es stellt sich die Frage, ob das Leben in der Großstadt die hohen Zahlen verursacht oder ob die Kranken, Selbstmordgefährdeten und Alkoholiker auf Grund ihrer psychischen Situation besonders von der Großstadt angezogen werden.

Doch der allmähliche Abfall vom Stadtkern nach der Peripherie macht diese Deutung unwahrscheinlich; gründlichere Untersuchungen zeigten, daß die Quoten deutlich vom Grad der sozialen Organisation abhängen. So lagen die Zahlen bei Polen der ersten Generation mit einem wohlgeordneten Familienleben verhältnismäßig gut; Polen der zweiten Generation, zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen, waren häufig verunsichert. Unter Schwarzen wiederum waren Psychosen selten, wenn sie in Bezirken mit lauter Schwarzen wohnten; lebten sie in gemischten Bezirken, so waren die Psychosen zahlreich. Selbst normale Erwachsene unterliegen einem Verfall der Persönlichkeit, wenn sie völlig isoliert werden. Spätere Studien in anderen Städten verstärkten diesen Eindruck, doch müßte das Phänomen der sozialen Organisation in Großstädten noch wesentlich intensiver untersucht werden. 


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Zu Honolulu zum Beispiel gehört im Stadtkern ein Gebiet, das, als <Höllenwinkel> bekannt, besonders stark von sozialer Pathologie geprägt ist. Eine Stadt entwickelt mit der Zeit ein Sozialgefüge. Das rasche Wachstum bringt Probleme mit sich, besonders wenn dieses mit Ein- und Auswanderungs­bewegungen sowie zwischen einzelnen Bezirken einhergeht. Genau die gleichen Zeichen der Orientierungslosigkeit findet man in den neuen Wohn­gegenden in England. Auf eine Welt, die unverständlich und willkürlich erscheint, reagiert der Mensch mit Hinwendung zum Glauben an magische oder irrationale Kräfte; sein Handeln wird planlos und von momentanen Launen geprägt.

Kurz, es scheint sicher, daß die Großstädte, die in der unmittelbaren Zukunft wie Pilze aus der Erde schießen, von Kriminalität und Geistes­störungen verschiedener Art verseucht sein werden. 

Beide sind Anzeichen von starkem Streß. Personen, die davon befallen sind, werden sich wahrscheinlich weniger vermehren. Doch die Großstädte bedeuten über ihre soziale Fehlorganisation hinaus eine Belastung und ein großes Risiko für die Gesundheit. Früher pflegte man zu sagen, daß drei Generationen in der Stadt eine Familie zugrunde richten. Die Stadt zehrt von den gesunden Reserven des Landes, und viele ihrer Bewohner ziehen sich vor ihrem Tode wieder aufs Land zurück. Dieser Glaube bedarf ebenfalls einer detaillierten Untersuchung.

Eine der Belastungen, denen man in der Stadt ausgesetzt ist, ist der Lärm. Wir sind schlecht ausgerüstet, ihn zu regulieren, da seine Auswirkungen nur schwer in Zahlen zu fassen sind. Man hat oft dargelegt, daß ein Geräusch innerhalb eines bestimmten Zusammenhanges erträglich ist — etwa der Aufschrei der Zuschauermenge beim Fußball —, während es ein anderes Mal nicht auszuhalten ist. Spät nachts können selbst ganz leise Töne störend sein. Auch deuten wir Geräusche nach ihrer möglichen Aussage; Geräusche, die eine Gefahr anzuzeigen scheinen, bewirken eine Alarmreaktion, verbunden mit einer Ausschüttung von Nebennierenhormon; und gerade auf die Reaktionen der Nebenniere wurde unsere Aufmerksamkeit bereits gelenkt. 


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Wie viele Tierarten besitzt auch der Mensch instinktive Verhaltensmuster, mit welchen er auf Geräusche reagiert: lautes Geräusch gehört zu den drei Dingen, welche ein Neugeborenes, das noch unschuldig und frei von Erfahrungen ist, warnen. Geräusche mit einem hohen <Angriffswert>, deren Intensität sich innerhalb von Mikrosekunden bis zum Maximum steigert, sind besonders störend, wahrscheinlich deshalb, weil sie in der Natur nur unter besonderen Streßsituationen vorkommen, etwa wenn ein Baum fällt.

Professor Joseph P. Buckley experimentierte an der Universität Pittsburgh mit Ratten, denen er alle 5 Minuten eine halbe Minute lang Tonbänder mit hoher Lautstärke (100 Dezibel) vorspielte; die Geräusche auf den Bändern waren Knall, Glockenläuten, Summtöne und so weiter. Diese Behandlung dauerte mehrere Wochen und wurde ergänzt durch Blitzlichter und Käfigschwingungen; dabei wurde die Streßdauer auf vier Stunden täglich ausgedehnt. Innerhalb von drei Monaten entwickelten sämtliche Ratten Hochdruck, und zahlreiche Tiere hatten vergrößerte Nebennieren. Manche starben. Es sei noch erwähnt, daß Tranquilizer die Auswirkungen nicht nur nicht verhindern konnten, sondern sogar zu einer gesteigerten Todesziffer führten. Mary Lockett entdeckte in Australien eine weitere seltsame Tatsache, nämlich, daß hohe Töne, die der Mensch nicht mehr hören kann, für Ratten einen Streß bedeuteten, während sehr tiefe Töne eine ganz andere Drüsenreaktion bewirkten. 

Ein weiteres Experiment von Dr. Lester Sontag in Yellow Springs, Ohio, zeigte, daß der Fötus im Körper einer Schwangeren Töne empfangen kann und seinen Herzschlag ändert, sowie er auch von Änderungen betroffen wird, die Geräusche in der Mutter hervorrufen. Wenn die Mutter während der letzten Schwanger­schaftsmonate besorgt oder unausgeglichen ist, so wird man die Wirkungen am Kind sehen, etwa unbegründete Ängstlichkeit oder übertriebene Aktivität im Alter von zwei oder drei Jahren. Sontag schließt daraus, daß wir über die Möglichkeit fötaler Schäden durch solch gewaltigen Lärm wie Knallwellen besorgt sein sollten. 

»Es scheint nicht unwahrscheinlich, daß sich nicht nur Erwachsene gegen gefährliche Streßsituationen auflehnen. Der Fötus, der nicht für sich sprechen kann, hat vielleicht weitaus mehr Grund dazu.« 

Andere Versuche zeigen, daß mütterliche Ängste dieser Art tatsächlich vererbt werden können. Diese erst unlängst entdeckten Tatsachen demonstrieren wieder einmal, wie wenig Gedanken wir uns über mögliche Gefahren, die unser System bedrohen, machen, bis die Folgen nicht mehr länger mit einem Achselzucken abgetan werden können.


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Ich habe den Verdacht, daß die bloße Anwesenheit von Fremden eine noch stärkere Belastung bedeutet als Lärm. Viele Sprachen haben für >der Fremde< und >der Feind< dasselbe Wort. Über zahllose Generationen hinweg war der Mensch daran gewöhnt, den Fremden als eine potentielle Bedrohung anzusehen. In der Stadt treffen wir jeden Tag ununterbrochen mit fremden Menschen zusammen, von denen tatsächlich einige, ob aus Bosheit oder Unachtsamkeit, eine Bedrohung darstellen können. Es gibt einige psychiatrische Arbeiten, die den Gedanken stützen, daß jeder Fremde bis zu einem gewissen Grad eine unbewußte Warnung hervorruft, die wir vor uns selbst durch verschiedene konventionelle Formeln verbergen. Jeder Reisende weiß, wie anstrengend es ist, tagtäglich in ungezwungener Weise mit Fremden zusammenzukommen, so freundlich diese auch sein mögen. Vermutlich würden entsprechende Untersuchungen zeigen, daß die Menschen die Zahl solcher Kontakte begrenzen möchten und daß die Städte ihre Bewohner dadurch Belastungen aussetzen, indem sie sie immer wieder zur Mißachtung dieser Grenzen zwingen.

Da es auf diesem Gebiet keine Forschungsergebnisse gibt, sind wir darauf angewiesen, die Pathologie der Übervölkerung bei Tieren zu studieren.

 

     3  Überbevölkerungsprobleme im Tierreich     

 

Wenn viele Tiere auf zu engem Raum zusammenleben müssen, zeigen sie Zeichen von Überlastung der Nebenniere, verbunden mit mangelhaftem Mutterverhalten. Die Wurfgröße sinkt, und manchmal werden die Embryos wieder resorbiert. Mit dem Verkümmern der mütterlichen Fürsorge steigt die Sterblichkeit der Jungen. Die Neugeborenen sind untergewichtig, ihr Wachstum ist gehemmt. Gleichzeitig sind die Männchen besonders aggressiv, in sexueller und anderer Hinsicht. Bei einer Zahl von 125 oder gar 250 Tieren pro Hektar zeigen Hasen keine Zeichen von Streß. Doch bei 500 Tieren pro Hektar steigt die Mortalität dramatisch an.


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John B. Calhoun, ein Schotte, dessen Familie vor langer Zeit wegen Landmangel emigrierte, nahm Christians Arbeit wieder auf und führte mit Ratten und Mäusen eine Reihe von berühmt gewordenen Experimenten durch. Bei seinen ersten Untersuchungen fand er, daß Ratten, die auf einer Fläche von 10 Ar eingeschlossen waren, sich im Verlauf von 27 Monaten bis auf eine Zahl von 150 vermehrten; dann pendelte sich die Zahl auf Grund einer hohen Sterblichkeit der Jungen ein.

Daraufhin führte er Experimente durch, in denen die Tierzahl konstant bei einer hohen Dichte - 80 Ratten in einem Käfig von 4,25 mal 3,05 Meter — gehalten wurde, indem man die Jungen unmittelbar nach der Geburt entfernte. Sie zeigten das für zusammengepferchte Tiere charakteristische Verhalten, die Männchen die übliche Aggressivität und die Weibchen mangelnde mütterliche Fürsorge; doch kamen noch einige seltsame Merkmale hinzu. Gruppen junger Männchen streiften umher und fielen Weibchen an. Sowohl bei Männchen als auch bei Weibchen wurde häufig Homosexualität beobachtet. Überlegene Männchen fingen Streit an, indem sie andere Männchen in den Schwanz bissen; normalerweise kämpfen Männchen, wenn sie herausgefordert werden, und starten keinen hinterhältigen Angriff. Viele Leute glaubten, zwischen solchem Verhalten und dem Benehmen moderner menschlicher Großstadtbewohner Ähnlichkeiten zu entdecken.

Calhoun beobachtete auch etwas, das er als »pathologisches Zusammenleben« bezeichnete. Ratten gewöhnten sich derart daran, nur in Anwesenheit anderer Tiere zu fressen, daß sie schließlich allein das Fressen verweigerten. Hatten die Ratten vier Käfige zur Verfügung, die untereinander verbunden waren, so rotteten sich die Tiere in zweien zusammen, während die beiden anderen weitgehend leer blieben. Dies wiederum störte das Verhalten der Muttertiere, und die Sterblichkeit der Jungen stieg von zirka 80 auf 96 Prozent. Kurz nachdem Calhoun seine Beobachtungen veröffentlicht hatte, begann Dr. Alexander Kessler, damals noch am Rockefeller-Institut, eine, wie Calhoun meint, der »wichtigsten experimentellen Populationsstudien der letzten Jahre«. 


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Er entwickelte zwei ungeheuer dichte Populationen von Mäusen, die keine Streßsymptome zeigten. Die Mäuse traten sich praktisch auf den Füßen herum; auf einem Quadratmeter waren nahezu 1000 Tiere. Calhoun führte ähnliche Versuche durch, die vermuten lassen, daß alles nur von der Gewohnheit abhängt. Mäuse, die es gewöhnt waren, sich in großen Räumen zu bewegen, wurden durch die Masse eher verängstigt als jene Tiere, die nur beengte Verhältnisse kannten; die Männchen stritten sich mehr, und die Weibchen waren schlechtere Mütter.

Doch wir können die Situation nicht verstehen, wenn wir nicht das Sozialgefüge in Betracht ziehen, das in sämtlichen tierischen Gruppen, selbst unter eingesperrten Mäusen und Ratten, vorherrscht. Man hat viel von der Hackordnung gehört, die zuerst bei Hühnern beobachtet wurde; bei ihnen bildet sich eine Hierarchie aus, wonach die Henne A auf die Henne B hackt, aber nicht umgekehrt, vielmehr hackt die Henne B auf die Henne C und so fort. Später fand man heraus, daß sich eine solche Hierarchie nur ausbildet, wenn Tiere irgendwie zusammengepfercht werden. Das eher normale Verhalten ist, daß ein Tier ein bestimmtes Gebiet beansprucht und dann verteidigt. Das territoriale Besitzrecht wird in Kämpfen erfochten, und die Verlierer werden über die Grenzen des Reviers vertrieben, wo sie oftmals zugrunde gehen. 

Wenn die Verhältnisse sich normalisiert haben, ist das Revier geschützt; mit der Zeit entwickeln die Nachbarn ein freundschaftliches Verhältnis untereinander und nehmen auch bis zum gewissen Grade Grenzübertretungen hin, während sie andererseits Fremdlinge sofort angreifen. Es kommt sogar vor, daß sie an der Grenze ihres Reviers die Nachbarn freundlich grüßen. In ihr eigenes Gebiet ziehen sie sich zurück, um Wunden auszuheilen; dort können sie ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen, da sie sich unbehelligt wissen.

Menschen verhalten sich ganz ähnlich. Obwohl Analogieschlüsse von Tier zu Mensch immer mit gewissen Risiken behaftet sind, glaubt Dr. Paul Leyhausen, einer der führenden deutschen Ethologen, der diese Vorgänge näher untersucht hat, daß hier eine wahre Homologie zwischen Mensch und Tier besteht. Ganz gewiß haben die Menschen einen ausgeprägten Territorialinstinkt.


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Werden Tiere, wie zum Beispiel die Braunratte oder der Nachtreiher, die normalerweise keine Herrschaftsstrukturen oder Hackordnung besitzen, zusammen­gepfercht, so entwickeln sie eine strenge Hierarchie und werden am Ende so tyrannisch, daß selbst die überragenden Tiere an der Spitze der Sozialordnung durch die wiederholten Herausforderungen der untergeordneten Männchen laufend unter Druck stehen. Calhouns Ratten zeigten in ähnlicher Weise Herrschaft über andere oder über ein Territorium; und gerade diejenigen Ratten, die an ein großes Revier gewöhnt waren, spürten den Druck der beengten Verhältnisse am stärksten. 

Am Ende der sozialen Rangliste standen die Ratten, die dem Kampf entflohen, die den Belastungen einer Herausforderung der Oberen aus dem Wege gingen und die zu einer Zeit zum Fressen gingen, da die anderen schliefen, nur um Ärger zu vermeiden. (Man kennt auch unter den Menschen >Nachteulen<.) Auf den mittleren Rangstufen standen männliche Tiere, die ständig die herrschenden Männchen herausforderten und auf diese Weise Gebiet und Weibchen zu ergattern versuchten; diese Gruppe zeigte am ehesten physiologische Streßsymptome. Es mag sein, daß Tiere unter Stehplatzbedingungen nur überleben können, wenn sie in solchen Verhältnissen jede territoriale und soziale Ordnung verlieren.

So können wir uns vorstellen, daß die Klassenvorurteile der modernen Großstadtbevölkerung eine Parallele zu den Auflehnungen gegen die Hackordnung im Tierreich darstellen; sie entwickeln sich am ehesten dort, wo der räumliche Druck zur Entwicklung einer hierarchischen Struktur führt.

Menschen haben sicherlich ein starkes Bedürfnis, die Zahl ihrer gesellschaftlichen Bindungen in Grenzen zu halten; sie ziehen sich deshalb oftmals in ihr Heim oder in die Einsamkeit zurück. Sofern dies nicht möglich ist, verringert man den Streß, indem man kleine Gruppen bildet, deren Mitglieder sich gegenseitig kennen und gemeinsam Techniken entwickeln, um mit den auftretenden Problemen fertig zu werden. 

Man fand zum Beispiel heraus, daß in psychiatrischen Kliniken die Bildung kleiner Gruppen den Patienten hilft; genau das Gegenteil machten die Nazis im Zweiten Weltkrieg, als sie die Insassen von Konzentrationslagern von einem Lager ins ardere schoben, um die Gruppen aufzubrechen und den Druck auf den einzelnen zu verstärken. Auf die gleiche Weise übt eine Gesellschaft Druck auf ihre Mitglieder aus, wenn sie von ihnen häufige Berufs- oder Wohnungs­wechsel fordert.


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Man darf daher vermuten, daß das moderne Leben in der Stadt zu Belastungen führt, die denen von Calhouns Ratten vergleichbar sind, und daß die Parallelen im Verhalten wahrscheinlich nidit zufällig sind. Rene Spitz entdeckte zum Beispiel, daß Mütter in beengten Verhältnissen nur eine verkümmerte mütterliche Fürsorge entfalten; die <verhunzten Kinder>, die ein ständiges soziales Problem sind, stellen vielleicht nur eine Folge von beengten Lebens­verhältnissen dar. Paul Leyhausen sagt: »Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß zahlreiche Neurosen und viele Fälle von Fehlanpassungen, zum Teil oder ganz, direkt oder mittelbar, darauf zurückzuführen sind, daß die Menschen zu nahe aufeinander leben ...«

Jeder normale Mensch wünscht sich und seiner Familie ein Haus mit entsprechendem Garten, mit Nachbarn, die gerade so nahe sind, daß sie im Notfall oder wenn einem nach gesellschaftlicher Aussprache zumute ist, erreichbar, ansonsten aber weit genug entfernt sind, so daß man in Ruhe gelassen wird. Psychologen sprechen oft von Anpassung an die Erfordernisse des modernen Lebens oder von Nichtanpassung, als ob sich der Mensch allem und jedem anpassen könnte. Die psychologischen Bedingungen des Menschen sind das Ergebnis einer sich über Millionen von Jahren erstreckenden Evolution, und eine Anpassung ist nur innerhalb der so gesetzten Grenzen möglich. 

Sicherlich ist es richtig, daß man ein Kind an das Leben in der Masse gewöhnen kann, ebenso wie an bestimmte Nahrungsmittel, bestimmte Arten der Unterhaltung und an ein bestimmtes Sexualverhalten. Doch man zahlt einen Preis für die Gewöhnung an das Massenleben, genauso wie die Gewöhnung an Schokoladencreme ihren Preis fordert. Leyhausen glaubt, es bestünde wirklich die Gefahr, der Mensch »könnte die Grenzen der menschlichen Toleranz gegenüber der Anwesenheit anderer Menschen überschreiten«.


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Die Frage ist nicht, ob sich die Leute in der Masse sicher fühlen, sondern ob körperliche, geistige und soziale Gesundheit unter diesen Bedingungen gewähr­leistet sind. Leyhausen meint, daß die Menschen nur dann in der Lage sind, wirksam an einer Demokratie teilzuhaben, wenn sie sich zu Erholung und Reflexion auf ihr eigenes Territorium zurückziehen können. 

Calhoun will auf das gleiche hinaus, wenn er sagt, daß man »sich mit Werten und Zielen, die über das Leibliche hinausreichen, nur dann identifizieren kann, wenn man zwischendurch Zeit zur Zurückgezogenheit und zum Nachdenken hat«. Wenn diese Möglichkeit nicht besteht, wird der Mensch eine »hohle, taube Nuß«. Im ganz anderen Zusammenhang der Betriebspsychologie stellte man fest, daß Angestellte einschneidende Entscheidungen, zum Beispiel für einen Stellenwechsel, nach dem Urlaub treffen, nachdem sie Zeit zum Nachdenken gehabt hatten. Das Leben in der Masse fördert den Verlust des sozialen Zusammenhaltes und gegenseitiger Verantwortlichkeit.

Calhoun äußert ebenfalls die interessante Vermutung, daß die Anziehungskraft der psychedelischen Drogen darin besteht, daß sie bei Menschen, die sich <eingepfercht> fühlen, ein Gefühl von freiem Raum erzeugen.

Dieser wichtige Hinweis stützt die These, daß die Großstadtgesellschaft bereits Symptome von den Auswirkungen des Massendaseins zeigt; doch die Folgen reichen noch nicht so weit, daß das Bevölkerungswachstum durch Kindersterblichkeit zu einem Stillstand kommt. Teilweise ist dies zweifellos der modernen Medizin zu verdanken sowie dem Staat, der sofort eingreift, wenn sich eine Mutter nicht mehr um ihre Kinder kümmert. Zum Teil liegt es wohl auch daran, daß wir noch knapp unter der kritischen Bevölkerungsdichte liegen, da die Vernachlässigung der Kinder zur Norm wird. 

Und es gibt noch einen weiteren Faktor: Anders als Ratten kann der Mensch wenigstens von Zeit zu Zeit aus der Stadt heraus. (Es scheint bezeichnend zu sein, daß der Kollaps der Hirsche auf James Island im Winter kam, als das Treibeis ihnen nicht gestattete, aufs Festland hinüberzuschwimmen.) Im Westen zumindest können die Menschen gelegentlich den Städten entfliehen. In den überfüllten Großstädten Südamerikas, des Mittleren Ostens und so weiter, deren Wachstum man von Minute zu Minute beobachten kann, gibt es nur wenige Autos, und die öffentlichen Verkehrsmittel sind unzureichend, während die Einwohnerdichte oftmals doppelt so hoch ist wie in den Großstädten der westlichen Industrienationen. 

Sollte dieser Trend anhalten, dann wird die kritische Grenze eher in den Städten jener Länder als in denen der entwickelten Länder erreicht werden. Der Zerfall der sozialen Bindungen könnte zu einem Zusammenbruch der gesamten Gesellschaft führen, noch bevor dieser auf Grund physiologischer Bedingungen erfolgen müßte. Der Jüngste Tag wird sich meiner Ansicht nach so abspielen.


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   4 Vorstädte verdrängen die Natur   

 

Die Tatsache, daß so viele Menschen zweimal täglich dichten Verkehr und Fahrzeiten bis zu einer Stunde auf sich nehmen, um außerhalb der Stadt zu wohnen, in der sie arbeiten, spricht dafür, wie sehr sie das Leben im Stadtzentrum ablehnen. Besonders der Familienvater spürt, daß seiner Frau und seinen Kindern die freiere und natürliche Umgebung am Stadtrand gut bekommt. Wer nicht pendelt, unterhält, soweit er es sich leisten kann, ein Wochenendhaus oder vielleicht ein Boot oder ähnliches.

Auch den Jahresurlaub verbringt man als Ferien fern von allem, was zum Alltag gehört. Dies ist heutzutage derart selbstverständlich, daß wir uns daran erinnern sollten, daß der Urlaub überhaupt eine verhältnismäßig neue Einrichtung ist. Erst im 19. Jahrhundert wurde der einwöchige Urlaub üblich. Aufgrund des erwähnten Widerstrebens der Menschen, in den Stadtzentren zu wohnen, bildet sich um jede Großstadt ringförmig eine weniger dicht besiedelte Wohngegend, die wir Suburbia nennen, und um diese wiederum ein ländlicher Bezirk, in welchem vorwiegend Wochenendler und wohlhabende Pendler wohnen und für den der Begriff Exurbia geprägt wurde. Suburbia hat den Vorteil, daß man einerseits schnell in die Stadt und andererseits schnell aufs Land kommt. Die Schwierigkeiten fangen dann an, wenn die Exurbia der einen Stadt mit der Exurbia der anderen zusammenwächst. 


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Gerade dies geschieht in dem Landstrich zwischen New York und Washington, wo Baltimore im Süden an Washington grenzt und im Norden an Wilmington, das wiederum Philadelphia berührt, während Trenton und andere Trabantenstädte Philadelphia und New York miteinander verbinden. Man hat ausgerechnet, daß bis zum Jahr 2000 der gesamte Streifen zwischen Boston und Washington mit einer Länge von 800 Kilometern eine einzige Wohnlandschaft sein wird.

Zum Stadtbezirk von New York werden im Jahre 2010 30 Millionen Einwohner gehören, was einer Dichte von 9300 Menschen pro Quadratkilometer entspricht, obwohl im Stadtkern lediglich 8 Millionen Menschen leben werden. Städte verschmelzen in ähnlicher Weise in Kalifornien, wo die Gegend zwischen San Francisco und San Diego bereits teilweise zu einer großen Exurbia geworden ist. Das Wachstum Londons über den Ring der unmittelbaren Vororte hinaus war bisher langsamer, zum Teil dank überlegter Planung, zum Teil auch dank der Tatsache, daß die Gemeinden hier nicht so reich sind; doch bis zur Jahrhundertwende wird London mit den Kurorten an der Küste Südenglands sowie mit Oxford und Reading verschmolzen sein, wenn nicht einschneidende Maßnahmen ergriffen werden.

Während die zusammenhängenden Ortschaften wachsen, wird es gleichzeitig immer mühsamer, daraus zu entfliehen: Die Straßen werden immer überfüllter und der Weg aufs Land immer länger. Auf Grund der Unannehm­lichkeiten des Stadtlebens neigt man heute immer mehr dazu, das Land vorwiegend als Zuflucht zu betrachten, wo sich die Stadtbewohner erholen können. Jüngst wurden die englischen Bauern in einem Erlaß der Regierung aufgefordert, dem Volk das Spazierengehen über die Felder zu erlauben sowie für Parkplätze und ähnliches zu sorgen. 

Nur ein Stadtesel kann einen solchen Erlaß verfassen. Ein Landwirt weiß, daß das Land ebenso durchorganisiert ist wie eine Fabrik. Das Grasland, für das nach Vorstellung der Städter die Natur von selbst sorgt, wird gepflügt und besät, gedüngt und bewässert, systematisch beweidet oder gemäht. Man kann sich vorstellen, wie Industrielle auf den Vorschlag reagieren würden, Besuchern zu erlauben, nach Belieben in den Fabriken herum­zuspazieren. Die Politik, das Land als Erholungsgebiet für die Städte zu behandeln, wird dessen ländlichen Charakter zerstören, wie dies bereits in Exurbia geschehen ist. Örtliche soziale Gruppierungen werden zerbrechen, und der Landbewohner wird nach der Stadt als einer Quelle von Anregungen schauen, ganz abgesehen von den physischen Auswirkungen.


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Doch uns kümmert hier weniger das Schicksal der Landschaft als die Frage, wie lange diese noch in der Lage sein wird, dem Städter die Entspannung zu bieten, die seine Fruchtbarkeit und seine Gesundheit erhält. In den USA ist die Einrichtung der Nationalparks bereits hoffnungslos überfordert. Man muß sich schon Monate vorher anmelden, wenn man in den Yosemite oder einen anderen Nationalpark will. 1968 besuchten 141 Millionen Menschen die Parks; 1948 waren es 3 Millionen gewesen. Mehr und mehr Pfade müssen asphaltiert werden, da sie den starken Fußgängerverkehr nicht mehr aushalten. (Aus dem gleichen Grund haben die Franzosen die alten Eichen in Fontainebleau eingezäunt; der Fußgängerdruck belastet den Boden so stark, daß die Bäume eingehen würden. So macht man kaputt, was man gern hat.) In den Vereinigten Staaten sind die Parks auf jeden Fall schlecht verteilt: 4 Prozent sind im Nordosten, wo ein Viertel der Bevölkerung lebt; drei Viertel sind im Westen, der nur 15 Prozent der Bevölkerung beherbergt; ein Sechstel liegt in Alaska.

Je kürzer die Arbeitswoche, je länger der Urlaub und je weitverbreiteter der Besitz von Autos werden, desto überlaufener werden die abgelegenen Gegenden. Besonders ernst wird die Lage um San Francisco herum, wo die Bevölkerung bis zum Jahr 2000 voraussichtlich auf das Neunfache ansteigen wird. Dies bedeutet neunmal mehr Abfälle auf den Wegen des Yosemite-Parks und neunmal längere Wartefristen, um überhaupt hineinzugelangen.

Eine weitere Bedrohung der Natur stellen neuartige Fahrzeuge wie Motorschlitten dar, von denen es in den Vereinigten Staaten bereits 600.000 gibt. Manche von ihnen erreichen Geschwindigkeiten von 110 Stundenkilometern und haben in jungen Pflanzungen schon viel Schaden angerichtet; Eigentum wurde beschädigt, und das Spiel wurde zum Sport heruntergesetzt. Diebstahl in entlegenen Hütten wurde zu einem Problem, und in manchen Gegenden dürfen die Motorschlitten die markierten Pisten nicht mehr verlassen. Auch machen sie viel Lärm. Noch vor Ende dieses Jahrhunderts werden Luftkissenfahrzeuge über die Seen fahren und in stilles Marschland und ruhige Buchten dringen. 


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Man entwickelt Motoren, die auf schmalen Wegen beachtliche Lasten über bergiges Gelände transportieren. Bald wird es breitere und schwerere Fahrzeuge geben. Im Jahre 2000 wird man nur noch wenige Winkel in den USA finden, wo man die Natur ungestört genießen kann.

Amerika ist auf diesem Wege am weitesten fortgeschritten; doch andere Länder folgen so gut sie können. Die Bergstraßen 30 Kilometer landeinwärts von der Cote d'Azur sind verschandelt von verschrotteten Autos, ausgedienten Küchenherden, Öltonnen und allem möglichen Unrat; Glasscherben und Orangen­schalen zieren auch die Aussichtspunkte auf entlegenen Inseln Schottlands. Manches Land wirkt auf den durchbrausenden Autofahrer oder vom Flugzeug aus verlassen und wird in Wirklichkeit doch häufig in seiner Ruhe gestört. 

Professor Kenneth Norris beklagte sich vor nicht allzu langer Zeit in einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Er hatte am Rande eines unbewohnten Kraters, 56 Kilometer von Barstow, Texas, entfernt, welches selbst weit draußen in der Wüste liegt, Fallen für Eidechsen ausgelegt; im Laufe von zwei Jahren wurden 20 Prozent dieser Fallen zerstört oder entfernt, und er mußte seine Untersuchungen einstellen. In gleicher Weise wird ein scheinbar unberührter Stein in einer kalifornischen Lagune mehrere Male im Jahr von Menschenhand umgewendet worden sein.

Überall auf der Erde wird unberührtes Land immer rarer. In Alaska locken die Ölfunde an der Nordküste, ganz in der Nähe eines Naturschutzgebietes, einen Schwärm von Ingenieuren an; man baut dort einen Hafen, den die Riesentanker anlaufen können. Traktoren können nicht die ganze Zeit auf der gefrorenen Tundra arbeiten, ohne einen bleibenden Schaden zu hinterlassen. Sobald der seit ewigen Zeiten gefrorene Boden unter dem Druck schmilzt, verwandeln sich die Fahrspuren der Fahrzeuge in tiefe Gräben, die für Tiere unpassierbar sind und das ganze Abflußsystem durcheinanderbringen. Als die Marine das an die ölfunde angrenzende Gebiet — es handelte sich um maritime Öllager — untersuchte, hinterließ sie ausgediente Bohrwerkzeuge, Öltonnen und sonstigen Plunder, der nun auf unabsehbare Zeit und weithin sichtbar dort liegenbleiben wird. Die Ausbeuter, die hinterherkommen, werden es genauso machen. 


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Es gibt Anzeichen dafür, daß auch am entgegengesetzten Ende des Naturschutzgebietes Öl vorkommt, und man drängt schon darauf, das Naturschutzgebiet selbst der Erforschung freizugeben. Die Interessen der ansässigen Eskimos wurden in schändlicher Weise mißachtet. Fairbanks wurde von dem Boom davongetragen; in den Bars und Saloons gibt es Oben-ohne-Unterhaltung; die Stadt zeigt das typische Bild des Goldrausches der Jahrhundert­wende, nur noch ausgeprägter.

Weiter östlich, in Labrador, ist man dabei, die großen Wasserfälle des Hamilton-Flusses, die man in Churchill-Fälle umbenannt hat, sich in ein Tunnel ergießen zu lassen; sie sollen das größte Wasserkraftwerk der westlichen Welt betreiben und New York mit Elektrizität versorgen. Jede Sekunde stürzen 1800 Kubikmeter Wasser 100 Meter tief hinab. Man hat dies als den <Traum für Umweltforscher> bezeichnet, da der weitläufige Sprüh, der sich wie Rauch über die einzelnen Wasserfälle erhebt und über die subarktische Wildnis senkt, in diesem Winkel ökologische Verhältnisse geschaffen hat, wie sie noch nie studiert wurden. Dies ist nun endgültig vorbei. Die Trans-Labrador-Highway schlängelt sich hinauf zur Gänsebucht, und Labrador »sieht sich dem größten Wechsel in seiner Geschichte gegenüber«. 

1963 sah Paava Kallio, der Leiter der subarktischen Forschungsstation der Universität Turku, Finnland, noch Fischadler in der Nähe der Wasserfälle nisten und Ottern über die Wege huschen; als er 1968 wieder herkam, sollte er nichts mehr davon finden; der Boden war übersät mit weggeworfenen Filmschachteln. Diese Bedrohungen der kälteren Gegenden der Erde sind ernst zu nehmen; doch sie sind minimal, verglichen mit dem, was sich in der Südsee abspielen wird. Die Südsee wird, je mehr Düsenflughäfen errichtet werden, desto stärker zum Erholungszentrum für die ganze Welt und besonders für Japan.

Den Japanern liegt das Reisen sozusagen im Blut, und sie werden im Jahr 2000 über ein Einkommen pro Kopf verfügen, welches das jedes anderen Landes der Erde weit übertreffen wird. Die mittleren Schätzungen liegen bei 33.000 Dollar pro Kopf für das Jahr 2020; dies ist fast zehnmal mehr als das derzeitige Einkommen der US-Bürger und doppelt soviel wie der Verdienst der Amerikaner im Jahre 2020.


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Ich habe bereits beschrieben, welchen Schaden die amerikanische Kriegsmarine in Meeresbuchten anrichtet, und auf die Anzeichen für ein ökologisches Unglück hingewiesen. Hierher gehören auch die Folgen des intensiven Phosphatabbaus. Die Welt benötigt für ihre Landwirtschaft immer mehr Phosphat, und es gibt nicht viele Stellen, wo man es findet. Eine kleine Insel wurde von ihren Bewohnern bereits aufgegeben, da die Phosphatbergwerke die Vegetation zerstört und die Wasserversorgung und den Wasserabfluß durcheinandergebracht haben. Kleine Inseln sind besonders empfindlich gegenüber einem Angriff auf das ökologische Gleichgewicht; sie werden kaum von irgendwelchen Gönnern besucht, und der kommerzielle Raubbau geht ohne jede Kontrolle vonstatten.

Die Inseln Westindiens sind auf diese Weise bereits weit heruntergekommen.

Besonders betroffen sind Landschaften, die von Ballungszentren aus zu erreichen sind wie das schottische Hochland, die Wälder der Adirondacks-Berge, der Schwarzwald oder die Causse. Sobald es um Strom- oder Wasser­versorgung geht, wird bekanntlich landschaftliche Schönheit ohne Bedenken den wirtschaftlichen Erfordernissen geopfert. Hier noch Beispiele aufzuzählen, ist überflüssig.

Benötigt der Mensch die Einsamkeit der Natur, oder genügt nicht schon ein Ort mit geringer Bevölkerungsdichte? Man hat oft festgestellt, daß er sie braucht. Wallace Stegman schreibt: »Uns wird etwas verlorengehen, wenn wir es irgendwann zulassen, daß das letzte jungfräuliche Stück Wald in Comics oder Plastik-Zigaretten-Schachteln umgewandelt wird, wenn wir die paar Wildarten, die noch verblieben sind, in zoologische Gärten treiben oder ausrotten, wenn wir den letzten Rest reiner Luft verpesten, den letzten sauberen Fluß verschmutzen und unsere Asphaltstraßen durch das letzte Stückchen stillen Landes hindurchführen.« Was ist an der Einsamkeit dran, das die Menschen so fühlen läßt?

Mir scheint, wir müssen hier zwei Dinge getrennt betrachten. Erstens, die Menschen benötigen ein bestimmtes Maß an Anregung, das vom jeweiligen Zeitpunkt und von der jeweiligen Person abhängt. Der eine möchte für den Urlaub ein <stilles, friedliches Plätzchen>, während der andere etwas erleben möchte und dahin geht, wo <etwas los> ist


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Extrovertierte sind wahrscheinlich mehr für Anregungen als Introvertierte. Gleichermaßen werden überreizte Menschen eine Periode mit weniger Anreizen wollen und umgekehrt. Vielleicht gewöhnen sich die Menschen auch an ein hohes Maß an Anregungen; und manche benötigen vielleicht Ablenkungen von außen, um von ihren unbewußten Problemen, Zweifeln oder Ängsten, mit denen sie sich herumquälen, loszukommen. Andere jedoch haben wohl nie ihre inneren Quellen erschlossen, die ihnen ein gewisses Maß an Zurückgezogenheit aufrechtzuerhalten und zu genießen erlauben. Man benötigt dringend intensivere Untersuchungen über die diesbezüglichen Bedürfnisse der Menschen und über ihre Verteilung in der Bevölkerung.

So wichtig dies zum Verständnis des Stresses ist, dem man in der Stadt ausgesetzt ist, so kann man meiner Meinung nach damit nicht das Bedürfnis nach freier Natur erklären. Wenn es nur um eine Reizreduktion ginge, so würde ein Dunkelraum ausreichen; auch ist der Mensch draußen in der Natur keineswegs weniger Reizen ausgesetzt: Seine Sinne sind auf Farben und Töne, Gestalten und Düfte, Ordnungsmuster und andere Eindrücke ausgerichtet. Dichter haben besungen, was den Reiz der Natur ausmacht; sie betonen den moralischen und religiösen Charakter der Natur. So sieht Wordsworth in den <Versen, geschrieben über Tintern Abbey>, in der Natur »den Anker meiner reinsten Gedanken, die Amme, den Leiter und Hüter meines Herzens und meiner Seele, aller Moral in meinem Dasein«

Andere Dichter, von Shaftesbury bis Rousseau, von Cowper bis Tennyson, von Thoreau bis zu Huysmans, haben ähnlichen Gefühlen Ausdruck verliehen. In neuerer Zeit hat Freud sich mit diesen Dingen unter dem Begriff des <ozeanischen Gefühls> auseinandergesetzt. Wir brauchen hier nicht die Ursprünge dieses Gefühls zu untersuchen; ich habe es in früheren Büchern, besonders in <The Angel Makers>, ausführlich analysiert. 

Es genügt, in diesem Zusammenhang festzustellen, daß es sich um ein religiöses Erlebnis handelt, das für diejenigen, denen es begegnet, zentrale Bedeutung besitzt. Ja, im Grunde ist es für uns alle von zentraler Bedeutung, wie ich im letzten Kapitel zeigen werde; wer diese Erfahrung nicht macht, ist das Opfer einer psychologisch bedingten Unfähigkeit, die der hysterischen Blindheit entspricht.

Ein Land, das sich zur Religionsfreiheit bekennt, sollte daher die Voraussetzungen für solch quasi-religöse Erlebnisse nicht zerstören; wer dies trotzdem tut, raubt jenen Unersetzliches, denen diese Erfahrungen Wohltat sind.


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In seiner Satire <The Environment Game> macht Nigel Calder den Vorschlag, daß die Menschen auf künstlichen Inseln im Meer leben sollten. So wäre das Land frei, die Menschen könnten es erforschen und genießen, sie könnten dort fischen und jagen. Doch es scheint nur die zweitbeste Lösung zu sein, die Leute in schiffsähnlichen Hütten einzupferchen, um ihnen dann am Wochenende ein unverwüstetes Land bieten zu können. 

Mir würde es eher behagen, wenn man die Bevölkerungszahl reduzieren würde, so daß man jederzeit nach Belieben auf dem Lande leben könnte. Der Zusammenbruch der Menschheit wird meiner Vermutung nach kommen, wenn die Mehrzahl der Menschen keine Möglichkeit für eine derartige Erholung mehr hat. 

Der Mathematiker und Science-fiction-Schriftsteller Fred Hoyle errechnete als Termin für diesen Zusammenbruch das Jahr 2250, wenn die Weltbevölkerung 25 Milliarden erreicht haben wird; doch die Demographen erwarten bei der derzeitigen Wachstumsgeschwindigkeit diese Zahl noch vor 2070. Die Bevölkerung wird daraufhin auf ganze drei Milliarden zusammenschrumpfen - ein Zyklus, der sich alle 300 Jahre wiederholen soll. 

Ich selbst bezweifle, daß wir noch bis zum Jahre 2070 durchhalten werden. 

 

   5  Optimale Bevölkerungsdichte   

 

Als das Britische Institut für Biologie im September 1969 zu einer Konferenz über die optimale Einwohnerzahl Großbritanniens einlud, wurde viel darüber gesprochen, wie es zu bewerkstelligen sei, die für das Jahr­hundertende vorausgesagte Bevölkerungszahl durch das Land zu ernähren. Doch niemand sagte, wo das Optimum liegen könnte. Am letzten Tag jedoch rief der Vorsitzende zu einer Probeabstimmung auf, und fast alle Anwesenden stimmten der Ansicht zu, daß das Land bereits übervölkert sei.

Demographen reagieren auf die Frage nach der optimalen Bevölkerung mit Verlegenheit, da es bekanntlich schwierig ist, allgemein anerkannte Ansichten umzustoßen. Als ich mir erlaubte, diese Frage auf der ersten Konferenz über Bevölkerungspolitik, die im Rahmen eines Programms über interdisziplinäre Kommunikation von der New Yorker Akademie der Wissenschaften und der <Smithsonian Institution> in Princeton 1968 einberufen worden war, zu stellen, gab es betretenes Schweigen; danach bestimmte der Vorsitzende, daß man die Frage bis zum Ende des Treffens aufschieben sollte. Am Schluß wurde sie nicht mehr diskutiert. 

Doch die Tatsache, daß man sich nicht auf eine bestimmte Zahl festlegen kann, macht die Frage noch lange nicht gegenstandslos. Und das Faktum, daß fast jeder einer mehr als hundertköpfigen, gutinformierten Zuhörerschaft meinte, England sei nicht optimal, sondern entschieden zu dicht bevölkert, läßt Möglichkeiten für eine soziale Politik erhoffen. Schließlich kann man ja auch einen Autofahrer darauf aufmerksam machen, daß er zu schnell fährt, selbst wenn man die Geschwindigkeit nicht genau angeben kann, die er einhalten sollte.

Sicherlich kann man die günstigste Besiedelung eines Landes nicht durch die bloße Zahl seiner Einwohner ausdrücken. Die räumliche Verteilung ist von entscheidender Bedeutung. Teile der USA sind heute gewiß zu dünn besiedelt, ebenso wie andere Teile übervölkert sind. Es kommt jetzt darauf an, eine Umverteilung vorzunehmen; wenn dies einmal geschehen ist — ob es wohl jemals geschehen wird? —, überblickt man besser, ob es zuviel oder zu wenig Menschen sind. Was den einzelnen von uns interessiert, ist der Bezirk, in dem er sich gewöhnlich bewegt, sagen wir ein Umkreis von 50 bis 150 Kilometern. Wenn dieser Bezirk zu dicht besiedelt ist, dann nützt uns freie Natur in einer Entfernung von 80 Kilometern nur wenig. Ist die Gegend andererseits sehr einsam, so ändert eine Stadt, die zwei Stunden entfernt ist, an diesem Zustand ebenfalls nicht viel.


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Mit diesen Vorbehalten können wir, so glaube ich, dreierlei Kriterien zur Schätzung des Optimums finden. 

Am gängigsten ist der wirtschaftliche Gesichtspunkt, der für eine relativ hohe Bevölkerungsdichte spricht. Eine große Bevölkerung bedeutet einen größeren Markt und unterhält ein vielseitigeres soziales und kulturelles Leben und so weiter. So führt Professor Victor R. Fuchs aus, daß nach wirtschaftlichen Maßstäben ein Krankenhaus mindestens 200 Betten haben sollte und bei einer Bettenzahl von 500 noch funktionsfähig ist. Dies bedeutet, daß 100.000 bis 200.000 Menschen im entsprechenden Einzugsgebiet leben. Man hat sogar vermutet, daß eine große Bevölkerung gleichzeitig eine bessere kommunale Regierung ermöglicht; doch glaube ich, daß dies weitgehend eine Frage vernünftiger Verwaltungseinheiten ist.

 en.wikipedia  Victor_Fuchs  *1924

Wirtschaftsfachleute anerkennen ein Limit nur dann, wenn Verschmutzung, zu hohe Verkehrsdichte und andere wirtschaftlich meßbare Faktoren den wirtschaft­lichen Wohlstand zu untergraben beginnen. Die relative Zahl der Verkehrstoten in den USA läßt sich direkt mit der Bevölkerungsdichte korrelieren. Im Grunde genommen bewirkt das Auto dadurch, daß es die Menschen häufiger zusammenbringt, das gleiche wie ein Bevölkerungsanstieg. Wenn man Gas erwärmt, steigt der Druck, und die Moleküle stoßen öfter zusammen; das gleiche passiert, wenn man in dasselbe Volumen mehr Gas einführt. Macht man beides gleichzeitig, so steigt der Druck proportional dem Produkt beider Faktoren. In Analogie dazu hat der Mensch sowohl die Zahl der Einheiten als auch die Energiemenge erhöht. Richtig wäre es gewesen, die Bevölkerung zu dem Zeitpunkt zu reduzieren, als das Auto Allgemeingut wurde. Statt dessen ließ man die Bevölkerung noch anwachsen.

Bilden die wirtschaftlichen Gesichtspunkte das eine Extrem, so stellen die biologischen Kriterien das andere dar. Danach sollten nicht mehr Menschen auf einem Stück Land leben, als dieses sie zu erhalten in der Lage ist, damit nicht unersetzbare Vorräte, wie zum Beispiel fossiler Brennstoff, aufgebraucht werden. Bisher hat anscheinend noch niemand ausgerechnet, was das in Wirklichkeit bedeuten würde. Dies ist zwar auch ein wirtschaftlicher Gesichtspunkt, doch liegt ihm ein Denken in viel größeren Zeiträumen zugrunde als dem der bornierten Wirtschaftler.


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Zwischen den wirtschaftlichen und den biologischen Kriterien liegen die der Sozialpsychologie. Ich habe versucht, sie darzulegen: Auf der einen Seite ist Vereinsamung zu vermeiden sowie der Mangel an nachbarlicher Unterstützung; auf der anderen Seite steht das Gefühl, irgendwo hineingezwängt zu sein. Dies spricht, so meine ich, für eine Population, die in der Mitte liegt zwischen der von den Wirtschaftlern und der von den Biologen geforderten.

Auf längere Sicht ist die Geschwindigkeit, mit der all die unersetzbaren Vorräte — nicht nur Brennstoff — aufgezehrt werden, der begrenzende Faktor. Diesbezüglich kam ein Sonderkomitee des <National Research Council> nach einer dreijährigen Untersuchung zu dem Schluß, daß sich bereits zu viele Menschen auf der Erde befinden. Um den Erfordernissen der Zukunft nachkommen zu können, gibt es einfach nicht genug der unersetzlichen Naturschätze. Das Komitee unter Vorsitz von Professor Preston Cloud, Santa Barbara, führte aus: »Eine kleinere Weltbevölkerung als unsere derzeitige gäbe uns die begründete Hoffnung auf ein angenehmes Leben für unsere Nachkommen, auf eine Erhaltung der Art über lange Zeit sowie auf die Erhaltung einer schönen Umwelt.«

Professor Fremlin, ein Physiker an der Universität Birmingham, diskutierte die extremen Zukunftsmöglichkeiten der britischen Bevölkerung: 1000 Millionen (zwanzigmal mehr als heute) oder 30 Millionen. Bei 30 Millionen, meint er, könnte jeder Autobesitzer sein, ohne daß die Straßen verstopft wären, man hätte auch ohne Raubbau genug zu essen, der Wohnungsstandard würde steigen, ein Wohnungswechsel wäre einfacher, und noch mehr Menschen könnten die Erholungszentren des Landes genießen. Bei 1000 Millionen dürften Künstler und Schriftsteller, die sonst völlige Außenseiter wären, noch mit einem Publikum rechnen; es würde kulturell mehr geboten, und sicherlich gäbe es auch »einige Newtons und Shakespeares«. Doch würde sich jedermann die meiste Zeit wünschen, »sich in einem Schlupfwinkel zu verkriechen«


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Außerhalb der Städte gäbe es Platz zum Umherschweifen, »wenn nur einer von tausend den Wunsch hegt, mehr als ein paar Stunden im Jahr draußen zu verbringen«

Ihn stören solche Aussichten nicht: »Ich bezweifle, ob es schlimm wäre, wenn wir in ein oder zwei Generationen dahin kämen. Viele Tiere bringt es in gefährlicher Weise durcheinander, wenn sie in großen Massen zusammenleben müssen, doch wir können lernen, auch eine große Zahl sozialer Kontakte auszuhalten, solange diese zum großen Teil unverbindlich bleiben, und wenn jeder von uns seine eigene Kleingruppe hat, in der er sich geborgen fühlt.«

Solcher - sagen wir's unverblümt - unverantwortliche Unsinn kommt heraus, wenn ein Physiker sein Fachgebiet verläßt und anfängt, soziologische Gesetze aufzustellen, von denen seine Kenntnisse nur oberflächlich sind.

Umweltforscher wie Leyhausen kennen sich da besser aus.

Professor J. Hutchinson machte den Vorschlag, als ein langfristiges, realistisches Ziel für England eine Bevölkerung von 40 Millionen anzustreben; seiner Meinung nach müßte dieser Schrumpfungsprozeß sich über einen Zeitraum von über 200 Jahren hinziehen.

Professor Kingsley Davis möchte für die Vereinigten Staaten eine noch kleinere Zahl ins Auge fassen: 20 Millionen. Wo es vielerlei Kriterien gibt, gibt es natürlich auch vielerlei Definitionen für die optimale Population. 

Für den Landwirt liegt das Optimum da, wo das Land noch ohne Schaden bebaut werden kann. Es ist charakteristisch, daß Professor Fuchs, ein Wirtschaftsfachmann, diese Definition anbietet: »Wir können das Optimum als die Größe definieren, wo der Teil der Bevölkerung, der einen gewissen Preis für eine Reduktion der Bevölkerung, sagen wir um 10 Prozent, zu zahlen bereit ist, gleich groß ist wie der Teil, der den gleichen Preis für eine um denselben Prozentsatz vermehrte Einwohnerzahl zahlen würde.« 

Doch dies hängt von der Einkommensverteilung ab und würde voraussetzen, daß die Menschen in solchen Fragen rational urteilen; das ist, wie wir alle wissen, nicht der Fall. Ich ziehe die Definition des Biologen Professor Southwood vor: »Das Bevölkerungsoptimum liegt bei der Höchstzahl an Menschen, die ohne Beeinträchtigung der Gesundheit des einzelnen durch Verschmutzung, sozialen Streß oder Nahrungsnot kontinuierlich aufrechterhalten werden kann.«

Zu alledem kommen noch die politischen Implikationen einer großen Population. Montesquieu sagte, daß Demokratie nur in einem Land passender Größe möglich sei; diesem Gedanken hat Plato schon 2000 Jahre früher Ausdruck verliehen. Möglicherweise führt die Ausdehnung der Bevölkerung zu einer weiteren Zentralisierung der Herrschaft, und der Ruf nach Dezentralisierung mag nur eine Art Protest gegen das Unvermeidliche darstellen.

Paul Leyhausen gehört zu denjenigen, die darauf hinwiesen, daß die Opfer, die der einzelne dem Allgemeinwohl zu bringen hat, mit wachsender Bevölkerungs­dichte zunehmen; auf diesen Punkt habe ich vor 20 Jahren in meinem Buch <Conditions of Happiness> hingewiesen. Wenn jemand im Wald wohnt, kann er sich Schweine halten oder sein Haus abbrennen, ohne den Nachbarn zu belästigen, denn er hat keinen Nachbarn. In der Stadt ist beides verboten; ja, man kann nicht einmal sein Radio bei Nacht laut laufen lassen! Mit wachsender Bevölkerung kann man sein Auto nicht mehr stehen lassen, wo man möchte, oder sich ein Haus ohne Genehmigung bauen. 

Vielleicht wird man eines Tages den privaten Grundbesitz aufgeben müssen. Derartige Einschränkungen werden immer lästiger; sie müssen genau gegen die Vorteile abgewogen werden, auf die die Wirtschaftler ihr Augenmerk richten.

Schließlich sei noch auf einen Punkt verwiesen. Selbst wenn wir zu dem Schluß kommen, daß die Erde oder ein Teil davon noch nicht die optimale Bevölkerungs­dichte erreicht hat, so bleibt doch die Frage, wie schnell wir vernünftigerweise dieses Niveau anpeilen sollen. Zu rasches Wachstum führt zu Spannungen, das haben wir gesehen. 

Ich möchte mich Professor A. Spilhaus anschließen, der sagte: »Wenn wir erst einmal alle Menschen, die leben, als Menschen behandeln können, dann wird es noch früh genug sein, darüber nachzudenken, ob wir noch mehr Menschen haben wollen.« 

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  Das Selbstmordprogramm (1970)  The Doomsdaybook - Taylor