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6 - Sozialer Selbstmord

 

 1 Was ist die Gemeinde? — 2 Die Pros und Kontras der Gemeinde — 3 Der funktionelle Status
 4 Die Zersetzung der Gemeinde — 5 Massengesellschaft — 6 Die anomische Gesellschaft — 7 Die Ursprünge der Anomie 

   1 Was ist die Gemeinde ?  

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»Paris ist eine lose Ballung vieler, sehr vieler kleiner Provinzgemeinden, die alle autark und erfreulich oder ekelhaft sippenbewußt sind. <Leben Sie hier?> fragt man dich in den kleinen örtlichen Läden, und die Antwort macht einen Unterschied aus, nicht nur im Preis, sondern auch in der Art der Bedienung. Ein Polizist verhaftet dich nicht, wenn du in seinem Revier wohnst. Das Straßenmädchen wird dir nicht die Taschen leerstehlen, man wird dich sicher nach Hause bringen. Selbst wenn du ein Ausländer bist, kannst du immer noch ein <petit Parisien>, ein <Innenseiter> sein, französischer als ein Pariser aus einem anderen Stadtviertel, er ist der Fremde.«

Diese Stelle aus der Autobiographie Lincoln Steffens' drückt die Idee der Gemeinde plastisch aus. Die Roman­autorin Mary Mitford formulierte sie in den 1820er Jahren noch deutlicher, als sie von ihrem Dorf »als einer kleinen, uns gehörenden Welt« sprach: »... wo wir jeden kennen und jedem bekannt sind, an jedem interessiert und zu der Hoffnung berechtigt, daß jedermann an uns Interesse empfindet«.

Dieses Gefühl der Gemeinde ist, wie jedermann weiß, in der modernen Welt im Schwinden begriffen. Viele unserer Probleme sind dieser Tatsache zuzu­schreiben. Man betont unaufhörlich, daß wir unseren <Gemein­schafts­sinn> wiederherstellen müssen. 

Die Kommunen, die überall in den USA, in Deutschland und anderswo entstehen, sind Gemeinden in dem Mitford'schen Sinn, und ihre Mitglieder schließen sich ihnen notgedrungen an, weil es der modernen Gesellschaft so sehr an einem Gefühl der Gemeinschaft mangelt.

Und doch fährt die Gesellschaft insgesamt, trotz dieser Neubestätigung des Bedürfnisses nach Gemeinschaft, in ihrem alten Trott fort und unterminiert unbekümmert die Gemeinde rechts und links des Weges. Ignoranz und Selbstinteresse sind eine der Gründe. Wichtiger noch ist vielleicht das Versagen, die enormen gesellschaftlichen und persönlichen Kosten dieses Handelns zu erkennen. 

In diesem Kapitel will ich daher ganz klar definieren, was eine Gemeinde ausmacht, was ihre Vorteile und Nachteile sind, welchen Preis das Fehlen einer Gemeinschaft oder — wie manchmal gesagt wird — das Leben in einer Massengesellschaft, fordert.

 

Die Definitionen der Gemeinde, wie sie von den Soziologen geboten werden, sind nicht sehr hilfreich und oft psychologisch falsch. Die beste ist vielleicht die: »Das Kennzeichen einer Gemeinde ist, daß man sein Leben ganz darin verbringen kann.« Das ist jedoch kein wesentlicher Zug, ich schlage daher vor, sie sich als ein Netz zwischen-menschlicher Beziehungen und emotioneller Investitionen vorzustellen. Sie ist ein System gegenseitiger Verpflichtungen, Einschätzungen und emotioneller Bindungen. Wir wollen uns diese drei Komponenten einmal ansehen.

Gegenseitige Verpflichtungen beschränken ein selbstsüchtiges oder asoziales Verhalten. Der Besitzer eines Ackers kann zu dem Bauern, der ihn pachtet, nicht unfreundlich sein, sonst bekommt er nicht die kostenlose Fuhre Mist, die er gewöhnlich erhält; der Bauer seinerseits kann die Erhaltung der Zäune und Hecken nicht vernachlässigen, sonst wird seine Pacht nicht erneuert. Bei vielen primitiven Stämmen werden derartige gegenseitige Verpflichtungen ganz bewußt geschaffen, besonders wenn zwei Gruppen (wie etwa zwei Familien) zum erstenmal in Kontakt kommen. Oft macht man Geschenke und schafft somit eine Verpflichtung, sie zu einem späteren Zeitpunkt mit noch prächtigeren Geschenken zurückzuzahlen — eine Tatsache, die von Europäern auf Besuch, die die Gastfreundschaft ohne jedes Gefühl der Verpflichtung in Anspruch nehmen, nicht immer erkannt wird.


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In der modernen Gesellschaft werden dagegen gegenseitige Verpflichtungen durch einen Vertrag definiert; vorausgesetzt, daß seine Bedingungen erfüllt werden, entsteht daraus keine allgemeine Verpflichtung, man hat kein Gefühl eines gesellschaftlichen Drucks.

Es sind jedoch nicht nur die gegenseitigen Verpflichtungen, die die Menschen in einer Gemeinde miteinander verbinden. Vermischt mit ihnen sind positive emotionelle Verpflichtungen: die Liebe bei den einen, die Bewunderung bei den anderen, Mißtrauen gegen einige, Abneigung, ja vielleicht sogar Haß gegen andere. Auch gehören Dankbarkeit für empfangene Hilfe, Eifersucht und Neid, Respekt und Mißtrauen dazu.

1946 trug ich die Idee vor, daß es eine natürliche gesellschaftliche Einheit gibt, der ich den Namen <Einschätzungsgruppe> gab — nämlich die größtmögliche Gruppe, in der jedes Individuum eine persönliche Einschätzung der Bedeutung der Mehrheit der anderen Individuen der Gruppe in bezug auf sich selbst bilden kann. Abhängig davon, eine wie große Mehrheit wir als Kriterium betrachten, und von anderen Faktoren wie der Geographie und der Leichtigkeit des Kontakts, schlug ich vor, daß etwa 1200 Menschen die Maximalgröße für eine derartige Gruppe sind; oberhalb dieser Ebene sinkt das Verhältnis der Gruppe, die eine Person einschätzen kann, ab, bis sie etwa bei der 2000-Grenze aufhört, eine <Von-Angesicht-zu-Angesicht-Gruppe> zu sein. (Es ist vielleicht bezeichnend, daß ein Industriekonzern in organisatorische Schwierigkeiten gerät, wenn er dieses Stadium erreicht.)

Wie viele Schriftsteller betont haben, haben Menschen ein sehr starkes Bedürfnis, als Individuen anerkannt und nicht als Nummer behandelt zu werden. In einer Dorfgemeinschaft werden wir im Licht einer ziemlich ausgedehnten Kenntnis unserer gesamten Persönlichkeit bewertet. Wir wissen, daß der Doktor jähzornig, aber auch, daß er ein guter und gewissenhafter Arzt ist. Wir wissen, daß unser Nachbar zu viel trinkt — aber auch, daß er vor kurzer Zeit seine Frau verloren hat. Wenn ein Kunde seine Rechnung in dem Dorfladen nur zögernd bezahlt, weiß der Besitzer, ob er arbeitslos ist oder ob er sehr wohl bezahlen könnte. 


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In der Anonymität der Massengesellschaft gleicht eine unbezahlte Rechnung der anderen, und der Computer stellt nicht in Rechnung, daß etwa der Schuldner bei der Rettung eines Kameraden im Bergwerk einen Arm verloren hat.

Ich habe die Bedeutung der emotionellen Investition in andere Menschen innerhalb der Gemeinschaft erwähnt. Häufiger noch übersieht man die Bedeutung der emotionellen Investition in Orte, in die vertraute Szenerie, in die eigene Heimatstadt und das eigene Heim selbst. Selten ist der Mensch, der keine sentimentale Bindung an sein Heim besitzt. Oft kehren Menschen am Ende ihres Lebens in ihre heimische Umgebung zurück. 

(In den vergangenen Wochen haben mir, während ich schrieb, drei Menschen gesagt, daß sie endlich das Gefühl hätten, sie müßten in dem Teil Großbritanniens seßhaft werden, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatten, und der Dichter W. H. Auden ist aus dem gleichen Grund nach Großbritannien zurückgekehrt.)

Solche Gefühle <als bloße Sentimentalität> abtun, hieße an dem Kern der Sache vorbeigehen. Wenn solche Bindungen Freude machen oder ein Gefühl der Sicherheit und der Dazugehörigkeit bringen, sind sie höchst wichtig, und wir sollten sie ermutigen und erleichtern, anstatt darüber zu lachen. Man sollte <Sentimentalität> nicht zu geringschätzig behandeln.

Das Gefühl für den Ort stützt die Gemeinde. Ein Mensch, der sein ganzes Leben an dem gleichen Ort zugebracht hat, identifiziert sich mit ihm, sein Gefühl für den Ort und die Menschen vermischen sich zu einem einzigen Schema.

Es braucht kaum betont zu werden, daß die Kräfte der modernen Gesellschaft sowohl die Permanenz der persönlichen Beziehungen wie der Bindung an den Ort untergräbt. Wir wollen nun überlegen, warum die Gemeinschaft so weitverbreitet für etwas Wünschenswertes gehalten wird.

Wo Menschen viele Jahre an einem Ort leben, werden sie gefühlsmäßig an ihn gebunden: die Bäume, die Hügel, die Gebäude und so weiter, sie alle bedeuten Heimat. Mit der Szenerie assoziiert sind spezifische Ereignisse der Vergangenheit, die eine persönliche Bedeutung haben, ein Picknick hier, eine erste Arbeit dort, der Platz, wo Mrs. Smith einen Herzanfall hatte und so weiter. Ganz gleich, ob das Milieu häßlich oder schön ist, es ist mit dem eigenen Leben verknüpft.*

 *  Das Zögern von Slumbewohnern, ihre Slums zu verlassen, ist diesem Motiv ebenso zuzuschreiben wie dem Verlust des Kontakts mit Freunden: die Gegend, in die sie ziehen, ist oft in menschlichen Begriffen nicht verlockend, selbst wenn sie ästhetisch überlegen oder angemessener ist.


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   2 Die Pro's und Kontra's der Gemeinde  

 

Die Gemeinden bieten eine viel größere physische und psychologische Sicherheit als die Massen­gesell­schaft. Sie üben auch gesellschaftliche Kontrollen aus, die, obwohl sie unter gewissen Umständen erdrückend wirken können, gewöhnlich das Leben sicherer und angenehmer machen.

Die treibende Kraft einer Gemeinde ist der allgemein menschliche Wunsch, mit anderen gut auszukommen sowie die Erkenntnis, daß man eines Tages selbst Hilfe brauchen könnte. Es ist besser, Freunde zu haben als Feinde. Wenn das eigene Haus in einer Gemeinde brennt, werden die Nachbarn beim Löschen des Feuers helfen oder einem Obdach geben, wenn es zerstört wird. Sie können auch in einer weniger dramatischen Situation helfen, etwa einem Mann eine Stellung verschaffen, wenn er arbeitslos wird, oder einer Mutter beistehen, die erkrankt, und so weiter. Im Gegensatz dazu kann in einer Massengesellschaft ein Mensch in der Öffentlichkeit ermordet werden, während die Zuschauer nicht einmal Halt machen, um zu helfen, wie das bei einer berühmt gewordenen Gelegenheit in New York der Fall war. In einer Gemeinde (wie jener, in der ich lebe) wäre es einfach undenkbar, daß jemand einem Mitglied in Not nicht helfen würde — denn der Preis wäre der, daß es eines Tages andersherum kommen könnte. 


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Wo die Zahl der Menschen, die zusammengedrängt sind, zu groß wird, als daß ein Individuum die meisten Menschen, die er sieht, auch kennt, und wo er sein gesellschaftliches Leben mit einer anderen Auswahl von Menschen zubringt als der, die er in seinem Geschäfts- oder Arbeitsleben trifft, und wo seine Nachbarn Fremde sind, verschwindet die Gemeinde.

Die Einschätzungsgruppe bietet also erstens psychologische Sicherheit. Es gibt Beweise, daß überall dort, wo wir Fremden begegnen, Ängste wachgerufen werden, bis wir bestimmen können, ob sie eine Bedrohung darstellen oder nicht — ob es nun eine physische Bedrohung oder eine Bedrohung unserer psychologischen Sicherheit sein mag. (Das ist auch der Grund, warum Menschen, wenn sie sich zum erstenmal treffen, fragen: »Woher kommen Sie?« und begeistert sind, wenn beide aus der gleichen Stadt kommen, das heißt in Wirklichkeit Mitglieder der gleichen Gemeinde sind — mit gemeinsamen Interessen und Annahmen.)

Zweitens verleiht die Gemeinde Status oder genauer gesagt Prestige, und zwar in Übereinstimmung mit dem totalen Beitrag und dem persönlichen Wert einer Person. Jedermann wünscht ein Gefühl seines eigenen Werts zu haben, und die meisten Menschen ziehen es vor, daß ihnen die Wertschätzung von der Gemeinde zuteil wird, in der sie leben. Wie bereits gesagt wurde, brauchen die Menschen sowohl Leistung wie Erfolg — etwas getan zu haben und dafür anerkannt zu werden, daß man etwas getan hat. Diese Frage des Status und des Prestiges ist so wichtig und wird so wenig verstanden, daß ich ihr, statt sie hier zu diskutieren, den nächsten Abschnitt widmen werde.

Drittens übt die Gemeinde gesellschaftliche Kontrollen aus, in erster Linie auf der Basis wechselseitiger Hilfe, wie ich sie bereits erwähnt habe, aber auch, weil die Menschen von der Gemeinde nichtwirtschaft­liche Vorteile wie Status und Gastfreundschaft erhalten. Der Kaufmann kann nicht überfordern oder den Zucker mit Sand vermengen, wenn er seine Statusposition etwa als Mitglied des Kirchenrats behalten oder wenn er zu gesellschaftlichen Veranstaltungen von Nachbarn eingeladen werden will. Sein geschäftliches Leben ist nicht von seinem persönlichen getrennt. Wenn er einen derartigen Druck ignoriert, kann er geächtet werden, aber die meisten Menschen fühlen ein starkes Bedürfnis, in ihrer Gemeinde <gut zu stehen>; diese Tatsache hindert sie an einem antisozialen Verhalten, lange ehe eine Ächtung zur Drohung wird.


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Die Tatsache, daß die verschiedenen Seiten des Lebens — die wirtschaftliche, persönliche, politische und gesellschaftliche — integriert sind, so daß die eine auf die andere einwirkt, ist das wirkliche Merkmal der Gemeinde. In der Massengesellschaft, in der man mit vielen Menschen wirtschaftliche Beziehungen hat, ziehen die persönlichen Beziehungen zu anderen, Ausbeutung und antisoziales Verhalten nicht länger gesellschaftliche Strafen nach sich. Es ist sicherlich wahr, daß dieser soziale Druck in einigen Gemeinschaften beschwerlich wird; selbst wenn wir uns auf keine persönlichen Erfahrungen stützen können, haben wir alle von den engstirnigen, zensurausübenden, schnüffelnden Gemeinden gelesen, die im neunzehnten Jahrhundert so häufig waren. Tatsache ist, daß Menschen, wenn sie rachsüchtig sind, eine rachsüchtige Gemeinde schaffen werden. Der Fehler liegt nicht in dem System der Gegenseitigkeit, das wir Gemeinde nennen, die insgesamt sogar Rachsucht dämpft, sondern in der Korruption der Persönlichkeit; auf dieser Ebene muß man sich mit dem Problem befassen (siehe Kapitel 10).

Manchmal hört man das Stadtleben preisen, <weil man dort so frei ist> oder weil niemand in den persön­lichen Angelegenheiten des anderen herumschnüffelt. Das ist verständlich, die Strafe dafür ist jedoch, daß man verunsichert ist und einsam sein kann. Es mag vernünftig sein, aus einer niederträchtigen und engstirnigen Umgebung zu fliehen, aber es ist noch besser, in eine aufgeschlossene und großzügige zu ziehen.

Die kleine Gemeinde kann auch darunter leiden, daß sie einen zu engen Bereich von Wahlmöglichkeiten anbietet. Wenn es bloß darum geht, eine besondere Arbeit zu finden, kann man die Schwierigkeit beheben, indem man anderswohin zieht. Wenn es aber etwa darum geht, einen größeren Bereich von Freunden zu haben, kann dieses Bedürfnis nur in größeren Gemeinden befriedigt werden.

Diese Einwände gelten in erster Linie für die völlig geschlossenen Gemeinden, wie man sie heute nur unter der Bedingung der geographischen Isolierung findet, oder dort, wo religiöse Überzeugungen die Mitgliedschaft scharf definieren, wie etwa bei den Mennoniten.

Die offene Gemeinde, die alle zuläßt, die ihr beitreten wollen — und sogar jene umwirbt, die etwas Besonderes beizutragen haben —, die Beziehungen zu anderen Gemeinden unterhält und deren Mitglieder die Möglichkeit haben, von Zeit zu Zeit anderswohin zu reisen, um Körper und Geist zu erfrischen, braucht nicht unter diesen Rückschlägen zu leiden.


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   3 Der funktionelle Status  

 

T. H. Whitehead erzählt in seinem Buch <Leadership in a Free Society> die Geschichte eines neuen Arbeiters, der in eine Fabrik eintrat, in der das Prestige lange Zeit von dem Geschick mit dem Kaltmeißel abhing, obwohl dieses Werkzeug in Wirklichkeit durch eine Maschine ersetzt worden war. Der neue Arbeiter erweckte als Individuum beträchtliche Abneigung, die Männer hielten jedoch mit ihrem Urteil zurück, bis sie sich in einer Arbeitspause versammelten und zusahen, wie der <Neue> sein Geschick mit dem traditionellen Werkzeug demonstrierte. Er tat das sehr erfolgreich und genoß nachher den Respekt der anderen als ein Mann, <der mit seinem Kaltmeißel umgehen kann>. Das Prestige, das in erster Linie von der Beschäftigung eines Menschen und seiner Geschicklichkeit bei der Arbeit abhängt, ist ein wichtiges Element in der menschlichen Befriedigung.

Das Wort Status hat dank Werken wie <The Status Seekers> die Bedeutung von Prestige erlangt. Korrekterweise bezieht sich Status auf eine Position in der Gesellschaftsstruktur, eine Öffnung, in die eine Person paßt. Einige Statuspositionen sind durch hohes, andere durch niedriges Prestige gekennzeichnet, andere können im Prestige gleich, aber verschiedenartig sein. Das Prestige definiert die Achtung, die andere für einen Menschen empfinden. In einer organischen Gesellschaft hängt das Prestige eines Menschen in erster Linie von seinem Beitrag für die Gemeinschaft ab und steht daher in Verbindung zu seiner Arbeit. So tendiert ein Arzt zu einem hohen Prestige, ganz ungeachtet seiner persönlichen Eigenschaften. Ein Mensch, der der Gemeinschaft in seiner Freizeit einen Beitrag leistet, gewinnt Respekt, und Respekt wird auch Personen erwiesen, die man für ungewöhnliche Individuen hält — besonders fromme oder sehr gelehrte —, selbst wenn sie nicht offensichtlich etwas für die Gemeinde beitragen.


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In einer organischen Gesellschaft ist das Prestige daher funktionell, das heißt es wird aus den Funktionen eines Menschen abgeleitet. In einer Massengesellschaft können wir jedoch nicht beurteilen, wie nützlich die Position eines Menschen ist, noch wie gut er sie ausfüllt. Wir neigen daher dazu, nach indirekten Hinweisen zu urteilen, die manchmal Statussymbole genannt werden. Aus seiner Kleidung oder seinem Auto oder seinem Lebensstandard schließen wir, wie erfolgreich jemand ist. Reichtum ist jedoch ein sehr unzuverlässiger Indikator für den gesellschaftlichen Wert, und Statussymbole können jedenfalls in einem beträchtlichen Ausmaß gefälscht werden. 

So mögen viele Menschen ein Prestige erlangen, das sie nicht verdienen, und andere versagen, die es verdienen würden. Das hat drei Ursachen. 

Erstens macht es uns die Kompliziertheit der modernen Gesellschaft schwer, zu beurteilen, ob beispielsweise ein Buchhalter oder ein Wissenschaftler wirklich etwas für die Gesellschaft beitragen. Zweitens wird Reichtum nicht einfach als Indikator für Leistung verwendet. Drittens hat es die Arbeitsteilung und die Automatisierung industrieller Arbeitsvorgänge in vielen Berufen unmöglich gemacht, daß ein Arbeiter ausnehmende Geschicklichkeit, Kraft oder Einfallsreichtum zeigt. Man kann einfach nicht Respekt erringen, indem man den ganzen Tag die gleiche, einfache Bewegung wiederholt. Die Dorfgemeinde, die ihren besten Pflüger oder Holzfäller verliert, empfindet ein Gefühl des Verlusts. Der Verlust eines Arbeiters am Fließband kann sofort wieder ersetzt werden. So wird der Arbeiter sowohl des Gefühls der Leistung wie des Erfolgs beraubt; er kann nur versuchen, Prestige zu kaufen, indem er seinen Verdienst auf ein Maximum steigert und das Geld dazu verwendet, Statussymbole zu kaufen.

Dieser kurze Bericht über den Status in der modernen Gesellschaft muß durch zwei Punkte ergänzt werden. Erstens habe ich mich nicht auf den ererbten Status bezogen. In der reinsten Form sieht man ihn im Königtum. Es ist natürlich, daß der Führer einer organischen Gesellschaft Prestige besitzen soll.


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Könige waren Führer und sind das in einigen Ländern immer noch. Sie können gut sein oder auch nicht. Nicht das Prestige der Statusposition ist unnatürlich, lediglich die Art, wie sie ausgefüllt wird. Gesellschaften verleihen denen, die einen hervorragenden Beitrag geleistet haben, oft hohe Merkmale des Prestiges: Ehrentitel sind eine derartige Belohnung, und sie dienen sowohl als Ausdruck des Respekts wie als Signal für andere, die vielleicht nicht wissen, welcher Leistung der Respekt zuzuschreiben ist, wie etwa bei der französischen Ehrenlegion. Auch in Rußland gibt es Stachanows und Helden der Sowjetunion.

Wenn die Gesellschaft immer anonymer wird, werden diese Statusmerkmale immer wichtiger, und es ist sehr wesentlich, daß sie angemessen verteilt werden. In Ländern wie beispielsweise in Großbritannien, wo die Verteilung in der Hand politischer Parteien liegt, werden die Ehren allzu häufig Förderern der Partei verliehen oder* Menschen, die den Industrialisierungsprozeß noch weiter vorangetrieben haben, oder >populären Figuren< (zum Beispiel den Beatles). Oft scheint es, als wollten diese >Gönner-Komitees< eine >Inflation< des ganzen Systems betreiben. Die Linke dagegen sieht in der Verleihung von Ehren eine lächerliche und veraltete Übung, während sie tatsächlich ein wesentlicher gesellschaftlicher Mechanismus ist.

Zweitens sollte man hinzufügen, daß denen, die Macht besitzen, Achtung gezollt wird, wenn auch nur aus dem Grund, daß sie diese Macht dazu brauchen könnten, einem zu helfen oder zu schaden. Daher werden in der Armee, wo man leicht jemandem begegnen kann, der einem von Angesicht nicht bekannt ist, Rangabzeichen getragen, die sowohl die Position in der Machthierarchie anzeigen, als auch ein Abzeichen des persönlichen Wertes sind. So sind die Plätze in der Machthierarchie auch Statuspositionen, und der Status der Feudalherren oder des Landbesitzers im achtzehnten Jahrhundert, ganz zu schweigen von dem Pfarrer und dem Bischof, hingen mehr von ihrer Machtposition als von ihrem Beitrag für das allgemeine Wohl oder dem persönlichen Wert ab. Wenn der Status funktionell sein soll, dürften keine Mitglieder der Gemeinde Macht über andere haben, es sei denn, sie sind beauftragt, für die Gemein-


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schaft zu handeln, wie im Fall von Regierungsbeamten und so weiter. Wenn ein Mann die Macht hat, mich meines Hauses oder meiner Stellung zu berauben, bin ich gezwungen, mich ihm unterzuordnen. Unglücklicherweise können selbst dort, wo die Macht verteilt ist, Menschen die Köpfe zusammenstecken und eine Clique bilden, um ihre Macht zu betonen.

Eine Diskussion wie diese wäre im neunzehnten Jahrhundert leicht verständlich gewesen, da jedermann die Existenz von verschiedenen Status akzeptierte, obwohl man damals nicht erkannte, daß sie eher auf Funktionen als auf Macht und Reichtum gegründet sein sollten. Heute kann eine derartige Diskussion auf Ablehnung stoßen, weil viele Menschen das Gefühl haben, daß alle Prestigepositionen unecht sind und daher Respekt gegenüber dem Wert oder der Erfahrung oder gar der Macht leugnen. Weil sie fühlen, daß sie selbst nicht respektiert werden, verweigern sie den Respekt auch anderen. 

Die Kur dafür wäre, die Gesellschaft neu aufzubauen, so daß Menschen den Respekt erhalten, der ihnen zusteht, kurz gesagt, das funktionelle Prestige wieder herzustellen. Das tiefste Gefühl des Menschen ist es, ein Gefühl der persönlichen Bedeutung zu haben und bestätigt zu sehen. <Respektabilität> ist wegen ihrer bourgeoisen Perversionen zu einem geringschätzigen Wort geworden. Wahre Respektabilität ist jedoch etwas, das wir alle brauchen.

  

   4  Die Zersetzung der Gemeinde   

 

Warum verschwindet die Gemeinde aus der modernen Welt? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst die Faktoren studieren, die die Entwicklung und Erhaltung einer Gemeinde begünstigen. Die Basis bildet die Existenz von Dingen, die den Mitgliedern der Gemeinde gemeinsam gehören und nicht von anderen geteilt werden, mit denen sie zufällig in Kontakt kommen. Das umfaßt gemeinsame Interessen, Institutionen, Rituale, Werte, Techniken, Geschicklichkeiten und allgemein sichtbare Merkmale, wie etwa eine besondere Tracht, einen besonderen Dialekt oder Akzent oder eine bestimmte Hautfarbe. 


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Gemeinsame Interessen, besonders Arbeitsinteressen, nehmen einen hervorragenden Platz ein: Bergwerks­gemeinden sind da ein bekanntes Beispiel einer auf Arbeit gegründeten und an ein besonderes Territorium gebundenen Gemeinde. Die Streitkräfte haben ein gewisses Gemeindegefühl, und wir sprechen auch von der <juristischen> und der <geschäftlichen> Gemeinde. Die Beteiligung an einer besonderen Industrie, wie etwa dem Kohlenbergbau, fördert die Gemeinschaft. Auch religiöser Glaube kann helfen, die Menschen zusammenzuhalten, wie das bei den Hutteriten der Fall ist. Aber die Grundlage der Gemeinde ist das Territorium, denn wenn sich die Menschen nicht sehr regelmäßig auf einer gesellschaftlichen oder geschäftlichen oder einer Arbeitsbasis treffen, kann die Integrierung, die eine besondere Eigenart der Gemeinde ist, nicht stattfinden. Das Territorium trägt auch zu dem Gefühl der einzigartigen Identität bei, das das Gemeindebewußtsein fördert. 

Das Territorium muß jedoch irgendwie definierbar sein: eine Insel, ein Dorf oder ein Gebiet mit einer natürlichen Grenze. Eine einzigartige Tracht, Haartracht oder sogar Methoden, die Nahrung zuzubereiten, unterscheiden ein Mitglied nicht nur von denen anderer Gemeinden, sondern liefern auch gemeinsame Interessen und unterstützen das Gefühl der Identität. Gemeinsame Rituale, Unternehmungen und Institutionen haben ebenfalls eine einigende Wirkung.

Man könnte noch weitergehen und sagen, daß gemeinsame persönliche Eigenschaften auch ein Charakteristikum sein müssen, wenn gemeinsame Werte ein Kennzeichen der Gemeinde sind. Und es ist wirklich wahr, daß bei einem Stamm Tapferkeit geschätzt wird, bei einem anderen Sparsamkeit, bei einem dritten das Vermeiden von Schwierigkeiten, bei wieder einem anderen Respekt vor den Älteren. Solche gemeinsamen Elemente in der Persönlichkeit entstehen durch gemeinsame Methoden der Kindererziehung.

Was ist aber dann für die Zersetzung der Gemeinde verantwortlich? Häufig schiebt man der Urbanisierung die Schuld an der Unterminierung der Gemeinde zu, aber sie ist nicht die stärkste Kraft, die hier am Werk ist. Wie Soziologen nachgewiesen haben, kann es sogar in Großstädten zusammengehörige Gemeinden geben — besonders in Gettos oder in Vierteln ausländischer Einwanderer und in Schlafgebieten der Vororte. (In Großstädten wie London und Paris gibt es noch Dörfer.)


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Überall, wo Sprache und Kleidung die Mitgliedschaft klar kennzeichnen oder wo der geographische Raum deutlich abgegrenzt ist und wo es Institutionen, insbesondere religiöse, gibt, die die Angehörigen solcher Gruppen zueinander in Kontakt bringen, ist das in der Tat der Fall.* Allerdings trifft es zu, daß in einem großen Teil der Großstädte diese Bedingungen fehlen, so daß sie keine Gemeinden bilden.

Meiner Ansicht nach ist die stärkste am Werk befindliche Kraft die Mobilität — sowohl die Veränderung des Wohnsitzes, die wir >Wohnmobilität< nennen können, als auch die tägliche Bewegung von einem feststehenden Wohnsitz hin und zurück. Es ist offensichtlich, daß die emotionellen Investitionen, die ich bereits geschildert habe und die Menschen und Plätze einschließen, sich dort nicht weit entwickeln können, wo Individuen und Familien alle paar Jahre in eine Gruppe kommen und wieder aus ihr ausscheiden. Wo umgekehrt die Menschen ein Leben lang wohnen, wird das emotionelle Netz noch viel kunstvoller werden. Heiraten und Freundschaften werden sich zwischen der zweiten Generation entwickeln und die Beziehungen zwischen den Eltern noch weiter zementieren und so weiter. Das gilt sogar dann noch, wenn die Kinder anderswo hinziehen.

Zu sagen, daß eine niedrige Wohnmobilität erforderlich ist, bedeutet natürlich nicht, daß die Individuen nicht die Freiheit haben sollten, sich in vernünftigem Maß und auf einer kurzfristigen Basis zu bewegen. Ein Mann kann immer noch an seine Gemeinde gebunden sein, wenn er Handlungsreisender oder Schulinspektor ist und während der Woche verreist. Es zerstört auch nicht den Sinn der Gemeinschaft, wenn man den Urlaub anderswo verbringt. 

* Ein Grund, warum die Briten in dem Ruf stehen, so gute Bürger zu sein, mag dem Umstand zu verdanken sein, daß sie auf einer Insel leben, so daß die Gemeinde klar abgegrenzt ist. Es ist interessant, daß Wales und Schottland ziemlich friedlich in die größere Gemeinschaft absorbiert wurden, während das bei Irland, ebenfalls einer Insel, nicht der Fall war.


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Selbst wenn ein Mitglied einer Familie sich zur Arbeit in die Großstadt begibt, kann es noch als Angehöriger der Gemeinde betrachtet werden, solange es seine persönlichen Beziehungen durch häufige Besuche und allgemeines Interesse aufrecht erhält und solange man, was besonders wichtig ist, von ihm annimmt, daß er eines Tages für dauernd zurückkehren wird.

Die Mobilität, die das Auto vermittelt, macht es jedoch möglich, daß eine Person, die nominell in einer Gemeinde lebt, all ihre Interessen nach außerhalb verlagert. Wenn sich eine große Zahl ihrer Mitglieder so verhält, löst sich die Gemeinde offensichtlich auf; das geschieht in einigen Vororten oder wenn ein Dorf durch die Ausweitung einer Stadt absorbiert wird.

Ein anderer ernster Aspekt der Alltagsmobilität ist die Art, wie sie es einer großen Zahl von Fremden ermöglicht, für eine kurze Periode in eine Gemeinde zu fluten. Das ist schon lange in schönen Gegenden der Fall gewesen, und wird in jüngster Zeit von jungen Menschen bei <Rock Festivals> und ähnlichen Gelegenheiten praktiziert. Neben den ernsten physischen Problemen wie der Ernährung, den sanitären Anlagen, dem dazugehörigen Lärm, den Schäden und dem Verlust der Abgeschlossenheit für die Mitglieder der Gemeinde wird der tatsächliche innere Zusammenhang der Gemeinde untergraben, wie es mit schönen Gegenden, besonders wenn sie plötzlich weithin bekannt werden, bereits geschieht. 

Man kennt die Menschen, die man auf seinem täglichen Weg trifft, nicht mehr; man ist nicht mehr sicher, daß keine versteckte Drohung besteht. Dieser Aspekt ist bisher unterschätzt worden. Ein besonderer Fall liegt bei der Gemeinde vor, die Wochenend- oder Sommerurlauber in großer Zahl aufnimmt. Diese Urlauber können eine wirkliche Bindung an den Ort entwickeln und etwas beisteuern, im Notfall können sie aber immer weggehen, und die Möglichkeit einer Änderung der Pläne bietet sich immer, so daß man sie nicht wirklich als Mitglieder der Gemeinde akzeptieren kann; durch ihre Anwesenheit lösen sie jedoch den Charakter der Gemeinde auf.

Die modernen Nachrichtenmedien untergraben ebenfalls die Gemeinde, indem sie die Aufmerksamkeit auf nationale und Weltaffären statt auf lokale Begebenheiten lenken und indem sie Informationen über andere Verhaltensschemata vermitteln. Offensichtlich ist ein gewisses Interesse an Weltaffären durchaus wünschenswert — besonders jetzt, da wir eine Welt geschaffen haben, in der Dinge, die fern von uns geschehen, unser Leben sehr leicht beeinflussen können.


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Das Gleichgewicht hat sich jedoch zu weit verlagert, und das ist hauptsächlich das Ergebnis des wirtschaftlichen Gigantismus. Lokalzeitungen werden zusammengelegt und verschwinden, nationale Zeitungen werden weniger, weil sich das als einträglicher erweist und weil das Gesetz solche Entwicklungen gestattet. Die Nachrichtenmedien vermitteln auch Informationen über andere Verhaltensschemata und erwecken neuen Ehrgeiz. Im rechten Maß und wenn die Pros und Kontras fair dargeboten werden, ist das ebenfalls schön. Aber das ist selten der Fall.

Die dritte Kraft, die die Gemeinde zersetzt, ist die Verallgemeinerung der Kultur — die <Coca-Kolonisation>, wie sie oft in Anerkennung des amerikanischen Einflusses auf andere Kulturen genannt wird. Aber es ist nicht bloß eine Frage der Waren, ja nicht einmal der Moden. Die Technologie selbst droht lokale Abwandlungen zu zerstören. Wenn eine Gemeinde einen besonderen Baustil hatte oder eine besondere Geschicklichkeit, wie etwa die Schwertmacher von Toledo oder Damaskus, oder auch nur einen besonderen Wein oder ein anderes landwirtschaftliches Produkt, wurde ihre Abgrenzung dadurch verstärkt. Man klatschte über verschiedene Dinge in den Nachbargemeinden, man trug vielleicht eine andere Tracht oder stutzte den Bart auf eine besondere Art. Heute haben wir eine verallgemeinerte Kultur. Immer weniger deuten Tracht, Akzent, Geschicklichkeit, Küchenspezialitäten darauf hin, daß man eher der einen als der anderen Gemeinde angehört. Wir scheinen auf eine Universalkultur zuzutreiben, wo man Whisky in Japan so einfach kaufen kann wie Sake in Los Angeles oder Coca Cola in Schottland. Einige halten das für eine gute Sache, und sie hat offensichtlich auch gewisse Vorteile. Aber man muß für sie einen hohen Preis bezahlen.

Die Gemeinde wird schließlich auch durch <Einwanderung> zersetzt, womit das Eindringen einer beträchtlichen Zahl neuer Mitglieder mit verschiedenen Werten, Konventionen und Interessen gemeint ist. Der gelegentliche Neuankömmling bemüht sich darum, assimiliert zu werden, und wenn das nicht geschieht, schadet es nicht weiter. 


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Eine große Zahl von Neuankömmlingen tendiert jedoch, besonders wenn sie aus der gleichen Ursprungs­gemeinde kommen, dazu, zusammenzubleiben und eine Gemeinde innerhalb der Gemeinde zu bilden und so die Gastgemeinde zu bedrohen. Heute geschieht das hauptsächlich bei der Ankunft von Menschen, die sich durch eine andere Hautfarbe wie durch einen völlig anderen Glauben und andere Sitten unterscheiden. So wird der Protest der Mitglieder der Gastgemeinde durch Rassismus gefärbt. Ein Rassenvorurteil — das braucht kaum gesagt zu werden — ist unüberwindlich; es ist daher eine unglückliche Tatsache, daß der vollkommen reale Wunsch, die Gemeinde und die kulturelle Kontinuität zu erhalten, was ein vernünftiges Verlangen ist, durch die Rassenfrage verwirrt wird. Genau so wie eine Dorfgemeinde es übelnehmen kann, wenn sie von einem neuen Siedlungsplan überschwemmt wird, ist es vollkommen vernünftig, wenn sich eine Gemeinde widersetzt, von Menschen aus einem anderen Land überflutet zu werden. »Werden sie hierher passen?« ist die Frage, die man hört, wenn Neulinge ankommen, ob es nun ein Altersheim, die Offiziersmesse eines Regiments, ein Dorf oder eine Theatergesellschaft ist.

Aus all diesen Gründen wird die Gemeinde in der modernen Welt zerstört und durch einen neuen Typ von gesellschaftlichem Schema ersetzt. Ein Soziologe des neunzehnten Jahrhunderts, Ferdinand Tönnies, sagte, daß die Gemeinschaft durch die Gesellschaft ersetzt wird. Die Auflösung ist jedoch weiter fortgeschritten, als er vorausgesehen hat, und heute erleben wir das Auftauchen einer Massengesellschaft.

  

    5  Massengesellschaft    

 

<Massengesellschaft> ist der Ausdruck, der geprägt wurde, um eine Gesellschaft zu bezeichnen, in der die Gemeinde schwach ist oder gänzlich fehlt. In einer Gemeinde erkennen wir die anderen Mitglieder als Individuen: selbst wenn wir sie nicht persönlich kennen, wissen wir etwas über die meisten von ihnen. In der Massengesellschaft sind die meisten Menschen, denen wir im Verlauf eines Tages begegnen, Fremde, über die wir nichts wissen. Und es sind auch viel zu viele.


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Wenn wir hören, daß ein Mitglied unserer Gemeinde ein Mißgeschick erlitten hat, bieten wir Hilfe an. Aber wir können nicht all den Menschen in einer Großstadt helfen, die Hilfe brauchen, ja, wir können sie nicht einmal finden. So trocknet der spontane Impuls ein, und wir unterstützen bestenfalls eine Wohltätigkeitsorganisation.

Der Preis der Entpersönlichung ist hoch. Transaktionen verlieren ihren sozialen Inhalt und werden rein wirtschaftlich und damit härter. Ein Mann kann es fertig bringen, Kindern, die er nie gesehen hat, ein gefährliches Spielzeug zu verkaufen; er würde es jedoch den Kindern seiner persönlichen Freunde niemals geben. Die Verkäuferin in einem Geschäft kann zu einer Kundin unfreundlich sein, die sie wahrscheinlich nie wieder sehen wird (und umgekehrt); der Dorfladen aber muß seine Kunden behalten, genauso wie diese von dem Laden abhängig sind.

Wie wir sehen werden, untergräbt die Massengesellschaft die Psyche ihrer Mitglieder auch in anderer Hinsicht. »In den Großstädten gewinnt ein Mensch seine Freiheit, aber er verliert seinen Richtungssinn«, hat der Soziologe R. E. Park einmal treffend ausgedrückt.

Wie wir gesehen haben, hört der Status in der Massengesellschaft auf, funktionell zu sein, er wird durch ein <unechtes> Statussystem ersetzt, das einen fortwährenden Kampf um den Status entstehen läßt.

Die Verunsicherung wird ausgeprägt, weil man von niemandem Hilfe erwarten kann. Dieser Faktor ist so ernst, daß der Staat eingreifen und Hilfe für die bereitstellen muß, die in Not geraten — und zwar nicht nur Einkommen für die Arbeitslosen, sondern auch Nahrung für die Alten, Beaufsichtigung der Kindererziehung, Hilfe für Opfer von Brand- oder Flutkatastrophen und so weiter. In der Tat gelangt der Staat — und dieser Punkt wird oft übersehen — nur in Folge des Verfalls der Gemeinde zur Existenz. Die Wiederherstellung der Gemeinde fordern heißt, das <Absterben des Staats> verlangen, wie die ursprünglichen marxistischen Theoretiker auch erkannt haben.


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Der Aspekt, auf den ich den Hauptakzent legen möchte, ist jedoch ein anderer. In der Massengesellschaft entwickelt der Mensch wirtschaftliche Bindungen zu einer Gruppe von Menschen, gesellschaftlich zu einer anderen und politisch zu einer dritten. Seine ärztliche Fürsorge erhält er von wieder anderen Menschen, seine Bildung von Dritten und so weiter. In seinem Leben hat er Transaktionen mit Zehntausenden von Menschen; viele von ihnen sind ihm mit Ausnahme ihrer Namen unter einem Brief unbekannt, und manchmal nicht einmal das. Wir könnten das im Gegensatz zu der Gemeinde, wo die gleichen Menschen in mehreren verschiedenen Rollen miteinander in Beziehung stehen, die multiplexe Gesellschaft nennen. Die Kompliziertheit und Spezialisierung ist es, die Anonymität und Unpersönlichkeit in der modernen Gesellschaft entstehen läßt. Und das wiederum veranlaßt den Mangel an Beteiligung, das Fehlen einer inneren Verpflichtung, die heute so stark in Erscheinung treten.

Was könnten wir also tun, wenn wir ernsthaft ein Gefühl der Gemeinschaft in der jetzt bestehenden Gesellschaft wiederherstellen oder wenigstens ihren Verfall aufhalten wollen? Augenscheinlich sollten wir die Menschen überzeugen, so weit wie möglich an einem Platz seßhaft zu werden, und die Arbeitgeber entmutigen, die Menschen hin und her zu schieben. Das mag oft schwierig sein: ein Diplomat oder ein Seemann müssen unvermeidlicherweise in Bewegung bleiben. Eine große Firma wie IBM wünscht vielleicht, ihre Angestellten zu versetzen, damit sie Erfahrung in verschiedenen Arbeitstypen und -methoden gewinnen. Wir müssen die Vorteile einer solchen Rastlosigkeit gegen die Nachteile abwägen und solche Bewegungen auf ein Minimum beschränken. Offensichtlich kann das nicht durch Zwang geschehen. Man muß dazu ein Klima der Meinungen und des Gefühls schaffen, das eine unnötige Mobilität entmutigt und den Preis dafür bekannt macht.

Ähnlich müßten wir ein Meinungsklima schaffen, in dem die Menschen versuchen, einen Teil ihrer Interessen innerhalb ihrer örtlichen Gemeinde zu halten und einen gewissen Teil ihrer Zeit lokalen Betätigungen zu widmen — wie es glücklicherweise noch in vielen örtlichen Gemeinden der Fall ist. Akut wird das Problem in den Großstädten, weil den Gemeinden die natürliche Definition fehlt. 


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Man müßte ziemlich subtile Maßnahmen ergreifen, um die Individualität eines Vororts zu erhalten: im Augenblick vermischen wir sie bewußt mit der Hauptmasse. Ein Grund dafür ist die überwältigende menschliche Leidenschaft für Übereinstimmung. Wenn der Standard der Straßenreinigung in dem Stadtviertel A höher ist als in dem Stadtviertel B, fangen wir an, uns zu beklagen; wenn die Straßenschilder verschieden beschriftet sind, schreiben wir an die Zeitungen, wie verwirrend wir das finden. Auf lange Sicht muß die Antwort darin liegen, die Bevölkerungsdichten zu reduzieren, und das bedeutet, die Gesamtbevölkerung in einem Land wie Großbritannien zu reduzieren, wo im Durchschnitt 1000 Menschen auf einer Quadratmeile leben, wenn man die gebirgigen Teile des Landes ausschließt.

Schließlich müssen wir uns der rücksichtslosen Aneignung kultureller Dinge anderer Gruppen widersetzen, wenn diese eine Quelle des Stolzes für sie sind. Ein Regiment wäre zum Beispiel empört, wenn Angehörige der Öffentlichkeit in seinen Uniformen auftreten würde, und in den meisten Ländern bestehen Gesetze, die das verbieten, da eine derartige Entwicklung offensichtlicher den Zusammenhang der Einheit untergraben und die Uniform sinnlos machen würde. In Schottland erfüllen die verschiedenen Tartans eine ähnliche Funktion — oder versuchten sie zu erfüllen —, nämlich Mitgliedern eines Clans ihrer Identität zu versichern und sie von den Mitgliedern anderer Clans zu unterscheiden. Und doch hat die Modeindustrie die Tartans übernommen und sie universell verfügbar gemacht. Das gleiche geschieht mit den differenzierenden Dingen anderer Kulturen, und zwar keineswegs nur in der Sphäre der Kleidung.

Ist es möglich, diesen Trend zu einer Weltkultur zurückzulenken oder wenigstens anzuhalten? Wahrscheinlich nicht, mit Ausnahme gewisser Gemeinden, die, wie die Hutteriten, fest entschlossen sind, ihre Individualität zu erhalten, und deren Kinder zur Fortführung ihrer Ziele erzogen werden. Wenn das also nicht möglich ist, müssen wir erkennen, daß wir auf eine Massengesellschaft auf Weltbasis zutreiben — mit allem, was das bedeutet. Ist es möglich, die Wohnmobilität, wie ich sie genannt habe, zu reduzieren? 


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Das steht nicht ganz außer Frage, aber im Augenblick wird das Problem weder von Individuen noch von Autoritäten wahrgenommen. Regierungen verschieben Menschen aus Großstädten in neue Siedlungsanlagen, sie versetzen ganze Gruppen, um Straßen und Stauseen zu bauen und so weiter, und ihre Gewissensbisse reichen nur so weit, um einen ernstlichen Verlust an politischer Unterstützung zu vermeiden.

Ich möchte energisch betonen, daß ich nicht für eine totale Immobilität oder eine totale Verschiedenartigkeit der Kulturen eintrete. Die nach innen gewandte Gemeinde leidet unter Beschränkungen, genauso wie die nach außen gewandte. Wie immer ist es eine Frage der glücklichen Mitte. In der Vergangenheit bestand die Gefahr in einem zu geringen Kontakt zur Welt — heute ist er zu groß. Auch hier haben wir einen Wendepunkt überschritten.

Mir geht es um die Feststellung, daß kleine stabile Gruppen, in denen die Menschen bis in die Tage Roms und die meisten sogar bis vor einem Jahrhundert lebten, psychologischen und gesellschaftlichen Lohn boten, wie er immer seltener wird. Die Errichtung von Kommunen ist daher ein spontaner Versuch, der Gesellschaft die organische Qualität wiederzugeben. Die ungelöste Frage ist, kann sie für die gesamte Bevölkerung eines Landes wieder hergestellt werden oder nur für Minderheiten, die aus dem normalen Schema der Gesellschaft ausscheiden?

Ehe wir uns dieser lebenswichtigen Frage nähern, müssen noch einige andere Aspekte in Erwägung gezogen werden, die mit dem steigenden Streß in unserer Gesellschaft zusammenhängen.

   

   6  Die anomische Gesellschaft    

 

Vor ungefähr zwanzig Jahren führten zwei amerikanische Wissenschaftler ein Experiment durch, das nicht nur, wie beabsichtigt, etwas Licht auf das individuelle Verhalten, sondern auch, wie man heute feststellen kann, ein Schlaglicht auf soziale Vorgänge warf. Sie plazierten eine Katze auf ein Podium gegenüber von zwei Fenstern und versetzten der Fläche, auf der sie stand, einen leichten elektrischen Schock, damit sie durch eine der beiden Öffnungen spränge. Die Frage war, welche Öffnung sie wählte: bei der einen erhielt sie zur Belohnung Futter, bei der anderen stieß sie sich die Nase an. Wenn die Belohnung immer an dem linken Fenster gegeben wurde, gewöhnte sich die Katze schnell daran und sprang immer nach links.

 wikipedia  Anomie  


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Jetzt aber kam der teuflische Teil der Sache. 

Nach einer Weile änderten die Wissenschaftler das System und gestalteten es zufällig: das Futter konnte so gut an dem einen wie an dem anderen Fenster sein. Ein intelligenter und beherrschter Mensch könnte nun unter ähnlichen Umständen erkennen, daß der einzige vernünftige Weg der sei, rein nach Zufall zu springen, und würde die Belohnung in 50 Prozent der Fälle erhalten. Das ganze war eine Art Lotterie, und man hätte genausogut immer nach einem Fenster springen können. Die meisten Katzen blieben jedoch zitternd sitzen und weigerten sich, überhaupt zu springen. 

Die Situation war unberechenbar geworden, und sie wußten nicht, wie sie mit ihr fertig werden sollten, sie gaben also den Versuch auf, zeigten aber weiterhin Spannung und Angst. Tatsache ist, daß das Gehirn, ob nun das einer Katze oder das eines Menschen, ein Instrument ist, um ein Schema aus der Umgebung herauszuziehen und demgemäß Entscheidungen zu treffen. Es ist kein Instrument, zufällige Entscheidungen zu fällen. Tatsächlich kann es das gar nicht, und wenn man Menschen beispielsweise bittet, rein zufällige Zahlen niederzuschreiben, sind sie unfähig, wirklich zufällige Zahlenfolgen zu produzieren — ganz unbewußt bevorzugen sie gewisse Zahlen und Zahlenreihen.

Als ich über das Experiment nachdachte, erkannte ich plötzlich seine Relevanz für eine Gesellschaft, in der der Lohn nicht in genauer Beziehung zur Leistung steht — also einer Gesellschaft wie der unseren. Natürlich ist der Lohn in unserer Gesellschaft nicht völlig zufällig, aber er ist auch nicht entsprechend der Leistung korreliert. Ein Mann, der viele Jahre lang hart und ehrlich arbeitet, kann arm und ohne Anerkennung bleiben; ein anderer, der auf seinem Grundstück Bodenschätze findet, der Vorrat einer knapp erhältlichen Ware hortet oder sich mit gesellschaftlich nutzlosen finanziellen Manipulationen befaßt, kann über Nacht reich werden. 

Ich brauche diese Liste von Beispielen nicht zu verlängern, denn die Situation ist allzu bekannt. 


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So mag er durch ein zufälliges Ereignis reich werden, er kann beispielsweise beim Fußballtoto oder in einer Lotterie gewinnen, oder aber genausogut durch eine Aktion der Regierung verarmen, wenn etwa die Pachtkaufvorschriften geändert werden, wenn die Einfuhr von Waren verboten wird, mit denen er zu handeln pflegte und so weiter. Ein Zwangsverkauf seines Hauses kann ihn sowohl um den erwarteten Marktwert wie um den unschätzbaren Vorteil bringen, daß er das Haus auf seine eigene Art seinen Bedürfnissen und seinem Geschmack angepaßt hat und jetzt wieder von neuem beginnen muß. 

Tatsächlich sind Handlungen der Regierung, einschließlich fremder Regierungen oder auch örtlicher Behörden und so weiter zum Hauptfaktor geworden, der das Leben besonders in stark durchgeplanten Ländern wie etwa Großbritannien unberechenbar macht. Auch die Inflation ist ein Faktor, der Pläne hinfällig werden läßt. Durch Geldabwertungen, Änderungen in den Steuergesetzen, ja sogar Budgetänderungen — etwa des Betrags, der für Autostraßen oder Universitäts­forschung vorgesehen war — können individuelles Planen und individuelle Anstrengungen unsinnig werden.

Unter solchen Umständen ist es nicht bemerkenswert, daß viele Menschen Spannung und Verunsicherung fühlen und daß einige den Kampf aufgeben, indem sie entweder auswandern, Selbstmord begehen oder einfach ihre Verpflichtungen verringern.

Einige der Katzen in dem geschilderten Experiment beruhigten sich jedoch nicht wieder. Sie wurden wütend und griffen den ganzen Aufbau des Experiments an, sie kratzten an den Türen, versuchten, sie zu zerstören, und fauchten die Experimentatoren an.

Auch in unserer Gesellschaft gibt es Menschen, die einfach das ganze System zerstören und die Sippschaft, die es erhält und leitet, erschießen wollen. Einer der Gründe mag in der Unfähigkeit liegen, den Kurs zu erkennen, der zur Erfüllung führt. Natürlich ist das nicht die ganze Geschichte. Wie ich im letzten Kapitel gezeigt habe, hat das Leben andere Frustrationen, und es gibt andere Gründe, sich aus dem Kampf zurückzuziehen oder ein destruktiver Revolutionär zu werden, wie wir bald sehen werden. Aber die zitternden Katzen aus Massermans Folterkammer liefern einen lebendigen Aspekt der modernen Gesellschaft, der oft ignoriert wird. 


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Seit etwa siebzig Jahren ist der Zustand, den ich geschildert habe, unter der Bezeichnung Anomie und Anomia bekannt, einer griechischen Wortbildung, die im sechzehnten Jahrhundert für Gesetzlosigkeit geprägt und von dem französischen Soziologen Emile Durkheim übernommen wurde, der als erster die Idee der gesellschaftlichen Frustration systematisch erforschte. Durkheim stieß auf die Idee, als er über die Teilung der Arbeit in der Gesellschaft schrieb; sie führte ihn zu einer der ersten großen soziologischen Zusammenfassungen, einer umfangreichen Studie des Selbstmords.

Nach Durkheims Ansicht war der anomische Zustand der Gesellschaft ein Hauptfaktor bei der Selbstmordquote. Zu dieser Zeit war das eine überraschende Auffassung. Darzulegen, daß der Selbstmord, augenscheinlich die individuellste aller Handlungen, eine soziale Basis haben sollte, erschien vielen als paradox. Durkheim machte jedoch einen brillanten, ingeniösen Gebrauch von den vorliegenden Statistiken — seine Arbeit ist immer noch ein Modell für Soziologen. Er sichtete sorgfältig die Zahlen aus ganz Europa und wies nach, daß es — trotz der verbreiteten stereotypen Meinung, daß Romanen eher einen Selbstmord begehen als Nordländer — in der Tat gewisse Regelmäßigkeiten gibt, die in jedem Land und von Jahr zu Jahr bestehen bleiben. Weil ihm die Zahlen häufig nicht die notwendigen Einzelheiten über Familienstand, Kinder und so weiter der Selbstmörder gaben, beauftragte er seinen Schüler Marcel Mauss, mühsam mit der Hand die Daten von 26.000 Selbstmordfällen aus den Akten des französischen Justizministeriums zu tabellieren.

Durkheim schloß im wesentlichen, daß die Menschen dann Selbstmord begehen, wenn das Leben für sie bedeutungslos wird. Das mag aus persönlichen Gründen geschehen, wie etwa bei dem Tod eines geliebten Gatten, oder aus beruflichem Versagen, die beide die Lebenspläne eines Menschen vernichten. Selbstmord kann aber auch das Resultat sein, wenn das Leben als Ganzes sinnlos wird, wenn es kein Ziel gibt, das wünschenswert und erreichbar scheint, oder wenn die Anstrengungen, das erwählte Ziel zu erreichen, sich als fruchtlos erweisen. Durkheim schrieb: 

»Die ganze Freude eines Menschen am Handeln, Sich-Bewegen und Sich-Anstrengen unterstellt den Sinn, daß seine Bemühungen nicht vergeblich sind und daß er durch das Gehen vorankommt. Man kommt jedoch nicht voran, wenn man auf kein Ziel zugeht oder — was das gleiche ist — wenn ein Ziel unendlich ist. Ein Ziel zu verfolgen, das nach der Definition unerreichbar ist, heißt, sich selbst zu ewigem Unglück zu verurteilen.« 


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Durkheim kam zu der Schlußfolgerung, daß gesellschaftliche Ziele unerreichbar werden, wenn das Wirtschaftssystem unberechenbar arbeitet, was wiederum dem Fehlen einer Regulierung entweder durch den Staat oder durch die Entscheidungen der Produzenten zuzuschreiben ist. Auf einem großen Markt mit einer starken Unterteilung der Arbeit, so sagt er, könne der Unternehmer das Ausmaß des Marktes nicht mit einem Blick erfassen; deshalb trifft er falsche Entscheidungen. Für dieses Phänomen wählte Durkheim den Ausdruck Anomie.

Der Begriff wurde durch den kanadischen Soziologen Robert M. McIver weiterentwickelt, der feststellte, daß Menschen, deren Anstrengungen sich aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen als vergeblich erwiesen, die Regeln der Gesellschaft verwerfen und nur auf ihre eigenen Interessen oder Launen achten; solche Menschen nannte er anomische Individuen, womit er Menschen ohne Sinn für soziale Verantwortung oder Bindungen meinte. So kam es, daß der Ausdruck unversehens auf den Geisteszustand von Individuen statt auf einen Zustand der Gesellschaft angewandt wurde, was die Ursache von vielen Zweideutigkeiten wurde. Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton, der den gesellschaftlichen Aspekt entwickelte, wies darauf hin, daß die amerikanische Gesellschaft von einem nicht nur fordert, reich zu werden, sondern reicher als andere Menschen. Wieviel Geld man auch hat, man könnte immer noch mehr haben. Merton bemerkte, daß, wie reich die Gesellschaft als Ganzes auch wird, man in einem derartigen System doch immer noch um mehr kämpfen muß — ein Prozeß ohne Ende.* 

(Amerikaner aus verschiedenen Einkommensschichten, die gefragt wurden, was sie für ein zufriedenstellendes Einkommen hielten, nannten alle 25 Prozent mehr, als sie selbst bekamen.)

*  Merton war besonders von folgendem Aspekt der Anomie zwischen den von der Gesellschaft gebilligten Zielen und den zu ihrer Erlangung gebilligten Mitteln beeindruckt. (Wenn also der Reichtum das Ziel ist, ist Einbruch kein gebilligtes Mittel, wohl aber das Glücksspiel.) Er hatte das Gefühl, daß die Anomie in erster Linie dadurch verursacht wurde, daß man Ziele aufstellte, die für die Mehrheit mit den gegebenen Mitteln, die er Normen nannte, unerreichbar waren.


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Diese Theorie erhielt eine gewisse Bestätigung durch die Art, wie Selbstmorde auf die verschiedenen Beschäftigungs­klassen in den USA verteilt sind.

Jährliche Durchschnittsquote pro 100.000  

Akademische und Managerberufe       35,4  
Verkäufer und Angestellte                  11,6  
Gelernte Arbeiter (Handwerker)         14,3  
Angelernte Arbeiter                           20,5  
Ungelernte Arbeiter                           38,7  

Offensichtlich befinden sich die Selbstmordkandidaten am unteren Ende der gesellschaftlichen Leiter, wo es keine Hoffnung auf ein Vorrücken gibt, sowie die an der Spitze, wo ein dauernder Kampf zur Erhaltung der Position notwendig ist. Diese Zahlen können durch eine Zwei-Jahres-Studie ergänzt werden, die in der Stadt Tulsa, Oklahoma (Bevölkerung 250.000), angestellt wurde. Sie ergab einerseits, daß die Klasse, bei der Selbstmord am wahrscheinlichsten war, die der Pensionierten war — jenen also, die keine Beschäftigung und kein Ziel mehr hatten und für die das Leben daher ohne Bedeutung war. Über eine Periode von zwanzig Jahren weg hatten pensionierte Personen eine Quote von 89 Selbstmorden pro 100.000 aufzuweisen, fast das Fünffache der Durchschnitts­quote. 

Auf dem anderen Extrem hatten gewisse Berufe wie Schriftsteller, Verleger, Reporter, Collegeprofessoren und der Klerus überhaupt keine Selbstmorde aufzuweisen — Berufe, in denen die Individuen die Freiheit besitzen, die Entscheidungen selbst zu treffen und ihre Zeit so einzusetzen, wie es ihnen in Beziehung auf ihre Ziele richtig erscheint. Andere Berufe mit niedrigen Quoten auf 100.000 haben ebenfalls dieses Charakteristikum der Selbstbestimmung: Zimmerleute (5), Buchhalter (7), Lastwagenfahrer (13), Ingenieure (15) und so weiter. 

(Im Gegensatz dazu haben Krankenschwestern und Ärzte, die auch eine gewisse Macht der Eigenentscheidung besitzen, hohe Quoten, vielleicht weil der Kampf gegen die Krankheit endlos ist, so daß sie schließlich das Gefühl bekommen, man könne nie gewinnen.)


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Der Streß ist, allgemein betrachtet, jedoch keine Ursache von Selbstmorden. In Konzentrationslagern waren die Selbstmordquoten niedrig, auch begehen die Menschen in Gefahr kaum Selbstmord. Der Selbstmord ist ein Ausweg aus dem zusammenbrechenden Unternehmen des Lebens selbst. Im wesentlichen bezieht sich die Anomie auf den Zustand der Gesellschaft, wenn eine große Zahl ihrer Mitglieder in dem Sinn <ausscheidet>, daß sie keine Verpflichtung für ihre Regeln und Konventionen fühlt, die zu frustrierend geworden sind. Sie fühlen sich daher frei, ihre Lebensziele durch Mittel zu verfolgen, die die Gesellschaft verwirft (Verbrechen), ihre Frustration auszudrücken, indem sie zurückschlagen (Gewalt), oder indem sie sich aus ihr zurückziehen (Kommunen) oder durch Apathie (<drop-outs>) oder durch Selbstmord. Drogenkonsum ist eine andere Rückzugsmöglichkeit.

Der Begriff der Anomie kann auch auf spezifische Gruppen der Gesellschaft, wie die Familie, angewandt werden. Die Familie, in der alle Aktionen geduldet werden, ist für das Kind anomisch, denn wie kann man Liebe und Lob gewinnen, wenn nicht dadurch, daß man <gut und brav> ist? Die <Duldsamkeit> macht die Mühe bedeutungslos. (Die Lösung ist die, daß man eine Verhaltensform findet, die so unerträglich ist, daß die Eltern sie verbieten müssen. Dann kann man Güte demonstrieren, indem man dieses Verhalten aufgibt.) »Die Verurteilung des antisozialen oder unannehmbaren Verhaltens ist eine Bedingung sine qua non des Glücks sowohl für das Kind wie für die Eltern«, sagt R. D. Laing trotz aller Einwände. Inkonsequenz bei der Kindererziehung führt natürlich zu einer noch frustrierenderen Situation.

Anomie trifft auch den Mittelstand in einer Periode, in der sein Standard zugunsten der Arbeiterklasse herabgedrückt wird. Das ist nicht ausschließlich eine Frage der Wirtschaft. Der Mittelstand sieht seine Werte bedroht: seinen Glauben an die Maßstäbe der Kleidung und Sauberkeit, seinen besonderen Lebensstil, selbst seinen Wunsch, die Gebäude und Landschaften der Vergangenheit zu erhalten. Er sieht wenig Hoffnung, diesen Trend umzukehren.


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Es verwundert daher kaum, wenn seine Angehörigen sich hoffnungslos oder verzweifelt fühlen. Die Verzweiflung der sehr Unterprivilegierten ist gut verständlich. Die Verzweiflung der immer weniger Privilegierten ist aber nicht weniger real.

Auf der anderen Seite der Münze steht die Verzweiflung der Jungen, die nicht sehen, wie sie in einer Kultur Erfolg haben können, die in so vieler Hinsicht Werte verkörpert, die sich von ihren eigenen unterscheiden. Und für die, deren Ziel eine radikale gesellschaftliche Revolution ist, mag der Erfolg ebenfalls unerreichbar erscheinen — von hier aus greifen sie zur Gewalt. Wo soziale Sitten unannehmbar sind, muß man zur Rebellion schreiten.

Der Selbstmord ist jedoch nicht mein Thema: er ist als Index der Anomie zu bezeichnen, und die Tatsache, daß die Selbstmordquoten in den meisten westlichen Ländern zunehmen, ist ein Hinweis, daß die Anomie ein kritisches Problem darstellt. Auch ist es wichtig, daß einige Menschen — wie die Katzen — auf anomische Situationen mit Gewalt reagieren, indem sie entweder die Regeln der Gesellschaft als zu frustrierend ablehnen und entscheiden, ihr eigener Herr zu werden und ihre eigenen Regeln zu schaffen, oder aber wütend auf Rache sinnen.

Wenn die Menschen die Gesellschaft zu unerträglich desorganisiert finden, wenden sie sich verzweifelt an irgend jemand, der die Ordnung wiederherstellen und unzweideutige gesellschaftliche Ziele definieren wird. Diese Situation hatten wir 1930 in Deutschland, als zehn Prozent der Bevölkerung arbeitslos war und die Ersparnisse in einer spektakulären Inflation verloren gegangen waren. Hitler, der ein klares Ziel proklamierte, jedem Menschen eine Position in der gesellschaftlichen Hierarchie anwies und ihm eine klare Aufgabe zuteilte, war willkommen; alle Vorbehalte hinsichtlich seiner Methoden oder seiner eventuellen Ziele wurden durch die Befreiung von der Angst verdeckt, die sein System brachte. 

So führt die Anomie, wenn sie stark ist, zum Faschismus. Die wachsende Unordnung in der amerikanischen Gesellschaft von heute gibt einer neuen Diktatur die Chance.


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Der Soziologe Leo Srole bewies, daß eine Verbindung zwischen Anomie und Autoritarismus besteht, indem er Menschen in Chicago a) nach ihrer Haltung zu Autorität und b) nach ihren Gefühlen hinsichtlich der Gesellschaft befragte. Es gab eine 0,5 Korrelation zwischen denen, die fühlten »Du fragst dich, ob etwas noch die Mühe lohnt«, und einer autoritären Haltung. Der Jurist L. Radzinowicz zeigt in seinem Buch <Aathonty and Crime>, wie Verbrechen gegen die Person, gegen das Eigentum und gegen die öffentliche Ordnung unter Bedingungen der gesellschaftlichen Desorganisation gedeihen. Es ist auffällig, daß die Mordquote in Großbritannien, wo die Befolgung von Konventionen noch stärker ist als in den USA, nur ein Zwanzigstel von der in den USA beträgt.

Auch der Krieg vermag das Gefühl des gemeinsamen Zwecks wiederherzustellen und einer anomischen Gesellschaft Disziplin aufzuerlegen. Im Krieg können alle geringeren Ziele und Rivalitäten vergessen werden: die Menschen sind in dem gemeinsamen Ziel des Kriegs geeint. <Die Friedlichkeit des Kriegs> ist eine Phrase, die deutlich die Reduzierung der Angst ausdrückt, die der Krieg (wenigstens für eine gewisse Zeit) schafft.

Eine der Folgen der Anomie scheint sicherlich die Depression zu sein, deren Auftreten in der modernen Gesellschaft zunimmt. H. Murhphy von der McGill-Universität und seine Kollegen, die in vielen Teilen der Welt die Häufigkeit grundlegender depressiver Störungen untersuchten, stellten fest, daß diese nicht in Beziehung zur Klasse, zum Wohnort, zur Art des religiösen Glaubens oder zu einem der gewöhnlich genannten Faktoren stand, sondern lediglich zu dem Grad des Zusammenhalts der Gemeinde. (Sie stellten auch fest, daß Schuldgefühle mit dieser Depression nur in Gebieten assoziiert waren, wo die judäisch-christliche Tradition vorherrschte.) 

  

   7   Die Ursprünge der Anomie    

 

Der offensichtlichste Faktor, der Anomie verursacht, ist ein schnelles Tempo des gesellschaftlichen Wandels. Wenn ein Mann für die Zeit seines Ausscheidens aus dem Arbeitsleben ein Haus auf dem Land kauft und dann rings um ihn eine Vorstadt entsteht, ist sein ganzer Lebensplan für sein Alter frustriert. 


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Wenn ein Mann alle seine Ersparnisse in Regierungsanleihen investiert und diese dann durch eine Aktion der Regierung im Wert sinken, ist er es ebenfalls. Ähnlich können neue technische Einrichtungen Entscheidungen veralten lassen, wenn beispielsweise Flugzeuglärm ein Haus nahezu unbewohnbar oder eine neue Technologie eine hart erworbene Geschicklichkeit hinfällig machen.

Übervölkerung und hohe Einwanderungsquoten, die ich bereits im Zusammenhang mit der Gemeinde besprochen habe, können ebenfalls zu anomischen Zuständen beitragen.* Der Einwanderer trifft definitionsgemäß mit anders gearteten gesellschaftlichen Normen zusammen, vielleicht findet er die Möglichkeiten zur Erfüllung seiner Lebensziele, vielleicht auch nicht. Übervölkerung zerstört durch gesteigerte Wechselwirkungen akzeptierte Schemata der Interaktion oder läßt sie unangemessen werden.

Diese Aspekte der Anomie sind von Soziologen ausführlich erörtert worden, doch scheint mir diese Frage eine andere gleich wichtige, aber allgemein vernachlässigte Seite zu haben. Was ist mit den Lebenszielen selbst? Sie mögen nämlich auf zwei Arten zur Anomie beitragen. Erstens können sie unrealistisch sein. Der Segler, Donald C. Rowhurst, der ganz allein um die Erde segeln wollte, dessen Geschick und Mut aber nicht dafür ausreichten, ist ein gutes Beispiel auf der persönlichen Skala. Nachdem er im Südatlantik herumgekreuzt war, um den Sieg zu stehlen, ohne die Aufgabe wirklich durchzuführen, merkte er, daß seine Täuschung keinen Erfolg haben würde und beging Selbstmord. Da es ihm nicht gelungen war, seiner <Persona> als wagemutiger und fähiger Segler gerecht zu werden, konnte er nicht weitermachen. 

Natürlich hat es immer Individuen gegeben, die sich überschätzten. Ich habe den Verdacht, daß es heute eine ungewöhnlich große Zahl von Menschen gibt, die glauben, daß die Erfüllung ihrer Aufgaben leicht ist und die sich in der Folge frustriert finden. Einige Drogen, insbesondere LSD, scheinen diese Tendenz noch zu verstärken. Wenn solche Menschen sich nicht in Verzweiflung zurückziehen und Landstreicher und Parasiten werden, geben sie der Gesellschaft die Schuld an ihrem Versagen und werden gewalttätig.

* Der Fall der Einwanderung nach Israel ist offensichtlich anders gelagert, da hier Menschen einer ähnlichen Kultur zusammenkommen; daher sind die Anzeichen einer Anomie in Israel sehr gering.


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In einem späteren Kapitel möchte ich zu erklären versuchen, warum meiner Meinung nach dieser Überoptimismus entsteht. (So wie wir einst von vielen Menschen mit <Minderwertigkeitskomplexen> hörten, können wir heute viele Menschen beobachten, die einen <Überlegenheitskomplex> besitzen.)

Ohne den psychologischen Aspekt hier weiter zu verfolgen, ist es ein Gemeinplatz, daß das Fernsehen, die Reklame und die Medien den Menschen Visionen von einem Lebensstil präsentieren, der zwar für einige, aber — wenigstens beim gegenwärtigen Zustand der Weltentwicklung — keineswegs für die Mehrheit erreichbar ist. Doch erhalten Menschen hierdurch zumindest die Möglichkeit, einen unrealistischen Ehrgeiz zu entwickeln.

Ferner, und das ist ebenfalls keine rein akademische Frage, ließe sich die Gesellschaft in zwei oder mehr Gruppen mit unvereinbaren Zielen aufspalten. Heute sehen wir beispielsweise in den meisten westlichen Ländern eine mittelständische Gruppe, die an Boden verliert, und eine Arbeitergruppe, die im sozio-ökonomischen Sinn an Boden gewinnt. Augenscheinlich haben die beiden Gruppen entgegengesetzte Ziele, weshalb man von Klassenkampf spricht. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die Folgen für die verlierende Klasse anomisch sind — und, wenn diese Klasse einen ansehnlichen Teil der ganzen Gesellschaft darstellt, auch für die ganze Gesellschaft.

Diese sozio-ökonomische Spaltung ist jedoch nicht die einzige. Viel weniger gut erkannt, aber, wie ich vermute, wichtiger, ist die Spaltung der Werte zwischen jenen, die ich hartes- und weiches-Ich-Menschen genannt habe, zwischen jenen, die sich mit Fragen wie Hunger in den unterentwickelten Ländern, Folter in Diktaturen, dem Krieg in Vietnam und Indien, der Gefängnis- und Irrenanstaltreform im Lande sowie mit dem ganzen Bereich der sozialen Fragen ohne Rücksicht auf die sozio-ökonomische Klasse befassen. Hier wieder neigen einige Reformer zu dem Gefühl, daß ihre Ziele unerreichbar sind und flüchten sich daher in Gewalt oder Verzweiflung. Man beachte dabei aber einen interessanten Punkt: diese Spaltung schneidet diagonal die sozio-ökonomische Spaltung. 


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Die Unterstützung sozialer Maßnahmen ist sicherlich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt; oft sind es (siehe das Phänomen der Harthut-Arbeiter in Amerika) gerade die Handarbeiter, die autoritäre und reaktionäre Maßnahmen bevorzugen.

Daraus folgt, daß eine befriedigende Existenz für Individuen nur in einer Gesellschaft möglich ist, deren Grundwerte in vernünftigem Maß einheitlich und wo die Lebensziele nicht unrealistisch sind. Wie Robert K. Merton betont, beeinflußt uns die Gesellschaft, unseren Zielen gewisse Formen zu geben, und wenn wir sie in Begriffen fassen, die unrealistisch sind — wie etwa reicher zu sein als jeder andere —, verwandeln sich realistische Ziele in unrealistische.

Ein schnelles Tempo des sozialen Wandels verursacht auch andere Probleme. 

Die Menschen entwickeln gewöhnlich eine Rolle von sich selbst, der sie sich anzupassen suchen. Wenn es beispielsweise Teil ihres Ehrgeizes ist, tapfer zu sein und auch als tapfer gesehen zu werden, werden sie sich die allergrößte Mühe geben, tapfer zu erscheinen, wie sehr sie auch innerlich zittern mögen. So mag sich der verarmte Gentleman weiterhin zum Dinner umziehen, auch wenn er sich dazu nur noch ein gekochtes Ei leisten kann. Das komplementäre Beispiel des gleichen Mechanismus ist der Neureiche, der sich weiterhin die Serviette in den Kragen steckt, um zu beweisen, daß er immer noch ein gewöhnlicher Mann ist, während er sich über seine Rebhühner und den Burgunder hermacht. 

Unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels, wie er heute stattfindet, finden es die Menschen häufig schwer, ihrer Rolle treu zu bleiben. Wenn aber die Menschen gezwungen sind, ihre Rolle aufzugeben, brechen sie gewöhnlich völlig zusammen. So kann eine hohe sozio-ökonomische Mobilität, wie sie oft, besonders in den USA und von denen, die aufzusteigen hoffen, gespriesen wird, katastrophale Folgen haben.

Ferner stört, wie ich bereits im letzten Kapitel erwähnt habe, der gesellschaftliche Wandel die gesellschaftliche Maschinerie auf eine Art und Weise, die eine Erreichung von Zielen erschweren. Die Technologie ist der letzte Urheber all dieser Übel, besonders dann, wenn allzu viel Technologie allzu schnell kommt. 

 

Wir brauchen eine Atempause, um Wege zu finden, mit den gegebenen technologischen Neuheiten fertig zu werden, ehe man uns neue präsentiert. Gewalt, Verunsicherung, Selbstmord, Einsamkeit — das alles und noch mehr ist der Preis, den wir für ein Leben in der Massengesellschaft und für den <weiteren Horizont> und die <Freiheit>, die sie uns liefert, zahlen müssen. Wenn wir die Konzeption allmählich verstehen, werden wir uns vielleicht fragen, ob dieser Preis nicht allzu hoch ist.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß wir zur Wiederherstellung der Gemeinde und zur Heilung der Anomie das Tempo des gesellschaftlichen und des technologischen Wandels reduzieren, die Mobilität des Individuums herabsetzen und vielleicht sogar die Kommunikationsmöglichkeiten einschränken sollten; wir sollten den Zustrom neuer Mitglieder in Gemeinden beschränken, und wir sollten das <Einzigartige> in solchen kulturellen Untereinheiten erhalten; wir sollten lieber eine kulturelle Verschiedenheit als eine Standardisierung und eine Gemeinschaftskultur als Ziel akzeptieren.

Das sind Ziele, die dem ganzen Trend unserer Zeit entgegenlaufen und die vielen ausgesprochen rückschritt­lich erscheinen mögen. Da ich aber den Standpunkt vertrete, daß unsere Kultur in die falsche Richtung marschiert, folgt daraus unvermeidlicherweise, daß sie ihren gegenwärtigen Kurs aufgeben muß. In Kapitel 8 werde ich daher untersuchen, welche Punkte ein Programm dieser Art umfassen müßte. Das Gefühl der Langeweile, das Gefühl, daß das Leben bedeutungslos ist, wird durch anomische Zustände nicht zur Gänze erklärt. Im folgenden Kapitel möchte ich mich daher der Frage der persönlichen Identität und Einzigartigkeit zuwenden, die an die Wurzeln der Krise unserer Zeit rührt. 

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Gordon Rattray Taylor    Entwürfe zu einer Neuordnung der Gesellschaft  --- Rethink: Radical Proposals to Save a Disintegrating World