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7 - Wer bin ich und wo stehe ich ?   

1 Einleitung — 2 Wo bin ich? — 3 Persönlicher Wert — 4 Wie die Gesellschaft die Identität untergräbt —  5 Autonomie und Bürokratie — 6 Die Identitätskrise — 7 Ein Gefühl des Zwecks

 

   1  Einleitung   

203-230

Unter dem offensichtlich symbolischen Namen <Inburn> beschreibt der Soziologe K. Keniston einen Studenten, dessen Persönlichkeit er unter­sucht hat. Äußerlich normal, wenn auch ziemlich zurückhaltend, war Inburn innerlich mit der Gesellschaft, der Welt und auch mit sich selbst zutiefst unzufrieden. Typisch für seine Kommentare war etwa: »Ich habe mit all den Menschen, denen ich begegne, sehr wenig gemein«, und: »Die Vorstellung, mich der Gesellschaft, wie sie jetzt existiert, anzupassen, erfüllt mich mit Entsetzen.« Sein Identitätsgefühl war schwach entwickelt: »Manchmal habe ich das Gefühl, ich sei der Spielball von Kräften, die außerhalb meiner Kontrolle stehen.«

Keniston vergleicht <Inburn> mit Ismael und der Gestalt in Melvilles Moby Dick, die manchmal derartige Wutanfälle auf jedermann und alles bekam, daß sie zur See ging, bis sich diese Anfälle beruhigt hatten. Inburn verachtete sich selbst genau so wie den Rest der Welt. Er erzählte Keniston, wie er und sein noch zynischerer Freund Hai »voll großartigen Ekels waren, den wir mit allem nur erreichbaren Wissen speisten — und was nicht hineinpaßte, mißachteten wir«. Sie lasen Kafka, D. H. Lawrence, Hume, Rousseau, Voltaire, Shaw, Freud, Jung und Marx. »Wir lasen gefräßig, aber nicht die richtigen Dinge und auch nicht genug.«

Er schrieb im Rahmen der Untersuchung Geschichten für Keniston; in allen erschien er als Außenseiter. Keniston kommentiert, «daß die zentralen und einigenden Themen in Inburns Phantasien sich wütend darum drehen, wieder in das <unempfindliche> Heiligtum einzutreten, das er bei seiner Mutter besessen hatte«. Als er gefragt wurde, wie er die Welt reformieren werde, sagte er charakteristischerweise: »Ich möchte, daß wir alle in den Mutterleib zurückkehren.«

Der <Außenseiter> ist augenscheinlich ein anomisches Individuum, und Inburn ist typisch für eine bestimmte Gattung von außenseiterischen und destruktiven Gesellschaftskritikern, deren Unzufriedenheit weniger aus den Fehlern der Gesellschaft als aus den eigenen neurotischen Problemen stammt.

Keniston befaßte sich in erster Linie damit, Inburn in psychoanalytischen Begriffen zu analysieren als Teil einer umfassenderen Studie über die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben gestalten. Inburn hatte eine sehr warmherzige, besitzergreifende Mutter und einen kalten oder häufig abwesenden Vater. 

Um alles noch schlimmer zu machen, war er das einzige Kind. Diese Kombination führt unweigerlich dazu, daß ein Junge Schwierigkeiten hat, die männliche Rolle zu ergreifen, so daß er Autorität und alle Vaterfiguren ablehnt und auch hinsichtlich der Beziehung zu Frauen, die er als <überwältigend> fürchtet, große Schwierigkeiten hat. (Inburn hatte nur platonische Beziehungen zu Mädchen und masturbierte übermäßig.) Auf der Ebene des Unbewußten gibt es Blutschandebefürchtungen. Es handelt sich um eine klassische Variation der Ödipus-Situation.

Inburn besaß so wenig soziales Gefühl, daß er erklären konnte: »Es ist besser zu morden, was eine Handlung ist, als überhaupt nicht zu handeln.« Hier finden wir die acte gratuite deutlich formuliert: das Verbrechen ohne Motiv. Freud hätte gesagt, daß die Handlungen, die Inburn nicht begehen zu können glaubte, sexuelle Handlungen waren; der Wunsch zu morden drückte die Frustrierung aus, die seiner Impotenz zuzuschreiben war. Später werde ich detaillierter auf solche unterschwelligen psychologischen Faktoren eingehen. Hier möchte ich jedoch die objektiven sozialen Faktoren untersuchen, die ein Gefühl der Entfremdung bewirken. 

Was auch die Ursache sein mag, die Entfremdung ist ein außerordentlich ernstes Phänomen, ein Phänomen, das zudem beständig zunimmt. Die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, viele solche entfremdete Mitglieder zu haben (obwohl das Vorhandensein einiger weniger ein nützliches kritisches Stimulans sein kann). Gleich wichtig ist die Tatsache, daß sie sich selbst erbärmlich unglücklich fühlen. Was sind die sozialen Ursprünge der Entfremdung?

   wikipedia  Anomie      wikipedia  Kenneth_Keniston  1930-2020 

   2- Wo bin ich?   

Der Gesellschaft entfremdet sein ist das Gefühl, keinen Anteil zu haben, weder an ihren Zielen noch an ihren Methoden; vielleicht fühlt man auch, daß man von ihr abgelehnt wird. Man fühlt, daß man sie nicht beeinflussen kann, und versucht zu leben, ohne von ihr beeinflußt zu werden. Robert Nisbet drückt das sehr gut aus, wenn er von einem »Geisteszustand« schreibt, »der die soziale Ordnung fern, unbegreiflich oder betrügerisch findet, jenseits von realer Hoffnung oder Verlangen, zur Apathie, Langeweile oder Feindseligkeit einladend«. Und er bemerkt dazu: »Es ist klarer geworden, daß die Entfremdung eine der bestimmenden Realitäten unseres eigenen Zeitalters ist ... die immer größere Sektoren der Gesellschaft einschließt.«

Ein Mensch fühlt sich nicht nur von der Gesellschaft als Ganzem entfremdet; er kann sich auch von anderen Menschen, von der Arbeit, von gewissen Institutionen, von der politischen Realität, von der Natur und von Orten, von der Vergangenheit und sogar von sich selbst entfremdet fühlen. Eine totale Beteiligung an allem ist zweifellos unmöglich, sie wäre sogar eine Form von Wahnsinn. Es ist vernünftig, sich von Dingen entfremdet zu fühlen, die böse sind, wie beispielsweise von einem faschistischen Staat. Wenn sich aber das Gefühl der Entfremdung ausbreitet und auch die Natur und die Vergangenheit einbezieht und schließlich auch das Selbst, wird sie zu einer ernsten Krankheit; und wenn viele Menschen in einer Gesellschaft entfremdet sind, ist die Gesellschaft selbst krank.


 205/206

Die Idee der Entfremdung tauchte zuerst im Zusammenhang mit der industriellen Arbeit auf. Friedrich Schiller, der die Frühstadien der industriellen Revolution beobachtete, schrieb: »...der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden.« Hegel und Marx nahmen den Gedanken auf und nannten ihn <Entfremdung>. 

Für Marx war die Entfremdung synonym mit Ausbeutung: der Arbeiter fühlte sich entfremdet, a) weil er nicht selbst entscheiden konnte, was er tun wollte, und b) weil ihm das Produkt seiner Arbeit nicht gehörte. Das war eine zwar unvollständige, aber vernünftige Diagnose, obwohl Marx' Glaube, daß der Besitz der Industrie durch die Arbeiterschaft dieses Problem vollständig lösen würde, einen wilden <Überoptimismus> verriet. Besitz erfordert auch Kontrolle. Der Handwerker als Individuum kann entscheiden, ob er die Schuhe, die er angefertigt hat, verkaufen, sie einem Freund schenken oder für sich selbst behalten will. Der Arbeiter an einem Fließband in Sowjetrußland kann, obwohl er in einem entfernten Sinn ein Teilbesitzer der Autos ist, die er herzustellen hilft, keineswegs darüber entscheiden, wie sie verteilt werden sollen.

Die Entfremdung von der Arbeit stammt aber nicht nur aus der langweiligen, nicht herausfordernden Art der Aufgabe, sondern auch aus viel umfassenderen Faktoren, wie beispielsweise der Frage, welchen Wert letztlich das, was produziert wird, für die Gesellschaft hat. Man kann an der Zusammensetzung einer wertlosen Patentmedizin oder einer trivialen Spielerei innerlich nicht beteiligt sein. Je reicher die Gesellschaft wird, desto mehr Menschen sind mit der Herstellung von Gegenständen oder mit Dienstleistungen beschäftigt, die immer weniger Bedeutung haben.

Erich Fromm hat darauf hingewiesen, daß der moderne Mensch nicht nur von den produzierten Objekten entfremdet ist, sondern auch von dem Produktionsvorgang. Einst liebten die Menschen ihr persönliches Eigentum und schätzten es — Kleidungsstücke, Geschirr, Betten, Bücher —, denn sie waren nur schwer zu ersetzen. Sie zu erwerben war schwierig, es erforderte Geschmack und Mühe. Sie zu zerreißen oder zu zerbrechen war eine kleine Tragödie, sich von ihnen zu trennen war schmerzlich, etwas wegzugeben bedeutete, einen Teil von sich zu geben. Heute leben wir in einer Wegwerf-Gesellschaft.


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Ein zerbrochener Krug kann ersetzt werden. Wenn man Geld hat, kann ein Geschenk gefunden werden, ohne daß man seinen eigenen Vorrat verringern muß. Die Mode ist darauf abgestellt, uns zu ermutigen, das von selbst wegzuwerfen, was nicht zerbrochen oder abgetragen ist. Doch geht uns etwas verloren, wenn wir keine Beziehung mehr zu den Gegenständen haben.

Die Konsumenthaltung breitet sich auch auf anderen Gebieten aus. Der Zuschauer konsumiert das Spiel, dem er zusieht, er konsumiert die Landschaft, er konsumiert eine Party, ohne wirklich daran beteiligt zu sein. Er kann ein brennendes Gebäude ohne alle Gewissensbisse und ohne den Wunsch, beim Löschen zu helfen, betrachten. Schließlich kann er sogar bei einem Mord zusehen und nichts unternehmen.

Des weiteren weiß der moderne Mensch nicht, wie die meisten Dinge, die er verwendet, gemacht werden oder wie sie funktionieren; er versteht es nur, sie zu handhaben oder zu konsumieren. Sie bleiben für ihn Objekte. Fromm gibt zu bedenken, daß unser ständig wachsendes Bedürfnis nach mehr Dingen und nach mehr Waren daher rührt.

Die Tatsache der Entfremdung von der Wirtschaft ist eine alte Geschichte. Sie mischt sich mit der Entfremdung von der Politik und von Institutionen. Wir fühlen uns von der Politik entfremdet, wenn wir nicht mit den Zielen der Regierung und ihren Methoden sympathisieren und wenn wir das Gefühl haben, daß wir keine Macht besitzen, die Wahl der Ziele zu beeinflussen. Wenn heute offensichtlich alle Regierungen auf das wirtschaftliche Wachstum bedacht sind ungeachtet dessen, welchen Preis das in der Zerschlagung von Persönlichkeit und Umgebung bedeutet, fühlen sich viele Menschen dadurch entfremdet. Des weiteren werden die Menschen, wie Sir Geoffrey Vickers aufgezeigt hat, den Institutionen entfremdet, von denen sie abhängig sind, weil sie fühlen, daß die leitenden Beamten von, wie er es nennt, »institutionellen Erfolgsmaßstäben« gelenkt werden. Alle Institutionen wünschen zu wachsen, und ihre Manager haben das Gefühl, daß sie Erfolg haben, wenn Wachstum stattfindet, und Mißerfolg, wenn sich die Institution verkleinert oder verschwindet. 


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Die wirkliche Frage ist jedoch, ob die Institution menschliche Bedürfnisse erfüllt, und nicht, ob sie sich ausweitet. Das gilt für die Industriegiganten und fast stärker noch für die Kommunalverwaltungen, die oft mehr geschäftliche Überlegungen und steuerliche Erwägungen im Auge haben als das Wohl der örtlichen Gemeinde in all ihren Aspekten.

Wenn sich die Menschen der Politik entfremdet fühlen — das heißt, wenn politische Führer unfähig scheinen, das Land so zu leiten, daß es ihre Grundbedürfnisse befriedigt — neigen sie dazu, ihre Treue einem Führer zu übertragen, zu dem sie großes Vertrauen haben und mit dem sie sich identifizieren, ein Prozeß, den man als Caesarismus bezeichnet hat. Das deutsche Vertrauen zu Hitler, das aus der Verzweiflung über die Massen­arbeits­losig­keit Ende der Zwanziger Jahre entstand, als über sechs Millionen Menschen arbeitslos waren, ist das bekannteste Beispiel aus den letzten Jahrzehnten. Franz Neumann hat diesen Prozeß untersucht, der, wie er hervorhebt, mit dem Vorhandensein von Angst zusammenhängt; diese Angst wird deutlich in irgendwelchen Verschwörertheorien, denen zufolge eine böse Gruppe auf Vernichtung sinnt. (So wurde die Französische Revolution den Freimaurern in die Schuhe geschoben.) 

Die caesaristische Lösung institutionalisiert diese Angst, das heißt, sie akzeptiert sie, setzt sie frei, liefert eine Erklärung und schlägt eine Heilmethode vor. Im Fall Deutschlands waren es natürlich die Juden, die zu Sündenböcken gemacht wurden, aber die Angst war echt, und kein Bericht über den Aufstieg der Nazis, ider diese Tatsache übersieht, entspricht der tatsächlichen Situation.

Kurz gesagt, wenn die Angst in Koexistenz mit politischer Entfremdung auftritt, ist das Risiko einer Diktatur groß, weil die existierenden politischen Parteien in den meisten westlichen Ländern keine wirksame Alternativ­politik oder -partei zulassen. Sollte in einem solchen Land eine starke Angst erweckt werden, wird eine Diktatur entstehen, und ein Sündenbock wird auch gefunden werden.

Wenn eine derartige Angst fehlt, werden wir einerseits eine wachsende politische Apathie erleben und andererseits wachsende politische Gewalttaten. Die Eiferer werden Bomben werfen und Individuen ermorden; die Mehrheit wird die Nachrichten ignorieren und einen Ausweg aus der Sackgasse suchen, indem man in der Lotterie oder beim Fußballtoto zu gewinnen hofft.


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Während die meisten von uns sich dieser Arten von Entfremdung undeutlich bewußt sind, neigen wir mehr dazu, die Entfremdung von der Natur, von ihren großen Zyklen und den Geheimnissen von Geburt und Tod zu übersehen. Die Umweltverschmutzung und die Vernichtung seltener Tiergattungen entspringt dieser Art von Entfremdung, die in erster Linie vom Leben in den Städten herrührt, zum Teil jedoch auch von einer bestimmten Geisteshaltung. Mit der Entfremdung von der Natur gepaart ist die Entfremdung vom Ort — das Versagen, emotionelle Bindungen an besondere Landschaften und Plätze zu entwickeln, auf das ich schon mehrmals zu sprechen kam.

Zu diesem Katalog können wir vielleicht auch noch das hinzufügen, was die Existentialisten das <Geheimnis des Seins> nennen — oder, wie manche sagen würden, die Entfremdung von Gott. Diese manifestiert sich in dem Verlust des Gefühls des Wunders und der Ehrfurcht. Professor Henry Winthrop von der Universität von South-Florida hat es sehr treffend ausgedrückt: 

»Dieser Typ von Entfremdung tritt auf, wenn immer die Menschen die Fähigkeit verloren haben, sich zu wundern, wie alles entstanden ist — natürlich ist das eine Sorge der modernen Kosmologen. Er tritt auch in Erscheinung, wenn Menschen aufhören, sich über die vielen Formen der menschlichen Liebe zu wundern, ob diese Eros oder Agape (das heißt die sexuelle oder die geistige Liebe) spiegeln. Auch finden wir ihn dort, wo Menschen die Fähigkeit verloren haben, mit Respekt die Kapazität des Menschen zur Selbsttranszendenz, seine Äußerungen des sozialen Altruismus und seine Sorge um soziale Gerechtigkeit wahrzunehmen. Im allgemeinen betrifft diese Form der Entfremdung auch die Fähigkeit, religiöse Impulse bei anderen zu erleben und zu verstehen — diese unsichtbaren Bande des Gefühls und Mitfühlens, die Menschen veranlaßt, sich mit dem Wohl eines anderen zu befassen und dafür einzutreten.«

Schließlich kommen wir zu der seltsamen Vorstellung von einem Menschen, der sich selbst fremd geworden ist. Wie Fromm es ausdrückt, ist ein derartiger Mensch »sich selbst entfremdet. Er erlebt sich nicht mehr als das Zentrum seiner Welt, als der Schöpfer seiner eigenen Taten — seine Taten und ihre Konsequenzen sind zu seinen Herren geworden.«


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Die Beziehung eines Menschen zu sich selbst ist eine verblüffende Sache, wie wir aus Formulierungen wie <Ich war gestern nicht ich selbst> oder <Das hat meinem Ich gutgetan> entnehmen können. Diese Sätze deuten an, daß wir eine Auffassung von uns selbst haben, der wir nicht immer gerecht werden. Wenn wir sagen, daß eine Bemerkung <gut für unser Ichgefühl> war, meinen wir, daß sie uns der idealen Auffassung von uns selbst etwas nähergebracht hat. Wenn wir dagegen glauben, daß dieses andere Selbst Taten vollbringt, die wir verachten, und wenn wir unseren Respekt für uns selbst verlieren, haben wir es mit einem Identitätsproblem zu tun. Unsere Identität unterscheidet sich von der Identität, die wir anstreben. Daher ist an diesem Punkt die Entfremdungskrise mit einer Identitätskrise verknüpft. Wie Fromm betont, kann ein Mensch keine Selbstachtung fühlen, wenn er sich »nicht als den aktiven Träger seiner eigenen Macht und seines Reichtums erlebt«, sondern sich als »verarmtes >Ding<, abhängig von Mächten außerhalb seiner selbst, empfindet, auf die er seine lebende Substanz projiziert hat«. Auch das wieder steht in politischem Kontext: der Mensch, der sich von einem Führer abhängig macht, ist selbst geschwächt und von sich angewidert.

In dem Zustand einer totalen Entfremdung reagieren die Menschen entweder durch Gewalt oder durch Verzweiflung. Der Negativismus, die Langeweile und die Haltung, >das kümmert mich überhaupt nicht<, die heute so alltäglich sind, sind die direkten Konsequenzen der Entfremdung. Diese Entfremdung rührt von dem Verlust der Gemeinschaft her, und Fromm zufolge ist sie jetzt »fast total«.

Ich habe das Phänomen der Entfremdung von sich selbst erwähnt — aber es erfordert noch eine weitere Diskussion, denn es ist Teil eines psychologischen Schlüsselprozesses, der als Bildung der Identität bekannt ist. »Wer bin ich?« ist eine Frage, die jeder sich dann oder wann einmal selbst gestellt hat. Mit drei kurzen Worten wirft sie Probleme von größter Subtilität und Wichtigkeit für das Heute auf, die Psychologen in jüngster Zeit unter dem Etikett <Identitätsprobleme> zu analysieren begonnen haben.


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Im wesentlichen sind diese Probleme dank der Arbeit von Erik Erikson auf eine Art analysiert worden, die ihre Implikationen klar macht. Erikson hat sich in erster Linie mit der Entwicklung der Identität bei dem heranwachsenden Kind und mit den klinischen Problemen befaßt, die sich daraus ergeben. Ein anderer Psychiater, Allen Wheelis, hat diese Ideen maßgeblich in Beziehung zur Gesellschaft gesetzt. Ich werde mich im folgenden häufig auf sein brillantes Buch The Quest for Identity stützen, obwohl er natürlich für meine Schlußfolgerungen nicht verantwortlich ist.

   

 3  Persönlicher Wert  

 

Die meisten (ja vielleicht alle) Menschen müssen ein Gefühl des persönlichen Werts besitzen und eine tiefliegende Unruhe verspüren, wenn dieses Wertgefühl bedroht wird oder fehlt. Sie möchten auch fühlen, daß sie in einem gewissen Sinn ein Individuum mit einzigartigen Attributen sind und nicht bloß eine Nummer, ein Roboter oder eine Kohlekopie anderer Leute: das meinen Psychologen, wenn sie über die <Suche nach der Identität> schreiben. Diese beiden Vorstellungen sind eng miteinander verbunden, denn ohne ein Gefühl der Identität kann man kein Gefühl des Wertes haben. Ich werde sie daher zusammen behandeln.

Unser Wertgefühl leitet sich natürlich von den gleichen Maßstäben ab, an denen wir den Wert anderer Menschen erkennen. Es ist unser sozialer Wert, unser Beitrag für die Gesellschaftsgruppe, der normalerweise die Basis liefert. Unsere Einschätzung von uns selbst wird zugleich durch das beeinflußt, was die Gesellschaft über uns denkt. Der Mensch, der einen hervorragenden Beitrag leistet — ob er nun einen Geschwindigkeitsrekord bricht, Kranke kuriert, ein Kunstwerk schafft oder Nahrungsmittel, von denen alle abhängig sind, erzeugt —, kann sicherlich überzeugt sein, daß er etwas Wertvolles geleistet hat und das besonders, wenn sein Beitrag einzigartig ist. 


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So ist sich der Maler seiner Identität sicher: er ist der Mann, der La Gioconda oder welches Werk auch immer gemalt hat, und niemand sonst kann in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft das gleiche von sich behaupten. Das gleiche gilt für Schriftsteller, das gleiche für Komponisten und auch für Wissenschaftler. 

Auf einer geringeren Ebene kann jeder, der hervorragt, sagen, daß er bis zu einem gewissen Grad einzigartig ist. <Er ist der beste Fußballspieler im Land ... er ist der Mann, der die Glühlampe erfunden hat ... der Erbauer des schnellsten Boots auf dem See>. Solche Beschreibungen verleihen Menschen eine Identität.

In der modernen Gesellschaft finden es viele Menschen unglücklicherweise schwer, eine Identität zu erlangen. Der Mann, der am Fließband immer wieder die gleiche Arbeit verrichtet, kann nicht auf das Endprodukt weisen und behaupten: »Ich habe diesen Kühlschrank gemacht.« Was die Fabrik angeht, ist er sicherlich nicht einzigartig; wenn er erkrankt oder stirbt, wird ein anderer seinen Platz einnehmen, und sein Fehlen wird kaum bemerkt. Das Fließband ist ein immer wieder zitiertes Beispiel; viel davon trifft aber auch auf andere Berufe zu, vom Busfahrer bis zum Verkäufer, vom Behördenangestellten bis zum Computer­programmierer. Das ist verschiedenen Trends zuzuschreiben, die ich bereits erörtert habe, vor allem aber der Tatsache, daß die Industrie die Geschicklichkeiten und die Individualität des Arbeiters verworfen hat.

Der Verlust der Gemeinde ist ebenfalls ein Faktor: Der Verkaufsgehilfe in einem Dorfladen bleibt ein Individuum, er ist den meisten seiner Kunden bekannt und kennt sie ebenfalls. Heimtückischer noch behandelt der Staat die Menschen als Ziffern, mit dem Zunehmen der Computermethoden wird er das in verstärktem Ausmaß tun. Briefe von Menschen, die sich dagegen wehren, lediglich eine <Nummer> zu sein, werden laufend in den Zeitungen abgedruckt und spiegeln dieses Gefühl. Für den Verwaltungsbeamten ist das eine <bloße Sentimentalität> und in Verwaltungsbegriffen unpraktisch und unerheblich. Das Opfer kann erwidern: »Sentimentalität ist das, was für mich wichtig ist, und ich kümmere mich nicht um Ihre Verwaltungsprobleme. Sie müssen für sie eine andere Lösung finden.«


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In keinem geringen Ausmaß wird unsere Auffassung von uns selbst durch die Dinge ausgedrückt, mit denen wir uns umgeben. Diese sind nicht nur ein Beweis für unsere Leistung, sie sind auch im richtigen Sinn Statussymbol: Zeichen für unseren Geschmack, unsere Interessen, unseren <Lebensstil>. Daher ist es auch so schwierig, die Wohlstandsgesellschaft wieder loszuwerden: wenn man ihm seinen persönlichen Besitz wegnimmt, ist der Mensch von anderen Menschen nicht mehr zu unterscheiden; er verliert seine Identität.*

Die Technologie untergräbt dieses Element der persönlichen Einzigartigkeit ebenfalls. Massenproduktion heißt, daß die meisten Menschen die gleichen Besitzstücke haben. Versuche, die Einzigartigkeit durch <Persönlichmachen> wiederherzustellen, indem man Initialen oder Extras hinzufügt oder indem man Grundelemente neu zusammensetzt, sind jetzt allgemein üblich. Die wachsende Nachfrage nach Antiquitäten, nach handgearbeitetem Schmuck und so weiter drückt den gleichen Wunsch aus, der Unpersönlichkeit zu entgehen. Das moderne Leben behandelt die Menschen zudem als Gegenstände, sie teilt ihnen eine Nummer zu und behandelt sie mechanisch auf der Basis einiger gesammelter Fakten, während ein menschliches Wesen dich gewöhnlich nach dem behandelt, was es über dich weiß und welchen Eindruck es von dir hat.

Sobald wir uns darüber klar werden, daß die Mitglieder der technologischen Gesellschaft unter dem Verlust des Gefühls des persönlichen Werts und der Identität leiden, werden uns viele Verhaltenstypen verständlich. Heute beschäftigen sich die Menschen beispielsweise sehr nachdrücklich mit dem Status und reagieren auf alles empfindlich, was ihre Stellung herabzusetzen scheint. Die Gewerkschaften kämpfen deshalb für die Erhaltung von Lohndifferenzierungen, die ihre Mitglieder statusmäßig über die anderer Gewerkschaften stellen. Daraus entstehen in der Industrie auch Demarkationsstreitigkeiten. Nehmen wir an, ein Mann ist als Schweißer identifiziert und besitzt ein besonderes Geschick, das Mangelware ist. Wenn nun die Nietschläger ebenfalls zu schweißen anfangen, ist nicht nur seine wirtschaftliche Position bedroht, sondern auch sein Identitätsgefühl. Die wirtschaftliche Position könnte leicht geschützt werden; bei dem Identitätsgefühl ist das nicht möglich, und deshalb sind diese Auseinandersetzungen so schwer beizulegen. 

* Diesen Gedanken habe ich aus Mitscherlichs Buch Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963) übernommen.


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Menschen geben ihre Arbeit auf, weil man sie auffordert, etwas zu tun, was unter ihrer Würde ist. Mehr noch nehmen Menschen oft den Respekt übel, der denen gezollt wird, die durch Leistung eine hohe Position erreicht haben. Sie versuchen, sie zu entlarven oder von ihrem Sockel herunterzuzerren. »Wer glaubt er denn zu sein?« ist ein Ruf, der sich ganz augenfällig auf die Identität bezieht. Solche Aktionen spiegeln eine innere Schwäche; der Mensch, der seinen eigenen Wert kennt, kann es sich leisten, den fehlenden Respekt der anderen zu ignorieren. Im gleichen Geist bestehen Menschen oft <auf ihren Rechten>, wenn sie sie auch niemals ausüben. Menschen nehmen ungern Befehle an, die sie für herabwürdigend halten, obwohl es in vielen Fällen ganz natürlich ist, Befehle zu erhalten. Eine gesunde Unabhängigkeit wird allmählich zu einer unbegründeten arroganten Haltung.

Der Statuskampf führt auch zu einem Konkurrenzkampf, den man vom Wetteifer unterscheiden muß. In vergangenen Zeiten versuchte man, den Besten nachzueifern, heute ist es nötig, sie zu übertreffen. Die Leistungen der Vergangenheit zu übertreffen, wird aber immer schwieriger und (mit Ausnahme von technologischen Dingen) oft unmöglich. Nur wenige können es schaffen. Das Kunstleben wird eine Sache der Mode und der Cliquen: der Wunsch zu erfreuen oder eine Vision zu verdeutlichen, wird zu dem Wunsch zu schockieren. Wie Lewis Way in einem scharfsinnigen Buch Man's Quest for Significance aufzeigte, verwandelt sich dieser Konkurrenzstreit mit dem Sinken der Moral in aggressiven Individualismus, Unzufriedenheit und Anarchie.

Die Identität eines Menschen ist nicht nur in Begriffen dessen, was andere von ihm halten, definierbar, sie ist mehr noch eine Frage, was er von sich selbst hält. Wir entwickeln allmählich Lebensziele und Verhaltensmaßstäbe, und wir sehen sie als ein zusammenhängendes Ganzes. »Nein, das ist mir nicht gegeben«, mag jemand sagen, wenn man ihm eine nicht passende Tätigkeit vorschlägt. Die Menschen sind sich bewußt, daß sie einen Stil besitzen, dem sie treu bleiben müssen. 


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Im gleichen Maß erkennen wir das auch bei anderen und sagen etwa: <Es sieht ihr einfach nicht ähnlich, daß sie das tut.> Es ist nicht nur so, daß jemand eine Rolle wählt, sondern daß die Gesellschaft die gewählte Rolle in einem gewissen Sinn auch anerkennt. Wenn wir eine Rolle wählen, erwarten wir, daß uns die Gesellschaft auf eine angemessene Art behandelt, genauso, wie sie von uns ein bestimmtes Verhalten erwartet. (>Du nennst dich einen Segler und weißt nicht einmal, wie man ein Tau einrollt !<)

Frauen werden durch diesen Verlust der Identität besonders hart getroffen, weil der Staat so viele ihrer Funktionen übernommen hat. Ihr mütterliches Wissen wurde durch die Bezirksschwester ersetzt, ihre Rolle als Köchin durch Diätspezialisten, Kantinen und Fertiggerichte. Ihre Rolle als Erzieherin ihrer Kinder selbst in den frühesten Jahren wurde durch den Kindergarten oder die Vorschule ursurpiert. Einst sorgten die Frauen für Kleidung und besaßen sogar medizinische Kenntnisse: auch diese Beiträge wurden stark reduziert. Dieser Verlust des Wertgefühls war der Anlaß für die Frauen­emanzipations­bewegung — natürlich zuerst in den USA, wo die Entweiblichung der Frauen am weitesten fortgeschritten ist. Richtig, Frauen erleiden wirtschaftliche Handicaps, aber die wirtschaftliche Gleichberechtigung kann wenig tun, um das Gefühl des inneren Wertes, der verlorenging, wiederherzustellen. Zudem vermute ich, daß die Angleichung der Geschlechter das Gefühl der Frauen für ihre einmalige Verschiedenheit von den Männern schwächt und umgekehrt, so daß sich das Problem für beide Geschlechter intensiviert.

Die Suche nach einer einzigartigen Identität erklärt auch die große Zahl junger Männer, die Modefotografen, Modedesigner, Fernsehproduzenten, Graphiker oder auch Fußballstars und Boxer werden wollen. All das sind einzigartige Individuen in dem Sinn, daß etwa das Fernsehprogramm, das Mr. X. produziert, für ihn einzigartig ist, auch wenn es schlecht sein mag. Lieber wollen sie als Individuum wenig verdienen, als als Roboter ein hohes Gehalt einstreichen. Die gleiche Identitätssuche macht auch das Verhalten von Menschen verständlich, die einen Mord begehen oder ein Flugzeug entführen und hinterher sagen, sie hätten es getan, um <jemand zu sein>.


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Ein nicht länger unerklärlich erscheinendes Charakteristikum unserer Gesellschaft ist die allgemein verbreitete übertriebene Beschäftigung mit Persönlichkeiten der Öffentlichkeit — Fernsehdarstellern, Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens, Politikern. Die Erklärung ist wieder einmal, daß in einer Massengesellschaft nur eine kleine Zahl von Menschen als Individuen herauszuragen vermag, da die Zahl der Menschen, die ein Individuum erkennen kann, begrenzt ist. Da die meisten Menschen diese Möglichkeit, erkannt zu werden, nicht haben, können sie ihr Gefühl der Entpersönlichung nur beschwichtigen, indem sie sich mit solchen Gestalten identifizieren. Es ist nicht erforderlich, daß sie (wie in der Vergangenheit) Helden oder Vorbilder sind, sondern nur, daß sie stark individualisiert sind.

Wenn wir älter werden, wird unsere Identität immer klarer abgegrenzt. Unsere Leistungen oder unsere Fehlschläge markieren, welche Art von Menschen wir sind; unsere aus unseren Erfahrungen abgeleiteten Haltungen werden tief verwurzelt. Doch die Identität bleibt normalerweise stabil. Gelegentlich können wir von jemand sagen: »Sie ist ein anderer Mensch geworden, seit ihr Gatte gestorben ist.« Während des Zweiten Weltkriegs gab die Nazi-Regierung einen Erlaß heraus, der dramatisch als der <Nacht-und-Nebel-Befehl> bekannt wurde. 

Gewisse Menschen konnten diesem Erlaß zufolge ihrer Identität beraubt werden. Jede Akteneintragung, die sie betraf, wurde zerstört, sogar in den Konzentrationslagern, in denen sie eingesperrt waren — genauso wie ihre Geburts- und Heiratsurkunden, Versicherungspolicen, alles, was sie je geschrieben hatten und so weiter. Sie hatten nur mehr eine Nummer und keinen Namen. Und man sagte ihnen auch, daß das geschehen war. »Was die Welt betrifft, habt ihr nie existiert.« Außerdem wurden sie in kurzen Abständen von einem Lager zum anderen verlegt, so daß sie nie Bekanntschaften schließen oder auch nur Wachen und Mithäftlingen als Individuen bekannt werden konnten. Die Wirkung auf diese Individuen war katastrophal. Sie zerstörte sie. 


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  4  Wie die Gesellschaft die Identität untergräbt  

 

»Die Identität ist ein zusammenhängendes Gefühl des Selbst«, sagt Allen Wheelis. »Sie hängt von dem Bewußtsein ab, daß die eigenen Bemühungen und das eigene Leben <einen Sinn ergeben>, daß sie in dem Kontext, in dem das Leben gelebt wird, sinnvoll sind.«

Es sind unsere Ziele, die unserer Tätigkeit den erwünschten Zusammenhang verleihen. Ein Mann, der versucht, aus der Wildnis eine Farm zu schaffen, wird die verschiedensten Aktionen ausführen müssen, sie tragen aber alle zu einem Hauptziel bei. Man kann sogar seine Erholung als Teil seines Lebensplans ansehen, da diese seine Energie und seine Begeisterung für die Hauptaufgabe wiederherstellt.

Wenn aber seine Anstrengungen durch die Entscheidung einer Straßenbaubehörde hinfällig gemacht werden, haben sie mit einemmal keinen Sinn mehr; sein Ziel ist frustriert. Wie das Beispiel zeigt, reduziert die moderne Welt oft die Bemühungen von Individuen zu reinem Unsinn; das ist ebenso dem raschen Tempo gesellschaftlichen Wandels wie dem größeren Ausmaß öffentlicher Pläne zuzuschreiben. In erster Linie wird die Identität heute so sehr geschwächt, weil wir in einem Zeitalter des Wandels leben. Falls das aber als eine neue Idee erscheinen sollte, ist dieser Eindruck völlig falsch. Vor über einem halben Jahrhundert erklärte der deutsche Soziologe Georg Simmel: »Die tiefsten Probleme des modernen Lebens leiten sich aus dem Anspruch des Individuums ab, die Autonomie und Individualität seiner Existenz angesichts überwältigender sozialer Kräfte zu bewahren.«

Erik Erikson betont, daß die Identität für eine gewisse Periode stabil bleiben sollte. Er nennt das »eine beständige Gleichheit im eigenen Selbst und ein beständiges Teilen einer Art von wesentlichen Charakter­zügen mit anderen«. So müssen wir in Perioden des Wandels entweder unsere Identität modifizieren, oder unsere Identität wird schließlich unangemessen: die Gesellschaft beginnt, von uns ein Schema von Werten und Verhaltensweisen zu erwarten, das nicht unser eigenes ist. 


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Die Person, die starr ihre Identität bewahrt, riskiert es, zu <veralten>, ihre Ziele und Haltungen werden altmodisch und ihre Werte überholt. Sie wird spießbürgerlich. So kann der Wandel unser Gefühl des persönlichen Wertes zerstören.*

In einer sich ändernden Welt kann aber die Persönlichkeit selbst fließend werden. Wheelis drückt das so aus: »Der soziale Charakter, der jetzt zur Vorherrschaft gelangt, scheint für eine Kultur des Wandels geformt zu sein. Es hat den Anschein, daß das Individuum, um überleben zu können, fortschreitend fähiger werden muß, sich zu modifizieren. Die Schlüsselworte unserer Zeit sind Flexibilität, Anpassung und Wärme, ähnlich wie es für unsere Großväter die Worte Arbeit, Sparsamkeit und Wille waren.« 

Es ist aber keineswegs gesagt, daß die flexible Persönlichkeit am besten zum Überleben geeignet ist, denn das Überleben wird wahrscheinlich von der Fähigkeit abhängen, ferne Ziele mit nie wankender Entschlossen­heit zu verfolgen. Das Individuum, das es vermeidet, sich zu einem Ziel oder einer Haltung zu verpflichten und das bereit ist, die Segel nach jedem Wind des Wandels zu drehen, erleidet das Gefühl, sich verloren zu haben. »Wenn man nicht weiß, wofür man steht, weiß man nicht, was man ist.« Diese Geisteshaltung läßt eine hartnäckige Angst entstehen, und diese Angst wiederum nährt, in einem zirkulären Prozeß, das Bedürfnis, bei anderen <gut zu stehen>. Das Ergebnis ist die soziale Konformität oder <das Ausgerichtetsein-nach-anderen>, auf die David Riesman in seinem gefeierten Buch <Die einsame Masse> (1961) hinwies, ohne die Ursache erklären zu können.

*  Während man sich von einem Rückschlag erholen kann, können nur wenig Menschen zweimal wieder <hochkommen>. Das war in der großen Depression der dreißiger Jahre festzustellen. Ein Bergmann im Kohlenrevier schaffte den Wechsel zur Arbeit in einer Strumpffabrik. Er hatte große Schwierigkeiten, sich dieser >Weiberarbeit< anzupassen, für die er sie hielt. Er fühlte sich als Mann, der fehl am Platz war, nachdem er sich nicht mehr den Gefahren und Anforderungen des Kohlenbergbaus stellen konnte. Als er ohne eigene Schuld aus der neuen Arbeit entlassen wurde, zerbrach er völlig. Man hat auch festgestellt, daß Selbstmörder typischerweise Menschen waren, die einen doppelten Fehlschlag erlitten: beispielsweise in der Arbeit und in der Ehe. Sie hatten nichts mehr, >wofür sie leben konnten<.


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Eine weitere Ursache für den Verlust der Identität liegt in der Simplifizierung der Kultur. Obwohl die Kultur der Vereinigten Staaten — wie Margaret Mead beobachtet hat — für einen Europäer zersplittert erscheinen mag — und es auch ist —, kann man sie doch in einem Sinn vereinfacht und homogen nennen. Der Kalifornier fährt nicht nur das gleiche Wagenmodell wie der New Yorker oder der Cowboy aus Wyoming, sondern er reagiert auch auf die fundamental gleichen Imperative. Das gilt in steigendem Maß für die übrige Welt. Die Kultur wird homogenisiert. Vor zwei Jahrhunderten führten in Großbritannien ein Weber in Norfolk, ein Schäfer in South Down, ein jagender Landedelmann oder ein schottischer Clansmann Leben, die sich substantiell voneinander unterschieden. Sie trugen verschiedene Kleidung, aßen verschiedenartige Kost, ja selbst ihre Sprachen unterschieden sich so, daß sie sich kaum verstehen konnten. Heute ist die Welt <coca-kolonisiert>; das Wort wurde eigens gemünzt, um diese Tatsache auszudrücken. Man kann rund um die Welt reisen und wird doch überall die gleichen Getränke, die gleichen Geräte und die gleiche Kleidung finden.

Eine weitere Kraft, die auf den Verlust der Identität hin arbeitet, ist die Allgegenwart des Nachrichten­wesens. Dank den Massenmedien, insbesondere dank dem Fernsehen, strömen dieselben Fakten in jedes Haus im Land. Unser aller Geist befaßt sich mit denselben Problemen, wir erkennen dieselben öffentlichen Gestalten. So gleicht das Mobiliar des Geistes schließlich dem Mobiliar des Geistes aller anderen. Das mag die Kommunikation vereinfachen, sie zu einem bloßen Austausch von Stereotypen zu reduzieren; es zerstört aber die Individualität und löst den Sinn der persönlichen Einzigartigkeit und damit den des Wertes auf. Denn wenn man ersetzbar ist, wenn man nichts Einzigartiges anbieten kann, ist man kein Individuum mehr.

Auch mag man es der universalen Erziehung zuschreiben, daß sie in Menschen Ambitionen weckt, die sie den Gegebenheiten nach nie erfüllen können. Der Sohn des Ackerbauers war es zufrieden, selbst auch ein Bauer zu werden oder einen der anderen Berufe zu ergreifen, in denen er direkte Erfahrungen besaß. 


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Heute macht die Erziehung den Sohn des Ackerbauers mit allem vom Computerprogrammieren bis zum Modedesigning vertraut, und das kann in ihm einen Ehrgeiz; wecken, der weit über seine Fähigkeiten hinausgeht, falls ihm entsprechende geistige Daten und Schönheitssinn fehlen. Ich sage nicht, daß es schlecht ist, solche Möglichkeiten zu öffnen, nur, daß es, wie bei den meisten Dingen, eine gute und eine schlechte Seite gibt. Wenn es einigen hilft, eine Identität zu erreichen, frustriert es andere, und wir haben kein Zahlenmaterial, das beweist, daß die erste Gruppe größer ist als die zweite. 

   

  5 Autonomie und Bürokratie 

 

Tief in der menschlichen Seele ist das Bedürfnis verwurzelt, zu fühlen, daß man die eigenen Aktionen selbst bestimmen kann. Heute haben aber viele Menschen das Gefühl, daß das, was sie tun, von anderen bestimmt wird, von dem Staat oder allgemeiner gesprochen von dem System, unter dem sie leben. In einem buchstäblichen Sinn legt der Staat in all seinen lokalen wie nationalen Manifestationen Regulierungen und Zwänge auf: der Umfang der Gesetzgebung und die gesetzlichen Ordnungen nehmen unaufhörlich zu. In einem übertragenen Sinn fährt man jeden Morgen zur Arbeit, weil es eine <abgemachte Sache> ist und nicht das dringende Verlangen, eine besondere Arbeit fortzusetzen. Man vergleiche das mit dem Siedler, der hinausgeht, einen Baum zu fällen, um daraus einen Zaun zu bauen: er fühlt sich verpflichtet, diese Arbeit zu tun. Kurz gesagt, die Menschen haben das Gefühl, daß sie die Autonomie verloren haben, und ein Automat ist kein Mensch. 

Von hier stammt die allgemeine Furcht vor Computern: was haben wir noch beizutragen, wenn sie das Denken besorgen und Maschinen die Arbeit übernehmen? Der Psychiater trifft häufig auf das Gefühl der Entpersönlichung, und bei gewissen Arten des Irrsinns behaupten Menschen, >Gedanken werden für mich gedachte Viele Menschen, die nominell noch gesund sind, werden von unserer Gesellschaft in diese Richtung gedrängt. (Inburn fühlte sich selbst als Opfer unpersönlicher Kräfte.)


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Der Hauptgrund, warum sich der Staat immer mehr in das Leben des Individuums einmengt, ist zweifacher Art: eine Kombination aus Technologie und Bevölkerungsdichte. Die Technologie steigert die Macht der Menschen, andere zu ärgern oder ihnen zu schaden. Ein Mann mit einem Auto kann ein halbes Dutzend Menschen töten, was er mit einem Pferdewagen oder einer Kutsche nie hätte tun können. Ein Mädchen mit einem Transistorradio kann ihre Nachbarn ärgern, ohne auch nur die Stimme heben zu müssen. Unsere Macht, zu ärgern oder zu schaden, wächst, wenn wir eng gedrängt leben. Ein Mann in einem entlegenen Landhaus kann sein Radiogerät laufen lassen und wird doch niemand belästigen, genauso wie ein Mann auf leeren Landwegen unaufmerksam fahren kann, ohne jemand zu töten. Das Zusammendrängen von menschlichen Wesen ist zum Teil dem Wachstum der Bevölkerung zuzuschreiben, zum Teil der Tendenz der Menschen, sich in Städten und Vororten zusammenzuballen. Beides ist jedoch ein Produkt der Technologie, so daß letztlich die Technologie die Schuld trägt.*

Die Verästelungen der Staatskontrolle werden sich zweifellos schon in kurzer Zeit noch viel weiter erstrecken. Wie Sir Geoffrey Vickers es ausdrückte, nähern wir uns dem Ende der Periode des <freien Falls>, in der die Technologie unterschiedlos angewendet wurde, und sind dabei, in eine Ära der absoluten Kontrolle einzutreten.

Es ist paradox, daß der Mensch, indem er in so mancher Hinsicht freier wird, andererseits weniger frei geworden ist. Fürsprecher der Technologie sagen uns, daß der Mensch freier ist, als er je zuvor war: frei, zu reisen, wohin es ihm beliebt, frei, exotische Speisen und Getränke zu sich zu nehmen, frei von sexuellen Tabus und so weiter. Aber in einem anderen Sinn ist er weniger frei. In dem Maß, in dem wir die physikalischen Gesetze zu verstehen gelernt haben, finden wir unsere Freiheit beschränkt, innerhalb dieser Gesetze zu arbeiten. 

* Zwei weitere Faktoren bei dem gegenwärtigen Verlust der Autonomie mögen in der Tendenz der Bürokratie liegen, immer mächtiger zu werden und immer neue Techniken zu benötigen, um immer mehr Einzelheiten erledigen zu können — hier zeigt sich die wirkliche Drohung des Computers —, und in der Tendenz, solche Kontrollen als wünschenswert oder unvermeidlich anzusehen.


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Wie Wheelis es formulierte, kann man ohne eine Unterordnung unter Determinismus kein Flugzeug bauen. Und wenn der soziale und psychologische Mechanismus klarer wird, sehen wir, daß unsere Bewegungen nicht frei sind: wir sind die Geschöpfe unserer Umwelt oder unseres Erbes.

So findet sich der Mensch auch aus diesem Grund weniger als Person und mehr als Nummer. Vielleicht ist der Grund, warum wir heute so viel über die Wichtigkeit der menschlichen Person, über die Würde und die Potentiale des Menschen sprechen, eben der, daß sie unaufhörlich verringert werden.

Das Gefühl der Menschen vom Verlust der Autonomie hat eine weitere wichtige Folge. 

Der menschliche Wille scheint wenig Bedeutung zu haben, wenn menschliche Angelegenheiten durch Kräfte geregelt werden, über die das Individuum keine Kontrolle besitzt. Wie Wheelis bemerkt, wurde diese Schwächung des Willens von vielen Psychiatern bei ihren Patienten beobachtet. Der Psychologe William James glaubte, daß ein Gefühl der persönlichen Integrität von der Fähigkeit abhängt, effektiv zu wollen. Wenn wir heute viel über Menschenrechte und die Würde des Individuums hören, ist es genau deshalb, weil diese Würde reduziert und weil diese Rechte ausgehöhlt worden sind.

Wir wollen rekapitulieren: die technologische Gesellschaft zerstört das Gefühl der einzigartigen Individualität in vielen ihrer Mitglieder 

(1) durch die Mechanisierung und Unterteilung der Arbeit,
(2)  durch die Größe der Verwaltungseinheiten und die Zentralisierung der Entscheidungen,
(3)  durch das Wachstum von Vorschriften, das auf der Bevölkerungsdichte und der vermehrten Macht des Menschen basiert, und
(4)  durch das schnelle Wachstum des sozialen Wandels — wenn man ihn gegen den Maßstab der menschlichen Lebensspanne hält.

All das sind Trends, die sich mit zunehmender Beschleunigung fortsetzen und die nur eine titanische Anstrengung aufhalten und umkehren könnte. Wenn die Anstrengung nicht unternommen wird, wird das Drama der Identität einen Krisenpunkt erreichen.


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  6  Die Identitätskrise  

 

Das Identitätsproblem wird in besonderer Stärke von den Heranwachsenden gefühlt, die an der Schwelle des Erwachsenenalters stehen. Jetzt muß er oder muß sie sich festlegen, jetzt müssen sie eine Identität wählen. Manchmal sagen die Menschen, <Ich muß mich finden> oder <Ich muß herausfinden, wer ich bin>. Erikson*, der den Prozeß des Findens einer Identität im einzelnen untersucht hat, berichtet von einem in Amerika geborenen Waisenkind, das eine detaillierte Geschichte von seiner Kindheit in Schottland erzählte, in einer Stadt, die es namentlich nannte und beschrieb; es sprach in diesen Fällen sogar mit schottischem Akzent. Erikson, der nach einer Weile erkannte, daß die ganze Geschichte reine Erfindung war, fragte das Mädchen teilnehmend, warum sie diese kunstvolle Täuschung entwickelt habe. »Ach Gott, sehen Sie«, antwortete es immer noch ganz ihrer angenommenen Rolle entsprechend, »ich brauchte eine Vergangenheit.«

Erikson hat untersucht, wie das heranwachsende Kind verschiedene Identifizierungen assimiliert und verwirft und sie zu neuen Schemata kombiniert. Im Verlauf dieses Vorgangs wird es sehr stark davon beeinflußt, wie es durch die Gesellschaft identifiziert wird. Wenn man ihm beispielsweise sagt, es sei faul, mag es tatsächlich sagen, <Schön, wenn man sagt, ich sei faul, werde ich es sein>, oder es mag die Etikettierung zurückweisen und härter arbeiten. 

Ehrgeizige und überlegene Eltern, die übertriebene Anforderungen an ein Kind stellen, erzielen oft die Wirkung, daß ein Kind eine negative Identität entwickelt — das heißt, daß es perverserweise alle Rollen übernimmt, die ihm als gefährlich oder unerwünscht dargestellt wurden, und so zum schwarzen Schaf wird. Das ist besonders wahrscheinlich, wenn ein derartiges Verhalten bei anderen Aufmerksamkeit oder Liebe geweckt hat. Ein Kind teilt die Identität seiner Eltern: es ist einfach Frau Müllers kleiner Junge. In dem eventuellen Kampf, Herr Müller aus eigenem Recht zu werden, wird wahrscheinlich eine starke Ablehnung der Eltern eintreten.

*  Siehe insbesondere sein Buch Jugend und Krise, Stuttgart 1970.


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Die Identitätskrise der zeitgenössischen Jugend scheint mehr dem Versagen der Gesellschaft zuzuschreiben zu sein, ihr akzeptable Rollen anzubieten, als dem Kampf, der elterlichen Herrschaft auf der Identitätsebene zu entkommen. Die Jugend ist natürlich idealistisch und geschult, zu glauben, daß die Welt verbessert werden kann und sollte. Gelegenheiten, sie zu verbessern, das wirkliche Problem der Gesellschaft in Angriff zu nehmen, statt mehr Waren zum Nutzen der Privilegierteren zu produzieren, gibt es aber nur wenige.

Das ist der Grund für die Bereitschaft der jungen Menschen zu protestieren, von hier stammt ihre Ablehnung der Maßstäbe einer Gesellschaft, die in vieler Hinsicht diese ehrgeizigen Ziele ignoriert. Von hier rührt auch die Bereitschaft, Gurus zu folgen oder Lehrern, die eine weniger materielle, weniger anonyme Existenz predigen.

In dem Augenblick, in dem ein Individuum eine Laufbahn wählt oder sich für ein ehrgeiziges Lebensziel entscheidet, verpflichtet es sich fast unwiderruflich. So sind Heranwachsende mit einer Entscheidung von weitreichender Bedeutung konfrontiert, für die sie vielleicht noch gar nicht bereit sind. Sie brauchen, wie wir manchmal sagen, Zeit, <um sich zu finden>. In der Vergangenheit, da der Junge dem Beruf seines Vaters folgte, es sei denn, er fühlte einen sehr deutlichen Impuls, sich davon loszureißen, war die Entscheidung weniger akut. Heute, besonders in einem maternistischen Zeitalter, fühlen sich viel weniger Menschen verpflichtet, in die Fußtapfen ihrer Väter zu treten, und die Frage, <was sein>, kann sehr quälend werden. Auch für Frauen ist das in stärkerem Maß zu einer Krise geworden, da man den Haushalt nicht mehr als ausreichende Vollzeitbeschäftigung ansieht und da viele Mädchen eine Ausbildung erhalten, die eine Karriere im Beruf zu einer vernünftigen Möglichkeit machen.

Die Wahl fällt jedoch viel schwerer, wenn man sich hinsichtlich seiner Werte und Ziele noch unsicher fühlt. In dieser Situation befinden sich heute viele junge Menschen, hier liegt der wahre Grund für die Proteste der Studenten. Die Studenten erhalten eine Ausbildung, die sie befähigt, mehr als ihre Eltern zu versuchen, die ihnen aber keine Wertstruktur oder Philosophie als Entscheidungshilfe mitgibt, wie sie diese Fähigkeiten einsetzen sollen.


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Weiser als wir unterstützen primitive Gesellschaften den Übergang von der Kindheit zur Mannbarkeit durch Zeremonien (den Anthropologen als rites de passage bekannt), welche die beiden Zustände klar abgrenzen. Im Prinzip sind diese Zeremonien dazu bestimmt, zu zeigen, daß der junge Mann tatsächlich die Geschicklichkeiten und den Mut entwickelt hat, die nötig sind, um eine Männerrolle zu übernehmen. So muß bei den Dayaks der Junge in den Urwald gehen und mit dem Kopf eines Feindes zurückkehren. Bei anderen Stämmen muß er schwere Stämme schleppen oder bei der Jagd erfolgreich sein. Oft werden Foltern angewandt, damit er seinen Mut beweisen kann; manchmal sind diese Foltern absurd streng, in anderen Fällen sind sie zu einer bloßen Zeremonie zusammengeschrumpft. 

Ein Junge darf nicht heiraten, ehe er nicht solche Proben bestanden hat, manchmal fallen Probe und eigentliche Heiratszeremonie zusammen, manchmal wird die Zeremonie von Frauen durchgeführt. (Die meisten derartigen Riten weisen auch Elemente auf, die die Wiedergeburt symbolisieren, oder sie schließen die Beschneidung und ähnliche Zeremonien ein, die uns hier nicht weiter interessieren.) Das gleiche Element der Prüfung findet sich in der <Heirat durch Dienst>, bei der der Freier für den Vater seiner Zukünftigen mehrere Jahre lang arbeitet, ehe er als Ehemann gebilligt wird. (Vergleiche in der Bibel die Geschichte Jakobs.)

In unserer Gesellschaft sprechen wir noch von <Volljährigkeit>, die meisten Privilegien des Staats werden aber schon früher gewährt. Zudem verwirren wir das Problem noch weiter, indem man in unterschiedlichen Altersstufen Soldat werden, sich akademisch qualifizieren oder wählen kann. Wir glauben, daß wir bedeutungslose Riten abgelegt haben, tatsächlich ist es aber reine Torheit, die Erreichung der Mannbarkeit nicht klar zu markieren und ihre Privilegien davon abhängig zu machen, einige Beweise für die Tauglichkeit zu liefern.


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  7    Ein Gefühl des Zwecks    

 

Die vielleicht fundamentalste Forderung des Menschen ist die, daß das Leben einen Zweck oder eine Bedeutung haben soll.* C.G. Jung bemerkte einmal, daß er von Männern in den Vierzigern und Fünfzigern förmlich belagert wurde, die <Geld gemacht> und eine Familie gegründet hatten und jetzt die Bedeutung des Lebens kennenlernen wollten; und als Viktor Frankl seine Patienten in seiner Abteilung der Wiener Poliklinik befragte, stellte er fest, daß 55 Prozent der Ansicht waren, ihr Leben sei nicht bedeutungsvoll.

Die Intensivität der Suche des modernen Menschen nach einer Bedeutung hat zwei Ursachen. Wenn wir verhungern, ist unser dominierender Zweck der, Nahrung zu finden. Der Instinkt zu überleben ist fundamental, wie es jener griechische Philosoph demonstrierte, der, als ein Freund erklärte, das Leben sei nicht lebenswert, den Kopf dieses Freundes unter Wasser drückte. Der Freund kämpfte um sein Leben. Wenn wir unsere eigene Existenz sichergestellt haben, ist es wahrscheinlich unser nächster Zweck, Kinder zu zeugen und ihnen einen Start in der Welt zu ermöglichen. Gerade weil diese einfachen Ziele erreicht worden sind, suchen wir jetzt nach weitergesteckten.

An diesem Punkt ist es im allgemeinen möglich, sich für einen größeren sozialen Zweck zu engagieren, indem man seinen Mitmenschen hilft oder irgendwie den Zustand der Welt verbessert. Heute besteht aber ein weitverbreitetes Mißtrauen, ob eine derartige Anstrengung die Mühe überhaupt lohne, ein Mißtrauen, das durch die Drohung des atomaren Feuersturms noch verstärkt wird. (Natürlich finden die Menschen, wenn ein Krieg ausbricht, einen neuen Zweck im Leben, das ist der Grund, warum der Krieg oft willkommen geheißen wird.)

* Die Wahrheit dieser Feststellung zeigt sich an den erschreckenden Zuständen in den Konzentrationslagern, wo die Menschen, wie Viktor Frankl, für sich selbst Zwecke erfanden. Der eine entschloß sich, wieder zu seinen Kindern zurückzukehren, ein anderer sich zu rächen. So gewappnet konnten sie am Leben bleiben. Nach seiner Entlassung gründete Frankl eine Schule der Psychotherapie auf der Voraussetzung, daß der <Wille zum Sinn> das treibende Grundprinzip des Menschen ist und nicht der <Wille zur Lust> Freuds oder der <Wille> zur Macht Adlers.


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Bernard Shaw erzählte, wie er für sich ganz bewußt eine Identität konstruiert habe und dann in dem Fabianischen Sozialismus einen Zweck fand. Er sagte, daß er das Glück hatte, eine Kombination von kritischen Fähigkeiten und literarischer Begabung zu besitzen. Doch habe ihm etwas in diesem Stadium gefehlt. Er »brauchte nur eine klare Vorstellung von Leben im Licht einer verständlichen Theorie: kurz gesagt eine Religion, um alles triumphierend in Gang zu setzen«.

Ein anderer möglicher Zweck liegt in dem Versuch, das eigene Potential zu entwickeln. So wünschenswert das ist, ist es doch etwas selbstsüchtig: es ist eine überlegene Form des Hedonismus. Ferner gibt es die keineswegs geringe Zahl von Menschen, die nicht lange danach fragen, was der Zweck ihres Lebens ist, weil ihnen ihr <Dämon> sagt, was sie tun müssen. Michelangelo vergeudete nicht viel Zeit mit Fragen, er wußte von Anfang an, daß er ein Genie einzusetzen hatte.

Wenn langfristige Ziele versagen, geben sich viele Menschen mit einem Hedonismus zufrieden. So sagt der Verfasser des Prediger Salomonis: »Geh deinen Weg, iß dein Brot mit Freuden und trinke deinen Wein mit fröhlichem Herzen, denn Gott hat dein Werk bereits angenommen ... Lebe freudig mit dem Leben, das du all die Tage deines Lebens der Eitelkeit liebst. Denn das ist dein Teil am Leben ... was immer deine Hand zu tun finden mag, tu es mit all deiner Kraft, denn es gibt keine Arbeit, kein Mittel und kein Wissen in dem Grab, in das du gehst.«

Die Chinesen haben einen ähnlichen Standpunkt eingenommen, und Lin Yutang hat ihn in einfachen Worten ausgedrückt: 

»Die Frage, die sich jedem auf dieser Welt geborenen Menschen stellt, ist nicht, was sein erstrebenswerter Zweck sein soll, sondern was er mit dem Leben anfangen soll, das ihm für eine Periode von im Durchschnitt fünfzig oder sechzig Jahren gegeben ist. Die Antwort, daß er sein Leben ordnen solle, so daß er darin das größte Glück finden kann, ist mehr eine praktische Frage ähnlich der, wie ein Mensch sein Wochenende verbringen solle, als ein metaphysischer Vorschlag, was der mystische Zweck seines Lebens im Plan des Universums ist.«


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Ein unqualifizierter Hedonismus wird jedoch rasch langweilig, und Selbstvervollkommnung erscheint ziemlich egozentrisch. Anderen zu helfen bleibt trotz aller Zyniker der würdigste Zweck. In jeder Kultur gibt es viele Ziele, die die Mühe lohnen. Das Problem ist der Einsatz. Allen Wheelis sagt: "Treue, Willenskraft und Energie für hochgeschätzte Ziele einzusetzen bedeutet, das Selbst in den Begriffen dieser Ziele zu definieren und in ihnen die dauernde Bedeutung und den Zweck des Lebens zu finden.« Eine kritische Verbindung aller drei Wege mag das Beste sein — Hedonismus, Selbstentwicklung und Dienst für andere.

 

Sicher, einige Menschen können einen Zweck finden, indem sie eine Religion annehmen. Die Funktion der Religion ist es, dem Leben Bedeutung zu verleihen: wenn jede Handlung auf der Erde eine Rolle bei der Bestimmung unserer Zukunft in einer anderen Welt oder bei unserer Wiedergeburt spielt, ist keine Handlung ohne Bedeutung. Selbst wenn solche Theorien unwahr sind, dienen sie doch einem nützlichen Zweck, und der Realist würde sagen, daß man die Menschen lieber bei ihrem religiösen Glauben lassen solle, selbst wenn er illusorisch ist, als sie in Zweifel und Verzweiflung zu stürzen. Wenn heute die Religion (und nicht nur die christliche) überall untergraben wird, bleiben die Menschen dem ungestillten Durst nach Bedeutung überlassen: <Wozu das alles?>

Die Alternative zu einer Religion ist eine Ideologie, die eine Art weltlicher Religion ist. Die Anziehungskraft des Marxismus liegt in der Tatsache, auf der Marx bestand, daß sich die Gesellschaft unvermeidlich auf den Kommunismus und die klassenlose Gesellschaft zu entwickelt. Marx und seine Anhänger kritisierten heftig diejenigen, die lediglich sagten, daß der Mensch eine bessere Welt schaffen könnte, wenn er sich nur dazu entschließen würde. Dieser gering erscheinende Unterschied verwandelt den Marxismus von einer politischen Doktrin zu einer Religion.

Die <Bedeutung> des Lebens zu verstehen, schließt aber noch viel mehr ein, als einen Zweck im Leben zu finden. Hier mag uns der Philosoph Michael Polanyi weiterhelfen, der die wichtige Entdeckung machte, daß man durch die Prüfung von Besonderheiten nicht zur Bedeutung einer Sache gelangen kann. Wir können die Gestalt und die Erscheinung eines Waldes nie erlernen, indem wir einfach die Bäume studieren. 


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Ganzheiten werden in Hierarchien angeordnet, und wir können nie die Eigenschaften oder den Zweck höherer Glieder aus dem Studium niedriger Glieder erschließen. Die Wissenschaft ist jedoch gerade die Prüfung von Besonderheiten und ihre Unterteilung in weitere Grundeinheiten. So kann uns die Wissenschaft die Bedeutung des Lebens nicht erklären. Mehr noch, so sagt Polyani, »kann eine losgelöste Klarheit unser Verständnis für komplexe Angelegenheiten zerstören ... der Schaden, der durch die Spezifizierung von Besonderheiten angerichtet wird, könnte unheilbar sein«

Auch die Philosophie vermag es nicht, obwohl sie uns helfen kann, Irrtümer zu vermeiden. Denn das Bewußtsein der Bedeutung kommt von der Kontemplation des Ganzen und dem Nachdenken darüber, was man sieht. Das moderne Leben hält uns zu geschäftig und lenkt uns zu sehr ab, als daß wir viel nachdenken könnten, es entfremdet uns von der Natur und von den Erfahrungen, die am meisten nachdenkenswert sind.

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Wenn sich unser Problem in den Worten <Entfremdung> und <Verlust der Identität> zusammenfassen läßt, was sollten wir also deswegen unternehmen? Offensichtlich gibt es hier keine einfache Lösung. Ich habe viele Dinge erwähnt, die wir - wenn wir Vernunft besäßen - tun sollten: 

Kurz gesagt, wir sollten zu einem einfacheren Leben und in mancher Hinsicht zu einer primitiveren Gesellschaft zurückkehren. 

Vor allem aber sollten wir die Anwendung neuer Technologien beschränken — und hier liegt die wirkliche Anklage gegen die Technologie begründet: daß sie Entfremdung produziert. Deshalb ist der Optimismus der Technokraten so hoffnungslos, so hoffnungslos irrig.  

Im letzten Kapitel werde ich zu der Frage unserer technologischen Besessenheit zurückkehren, denn sie bildet den Kern unserer Schwierigkeiten. Für diejenigen, die von der Vorstellung einer immer unnatürlicheren und immer technisierteren Gesellschaft abgestoßen werden, bleiben im Grunde zwei noch ungelöste Probleme zu erwägen. 

Das erste ist, wie man eine <reprimitivisierte> Gesellschaft leiten könnte, das zweite, ob ein Wandel in den Verhaltensweisen für die ganze Gesellschaft erreichbar ist. Ist das verwaltungstechnisch möglich? Ist es psychologisch möglich? Diesen Fragen wollen wir uns jetzt zuwenden.

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Gordon Rattray Taylor -  Entwürfe zu einer Neuordnung der Gesellschaft