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   Teil 3    Zukunftsperspektiven   

8 - Die para-primitive Gesellschaft

1 Einleitung   2 Wie es wäre   3 Lokalisierung   4 Der Lebensstandard    5 Erziehung und Reflexion   6 Der Weg in die Zukunft   7 Können wir uns anpassen? 

 

    1 Einleitung  

233-261

In welcher Art von Gesellschaft möchte ein vernünftiger Mensch leben? Viele haben die Antwort auf diese Frage gesucht und haben die gesetzlichen und die sozialen Einrichtungen von Utopias beschrieben. Die korrekte Antwort lautet jedoch ganz anders: ein vernünftiger Mensch möchte in einer Gesellschaft leben, deren andere Mitglieder ebenfalls vernünftig sind

Er möchte nicht angegriffen werden, wenn er nach Hause geht; er möchte nicht, daß man in sein Haus einbricht oder seine Tochter vergewaltigt. Er möchte keine unzuverlässigen, schlecht entworfenen Waren kaufen oder von korrupten Politikern geknebelt werden. Er würde es auf ganzer Linie vorziehen, sich mit Menschen zu verbinden, die selbstlos, vorurteilsfrei, gewissenhaft, freundlich und intelligent sind. 

Und selbst wenn die Gesetze und Sitten unbefriedigend wären, würde eine vernünftige Bürgerschaft sie allmählich verändern, während eine grausame, korrupte oder selbstsüchtige Öffentlichkeit auch gesunde Gesetze und Sitten bald pervertieren würde. 

So offensichtlich dieser Punkt erscheint, so ist er in der Tat keineswegs so offensichtlich, denn in jedem mir bekannten Bericht von Utopia wird als gegeben angenommen, daß die Masse der Bewohner <vernünftig> sein wird (wenn ich dieses Wort gebrauchen darf, um ein ganzes Bündel wünschens­werter Eigenschaften zusammenzufassen), und der Schriftsteller verwendet seine Zeit darauf, die Gesetze und Sitten und vielleicht einige der technischen Arrangements zu beschreiben. 

Aber gerade die Schaffung einer vernünftigen Bevölkerung ist das Problem.

Mehr noch unterstellt dieser Vorschlag, daß wir eine Gesellschaft entwerfen müssen, in der von uns verschiedene Menschen glücklich und in der wir sehr wohl unglücklich sein könnten. Wir sollten keine Auswege für unsere obsessiven Bedürfnisse finden, keinen übertriebenen Luxus, keine Pornographie und keine Bordelle, kein Boxen und kein Catchen, keine Glücksspiele und keine Fußballwetten. 

Ob uns eine solche Gesellschaft gefallen würde oder nicht, ist kein sicherer Hinweis — obwohl es dadurch erschwert wird, eine solche Gesellschaft zuwegezubringen. 

Der Hauptfehler, den wir machen, ist, daß wir daran arbeiten, eine Gesellschaft herbeizuführen, in der wir glücklich sein könnten. Grundsätzlich ist die Aufgabe aber unlösbar. Man kann mit unvollkommenen Menschen keine idealen Gesellschaften schaffen. 

Doch ist das Gegenteil gleichermaßen wahr. Der vernünftige Mensch kann in einer unvollkommenen Gesellschaft nie so glücklich und erfüllt sein, wie es ihm gegeben wäre. Die Gesellschaft setzt einschränkende Bedingungen bei unserer persönlichen Suche nach Glück.

Die Frage dieses Kapitels heißt: in welcher Art von Gesellschaft würden vernünftige, nicht-ängstliche, nicht-obsessive, nicht-neurotische, vorurteilsfreie, ausgeglichene Menschen leben wollen? Wenn ich <ausgeglichen> sage, meine ich insbesondere ausgeglichen im Hinblick auf bipolare Werte wie Paternismus und Maternismus, hartes und weiches Ich. In den vorausgegangenen Kapiteln habe ich viele der Desiderata im Detail erörtert: jetzt möchte ich sie zusammen­fassen und die Fäden zusammenführen.   wikipedia  Desiderata    wikipedia  Paternalismus 

Die Schlußfolgerung aus den Erörterungen der vorangegangenen Kapitel ergibt, daß wir im Bewußtsein unserer eigenen besten Interessen versuchen sollten, innerhalb unserer technologischen Gesellschaft den strukturierten Charakter der präindustriellen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad wiederherzustellen. 

Können wir die Vorteile der beiden nicht miteinander kombinieren? Oder sollten wir nicht, wenn wir die Vorteile beider Welten nicht bekommen können, einen Kompromiß finden?


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Offensichtlich kann es sich nicht darum handeln, der Technologie den Rücken zuzukehren. Nur ein Heiliger oder ein Asket würde freiwillig auf fließendes Wasser oder elektrisches Licht verzichten oder ohne Anästhesie oder Antibiotika auskommen, um nur einige der offensichtlichsten Segnungen der Technologie zu erwähnen. Es ist einfach die Frage, ob wir uns der Technologie auf einer Basis <alles-oder-nichts> in die Arme werfen müssen. 

Die Rufe nach dem <Ludditismus>*, die jeden Vorschlag zur Beschränkung der Auswirkung der Technologie begrüßen, gehen an dem Kernpunkt vorbei. 

Tatsächlich ist ein Teil der modernen Technologie wünschenswert, wer würde sich weigern, ein gefährliches Pestizid durch ein sicheres zu ersetzen? Mehr noch, einige technologische Entwicklungen der letzten Zeit sind für eine paraprimitive Gesellschaft ziemlich günstig. An erster Stelle steht hier die Aussicht auf kleine, unabhängige Kraftquellen, die einer Gemeinde Unabhängigkeit geben, ohne daß diese den Lebensstandard opfern muß.

Für eine Gesellschaft, die die Vorteile der primitiven Gruppenstruktur mit den Befriedigungen der Technologie kombiniert, brauchen wir einen beschreib­enden Ausdruck: vor über zwanzig Jahren habe ich den Ausdruck paraprimitive Gesellschaft geprägt, womit ich eine Gesellschaft meine, die der primitiven Gesellschaft analog oder ihr ähnlich ist. 

Der Ausdruck ist nicht ideal, denn viele prätechnologische Gesellschaften waren keineswegs primitiv in dem Sinn, in dem das Wort gewöhnlich verwendet wird. Anthropologen können das Wort nicht einmal für die einfachsten Gesellschaften, die des Lesens und Schreibens noch nicht kundig sind, leiden; sie weisen darauf hin, daß deren Kulturen oft ziemlich kompliziert sind und Zeichen einer langen Entwicklung aufweisen. 

Aber der alternative Ausdruck metatechnologische Gesellschaft vermittelt die Bedeutung nur unbefriedigend, und so werde ich bei dem ursprünglich vorgeschlagenen Begriff bleiben, bis ein besserer gefunden wird. 

* Die Lehre des englischen Arbeiters Ned Lud, der zwischen 1811 und 1816 das Los der Arbeiter durch die Zerstörung aller Maschinen verbessern wollte.


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Ich glaube, daß das achtzehnte Jahrhundert in fortschrittlichen Ländern uns am meisten lehren kann, wenn wir nach einer idealisierten Epoche in der Vergangenheit als brauchbares Rohmodell für die Zukunft suchen. 

Obwohl keineswegs primitiv und in mancher Hinsicht verfeinerter als unsere Zeit, wahrte sie doch in beträchtlichem Maß die Sozialstrukturen, Arbeitsschemata und Werte, die wir erörtert haben. Sicherlich, das 18. Jahrhundert war auch durch Privilegien, Korruption, Schmutz und Armut gekennzeichnet — wir wollen es nicht glorifizieren —, und doch gelang es damals vielen Menschen, glücklich und produktiv zu sein, frei von Streß und existentieller Verzweiflung.

So viel Platz auch die Erörterungen von Einzelheiten einnehmen mögen, ist es doch relativ leicht zu erwägen, was wir von der Technologie beibehalten sollten, da wir mit ihren Produkten unmittelbar konfrontiert werden; auch ist es relativ leicht zu sehen, was wir von der primitiven Gesellschaft nicht übernehmen wollen — die blutdürstigen Praktiken, die Krankheiten, die gekünstelten Tabus und Rituale und so weiter. 

Schwieriger ist es, genau festzumachen, was wir davon wirklich beibehalten sollten. 

Als die wesentlichen Züge, die wir wiederherstellen sollten, schlage ich vor: 

Wo könnten wir dann in fünfzig Jahren stehen, vorausgesetzt, daß der Wille vorhanden ist und wir von Krieg, Hungersnöten, Seuchen und einer Invasion von fremden Planeten verschont bleiben?


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   2  Wie es wäre   

 

In klassischen Beschreibungen von Utopia gibt es stets eine spezifische Szenerie, ob es sich nun um eine idyllische Gemeinde voll von sonnengebräunten, lachenden Menschen in langen weißen Gewändern handelt oder ob es die geschäftigen Mengen in phantastischen Kunststoffkleidern auf den rollenden Gehsteigen einer überdachten Stadt im Sinne von H.G. Wells sind. 

Ich vermute, daß sich das mögliche Utopia in vierzig oder fünfzig Jahren nicht allzusehr von dem Heute unterscheiden wird — außer, daß wir hoffentlich die Luft, das Wasser und die Abfallhalden gereinigt, den größten Teil der Slums und der häßlichen Fabriken niedergerissen und die Verwendung von Verbrennungs­motoren eingeschränkt haben werden.

Bei einer genaueren Betrachtung könnten wir sehen, daß die kleinen Städte und die Dörfer gedeihen, daß einige abgelegene Gebiete, wo die Bevölkerungszahl abnahm, jetzt wieder belebt sind — besonders auf einigen Inseln. Dementsprechend werden Bulldozer in den größeren Städten die tristeren Flächen säubern und sie wieder in Felder und Parklandschaften verwandeln, wodurch diese überentwickelten Zentren wieder in lenkbare Einheiten zergliedert werden. 

Auch wenn wir in die Fabriken gehen, könnten wir große Veränderungen entdecken: weniger lange Fließbänder und Riesenräume voll von Menschen, die winzige Wiederholungsarbeiten leisten. Stattdessen werden wir auf Gruppen von Menschen stoßen, die in einem Tempo, das sie selbst bestimmen, komplette Produkte herstellen. Wir könnten feststellen, daß sie die Arbeit zu verschiedenen Tageszeiten beginnen und beenden, wie es der Gruppe eben paßt, sowie andere ungewöhnliche Einzelheiten.

Die wirklich dramatischen Veränderungen wären jedoch unsichtbar, denn sie betreffen die persönlichen Beziehungen, legale und administrative Arrangements, die Wirtschafts- und die Steuerstruktur, die Art der Erziehung und die Atmosphäre des Lebens im eigenen Heim.

Das Steuersystem könnte beispielsweise so modifiziert werden, daß es die Menschen davon abhält, sich in Städten und Großstädten niederzulassen oder Produkte herzustellen, die nur einen Randwert an Glück besitzen. (Wir verwenden bereits derartige Steuern, wenn wir Alkohol besteuern oder, wie in Großbritannien, Umsatzsteuer für notwendige Waren zurückerstatten. Wir könnten noch weiter gehen: Wir könnten Luxuszubehör wie elektrisch betriebene Autofenster besteuern und Steuern an Firmen zurückerstatten, die einen niedrigen oder abnehmenden Arbeitsaufwand zeigten.)


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Auch die Erziehung wird sich, dessen bin ich sicher, stark verändert haben; ich werde gleich darauf zurückkommen. Das gleiche wird bei den Methoden der Kindererziehung der Fall sein. Die vielleicht überraschendste der unsichtbaren Änderungen unter der konventionellen Oberfläche von Utopia wird jedoch eine Art Politik sein, die das Tempo der Übernahme von Neuerungen reguliert. Wie ich bereits betont habe, kann eine zu hohe Änderungsrate genauso kostspielig und so frustrierend sein wie eine zu statische Existenz. Bei allem gibt es einen goldenen Mittelweg.

Unsere gegenwärtige Politik, jede Neuerung zu übernehmen, die in unserem knarrenden Wirtschaftssystem gewinnbringend auf den Markt geworfen wird, kann nicht viel länger bestehen. In der Medizin haben wir gelernt, daß es besser und billiger ist, Krankheiten zu verhindern, als nachher die Stücke aufzulesen: das gleiche gilt auch für die soziale Zerrissenheit. Wird es eine Neuerungsbehörde geben, die jede große Erfindung genau studiert? In unserer Gesellschaft wäre eine derartige Behörde einem intensiven Druck durch jene ausgesetzt, die das Gefühl haben, daß sie einen Dollar dabei verdienen können; sie würde wahrscheinlich eher Durcheinander und Verzögerung verursachen und Ziel der öffentlichen Kritik sein. 

Eine elegantere Methode, die auf einer Computeranalyse der wahrscheinlichen Auswirkungen der Erfindung in Verbindung mit der Einführungsquote anderer Erfindungen basiert, ist wahrscheinlicher. Es wird eine energisch durchgeführte Operation sein müssen, geleitet von Männern mit den allerbesten Fähigkeiten, die die Menschen genauso gut kennen wie die Dinge.

Die bezeichnendsten Änderungen mögen aber vielleicht nicht so sehr die administrativen sein, sondern Veränder­ungen in der Art, wie Durchschnitts­menschen ihr Alltagsleben zu führen wünschen. Sie haben dann vielleicht eine klarere Vorstellung von ihren wirklichen Bedürfnissen und sehen, daß Glück und Bequemlichkeit oft verschieden oder sogar radikale Gegensätze sind.


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Viele Vorschläge für eine neue Gesellschaft stellen sich die Bevölkerung in kleine Gemeinden von etwa fünfhundert Menschen gruppiert und gleichförmig über das Land verteilt vor, mit nur wenigen Städten oder Großstädten.* Ich halte diese Auffassung als allgemeine Politik für unpraktisch, schlecht durchdacht und unnötig. Richtig, es ist leichter, Gemeinden zu unterhalten, wenn sie etwas voneinander entfernt liegen; man braucht weniger Schiedssprüche darüber, wo ihre Interessen gegeneinanderprallen, man muß sich weniger mit physischen oder kulturellen Invasionen befassen und so weiter. Wie ich aber bereits vorgetragen habe, kann eine Gemeinde auch innerhalb großer Städte, ja sogar innerhalb von Großstädten unter den richtigen Bedingungen entwickelt werden, und es gibt Gründe, warum wir diese wohlerprobte Struktur beibehalten sollten. 

Eine Gruppe von Dörfern braucht die Unterstützung einer Stadt zur Versorgung mit den größeren und teureren Gütern, die in einem Dorf nicht auf Vorrat gehalten werden können; Gebiete brauchen regionale Hauptstädte, in denen seltener gekaufte Waren deponiert werden können. Regionale Hauptstädte können auch Theater, Konzerthallen und andere Dienste unterhalten, die von geeigneten Gebäuden und der Erreichbarkeit abhängig sind. Wahrscheinlich besteht jedoch kein Bedürfnis, über hunderttausend Menschen hinauszugehen — eine nationale Hauptstadt vielleicht ausgenommen. Lange, ehe eine Million erreicht ist, beginnt der heimliche Preis für eine derartige Konzentration die Vorteile weiterer Größe zu überwiegen.

Diese Art von Struktur ähnelt weitgehend der Verteilung der Bevölkerung vor etwa hundert Jahren, mit dem Unterschied, daß die Transportmittel und die Kommunikationen viel leichter sind, so daß auch das Leben unter solchen Bedingungen viel leichter wäre, der Zugang zu ärztlichen und anderen Diensten viel einfacher und so weiter. Sie ähnelt auch den ländlichen Gebieten in entwickelten Ländern. Sie bedeutet jedoch eine Dezentralisierung der Bevölkerung in den großen Städten, die nötig ist, um den Kontakt mit der Natur und mit der nicht-urbanisierten Gemeinde wiederherzustellen, die in den Großstädten fehlt.

*  Zum Beispiel der »Blueprint for Survival« (Plan fürs Überleben), der von der britischen Zeitschrift The Ecologist im Januar 1972 veröffentlicht wurde.


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So kann ich in den Großstädten Änderungen vorhersehen, die dazu bestimmt sind, den Einheiten in ihnen einen größeren Zusammenhang zu geben. Ich kann sogar sehen, daß Menschen den Riesenstädten den Rücken kehren werden — etwa denen mit einer Million oder mehr Einwohnern —, weil sie die Vorteile der reineren Luft, des geringeren Lärms, des größeren Kontakts mit der Natur und einer weniger unpersönlichen Existenz vorziehen. Es wäre wertvoll, in Erfahrung zu bringen, wie viele Menschen in großen Städten leben, weil sie es wirklich wünschen, und wie viele, weil es dort Arbeit gibt oder weil sie sich dort bereits ihr Leben aufgebaut haben.

In Ländern wie Großbritannien, Belgien, Holland und so weiter wäre eine Dezentralisierung unpraktisch, wenn die Bevölkerung nicht stark reduziert würde — es wäre einfach kein Platz, sie unterzubringen, wenn man nicht eine Art Vorstadt über das ganze Land ausdehnen würde. (In Großbritannien hätte jede Gemeinde einen Raum von etwa 1100 Quadratmetern zur Verfügung oder noch weniger, wenn man Gebirge und Sümpfe von der Gesamtfläche abzieht. Dabei sind Straßen, Flugplätze, Krankenhäuser, Fabriken, Docks, Kraftwerke und so weiter gar nicht mitgerechnet, und es würde zudem das Opfern aller Parks, Gärten, Wälder und Gemeinschaftsländereien bedeuten.)

  

  3  Lokalisierung   

 

Wenn die Dezentralisierung keine Vorbedingung für die Entwicklung der Gemeinde ist, welche ist es dann? Die Mitglieder der entstehenden Gemeinde müssen den Hauptteil ihrer wirtschaftlichen und emotionellen Transaktionen in den Bereich der Gruppe verlegen. In praktischen Begriffen bedeutet das, daß man wenigstens einen Teil der eigenen Einkäufe in den örtlichen Geschäften, Garagen und Postämtern tätigen muß und Versandbestellungen und Ausflüge in Einkaufszentren vermindert. Alan muß auch viele der eigenen sozialen und persönlichen Kontakte innerhalb der Gemeinde placieren, an einigen ihrer Festlichkeiten und Zeremonien teilnehmen und ihre Gruppenziele und Interessen — und zwar besser durch persönlichen Einsatz als durch Geld — fördern. In Ermangelung eines besseren Wortes könnten wir das die <Lokalisierung> der Interessen nennen.


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Die Gemeinde muß des weiteren tatsächlich die Macht besitzen, über lokale Fragen zu entscheiden, was bedeutet, daß sie eine wirksame regierende Körperschaft (im Kirchensprengel, in der Gemeinde, Grafschaft, dem Ort und so weiter) besitzen muß, und durch Wahlen, Versammlungen, Kandidaturen und so weiter unterstützt wird. Daß sich eine derartige Lokalisierung entwickelt, hängt nämlich nicht einfach von der Bereitschaft ihrer Mitglieder ab, sondern von dem Ausmaß, in dem die zentralen und regionalen Behörden bereit sind, Macht auf die Gemeinde zu delegieren.

Im Augenblick besteht, wie wir alle wissen, die Tendenz, die Macht immer mehr zu zentralisieren. Man kann starke Argumente zur Unterstützung dieser Politik vorbringen: eine wirksamere Verwaltung, eine größere Einheitlichkeit der Maßstäbe und so weiter. Die Nachteile werden nur selten festgestellt oder auch nur erkannt. Mit einfachen Worten, wir müssen vielleicht eine weniger wirksame Verwaltung, weniger Einheitlichkeit der Maßstäbe als den Preis für die Gemeinde hinnehmen, obwohl wir daran arbeiten sollten, derartige Nachteile zu verkleinern.

Die Lokalisierung kann auch die Korruption fördern, weil Menschen, die sich kennen, eher stillschweigend Vorschub leisten, als wenn sie nicht miteinander bekannt sind. (Korruption kommt jedoch auch in Organisationen großen Maßstabs vor, wir könnten eine eingehendere Erforschung der sozialen Dynamik des Themas sehr gut brauchen.)

Es geht aber nicht nur um die Lokalisierung von Interessen; es gibt einen weiteren recht unangenehmen Faktor, dem nur selten die verdiente Beachtung geschenkt wird: wir werden sowohl das Maß der physischen Mobilität wie das Tempo des gesellschaftlichen und technischen Wandels stark reduzieren müssen. Gemeinden können nicht länger zusammenhängend bleiben, wenn ihre Angehörigen sie laufend verlassen oder einen großen Teil des Tages außerhalb von ihnen verbringen; sie können auch nicht kohäsiv bleiben, wenn sie dauernd von Angehörigen anderer Gemeinden überflutet werden, die entweder als kurzfristige Bewohner kommen oder sich nur für einen Tag zusammendrängen.


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Schließlich müssen wir das Produktions- und Verteilungssystem neu aufbauen und Produktionseinheiten an die lokalen Gemeinden binden, statt sie in Geschäftsimperien oder öffentliche Korporationen zu integrieren. Technisch gesehen könnte das leichter sein, als es klingt, da die Durchschnittsgröße einer Fabrik in Großbritannien selbst heute hundert Mitarbeiter selten überschreitet. Sicherlich gibt es auch Tätigkeiten, die nicht lokalisiert werden können; Systeme, die eine Organisation und Standardisierung auf nationaler Ebene erfordern, brauchen offensichtlich ein beträchtliches Maß von zentralisierter Struktur. 

Aber heute gibt es in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien private Telefongesellschaften; die Stadt Manchester besitzt beispielsweise seit Jahrzehnten ihren eigenen städtischen Telefondienst. Zentralisierte Organisationen variieren sehr stark hinsichtlich des Ausmaßes, in dem sie Individuen von Ort zu Ort bewegen, im allgemeinen reagieren sie jedoch auf lokale Vorlieben. Einheimische können auf das Aussehen ihres örtlichen Bahnhofs stolz sein, doch haben sie selten eine Gelegenheit, das gleichermaßen auf ihr Telefonamt oder ihre Transformatoren-Unterstation zu sein.

Einige Tätigkeiten, etwa die Kontrolle des Luftverkehrs, lassen sich natürlich nicht lokalisieren.

Bei anderen wäre es dagegen möglich, wenn man nur wirklich wollte. Autos müssen nicht unbedingt an einem Ort hergestellt werden, sondern können aus Komponenten zusammengesetzt werden, die von einer Vielzahl von Firmen an vielen verschiedenen Orten hergestellt werden. Selbst Uhrgehäuse müssen nicht von Uhrmachern angefertigt werden, in Frankreich gibt es Fabriken, die nichts als Uhrgehäuse herstellen und 100 bis 150 Menschen beschäftigen. Ein Teil der industriellen Tätigkeit großen Maßstabs, wie wir sie heute erleben, geschieht um des finanziellen Vorteils wegen, der aus der Natur unseres Wirtschaftssystems resultiert, und nicht wegen echter Effektivität, die durch die Größe bewirkt wird. 


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Wenn man beispielsweise eine große Summe Kapital zu niedrigeren Zinssätzen ausleihen kann als eine kleinere Summe, steht der Mann, der eine große Fabrik baut, besser da als jener, der eine kleine errichtet. Eine große Fabrik kann sich auf ihre Lieferanten <stützen> und sie zwingen, Kosten zu übernehmen, die eine kleinere Firma selbst tragen müßte. (So bestehen Automobilhersteller darauf, daß die Lieferanten von Konstruktionsteilen diese lagern, bis sie angefordert werden, sie fordern Bußgeld, falls sie vor oder nach einem gegebenen Datum geliefert werden.) 

Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, ist das sehr viel ineffektiver, da jedes Versagen bei der Lieferung von Teilen den ganzen Arbeitsvorgang des Zusammenbaus zum Stehen bringen würde (einer Störung, wie sie durch einen Streik oder einen Brand bei der Zulieferungsfirma verursacht werden könnte). Umgekehrt kann ein großer Lieferant, der viele kleine Firmen beliefert, sich seinerseits auf diese <stützen>. Große Organisationen tendieren dazu, relativ ineffektiv zu sein, da sie sehr viel Mühe auf die richtige Koordinierung verwenden müssen.

In einigen Fällen scheint die Größe von einem naiven Glauben herzurühren, daß <größer> notwendiger­weise auch <besser> ist oder wenigstens besser klingt, oder daher, daß man dem allgemeinen Trend zur Größe blindlings folgt. Tatsache ist, daß wir gar nicht versucht haben, die Technologie zur <Verkleinerung> zu drängen. Wir blähen die Modelle auf, aber wir nehmen ihnen selten etwas Luft weg.

  

   4 Der Lebensstandard   

 

Die Frage, die manche Menschen unweigerlich stellen, wann immer ein Vorschlag zur Verbesserung des Lebens gemacht wird, lautet: <Aber wird das nicht den Lebensstandard senken?> Die sofortige Antwort darauf müßte heißen: <Meinen Sie den materiellen Lebensstandard?> Denn reine Nahrung, nicht verschmutzte Luft, angenehme Arbeit, ja sogar psychologische Sicherheit sind genauso sehr ein Teil des Lebensstandards, wie es der Besitz von Gütern ist. Besonders in Amerika hat der (materielle) Lebensstandard eine fast heilige, unantastbare Qualität, vor der sich alle anderen Erwägungen beugen müssen. 


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Das ist in Wirklichkeit eine Ironie, denn der Lebensstandard ist so hoch, daß die Amerikaner sehr wohl eine Verkürzung in materiellen Dingen hinnehmen könnten und das doch weniger fühlen würden als die meisten Europäer.

Ich glaube jedoch, daß wir die Hilfsmittel freimachen könnten, die für soziale Fortschritte nötig wären, ohne einen wirklichen Schnitt in dem materiellen Standard vornehmen zu müssen, indem wir einfach das <Fett beschneiden>: eine bessere Metapher wäre vielleicht, daß wir wie bei einem Wassersüchtigen das überschüssige Wasser punktieren. Die Verbrauchergesellschaften produzieren viele Dinge, die nur wenig oder gar nichts zur Befriedigung beitragen oder die nur wegen der Unvollkommenheit und der Frustrationen einer solchen Gesellschaft gewünscht werden. 

 

Der Punkt ist so wichtig, daß ich an acht Beispielen erläutern will, was ich meine.

1. Das Veralten. Das <eingebaute Altern> erfordert, oft mehr Ersatz herzustellen, als nötig wäre. Die Tatsache, daß ein Auto wie der Rolls Royce noch nach dreißig oder vierzig Jahren voll betriebsfähig ist, gibt uns einen Hinweis darauf, wie unnötig kurz die Lebensdauer eines normalen Autos ist. General Motors legten die Basis für ihren geschäftlichen Erfolg dadurch, daß sie den jährlichen Modellwechsel einführten und das Statusbedürfnis ausbeuteten, nicht am Steuer des letztjährigen Modells gesehen zu werden. Wie jedermann weiß, hat man zahlreiche andere Methoden entworfen, die das Veralten beschleunigen, wie etwa, daß Ersatzteile nicht mehr geliefert werden. Das gilt neben den Autos noch für viele andere Dinge. Das ganze Geschäft der Änderung der Mode ist eine andere Art von künstlichem >Veralten<. Natürlich wollen die Menschen manchmal den Stil der Mode, des Dekors und so weiter ändern, und in einer vernünftigen Gesellschaft geschieht das, wenn das Vorhandene abgenützt ist oder eine Umarbeitung braucht. In der überhitzten Gesellschaft werden neue Moden jedoch dem Publikum aufgezwungen, gewöhnlich indem man an Statusbewußtsein oder sexuelle Unsicherheiten appelliert. Abgesehen von der Materialvergeudung, wenn noch brauchbare Kleider oder Möbel weggeworfen werden, wird beträchtliche Arbeitskraft in die Durchführung derartiger Änderungen investiert.


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2.  Kleinigkeiten. Für 120 Dollar kann man jetzt ein Gerät kaufen, das einem sagt, welche Krawatte man tragen muß, wenn man die Farbe des Anzugs und des Hemdes eingegeben hat. Für viel mehr Geld kann man eine Version bekommen, die Anzug und Hemd mit einer Fernsehkamera überprüft, so daß man die Angaben nicht einmal eingeben muß. So erschöpft ich auch bin, fühle ich mich doch immer noch in der Lage, meine Krawatte selbst auszusuchen. Ein Buch, das kürzlich erschien, führt viele andere Beispiele derartiger nutzloser Neuheiten auf, von Papierservietten für Wellensittiche bis zu Nerzbauchnabelbürsten. (Mein Lieblingsobjekt ist das Sandtablett, das Passagieren in Fluglinien zu dem Sonderpreis von 14.50 Dollar angeboten wird. Man stellt das Tablett aus Rosenholz, das >Beruhigungssand< enthält, auf den Klapptisch und entspannt übermäßigen Streß dadurch, daß man von Zeit zu Zeit mit einem Plastikkamm Muster in den Sand zieht. Wenn unsere Gesellschaft nicht ohne diese beruhigenden Sandtabletts existieren kann, gibt sie besser gleich auf!)

3.  Reklame und Zurschaustellung. Wenn die Reklame vom Vorhandensein eines notwendigen Produkts, von dem wir die Einzelheiten nicht kennen oder überhaupt nichts wußten, berichtet, oder auch von einer Änderung im Preis oder in der Ausstattung, so erfüllt sie ein soziales Bedürfnis. Wenn sie versucht, uns durch bloße Wiederholung einzuhämmern, daß wir eine bestimmte Marke und keine andere kaufen sollen, und wenn sie mit unserem unbewußten Leben herumspielt, indem sie mit dem Produkt große Werte assoziiert, ist sie nicht bloß eine echte Verschwendung, sondern sogar schädlich. Das gleiche gilt für prunkhafte Zurschaustellung bei der Promotions- und Public-Relationsarbeit. Von ihrer ursprünglich nützlichen Funktion schwillt sie zu etwas auf, das bestenfalls eine schlechte Verwendung von Geldmitteln und schlimmstenfalls tatsächlich schädlich ist.


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4. Verschmutzung, schlechte Gesundheit, Unfälle. Eine weitere Art technologischer Vergeudung rührt von unserer fehlerhaften Kostenberechnung: wir sehen wohl die Kosten für die Ausscheidung von Schwefeldioxyd aus dem Rauch von Kraftwerken und Fabriken, wir übersehen aber die Kosten für die Gesellschaft infolge der Gesundheitsschäden, die durch Schwefeldioxyd herbeigeführt werden. Einer Berechnung neueren Datums zufolge würden, wenn die Luft in den Vereinigten Staaten nur zur Hälfte gereinigt würde, Ersparnisse allein in Begriffen von Arbeitstagen, die durch Krankheit und frühen Tod verlorengehen, mindestens 2 Milliarden Dollar betragen. 

Hierbei bleiben die geringere Kapitalinvestition für ärztliche Dienste sowie die möglichen indirekten Auswirkungen wie höhere Produktion oder gesellschaftliche Auswirkungen wie eine Reduzierung des Tünchens und Streichens öffentlicher Gebäude, Brücken und anderer Bauten (Schwefeldioxyd hat einen schädigenden Einfluß auf Steinbauten, die zu zerbröckeln beginnen und schließlich ersetzt werden müssen) unberücksichtigt. Die Ersparnisse könnten in dieser Richtung noch einmal so viel betragen. Wenn also die Luft um 4 Milliarden Dollar im Jahr reiner gemacht werden könnte, würde das die Mühe lohnen, denn nichts wurde bei der Berechnung für Kummer und Leiden eingesetzt, die mit Krankheit und frühem Tod verbunden sind. Es ist außergewöhnlich selten, daß Berechnungen dieser Art angestellt und zur Grundlage einer Politik gemacht werden.

Andere Arten von schlechter Gesundheit haben ebenfalls soziale Ursachen, in erster Linie Betriebs- und Verkehrsunfälle. Die Arbeitskraft, die für die Pflege (oder die Bestattung) von Opfern von Autounfällen verlorengeht, ist ein Teil des Preises, den wir dafür bezahlen, daß wir ein Auto besitzen. Das würde uns stärker auffallen, wenn wir im Augenblick des Autokaufs eine >Unfallsteu-er< bezahlen würden, statt durch Versicherungspolicen, Staatssteuern und so weiter überfordert zu werden.

5. Ersatzmittel. Ein großer Teil unserer sogenannten <produktiven> Anstrengung dient dem Versuch, dem Leben die Befriedigung wiederzugeben, die ihm die technologische Gesellschaft weggenommen hat. Das Transportmittel, das die Menschen am Wochenende aus der Stadt hinaus aufs Land bringt, ist nur nötig, weil die Technologie die Menschen vorher in der Stadt konzentriert hat. 


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Auf ähnliche Art bringen wir Weizenkeime in das Weißbrot zurück, die vorher extrahiert wurden, und verlangen dann von dem Konsumenten für das, was billiger sein sollte, mehr, da er zweimal bezahlt, einmal für das Entfernen der Weizenkeime und einmal dafür, daß man sie wieder zurückbringt. Ein Besucher vom Mars würde sich, wie ich mir vorstellen kann, beim Anblick einer Rudertrainingsmaschine vor Lachen krümmen, die dem Stadtbewohner die notwendige körperliche Übung auf die langweiligste Art bietet, während er sich in einer besser geplanten Welt der Befriedigung des wirklichen Ruderns hingeben würde.

Das Glücksspiel, heute eine ausgedehnte Industrie, gedeiht auf dem Bedürfnis nach einem Stimulans, dem Wunsch, einer hoffnungslosen und frustrierenden Situation zu entgehen. Fast das gleiche gilt für die Pornographie und die Prostitution. In gesunden Gesellschaften sind sie unerwünscht.

6. Verbrechen. Verbrechen gegen das Eigentum, den Vandalismus eingeschlossen, sind in der primitiven Gesellschaft ebenso selten, während sie in der unseren ständig zunehmen. Oft übertragen sie Vermögen nicht einfach von einer Person auf die andere: sie zerstören Vermögen (wie etwa, wenn Silbergegenstände eingeschmolzen werden oder im Fall von Industriesabotage), während die Kosten der Verbrechensverhütung und die Kosten, die Täter vor Gericht zu stellen und einzusperren, einen weiteren hohen sozialen Preis, das heißt eine Ablenkung von Arbeitskräften fordert.

7. Nicht-Arbeit.  Eine Hauptkategorie wäre die Arbeit, die unnötig oder nicht kompetent verrichtet wird. »Senator Philip Hart von Michigan zog den Schluß, daß die Konsumenten alljährlich einen Betrag zwischen 174 und 231 Milliarden Dollar bezahlen, für den sie nichts erhalten. Das schließt acht bis zehn Milliarden Dollar jährlich für Autoreparaturen ein, die nicht richtig ausgeführt, unnötig oder überhaupt nicht gemacht wurden; dreißig Milliarden für wirkungslose Kombinationsdrogen, die jetzt aus dem Markt gezogen werden, und eine Milliarde Dollar für überflüssige Automobilzweitversicherungen.« Ein Angehöriger von Ralph Naders Stab zitierte kürzlich diese Aussage, aber jedermann weiß von ähnlichen Fällen aus seiner eigenen Erfahrung.


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8. Statussuche.  Ein kurzer Absatz, aber ein umfassendes Thema. Das Ausmaß, in dem sich einige Menschen in einen auffälligen Verbrauch stürzen, wurde von vielen Autoren von Thorsten Veblen bis Vance Packard so ausführlich dokumentiert, daß eine Erörterung hier ermüden würde. In einer Gesellschaft, die einen funktionellen Status vorsieht, das heißt ein Prestige, das von bekannten Fähigkeiten abhängt, würde ein großer Teil des Suchens nach Status-Etiketten sinnlos werden und wegfallen. 

 

Zu all dem könnten wir die riesigen Kosten für Rüstung und militärische <Bereitschaft> hinzufügen, die gewiß die wirklichen Bedürfnisse selbst in unserer von Unfrieden zerrissenen Welt weit übersteigen. Der Glaube, daß <mehr> <besser> und daß das Neueste auch das Beste ist, beherrscht die Gehirne von Generalen und Admiralen genauso wie die anderer Leute. (In Japan allerdings versucht man nicht, eine starke Armee dadurch zu besiegen, daß man ihr eine gleich starke gegenüberstellt, man verwendet die eigene Geschicklichkeit, um die Kraft des Gegners zu seinem Nachteil zu verkehren.) Man werfe dazu die Kosten <nationaler Abenteuer>, wie das Weltraumrennen und den Überschall-Transport sowie die Kosten der reinen Fehlleistungen (das Weltraumlaboratorium der US-Armee kostete 1,2 Milliarden Dollar und kam nie vom Boden weg} — und was erhält man dann?

Ich bezweifle sehr, ob auch nur 50 Prozent der Produktionsanstrengung der Vereinigten Staaten tatsächlich in die Herstellung von Gegenständen gehen, die in einer wirklich bedeutungsvollen Auslegung des Begriffs zum materiellen Lebensstandard beitragen. In Europa wird die Zahl etwas niedriger sein. Wenn wir alle Vergeudung eliminieren, bleiben uns so drei Wahlmöglichkeiten. Entweder wir arbeiten nur die halbe Zeit ohne Einbuße an Lebensstandard, oder wir können mit einem doppelt so hohen Lebensstandard leben, oder aber wir können die so freigemachte Zeit dazu verwenden, die Arbeit neu zu orientieren, um sie anziehender zu machen, die Slums zu beseitigen, das Wasser und die Luft zu reinigen, die Kosten der Dezentralisierung und der Bevölkerungsbegrenzung zu decken und uns im allgemeinen an die Konstruktion einer nationalen Gesellschaft zu machen. Oder aber wir können uns auf eine Kombination der drei Segnungen einigen.


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(Ich nehme für den Augenblick an, daß wir diese Umwandlung vornehmen können, ohne Arbeitslosigkeit zu verursachen. Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem ist natürlich nicht fähig, das Budget der Bemühungen wirksam auszugleichen. Ich werde den wirtschaftlichen Aspekt im nächsten Kapitel erörtern.)

Ob uns die Sache anzieht oder nicht, so scheint es doch wahrscheinlich, daß binnen weniger als fünfzig Jahren die Erschöpfung der Hilfsmittel und die Forderungen der Dritten Welt auf einen Anteil an dem materiellen Wohlstand, verstärkt durch die Notwendigkeit, die Umweltverschmutzung zu beschränken, nicht nur eine obere Grenze für unseren Wohlstand festsetzen wird, sondern daß wir dann auch begonnen haben werden, die Unwesentlichkeiten aus unserer <wassersüchtigen> Gesellschaft herauszupressen.

  

   5 Erziehung und Reflexion   

Nach der Studentenrevolte vom Mai 1968 in Paris sagte ein siebenundzwanzigjähriger Student der Rechte, Julien G., der nach einem achtzehnmonatigen Zwangs-Militärdienst sein Studium wieder aufnahm, einem Befrager: 

»Plötzlich dachte ich inmitten all dieser Ereignisse: Sehen Sie, seit acht Jahren habe ich eine höhere Erziehung erhalten, und in Wirklichkeit habe ich nichts getan, als Examen gemacht, eine Kultur in mich hinein­getrunken und Fotokopien und technische fiches absorbiert: jetzt, nachdem ich die Schwelle des Erwachsenenalters erreicht habe, weiß ich nicht mehr, warum ich handle und was ich tun werde; ich bin einfach nicht mehr fähig, über die Gegenstände zu reflektieren, die ich gelesen und wiedergelesen habe — als Student der politischen Wissenschaften, des Marxismus, der Revolution, des Kampfes. Ich überrasche mich dabei, daß ich Worte ansehe, die ich nicht analysieren kann, und ich sage mir, daß alles, was mir gelehrt worden ist, für mich keinen Nutzen mehr hat.« 


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Welch erschreckende Anklage des Erziehungssystems — und unglücklicherweise eine Anklage, die von Studenten in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern genauso erhoben wird. 

Aber wie kann das sein?

Die Erziehung hat, wie unter anderem von Professor Mitscherlich aufgezeigt wurde, drei Aspekte: die kognitive Erziehung (das Lernen, wie man denkt), die affektive Erziehung (das Lernen, wie man fühlt) und die soziale Erziehung (das Lernen um das Leben). Die Erziehung ist heute fast ausschließlich kognitiv: die Erwerbung von Tatsachen und faktuellen Systemen (Theorien) zusammen mit den neuesten Marotten, das Lernen, wie man Tatsachen wieder kombiniert, was mit dem Etikett >schöpferisches Training< ausgezeichnet wird. 

Ein großer Teil dieser Art von Erziehung ist auf den Erwerb des Lebensunterhalts hin orientiert — sie lehrt die kognitiven Komponenten einer Geschicklichkeit des Erwachsenen, wie etwa des Praktizierens als Ingenieur, als Wirtschaftler oder als Arzt. Solche Geschicklichkeiten sind natürlich notwendig. Aber in einem menschlichen Sinn sind sie trivial.

Es ist weit wichtiger, daß die Menschen dazu heranwachsen, zu lieben und geliebt zu werden. Professor Ashley Montagu beleuchtet dieses Thema ganz ausgezeichnet, und Kapitel 12 seines The Direction of Human Development (Die Richtung der menschlichen Entwicklung) sollte in jedem Lehrerkolleg zur Pflichtlektüre bestimmt werden. Warum, so fragt er, sollten wir im zwanzigsten Jahrhundert auf experimentellem Weg wieder entdecken müssen, daß die Liebe für die menschliche Entwicklung wesentlich ist, wenn diese Tatsache in jeder Gesellschaft in religiösen und philosophischen Lehren verankert ist, wie etwa in der Bergpredigt? 

«Die Antwort«, sagt er, »lautet, daß wir leider von der Fähigkeit, unsere Mitmenschen zu lieben, wegerzogen wurden und daß wir auf der anderen Seite auf konfuse Weise dazu ausgebildet wurden, unser Auge auf die große Chance zu richten ... Wir haben dazu tendiert, nach falschen Werten zu leben und diese Werte auf die Jungen zu übertragen.«

  wikipedia  Ashley_Montagu 


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Montagu zitiert einen Psychiater der US-Marine, Dr. James Clark Montgomery, der erklärte, daß er auf der Insel Okinawa kein einziges verzogenes, egozentrisches, furchtsames Kind gesehen habe. »Man muß die Fülle der Liebe, die in einem Eingeborenenstamm zwischen Erwachsenen und Kindern besteht, gesehen haben, um sie glauben zu können... Die kleinen Leute saßen den ganzen Tag um unser Feuer, und obwohl sie von den Eltern keinerlei Strenge erlebten, machten sie nicht die geringsten Schwierigkeiten. Jede Bitte, die wir aussprachen, wurde in allerbester Laune erfüllt. In offenen Schränken lagen Süßigkeiten, Zucker und alle Arten von Leckerbissen, nur wenige Schritte von dem Platz, wo sie gewöhnlich saßen, aber kein Kind rührte diese Dinge je an.«

Es steht schon lange fest, daß ein Kind, wenn es nicht mit neun Monaten eine liebevolle Beziehung zu seinen Eltern hergestellt hat, das wahrscheinlich nie mehr tun wird, es wird für immer emotional inkompetent bleiben.  

Da jedoch die Bedeutung der Liebe <als wissenschaftliche Tatsache> anerkannt und nicht mehr als Sentimentalität angesehen wird, können wir hoffen, daß die meisten Eltern bis zu der Zeit, wenn Utopia errichtet werden wird, bewußt versuchen werden, die Bedingungen für ihre Entwicklung zu schaffen, und die Gesellschaft wird die Heranwachsenden lehren, sie nicht zu romantisieren, sie aber auch nicht zynisch herabzusetzen.

Was mir jedoch als viel ernsteres Problem erscheint, ist unser gegenwärtiges Versagen, die jungen Menschen zu lehren, wie sie mit dem Leben fertig werden können. Wir lehren sie nichts über sie selbst, über ihre Identitäten und wenig genug darüber, wie sie ihren Körper — von ihrer Psyche ganz zu schweigen — gesund erhalten können. Sie lernen nichts über die psychologischen Unterschiede zwischen den Individuen und zwischen den Geschlechtern. Wir sollten mit ihnen über die <Tat-Menschen> und die <Sein-Menschen> sprechen, über mutter-identifizierte und vater-identiflzierte Menschen, über harte und zarte Menschen und über die Werte, um die sich Menschen dieser Typen bemühen.

Auch sollten wir sie über den contrat social unterrichten, den Gesellschaftsvertrag, über die Natur der Demokratie (bei der es nicht um das <Zählen von Köpfen geht>, wie so viele Menschen annehmen, sondern darum, wie die Position der Minderheiten geschützt wird) und über die Moral.


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Wir sollten sie lehren, wie die wirtschaftliche Maschine funktioniert, und ihnen nicht einen schon vorgeschriebenen und perfekt funktionierenden Mechanismus präsentieren. Dabei dürfen wir aber auch die Schwierigkeiten nicht verkleinern, etwas Besseres zu planen. (Heute kritisieren viele junge Professoren bestehende Institutionen in Begriffen, die deutlich betonen, daß es lediglich Eigeninteresse oder Mangel an Phantasie ist, welche die sofortige Einführung von etwas weit Überlegenem verhindern.) 

Wir sollten die jungen Leute lehren, ein Klassen-System von einem Status-System zu unterscheiden und beide von einem Kastensystem, statt die Kraft des funktionellen Status dadurch zu untergraben, daß wir die Ressentiments der Unterprivilegierten ausspielen. Wir sollten sie die Pros und Kontras des Wandels lehren.

Vor allem aber sollten wir die Menschen lehren, wie sie versuchen können, glücklich zu sein. 

Der utopische Bürger wird, wie ich glaube, verfeinerter sein, als wir es sind; er wird viel konkreter wissen, was ihm eine wirkliche Befriedigung gibt und was nur für einen zeitweiligen Aufschwung sorgt. Er wird genau wissen, worauf er leicht verzichten kann. Er wird das Geld weiser ausgeben, nicht in dem primitiven Sinn, daß er weiß, ob Marke A ein besserer Kauf ist als Marke B, sondern in dem weiteren Sinn, daß er weiß, ob er einem neurotischen Bedürfnis huldigt und wie weit er kurzfristige Freuden einer langfristigen Befriedigung unterordnen sollte. Er wird auch seine Forderungen gegen die wahren sozialen Kosten abschätzen und entscheiden, ob er weitermachen soll oder nicht, statt bloß danach zu fragen, ob er genügend Geld oder genügend Kredit hat.

Er wird mehr von dem Wesen unserer Kultur und den Kompliziertheiten der Sprache verstehen, wird unsinnige Fragen und Definitionen, die nur im Kreis herumlaufen, erkennen, und er wird eine gewisse Vorstellung von der Natur von Ursache und Wirkung haben.

Schließlich brauchen Studenten Zeit, um nachzudenken. Als ein Kamerad zu Julien G. sagte: »Du nimmst dir keine Zeit, um auf dich selbst zu hören«, erkannte er sofort, daß diese Beobachtung völlig richtig war und daß eine moderne Gesellschaft einen Menschen tatsächlich am Nachdenken hindert.


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In mancher Hinsicht werden wir ganz einfach zu einer älteren Auffassung von Erziehung zurückkehren. Denn obwohl die Erziehung vor mehr als zwei Jahrhunderten mit Dogmas überladen war, versuchte sie auch Werte einzuschärfen, während es heute das Ziel der Erziehung zu sein scheint, die Bedeutungslosigkeit von Werten zu zeigen. Des Weiteren versuchte die damalige Erziehung, eine gewisse historische Perspektive zu liefern.

 

In Utopia wird ein großer Teil dieser Erziehung nicht verbal sein, sondern wird dadurch bewirkt werden, daß man Menschen lehrsamen Erfahrungen aussetzt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde eine Anzahl Kinder, die so schlecht sozialisiert waren, daß man sie keinen Pflegeeltern zuteilen konnte, in ein als <Barns> (Scheune) bekanntes Landhaus in der Nähe von Edinburgh untergebracht und dort der Fürsorge eines phantasievollen jungen Lehrers anvertraut. 

Er gab bekannt, daß es nur zwei Vorschriften geben werde: sie durften das Haus nicht in Brand stecken, und sie durften nicht ohne Aufsicht im Fluß schwimmen. Eine Weile lang herrschte Anarchie, bald aber bekamen die Kinder die totale Freiheit gründlich satt und wählten einen Diktator. Als er zu diktatorisch wurde, ersetzten sie ihn durch eine Oligarchie, die sie dann in eine Demokratie umwandelten. Auf diese Weise lernten sie durch harte Erfahrung, daß die Demokratie — obwohl keineswegs vollkommen — doch besser ist als alle denkbaren Alternativen. 

Durch Erfahrungen dieser Art wird das Kind in Utopia lernen müssen. (Im Fall des Barns-Abenteuers wurde das Experiment sehr schnell durch die Erziehungsbehörden behindert, und zwar mit der Begründung, daß die Kinder die vorgeschriebene Zahl von Unterrichtsstunden nicht erhielten, obwohl feststand, daß diese früher einfach nicht zu unterrichtenden Kinder jetzt schnelle, wenn auch ungleiche akademische Fortschritte aufwiesen.)

Ich vermute, daß Individuen eingebaute Entwicklungsprogramme besitzen, die das Schema ihrer Ausbildung lenken sollten. Man kann ein Kind nicht einfache Bewegungen lehren, ehe es nicht bereit ist, sie auch zu lernen, wie Arnold Gesell in seinen großen Langzeitstudien von Kindern nachgewiesen hat. Wenn es Zeit wird, das Balancieren zu lernen, wird es selbst danach verlangen, auf Mauern zu gehen, und nicht vorher.


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Das höhere Lernen ist wahrscheinlich auf ähnliche Weise programmiert. So ist es grundsätzlich wahr, daß das Kind seine eigene Erziehung programmieren muß, so wie es die Studenten von heute fordern. Aber es ist auch richtig, daß Kinder lernen, ihre eingebauten Programme zu ignorieren. So ist bewiesen worden, daß kleine Kinder lernen, Speisen auszuwählen, die ihrem biologischen Bedürfnissen entsprechen. Wenn sich ihr Gaumen jedoch verfeinert, fangen sie an, verführerische Süßigkeiten oder andere attraktiv aussehende Speisen auszusuchen.

Insgesamt gesehen sind Studenten demnach nicht dafür ausgerüstet, sich auf das, was sie lernen sollen, zu spezifizieren. Ich vermute auch, daß gewisse Kombinationen ungeeignet sind und daß man die Fakten in einer bestimmten Sequenz erwerben sollte. Unsere zeitgenössische <smorgasbrod-Erziehung> (wie sie genannt wurde) trotzt diesen Naturgesetzen.  

Es ist wirklich eine Ironie, daß es häufig marxistische Studenten sind, die eine studentische Kontrolle der Erziehung fordern: denn in den frühen Tagen des russischen Experiments wurde die gesamte Klassendisziplin abgeschafft, und zwar aus den gleichen anti-autoritären <Der-Mensch-ist-gut-geboren>-Gründen, die heute wieder vorherrschen. 

Das System erwies sich als ein so furchtbarer Fehlschlag, daß es abgeschafft werden mußte und daß das Pendel in die andere Richtung ausschlug. Die gegenwärtige russische Erziehung ist viel starrer, schärfer überwacht und disziplinierter als alles, was sich ein Student im Westen erträumen mag.

Da die Erziehung immer bis zu einem gewissen Ausmaß faktenbestimmt sein muß, ist es wichtig, daß die Fakten genau und zugleich repräsentativ sind. »Nicht das, was du weißt, macht dir Schwierigkeiten«, sagte Artamus White, »sondern das, von dem du weißt, daß es nicht so ist.« Heute behandeln wir isolierte Fakten so, als ob sie in sich eine magische Gültigkeit besäßen — fast so, als ob sie einen tragischen Bann darstellten.

Unglücklicherweise haben nur wenige Lehrer einen Begriff von der totalen Natur der Erziehung. 

Sie befassen sich fast ausschließlich mit technischen Verbesserungen in der kognitiven Erziehung und dem <Denken, wie man denkt>. Auch den Studenten muß man eine Vorstellung von den Gesamtzielen der Erziehung geben, sie müssen sehen, was die Schule einfach als Hilfe für ihre Selbsterziehung anbietet, ein Privileg, das ausgenützt werden muß, und nicht eine Übung, die man blindlings durchzustehen hat, an deren Ende man irgendwie >gebildet< ist und nichts mehr zu lernen braucht.


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      6  Der Weg in die Zukunft      

 

Der Weg nach Utopia wird, wie ich vermute, seinen Anfang nicht in Amerika, sondern in Europa nehmen, und zwar vielleicht in den skandinavischen Ländern oder möglicherweise sogar in Großbritannien. In den USA sind zwar bereits viele kleine Experimente im Gange, aber es gibt dort auch eine eingefleischte verhärtete Opposition. Die USA sind ein Land der Extreme, und wenn die Anhänger der Neuen Linie weiter voraus sind als in Europa, so sind die der Alten Linie viel weiter zurück. Während die Vereinigten Staaten oft im technologischen Wandel führend sind, sind sie im sozialen Wandel oftmals fünfzig Jahre hinter Europa zurück. (Offensichtliche Beispiele dafür sind die Sozialversicherungen und der kostenlose Gesundheitsdienst).

Auf der anderen Seite ist in den demographisch überfüllten Ländern Europas die Aufgabe der Dezentral­isierung viel schwieriger, da es relativ wenig Raum gibt, in den man dezentralisieren kann. (Dagegen sind die Werte noch relativ stabil: Materialismus ist immer noch ein <schmutziges> Wort.) Wie bereits festgestellt wurde, wäre die Dezentralisierung in Großbritannien, Dänemark, Holland, Belgien und vielleicht auch in der gebirgigen Schweiz schwierig. (Norwegen andererseits hat viele Inseln, auf die man ausweichen kann.) Ziemlich leicht wäre sie in Schweden, Spanien, Italien, ja sogar in Frankreich, und unter all diesen Ländern könnte Schweden das erste sein, das eine paraprimitive Gesellschaft errichtet.


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Es ist unwahrscheinlich, daß der Wandel durch Revolution erfolgt, denn Revolutionen enden immer mit der Errichtung monolithischer, diktatorischer, paternalistischer Gesellschaften. Wenn der Wandel überhaupt kommt, wird das allmählich geschehen. Es gibt dafür bereits Anzeichen, wie das neue Interesse an der <Arbeitsbereicherung> und die Erkenntnis, daß vielstöckige, von Grasflächen umgebene Hochhäuser eine soziale Katastrophe darstellen. Wir scheinen unsere Haltung in der Kindererziehung und in der Behandlung von Straffälligen zu modifizieren, wir fangen sogar an, das Wirtschaftssystem mit kritischeren Augen zu betrachten und unseren Glauben an die Möglichkeit eines endlosen Wachstums ernstlich anzuzweifeln. Und wenn der erste Schritt zu jeder Reform die Erziehung ist, so haben wir bereits begonnen.

 

Wenn sich ein Arbeitsmodell aufstellen ließe, das verbesserte Leistungen im Hinblick auf Verbrechen, Geisteskrankheiten, Arbeitswechsel und ähnliche statistische Daten aufweisen würde, könnte das dazu beitragen, die Menschen zu überzeugen. 

Doch müßte ein derartiges Projekt auf breiter Ebene angelegt sein. Es müßte bis zu einem gewissen Grad autark sein, eine eigene Universität und ein eigenes Schulsystem unterhalten, mit Schwerindustrie sowie mit Gebrauchswaren ausgestattet sein, sich auf ein eigenes Gesundheitswesen stützen und Beziehungen zu den einflußreichen Kreisen der gastgebenden Kommune aufrechterhalten. 

Eine kleine Gemeinde, die in der bestehenden Gesellschaft wegen ihrer Kraftquellen und ihres Penizillins ein parasitenhaftes Dasein führt, würde niemals überzeugen. 

Gleichzeitig würde auch ein Experiment, das zu bewußt als Experiment in Erscheinung tritt, nur wenig beweisen. Die Teilnehmer würden unter der dauernden Überprüfung und der Kritik der Außenwelt schnell ihre Spontaneität verlieren. Gleichzeitig wären wahrscheinlich die Anerkennung und die Unterstützung der Regierung nötig. 

Vielleicht wäre es der allererste Schritt für eine weitsichtige Stiftung, eine Studie darüber zu finanzieren, wie man ein derartiges Experiment am besten einrichten sollte.

In der Folge könnte man vielleicht <Inseln> des Paraprimitivismus innerhalb der alten Kultur errichten, Inseln, auf die die Menschen <auswandern> können, wenn ihnen der Sinn danach steht. Mehr noch, ein derartiges Vorgehen würde es den Menschen ermöglichen, die <Wassertemperatur zu testen>.


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Wenn sie angenehm wäre, würden die Menschen in wachsender Zahl in die paraprimitiven Gemeinden strömen. Diese müßten sich eventuell sogar gegen den Zustrom von Menschen schützen, die zwar die Vorteile ausnützen, aber nicht ihre Werte teilen wollen oder bereit wären, ihren ungeschriebenen Kodex zu unterstützen.

Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, müßte eine paraprimitive Gesellschaft mit einem von uns verschiedenen Wirtschaftssystem arbeiten — aber noch ehe wir hier ins Detail gehen, können wir schon die Schwierigkeiten erkennen, die sich dabei ergeben werden.

In unserer bestehenden Gesellschaft ist es bereits der Fall, daß eine Firma, die sich gesellschaftlich verantwortungsbewußt verhält (indem sie beispielsweise ihre Abfallprodukte reinigt), in eine schwache Konkurrenzposition gegenüber anderen weniger verantwortungsbewußten Firmen gerät. Ebenso ist bei großen fixen Kosten eine kurze Produktionsdauer weniger wirtschaftlich als eine lange. Wie kann sich die kleine Fabrik in der kleinen Gemeinde wirksam gegen die tatsächlichen Vorteile der Größe verteidigen? Die paraprimitive Gemeinde könnte sich so gezwungen sehen, alle Importe zu besteuern und alle Exporte zu subventionieren, um überhaupt am Leben zu bleiben. Allein aus diesem Grund wird eine Unterstützung durch die Regierung nötig sein. 

Wenn es zu keinem <Probelauf> dieser Art kommt, wird der Wandel zollweise erfolgen müssen und von der Fantasie und dem guten Willen einiger weniger weitblickender Menschen abhängen, unterstützt von dem öffentlichen Verlangen nach einer humaneren Art zu leben. 

Der Übergang zu einer paraprimitiven Gesellschaft wird in Ländern wie Großbritannien besonders schwierig sein, wo eine starke Reduzierung in der Größe der Bevölkerung nötig ist, ehe eine Dezentralisierung wirkungsvoll durchgeführt werden kann. 

Das aber hat mehrere Konsequenzen. Die Senkung der Geburtenrate führt zu einer Phase, wo es weniger Erwachsene im Arbeitsalter geben wird; diese müssen jedoch immer noch eine Bevölkerung älterer Menschen unterstützen. Auf dem Arbeiter läge daher zunächst eine unnatürlich große soziale Last. 


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Viel ernster ist wahrscheinlich die deprimierende Auswirkung auf Handel und Industrie. In einer Periode der Expansion kann ein Mann eine Firma gründen, um (beispielsweise) Bettstellen zu fabrizieren. Selbst wenn er die Nachfrage überschätzt hat, wird die Nachfrage größer, da die Bevölkerung größer wird. Die Zeit stellt seine falsche Einschätzung wieder richtig. In einer Periode der Kontraktion dagegen stellen die Menschen, die bereits Bettstellen produzieren, fest, daß die Zahl ihrer Verkäufe absinkt. Einige von ihnen werden diese Art, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aufgeben müssen. Während es jedoch Spaß macht, ein neues Unternehmen zu starten, macht es bestimmt keinen, mit Verlust zu arbeiten und schließlich Bankrott zu machen. 

Desgleichen sind Kapitalgeber in einer Periode abnehmender Verkäufe immer weniger bereit, Kapital vorzuschießen, die Stimmung wird düster, so daß selbst Projekte, für die Platz vorhanden wäre, nur unter großen Schwierigkeiten gestartet werden können. Vor allem aber hat auch der Arbeitnehmer in der schwächer werdenden Firma viel weniger Möglichkeiten zu einem Aufstieg, ja, er kann sogar entlassen werden.

Es folgt weiter, daß ein großer Teil der Kapitalausstattung — einschließlich des Wohnungs- und Straßenbaus und so weiter — überflüssig werden wird. Und das wäre sogar dann der Fall, wenn keine Kontraktion eintreten würde, sondern lediglich eine Dezentralisierung und eine Umgruppierung der Industrie. Man kann einen gewissen Begriff von dem Problem bekommen, wenn man sich vorstellt, daß die Bevölkerung von London oder New York auf die Hälfte oder sogar nur auf zwei Drittel der jetzigen Zahl reduziert werden würde. 

Offensichtlich gäbe es dann lange Reihen leerer Häuser, die Hausbesitzer wären nicht bereit, die noch bewohnten Häuser reparieren oder neu herrichten zu lassen, und es gäbe Sekundärprobleme wie Plünderungen, Besetzungen von Häusern und so weiter. Das gleiche würde auch für Geschäfte und Büros gelten. Alle Verteilergesellschaften für Gas, Wasser, Elektrizität und Fernsprecher würden ihre Hauptleitungen und Kabel für eine immer mehr abnehmende Zahl von Kunden erhalten müssen. Wasserspeicher, Kraftwerke, Telefonämter und Gasbehälter würden überflüssig werden. Offensichtlich würde man eine Verkleinerung in Phasen planen müssen, aber das wäre nicht leicht, weil die Verteilungsgebiete nicht zusammenfallen.


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Analoge Probleme würden sich hinsichtlich der Polizeireviere, der Lokalbehörden, Schulen und so weiter ergeben. Am schlimmsten von allen würden wahrscheinlich die unterirdischen Transportmittel mit ihren gewaltigen Investitionen in Tunnel, Signaleinrichtungen und so weiter betroffen werden. (Im Gegensatz dazu könnte der oberirdische Verkehr verhältnismäßig leicht reduziert und auf neue Strecken umgeleitet werden.)

Glücklicherweise drängen die Bewegung für den Umweltschutz und ein wachsendes Bewußtsein für die Probleme der Weltbevölkerung selbst die nur schwer bewegliche britische Regierung in die Richtung einer Entwicklung der Bevölkerungspolitik und zur Erwägung der Frage einer optimalen Bevölkerungszahl. So werden die Möglichkeiten einer Kontraktion der Bevölkerung ohne nachteilige wirtschaftliche Folgen wahrscheinlich irgendwie ausgearbeitet werden, ob nun Großbritannien auf dem Weg zu einer paraprimitiven Gesellschaft ist oder nicht. Und da es viele Länder gibt, in denen die Übervölkerung kein Problem darstellt, sind das keine einschneidenden Argumente gegen den Paraprimitivismus.

   

    7  Können wir uns anpassen?   

 

Ich war sehr vorsichtig, die paraprimitive Gesellschaft als das zu schildern, was der Mensch des Westens (und auch der des Ostens) anstreben würde, wenn er genug Verstand besäße. Das bedeutet nicht, daß ich über­optimistisch hinsichtlich der Tatsache bin, daß es wirklich so kommen wird. 

Während es ermutigend ist, daß es in den USA und auch in Deutschland eine aktive Minderheit gibt, die etwas dieser Art versucht, indem sie Kommunen einrichtet, von denen wenigstens einige ein paraprimitives Leben anstreben, muß man auch erkennen, daß sie zumindest bisher parasitäre Gewächse sind. Sie sind darauf angewiesen, daß die Mehrheit ihnen weiterhin das Penizillin und die Kraftmaschinen zur Verfügung stellt, die Plastikkuppeln und den Brennstoff, ganz zu schweigen von den Transportmitteln, von denen auch die Kommunen abhängig sind. 


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Solange nicht die Schwerindustrie, die fortgeschrittene Technologie und die höhere Bildung (besonders die Ausbildung von Ärzten, Chirurgen und medizinischem Personal) in eine paraprimitive Gemeinde integriert sind, ist ihre absolute Lebensfähigkeit nicht demonstriert worden, und die Gemeinde kann nur durch Duldung am Leben bleiben. 

Ich bezweifle die Möglichkeit nicht: ich sage lediglich, daß die Kommunen nicht mehr als das Vorhanden­sein einer Vision und einer Hoffnung beweisen.

Es scheint keine unmittelbare Wahrscheinlichkeit zu bestehen, daß die schweigende Mehrheit, sowohl in den USA wie in Europa, ihre Werte spontan ändern wird. Im Augenblick ist sie fest an das <Verbraucherpaket> verkauft, worunter ich die momentan erhältliche Mischung aus Tiefgefriertruhe und Farbfernseher, Heimen mit drei Schlafzimmern und Zweitwagen verstehe. Wird sich die nächste Generation als klüger erweisen? Etwas, zweifellos, aber eben nur etwas. 

Auch ist ein weiteres Problem damit verbunden. Das Individuum, das entschlossen ist, dem allen zu entkommen, ist im allgemeinen nicht der Mensch, der sich durch ein sieben- bis zehnjähriges Medizin­studium quält oder nicht einmal durch einen Kurs in den harten Realitäten der Ingenieur­wissen­schaften. Das erfordert einen anderen Persönlichkeitstyp. Es erscheint auch keineswegs wahrscheinlich, daß die Revolutionäre — falls sie mit ihren Zielen Erfolg hätten — etwas unternehmen würden, das dem Plan einer paraprimitiven Gesellschaft auch nur entfernt entspricht.

Zu all dem gibt es in dem bestehenden System starke, fest verankerte Privilegien. Ich meine damit nicht nur den ganzen finanziellen-industriellen Komplex, auf den normalerweise der Begriff Privilegien angewendet wird, sondern auch die Privilegien all jener, die besondere Fertigkeiten erworben und Bedürfnisse entwickelt haben, die das bestehende System zu befriedigen hilft: all die Lehrer, Beamten und Soldaten, deren persönliches Leben unvermeidlich über lange Zeit auf das bestehende Schema zugeschneidert wurde, ob sie das System nun billigen oder nicht. Und dabei schließe ich mich selbst keineswegs aus. Auch die Gewerkschaften haben äußerst starke Interessen, das gegenwärtige System beizubehalten.

Wenn wir sehr viel Zeit hätten, könnten wir über mehrere Generationen hin einen Wandel bewirken, aber wir haben vielleicht nicht mehr so viel Zeit. 

 

Das einzige, was, wie ich mir vorstelle, einen schnellen Wandel herbeiführen würde, wäre eine erfolgreiche Demonstration, ein Versuchsmodell, in dem die Menschen sozusagen den Paraprimitivismus ausprobieren, alle Schwierigkeiten ausbügeln und dann entscheiden könnten, ob ihnen der <Anzug paßt>.

Die einzige Alternative, den Trend der Gesellschaft umzukehren, ist die zu versuchen, sich ihr anzupassen. Ist eine solche Anpassung möglich? Die kurze Antwort lautet, wie ich glaube: Nein! Wenn wir immer frustrierter und selbstmordreifer werden, können wir zu technischen Mitteln greifen, etwa zu euphorisch stimmenden Pillen. Wir können unsere Aggression mit anderen Pillen eindämmen oder einen Ersatz finden, so wie wir eine normale körperliche Übung durch eine Rudermaschine oder einen Expander zu ersetzen versuchen. 

Aber es hat keinen echten Sinn, uns der Langeweile, der Frustration und dem Mangel an Lebenszweck anzupassen. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder im steigenden Maß nicht ausgefüllt sind, muß unweigerlich immer unstabiler werden, und die Geschichte zeigt, daß diese Gesellschaften von Diktatoren übernommen werden oder sich dem Krieg zuwenden oder beides. 

Deshalb müssen wir umdenken.

Die Kräfte, die uns hindern, von diesem verhängnisvollen Trend loszubrechen, sind, wenn nicht psychologischer, dann wirtschaftlicher Natur. Die, die sich auf den Paraprimitivismus zubewegen wollen, sind durch wirtschaftliche Notwendigkeiten gehandikapt, und die Gemeinden, die etwas von dem Primitiven bewahren, werden unaufhörlich durch die überlegene Wirtschaftskraft der modernisierten Gemeinden zerbrochen.

Im nächsten Kapitel müssen wir uns daher die wirtschaftlichen Grundlagen unserer Gesellschaft ansehen. Warum ist der private Gewinn so oft mit dem öffentlichen Verlust synonym? 

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Gordon Rattray Taylor 1972 Das Experiment Glück  Umdenken: Radikale Vorschläge zur Rettung einer zerfallenden Welt