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  10 - Die Bürger von Utopia   

 

1 Einleitung  2 Wertsysteme ändern sich  3 <Schlag' ihn, wenn er drängt>   4 Eine geordnete Welt   5 Passe deinen Geist nicht an!   6 Kinder in Not 

 

   1  Einleitung   

293-326

Die Zuni-Indianer Neumexikos sind wegen ihrer friedlichen Lebensweise ohne jedes Konkurrenzstreben bekannt. Vor vierzig Jahren faßte das der Jahres­bericht des Büros für amerikanische Ethnologie folgender­maßen zusammen: 

»In allen sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie sind die geschätztesten Persönlichkeits­werte eine freundliche Redeweise, Nachgiebigkeit und ein großzügiges Herz. Alle strengen Tugenden — Initiative, Ehrgeiz, ein kompromißloses Ehrgefühl, Gerechtigkeit und intensive persönliche Treue werden nicht nur nicht bewundert, sondern aufrichtig beklagt. Die Frau, die durch Unglück und Familienstreit bei ihrem Gatten bleibt, der Mann, der deutlich seine Meinung ausspricht, wo eine Schmeichelei bequemer wäre, und vor allem der Mann, der nach Macht oder Wissen dürstet, der, wie sie es verächtlich nennen, <ein Führer seines Volkes> sein will, erhält nichts als Tadel und wird wahrscheinlich sogar wegen Hexerei verfolgt werden.«

Als Kontrast dazu sehe man sich eine Beurteilung des amerikanischen Charakters an, die 1888 gemacht wurde: 

»Sie sind kommerzielle Leute, deren Standpunkt in erster Linie der von Menschen ist, die es gewöhnt sind, Gewinn und Verlust zu berechnen. Ihr Impuls ist es, Menschen und Maßstäbe einer direkten praktischen Probe zu unterziehen, anzunehmen, daß die Männer, die am schnellsten vorankommen, auch die smartesten sind, und daß ein Plan, der sich zu lohnen scheint, unterstützt werden muß.«

In einer Überschau der Werte von 500 Amerikanern und Amerikanerinnen, die Mitte der Dreißiger Jahre aufgestellt wurde, waren die sechs Eigenschaften, die am meisten geschätzt wurden, in absteigender Reihen­folge: Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Selbstbeherrschung, Kooperation, Mut und Initiative. Die sechs, die am wenigsten gewertet wurden, waren: Höflichkeit, Ritterlichkeit, Aufgeschlossenheit, Frömmigkeit, Gehorsam und Sparsamkeit.

Was ist nun der Ursprung solcher Unterschiede? 

Auf den Marquesas-Inseln im Pazifik haben die Kinder im allgemeinen mehrere Mütter. Der Grund dafür ist der, daß man annimmt, ein Mann, der ein Mädchen heiratet, habe auch ihre Schwestern geehelicht — eine Sitte, die übrigens, mit Variationen, auch in vielen anderen Teilen der Welt zu finden ist. Wenn in der Folge davon ein Kind, das von seiner biologischen Mutter Aufmerksamkeit oder Trost fordert, abgewiesen wird, weil sie gerade zu tun hat, geht es einfach zu einer seiner anderen Mütter. Es ist daher keine Überraschung, wenn den erwachsenen Marquesanern die romantische Liebe westlichen Modells fremd ist. Für sie scheint die Vorstellung von dem <einzigen Mädel auf der Welt> einfach absurd. Ihr Standpunkt in dieser Sache wird eher durch die Redensart ausgedrückt: <Im Meer gibt es viele gute Fische.>

Der Sinn der Geschichte ist nicht lediglich der, daß Kindheitserfahrungen das Schema für die Haltung als Erwachsener festsetzen. Es ist auch der, daß eine ganze Gruppe von Menschen gewisse Ähnlichkeiten in der Haltung zeigen kann, weil Sitten, die in ihrer Gesellschaft allgemein sind, eine Auswirkung auf die Erfahrung von Kindern haben. Es ist nicht einfach eine Frage, wie Eltern ihre Kinder erziehen wollen, obwohl das ein Teil des Mechanismus ist; die gesamte physische und soziale Umwelt des Kindes spielt dabei eine Rolle. Ein Kind, das in einem Wohnsilo aufwächst, bringt andere Erfahrungen mit als ein Kind, das auf einem Bauernhof lebt. Ein Einzelkind hat eine andere Kindheit als eines, das Teil einer zwölfköpfigen Familie ist. 

Daraus folgt, daß zunehmende Urbanisierung und Kleinfamilien die Persönlichkeit der Betroffenen ändern.


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Um eine utopische Gesellschaft aufzubauen, müssen wir utopische Bürger produzieren. 

Und selbst wenn wir auf etwas weniger Ehrgeiziges als Utopia abzielen, ist es immer noch so, daß wir durch die Defekte unseres menschlichen Verhaltens eingeengt sind. Antisoziales Verhalten jeglicher Art vermindert unvermeidlicherweise die Befriedigung. Machtgierige oder geldraffende Menschen werden jedes Utopia pervertieren, sie würden Wege finden, um das Vertrauen und die Gutmütigkeit anderer für ihren persönlichen Gewinn auszubeuten — wie man es oft erlebt hat, wenn weiße Händler in harmonische, prätechnische Gesellschaften in der Südsee und anderswo kamen. 

Gewalttätige und bösartige Menschen werden für alle Unsicherheit schaffen, und da das bösartige Verhalten das gute verdrängt, werden bald alle gezwungen werden, an dem Kampf ums Dasein teilzunehmen. In dem Utopia, das William Morris beschrieben hat, war niemand ehrgeizig oder gewinnsüchtig, knickerig oder arrogant, alle waren hilfreich und zivilisiert. Niemand warf Abfall weg, plünderte oder zerstörte Gärten oder nahm Drogen. Morris glaubte, daß das mit dem Untergang des Kapitalismus kommen werde. 

Es war die große Täuschung der Sozialisten, daß soziales Mißverhalten lediglich das Ergebnis von Armut und Ausbeutung sei: daß die natürliche Güte des Menschen sich sofort manifestieren würde, wenn Armut und Ausbeutung einmal beseitigt sind. Wir können jetzt deutlich sehen, daß das nicht stimmt. Die entscheidende Frage lautet daher jetzt: »Können wir das Niveau des menschlichen Verhaltens anheben, und wenn ja, wie?« 

Der Mensch ist nicht von Natur aus gut, genauso wenig, wie er von Natur aus schlecht ist. Beide Schemata sind angelernt. Das Versagen des Sozialismus ist seiner Abhängigkeit von der Annahme der Güte zuzuschreiben, wie das des Kapitalismus seiner Abhängigkeit von der Annahme der Schlechtigkeit. 

Die neue Doktrine, die die beiden einmal ersetzen mag, kann nur aufgebaut werden, wenn man die Prozesse versteht, die die menschliche Persönlichkeit bestimmen.

Aus irgendwelchen seltsamen Gründen finden die Menschen die Vorstellung von der Beeinflussung der Persönlichkeit nur schwer akzeptabel. Sie kennen zahllose Beispiele von individuellen Kindern, deren Verhalten durch ihre Kindheit beeinflußt wurde, beispielsweise der verzogene einzige Sohn einer liebevollen Mutter. Die Menschen finden es aber schwer, von solchen Fällen aus zu verallgemeinern oder zu sehen, wie den Kindern unbeabsichtigte Lektionen beigebracht werden.


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Man kann Erfahrungen, die eine Person auf die Dauer beeinflussen, konstitutive Erfahrungen nennen, und sie sind es, die wir erkunden müssen. Gewöhnlich sind es die frühesten Erfahrungen eines Menschen, die konstitutiv sind, oft sind sie aus dem Bewußtsein verdrängt, wirken aber trotzdem weiter, besonders wenn spätere Erfahrungen sie verstärken. 

Die Menschen sind mit Verallgemeinerungen schnell bei der Hand: Ein Mensch, der zum erstenmal Pilze ißt und unmittelbar darauf erkrankt, wird sich wahrscheinlich Zeit seines Lebens Pilzen fernhalten — und falls das ein zweites Mal geschieht, wird er das fast bestimmt tun. So sind erste Erfahrungen gewöhnlich konstitutiv. Daher sind die ersten Lebensmonate, wenn das Baby seine ersten Erfahrungen der Zuneigung oder Ablehnung erlebt, des Behagens oder Unbehagens, des Gefühls, gut versorgt zu sein oder vernachlässigt zu werden, vor allem konstitutiv, sie setzen Haltungen fest, die dann für das ganze Leben Bestand haben. Aggressivität und provozierende Verhaltensweisen sind allzu bekannt und haben ihre Ursache in längst vergessenen frühen Enttäuschungen.

 

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs trug der in Deutschland geborene Psychoanalytiker Abram Kardiner die fruchtbare Idee vor, daß Unterschiede in den Erziehungsmethoden die grundsätzlichen Verhaltensunterschiede zwischen Angehörigen verschiedener Gesellschaften erklären könnten; Unterschiede, die durch die Arbeit von Anthropologen wie Ruth Benedict und Margaret Mead in den Brennpunkt gerückt worden waren. Ruth Benedict, die 1948 starb, war eine der ersten, die Kulturen als integrierte Ganzheiten ansah, sie wies darauf hin, daß einige der Stämme, die sie studiert hatte, äußerst spontan waren — sie nannte das das dionysische Schema —, während andere eine beherrschtere oder ausgeglichenere Haltung einnahmen, die sie apollinisch nannte. Kardiners Erkenntnis war, daß jede Gesellschaft zur Bevorzugung besonderer Methoden der Kindererziehung tendieren muß und daß deshalb die Mehrzahl der erwachsenen Personen dieser Gesellschaft besonders geprägt sind.


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Das könnte die Unterschiede erklären. Dieses gemeinsame Element nannte er die grundsätzliche Persönlichkeits­struktur, obwohl er äußerst vorsichtig darauf hinwies, daß jedes Individuum Erfahrungen haben wird, die nicht von Ansichten über die Kindererziehung diktiert werden, so daß seine Persönlichkeit Elemente aufweisen wird, die über die Basispersönlichkeit hinausgehen. (Natürlich gibt es auch Erbfaktoren.)

Als ich 1947 auf diese Idee stieß, kam mir wie eine plötzliche Erleuchtung, daß hier die einzige radikale Methode vorlag, einen kulturellen Wandel herbeizuführen. Wenn wir Menschen dazu bringen, die Erziehungsmethoden zu ändern, können wir das Wertsystem verlagern, die Aggressivität eindämmen und noch vieles andere mehr. Offensichtlich sind schon seit undenklichen Zeiten Versuche gemacht worden, Kinder in erwünschte soziale Richtungen zu beeinflussen. Völlig neu war die Erkenntnis, daß gewisse sehr frühe Erfahrungen, die man bisher als gegeben hingenommen hatte, von entscheidender Bedeutung waren. Fragen der Disziplin und der tatsächlichen Unterweisung, die kaum vor dem Alter von drei Jahren begonnen werden können und die oft sogar einer späteren Zeit überlassen bleiben, bauen nur auf einer psychischen Grundlage auf, die bereits zum Guten oder zum Bösen geschaffen wurde.

Als ich 1946 und 1947 über die Konsequenzen von Kardiners Idee für unsere eigene Gesellschaft schrieb, war noch kaum ein halbes Dutzend Gesellschaften im Licht dieser Theorie untersucht worden, und viel von dem, was ich zu sagen hatte, war notwendigerweise spekulativ. Seit dieser Zeit hat man jedoch über siebzig Kulturen eingehend untersucht. Wir haben in der Tat mehr Informationen darüber, wie die Menschen ihre Kinder in primitiven Gesellschaften erziehen, als wir über unsere eigenen Erziehungsmethoden wissen. Außerdem wird der tatsächliche psychische Mechanismus, der am Werk ist, dank der fortwährenden Forschung westlicher Kinderpsychologen umfassender verstanden. All das hat enthüllt, daß die Art, wie Kindererziehungs­praktiken die Persönlichkeit beeinflussen, viel komplizierter und in sich verwobener ist, als man zuerst angenommen hatte. 


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So dachten zum Beispiel Kardiner und einige der Wissenschaftler, die seine Ideen aufnahmen, daß Babys, die fest gewickelt oder in Röhren aus Birkenrinde gesteckt wurden, wie das bei einigen Indianerstämmen der Fall ist, oder die sonstwie in ihrer Bewegungsfreiheit behindert wurden, als Ergebnis einer Frustrierung ein beträchtliches Maß von Aggressivität entwickeln würden. Es stellte sich jedoch heraus, daß viele Kinder in dieser Situation große Befriedigung empfinden, in einer Situation also, die irgendwie den Bedingungen im Mutterleib ähnelt. Viel hängt von dem Alter ab, bis zu dem diese Behandlung ausgedehnt wird.

Die psychoanalytisch orientierten Wissenschaftler, die diesen Hinweisen folgten, beschäftigten sich auch stark mit Fragen wie der Frühzeitigkeit und der Strenge der Entwöhnung und der Erziehung zur Reinlichkeit, die, wie man glaubte, Abhängigkeit, Lernbegierde und andere Erwachsenenhaltungen beeinflußten. Es stellte sich heraus, daß das Bild weit komplizierter war, als man angenommen hatte. Auf jeden Fall waren diese Faktoren von weit geringerer Bedeutung, als man gedacht hatte.

Margaret Mead, deren Studien der Kindererziehung in Neuguinea, auf Samoa und anderswo Berühmtheit erlangt haben, hat im Detail demonstriert, wie weit Gesellschaften in vieler Hinsicht in ihrer Behandlung der Kinder variieren. In der einen wird das Baby stets in engem Kontakt Haut an Haut auf dem Rücken der Mutter getragen, in einer anderen wird es in einen rauhen Korb ohne jegliches Futter gelegt und allein gelassen. Es kann, wie bei uns, hauptsächlich durch Worte unterrichtet werden oder durch körperliche Manipulationen, wie auf Bali. Es kann wie in den USA zur Reife gedrängt oder zurückgehalten werden wie die Samburu-Jungen.

Ich werde nicht versuchen, diesen Prozeß in solchen Einzelheiten zu diskutieren, sondern ich möchte den Leser nur bitten, Margaret Meads Mann und Weib und ihre anderen Bücher zu studieren. Für unseren augenblicklichen Zweck genügt es, drei Fragen zu bedenken

Das scheinen die für unsere unmittelbaren Probleme relevantesten Fragen zu sein. Zusätzlich werde ich etwas über geistige Gesundheit im allgemeinen sagen, denn eine Gesellschaft mit depressiven, schizophrenen und obsessiven Menschen wäre offensichtlich sehr weit von Utopia entfernt.


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Die zentrale Frage lautet: ist es wahrscheinlich, daß wir, indem wir die Umwelteinflüsse der Kindheit ändern, auch die Gesellschaft dementsprechend zum Besseren ändern? Wo liegen die Grenzen des Möglichen? Unvermeidlicherweise gibt es Einflüsse, die zu kontrollieren wir nicht erhoffen können. Das sind einmal die Erbelemente im Charakter. Professor Eysenck meint zum Beispiel, daß sogar die Tendenz zur Neurose vererbt wird. In letzter Zeit tendiert ein guter Teil der wissenschaftlichen Arbeit dazu, daß die spätere Entwicklung eines Kindes von Streßsituationen bei der Mutter während der Schwangerschaft beeinflußt wird. Diese Streßsituationen können dabei vom Zigarettenrauchen, Röntgenuntersuchungen und Drogengebrauch bis zu lautem Lärm, emotionellen Erregungszuständen und anderen psychologischen Faktoren reichen. Die Geburt selbst ist ein — manchmal sehr schwerer — Schock. Es gibt Hinweise, daß eine ganze Anzahl von Kindern infolge von Sauerstoffknappheit während der Geburt eine milde Form von Gehirnschädigung erleiden. Dann wieder kann ein Kind durch Krankheit oder Unfall früh im Leben einen Elternteil oder sogar beide Eltern verlieren.

Daraus folgt, daß wir in keiner vorstellbaren Gesellschaft sicherstellen können, daß kein Kind das Leben ohne ein Trauma beginnt. Es ist aber zweifellos so, daß wir durch Fürsorge die Traumas, die vor und während der Geburt erlitten werden, stark reduzieren könnten. Und wir könnten — sogar noch viel leichter — die Umstände und Methoden der Erziehung ändern, die die Basis und die Voreingenommenheiten der Persönlichkeit bilden. Wir wollen mit der Frage der Werte beginnen.


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  2  Wertsysteme ändern sich  

 

Es scheint fast sicher, daß wir die Werte, die die nächste Generation haben wird, durch die Methoden, mit denen wir unsere Kinder großziehen, beeinflussen können und das auch tun.

Ich habe bereits erörtert, daß der Paternismus ein Ergebnis des fehlenden Vaters ist. Biller hat in seinem wertvollen Buch Father, Child and Sex Role die außerordentlich umfangreichen Beweise dafür zusammen­gestellt. Der Prozeß, durch den sich ein Kind nach seinem Vater modelliert, wurde von Freud <Introjektion> genannt, man braucht aber keineswegs Freudianer zu sein, um seine Existenz zu akzeptieren. Amerikanische Lern-Theoretiker inkorporieren diesen Prozeß in ihre Lehren, da er, was auch immer seine Erklärung sein mag, zweifellos eintritt. Es gibt feste Beweise dafür, daß er hauptsächlich im Alter zwischen zwei und drei Jahren stattfindet und im Alter von fünf Jahren im wesentlichen abgeschlossen ist. Entscheidend ist demnach die Abwesenheit des Vaters während dieser ziemlich eng begrenzten Periode. Es ist sehr schwierig, die in diesem Alter gebildete Selbstauffassung durch eine spätere Aufdeckung zu ändern.

In den Vereinigten Staaten fehlt der Vater in zehn Prozent aller Familien. Die totale Abwesenheit ist jedoch nicht die einzige Bedingung, die verhindert, daß sich das Kind nach seinem Vater modelliert. Wenn der Vater von der Arbeit heimkommt, nachdem das Kind schon zu Bett gebracht wurde (wie das im Alter von zwei bis drei Jahren nicht selten der Fall ist), oder wenn er bei den Streitkräften oder an einem Arbeitsplatz ist, der ihn viel von daheim fernhält, wird der Prozeß wahrscheinlich fehlschlagen. Es ist auch bewiesen, daß die Introjektion am besten abläuft, wenn der Vater das Kind aktiv betreut, es zu Bett bringt, ihm seine Flasche gibt und sich ganz allgemein als helfende Gestalt manifestiert. 

Wiederum ist es dabei dringend nötig, daß dei Vater in seinem Verhalten sehr maskulin ist, wenn der Sohn maskuline Attribute erwerben soll. Mehr noch, der Vater muß nicht nur dominieren, er muß auch seinem Sohn die Möglichkeit bieten, selbst manchmal die dominierende Rolle zu übernehmen. Viel hängt auch von der Mutter ab, die vielleicht den Vater dauernd herabsetzt und <klein macht> und die großen Entscheidungen selbst trifft — ein matriarchalisches Schema, das man in einigen Milieus der unteren Klassen, besonders bei Schwarzen findet. 

Am anderen Extrem kann ein sehr strenger und repressiver Vater von dem Kind abgelehnt werden: die Introjektion basiert auf Liebe, deshalb wird der hilfreiche Vater am leichtesten introjiziert.


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Die Introjektion des Vaters wird auch durch die Gegenwart einer sehr maskulinen Mutter verhindert, besonders wenn diese die maskulinen Tendenzen des Sohnes entmutigt, wie das häufig der Fall ist. Auf gleiche Weise schwächt die allzu schützende Mutter die Männlichkeit, besonders wenn sie ihrem Sohn gegenüber eine verschleierte sexuelle Haltung einnimmt und ihn zum Ersatz für den abwesenden Vater macht (vgl. den Fall Inburns, der in Kapitel 7 zitiert wurde). Das ist im allgemeinen der Hintergrund für Homosexualität. 

Allzu großer Schutz scheint besonders bei zwei Altersstufen ausschlaggebend zu sein: etwa bei neun Monaten und zwischen zwei und drei Jahren. Die allzu schützende Mutter ist in den unteren Klassen selten, wahrscheinlich weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, den Lebensunterhalt zu verdienen, als daß sie viel Zeit für eine Beschützerhaltung hätte.

Man hat übrigens festgestellt, daß die Kinder, wenn die Mutter arbeitet, dazu tendieren, eine schwächere Trennungslinie zwischen der Rolle der Geschlechter zu ziehen, zweifellos deshalb, weil der Unterschied tatsächlich geringer ist. Da aber eine allzu starke Verallgemeinerung stattfindet, wächst die Haltung von einer Generation zur anderen, was vielleicht die gegenwärtige Assimilierung der beiden Geschlechter erklären mag, die so weithin festgestellt wird.

Man muß ergänzen, daß die Wahrnehmung des Vaters durch seinen Sohn im Alter von etwa drei Jahren in Erwachsenenbegriffen sehr ungenau ist. Der Vater erscheint unweigerlich als stärkere und entscheidendere Figur, als er in Wirklichkeit ist, so daß Eindrücke der Autorität auch von leichtmütigen Vätern gewonnen werden können.

Ein Studium verschiedener Kindergruppen, die unter derartigen Bedingungen aufwuchsen, ergibt, daß sie neben der Übernahme maternistischer Werte Angst zeigen und mehr zu psychologischen Schwierigkeiten neigen; sie werden wahrscheinlich eher in Verbrechen verwickelt, ihre Ehen enden viel wahrscheinlicher mit einer Scheidung und ihre Intelligenzquoten können niedriger sein. 


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Überraschenderweise zeigen solche Kinder häufig eine verbale und begriffsmäßige Stärke und dafür weniger mathematische Fähigkeiten als Kinder mit normalen Eltern. Da verbale Fähigkeiten (und die Synthese) allgemein als weibliche Charakterzüge angesehen werden und mathematische Fähigkeiten (und die Analyse) als männliche, scheint das eine besonders interessante Bestätigung der These zu sein, daß die elterlichen Einwirkungen auf das Kind, wie wir sie hier diskutiert haben, tatsächlich die Persönlichkeit auf eine bis ins einzelne gehende Art beeinflussen.

Natürlich bleibt zu diskutieren, inwiefern die Charakteristika, die wir für feminin halten, in einem wirklich profunden Sinn unvermeidlich feminin oder inwiefern sie die Folgen einer sozialen Konvention sind. Vielleicht benehmen sich Mädchen einfach wie Mädchen, weil man es sie so gelehrt hat. Ich möchte hier auf diese Frage nicht weiter eingehen und verwende die Begriffe <maskulin> und <feminin> in dem allgemein üblichen Sinn, ohne damit eine Billigung oder Mißbilligung anzudeuten.* Es steht jedoch einwandfrei fest, daß eine unangemessene väterliche Betreuung — entweder durch einen schwachen und inkompetenten oder durch einen puritanischen, besitzergreifenden Vater — zum Lesbiertum führt. Väter, die Mädchen abwerten und wünschen, sie seien wie Söhne, schaffen ähnliche Probleme. Solche Mädchen erleben Schwierigkeiten in der Schule und in der Ehe.

Das Gesagte mag ausreichen, um zu zeigen, daß der Prozeß noch viele andere Faktoren umfaßt, von denen ich etliche nicht erwähnt habe. Beispielsweise: welcher Vaterersatz steht dem Kind zur Verfügung? Kann die Mutter, wenn der Vater dauernd abwesend ist, ihn in den Gedanken des Kindes wieder erschaffen? (<Gerade wie dein Papa.>) Ermutigt sie die Männlichkeit? (Wo andererseits Männer ihren Frauen widersprechen und versuchen, ihre Töchter anders zu formen, entwickeln die Töchter manchmal eine ernste Schizophrenie.) 

 * Kulturelle Querstudien zeigen eine beträchtliche Übereinstimmung hinsichtlich der Sexrollen und Vorlieben in einem Bereich von Gesellschaften, die in anderer Hinsicht stark differieren.


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Leider gibt es bisher noch keine Untersuchungen, um herauszufinden, welcher Prozentsatz von Söhnen in dem kritischen Alter von zwei Jahren aufwärts des väterlichen Einflusses beraubt wurde; doch kann man annehmen, daß sie in den Vereinigten Staaten eine Mehrheit bilden, wenn man bedenkt, daß der Vater, der das Wochenende mit einer Kiste Bier auf der Couch vor dem Fernsehgerät verbringt, in unserem Zusammenhang praktisch auch ein <abwesender Vater> ist. Anthropologische Studien bestätigen diesen — großenteils amerikanischen — Tatbestand.

Für die Beziehung zu Haltungen des harten und weichen Ichs steht keineswegs der gleiche Reichtum an Beweisen zur Verfügung. Professor Eysenck besitzt aber einige überzeugende Daten hinsichtlich der vielleicht viel engeren Hart-zart-Dichotomie, die er beobachtet hat und die mit der Extraversion/Introversion korrespondiert. Er weist nach, daß Familien, wo man nur wenig Zuneigung zeigt (und wo man Zuneigung für unwichtig hält], dazu tendieren, das >harte< Schema zu liefern, während liebevolle Familien, in denen die Entwöhnung sanft durchgeführt wird, das >zarte< Schema liefern.

Eysenck selbst hält die Ursprünge jedoch für vererbbar. Das steht im Einklang mit der allgemeinen Position der Verhaltensforscher, und er erklärt dieses Phänomen in Pawlowschen Begriffen. Vielleicht sind hier physiologische wie psychologische Faktoren beteiligt, denn eine experimentelle Studie behauptet zu beweisen, daß die Vererbung 70 bis 80 Prozent der Wirkung erklärt. Eine weitere Forschung ist hier dringend nötig.

   

   3 »Schlag ihn, wenn er drängt«  

 

Keine Gesellschaft kann funktionieren, wenn ihre Mitglieder nicht eine gewisse Bereitschaft zur Kooperation zeigen, wenn sie nicht bereit sind, persönliche Vorlieben und Vorteile im Interesse aller zu unterdrücken und zurückzustellen. Die utopische Gesellschaft fordert nun ein besonders gut entwickeltes Gewissen, ganz abgesehen von der Frage, welche Werte für wichtig angesehen werden.


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Die Bildung des Gewissens ist Gegenstand unzähliger psychologischer Studien gewesen. Kern des Prozesses ist die Identifizierung des Kindes mit seinen Eltern und die daraus folgende Tendenz, sich nach ihnen zu modellieren und ihre Maßstäbe zu übernehmen, ein Vorgang, der, wie wir gesehen haben, im Alter zwischen drei und fünf Jahren stattfindet. (Die Maßstäbe, die dabei gebildet werden, werden später durch die Nachahmung anderer bewunderter Gestalten modifiziert sowie durch Nachdenken und die Beobachtung des Verhaltens anderer.) Entscheidend ist jedoch die Entwicklung eines Gefühls von moralischer Verpflichtung, die sich völlig von der Furcht, ertappt und bestraft zu werden, unterscheidet. Unter Erwachsenen finden wir Individuen, die verbotene Handlungen unterlassen, wenn sie erwarten, gefangen und bestraft zu werden, die aber solche Handlungen bedenkenlos vornehmen, wenn sie sich sicher glauben. Der gewissenhafte Mensch beachtet natürlich seine internalisierten Maßstäbe auch dann, wenn ihn niemand beobachtet.

Da die Identifizierung der Prozeß ist, durch den Maßstäbe internalisiert werden, folgt daraus, daß der Kontakt zu den Eltern und eine liebevolle Beziehung zu ihnen wesentlich ist. Besonders für Jungen ist es der Vater, der wichtig ist. (Relevant sind auch die Maßstäbe, die die Eltern anwenden und die sie predigen sowie die Art von Lohn und Strafe, die sie erteilen.) Daraus ergibt sich, daß die gleichen Prozesse, die den Paternismus fördern, auch dem Gewissen dienlich sind, während jene, die den Maternismus fördern, einen Mangel an Gewissen nach sich ziehen. Es handelt sich hierbei um einen Sonderfall der Dichotomie zwischen Selbstbeherrschung und Spontaneität. Bacon, Child und Barry, die eine Vielzahl von Kulturen studierten, wiesen nach, daß die Gesellschaften mit niedriger <Vater-Verfügbarkeit> einen überdurchschnittlichen Prozentsatz von Kriminalität haben. So ist der extreme Paternist bis zum Punkt der Absurdität vom Gewissen gepeinigt, die kleinste Abweichung von der Regel ist für ihn eine Quelle der Schuld. Die Selbstbeherrschung wird schließlich zum Selbstzweck und der Verlust der Selbstbeherrschung zu einem moralischen Versagen. Im Gegensatz dazu fehlt dem extremen Maternisten das Gewissen völlig.

Dem Aufgeben sexueller Vorschriften folgt die Auslösung offener Aggressivität, wie es die Bewegungen des Mittelalters deutlich demonstrierten, und diese Aufgabe der Selbstbeherrschung wird schließlich in sich selbst als Tugend angesehen. Wie im Fall der Werte ist es der vernünftige Weg, zwischen den zwei Extremen zu bleiben, um ein gewisses Maß von Schuldgefühl als den Preis der Gesellschaftlichkeit hinzunehmen. <Frei von Schuld> sein, ist genauso unerwünscht wie <schuldbeladen> sein.


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Die besondere Bedeutung des väterlichen Einflusses bei der Gewissensbildung ergibt sich, weil die Position des männlichen Kindes sich darin von dem weiblichen unterscheidet, daß es seine Beachtung von seinem ersten Liebesobjekt, der Mutter, auf seinen Vater übertragen muß, um sich nach diesem formen zu können. Auf jeden Fall erscheinen Väter in den meisten Kulturen, einschließlich unserer eigenen, als Gestalten der Autorität, und deshalb als letztliche Quelle der Moral. Studien straffälliger Jungen zeigen deutlich, daß es nicht die <zerrütteten Familien> sind, die das antisoziale Verhalten steigern, sondern eher das Fehlen einer liebevollen Beziehung zu den Eltern und besonders zum Vater.

Die wegen ihrer Gründlichkeit weitaus bedeutendste dieser Studien ist die sogenannte Cambridge-Somerville-Jugend-Studie, die in den dreißiger Jahren begonnen wurde. Über 360 Jungen wurden in ihrer häuslichen Umgebung untersucht, dabei wurden auch ihre Eltern beobachtet. Man verfolgte ihren Werdegang, bis sie erwachsen waren. Sie werden noch heute periodisch überprüft. Obwohl die Studie viele ihrer ehrgeizigen Ziele nicht erreichte, hat sie sicherlich viel Licht auf die Art geworfen, in der das Familienmilieu in Beziehung zu Straffälligkeit und Verbrechen steht. 1959 hatten alle Jungen das Alter von zwanzig Jahren erreicht, und es war möglich, einen Bericht zu veröffentlichen, der die Unterschiede zwischen den straffällig* Gewordenen — das war bei vierzig Prozent der Fall gewesen — und denen, die nicht straffällig geworden waren, analysierte. (Da nur Strafeintragungen des Staats zur Verfügung standen, entgingen die Jungen, die Straftaten außer Landes begingen, sowie jene, die nicht entdeckt wurden, der Klassifizierung.)

*  Der Ausdruck <straffällig> ist unpräzise, weil junge Leute für Aktionen vor Gericht kommen können, die ganz verschieden motiviert sind. Zum Beispiel kann ein Einbruch mehr als Beweis des Wagemuts oder aus Langeweile als zur illegalen Erwerbung von Gütern begangen werden. Einige illegale Handlungen, wie beispielsweise der Besitz von Marihuana, werden von denen, die schuldig befunden werden, nicht als Unrecht empfunden. Mit gewissen Vorbehalten verwende ich den Ausdruck, weil ein besserer fehlt.


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Es zeichnete sich deutlich ab, daß das Intelligenzniveau, die physische Verfassung und <soziale> Faktoren wie schlechte Wohnverhältnisse in keiner Beziehung zu einer späteren Straffälligkeit standen. Es gab wenig Verbrecher aus völlig intakten Familien, mehr aus solchen, die streitsüchtig, aber liebevoll waren; zerrüttete Familien waren der Anlaß zu Gewalttätigkeit und Alkoholismus, aber nicht zur Straffälligkeit. Es waren die Familienverhältnisse, die von Streit zerrissen waren und in denen die Kinder vernachlässigt wurden, aus denen die Mehrheit der Fälle von Verbrechen und Jugendkriminalität kamen.

Wo der Vater warmherzig, wenn auch passiv sanft und eher fürsorglich als autoritär oder aktiv war, zeigten die Söhne nur selten einen Hang zur Kriminalität. Wo der Vater abwesend, gleichgültig oder grausam war, war das häufig zu beobachten. Psychologen haben oft die Rolle der Mutter überbetont; wie diese Studie zeigt, ist die Rolle des Vaters aber noch viel wichtiger. In einem gewissen Ausmaß zeigte die Studie auch, daß eine warmherzige Mutter die Auswirkung eines grausamen oder nachlässig-gleichgültigen Vaters ausgleicht, wie umgekehrt ein warmherziger Vater eine kalte Mutter.

Die Persönlichkeit der Mutter ist ebenfalls von fundamentaler Bedeutung, aber auf eine ziemlich spezifische Art, die man nicht leicht hätte voraussagen können. Der unbefriedigendste Typ von Mutter war diejenige, <die einfach in Frieden gelassen werden wollte>: bei ihren Söhnen ist wahrscheinlich eine hohe Quote von Verbrechen, vor allem Sexualverbrechen, zu erwarten. Grausame, abwesende und nachlässige Mütter haben häufig ebenfalls kriminelle Söhne, die sich nur selten nach einer Periode der Straffälligkeit bessern.

Bandura und Walters, zwei Kinderpsychologen, haben gleichfalls eine besondere Studie aggressiver straffälliger Jungen durchgeführt; sie stellten fest, daß diese hinsichtlich ihrer Väter kritisch und verstimmt waren, für ihre Mutter aber viel Respekt und Achtung bewahrten, selbst wenn sie sich von beiden Eltern zurückgestoßen fühlten.


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Die gefährlichste Kombination schien ein abweisender oder in sich zurückgezogener Vater und eine Mutter zu sein, die das Kind entmutigte, ihr zu vertrauen, oder die sogar die Aggression unterstützte. (<Steh doch für dich selbst ein!>) Hier liegt ein gefährlicher circulus vitiosus vor, weil der Junge, der dabei versagt hat, den Vater zu introjizieren, sich an die Schürzenbänder seiner Mutter hängen wird, die sich ihrerseits verpflichtet fühlt, diese Abhängigkeit zu entmutigen. Die Situation verschlimmert sich noch, wenn die Mutter den Vater vor dem Kind heruntermacht. Desgleichen macht es ein Vater, der seinen Sohn heruntersetzt, diesem sehr schwer, sich mit ihm zu identifizieren. Die Studie stellt auch fest, daß eine strafende Disziplin die Dinge nur schlimmer machte. (Man sollte nicht vergessen, daß ich mich hier nur mit Jungen befasse. Ein passiver Vater hat hinsichtlich der Straffälligkeit eine schlechte Auswirkung auf Mädchen, während eine passive Mutter wenig Einfluß ausübt.)*

Aus der Cambridge-Studie geht auch hervor, daß Jungen dazu tendieren, ihre Väter nachzuahmen, wenn die Mutter sie vernachlässigt, wir können das als einen Versuch auslegen, die Liebe ihrer Mutter dadurch zu gewinnen, daß sie sich zu ihrem Liebesobjekt machen.

Die Art von Disziplin, die angewandt wurde, war ebenfalls von großer Bedeutung. Aber noch wichtiger als die Art von Disziplin war die Konsistenz ihrer Anwendung. Das Kind, das an einem Tag bestraft und bei dem man am nächsten die gleiche Handlung durchgehen läßt oder es sogar gelobt wird, neigt zu dem Gefühl, es lohne sich, etwas zu riskieren.

*  Phyllis Greenacre stellt fest, daß der »gewissenlose Psychopath«, der andere unverblümt ausbeutet - durch Lügen, Geldleihen und so weiter -, der es aber gewöhnlich vermeidet, die Gesetze zu brechen, einen distanzierten, mit sich selbst beschäftigten, furchtinspirierenden Vater und eine nachgiebige, vergnügungssüchtige hübsche Mutter hat, die den Vater verachtet. Sie sind in erster Linie an sich selbst interessiert und haben eine schlechte Beziehung zu dem Kind (Ticmma, Growth and Personality, Hogarth Press, t953). Siehe auch A. Aichhorn, Verwahrloste Jugend (1925)/ der ähnliche Beobachtungen machte.


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 Für jeden Typ von Verbrechen — ob nun Sex, Eigentum, Gewalttätigkeit, Verkehrsvergehen und so weiter — gab es einen Hintergrund von inkonsequenter Disziplin, und es waren auch die Straftäter, bei denen eine Besserung am unwahrscheinlichsten war. Eine laxe, aber konsequente Disziplin war mit Gewalttätigkeit, Sexualverbrechen und Verbrechen gegen das Eigentum assoziiert. Eine strenge Disziplin, ob sie nun aus Strafen oder aus einer Entziehung der Liebe bestand, tendierte dazu (wie man erwarten konnte), Verbrechen zu verhindern. Bezeichnend ist ebenfalls der Unterschied zwischen Liebesentzug und einer Bestrafung durch den Verlust von Privilegien.

Die Disziplin der strafenden Art veranlaßt (Stephenson, einem englischen Forscher, zufolge) das Kind zu Zweifeln, ob es akzeptiert wird. Zudem nehmen Jungen Disziplin von Seiten der Mutter übel. Die Anwendung von psychologischer Disziplin durch den Vater ist zweifellos der wirkungsvollste Druck. Stephenson stellte auch fest, daß die Annahme durch beide Eltern für die Gewissensbildung außerordentlich wichtig ist. Er faßt seine Feststellungen so zusammen: »Wie die Mutter ist, ist von größerer Bedeutung, als wie der Vater ist, und das, was der Vater sagt, hat mehr Gewicht als die Worte der Mutter.«

Zwei amerikanische Wissenschaftler, Neil und William Smelser, studierten 235 Jungen und ihre Familien während einer Periode von fünf Jahren und kamen dabei zu ähnlichen Schlüssen, die sie wie folgt zusammenfaßten: »Der Sohn wird wahrscheinlich zum Verbrecher, es sei denn (a) beide Eltern sind liebevoll und die Mutter weicht nicht vom Durchschnitt ab oder (b) die elterliche Disziplin ist konsistent und ein Elternteil ist liebevoll. Vierundzwanzig der fünfundzwanzig Jungen, deren Väter kriminell waren und deren Milieu keine dieser mildernden Umstände aufzuweisen hatten, wurden als Erwachsene straffällig.«

Sie trafen aber zwei andere interessante Feststellungen. Die alte Redensart, >wie der Vater so der Sohn<, bedarf einer Einschränkung, mindestens, wenn man an die Kriminalität denkt. Kinder ahmen die Kriminalität ihres Vaters nur dann nach, wenn andere Umweltbedingungen (Ablehnung, mütterliche Abweichung oder unberechenbare Disziplin) dazu tendieren, eine nicht stabile, aggressive Persönlichkeit hervorzubringen.


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Zweitens sagt man häufig, daß Kinder den Werten ihrer Eltern nur dann folgen, wenn die Handlungen der Eltern das, was sie lehren, noch verstärken; die Smelsers stellten aber fest, daß Söhne — wenn die Disziplin konsistent war — den ausgesprochenen Werten und nicht dem Verhalten eines kriminellen Elternteils folgten.

Schließlich machten die Smelsers die auffällige Feststellung, daß die vielgelobte gleichmacherische Familie, in der Vater und Mutter das gleiche Gewicht besitzen, tatsächlich die schlechteste Umwelt ist. »Jungens tendieren zu mehr Verantwortung, wenn eher der Vater als die Mutter eine große autoritäre Figur ist. (Hier bestätigen sie, was Stephenson sagt.) Mädchen sind zuverlässiger, wenn die Mutter eine große autoritäre Gestalt ist... kurz gesagt, die Jungen gedeihen in einem patriarchalischen und die Mädchen in einem matriarchalischen Kontext...« (Damit bestätigen sie meine These von dem hohen Status der Männer in einer patriarchalischen oder paternistischen Gesellschaft und den hohen Status der Frauen in einer matriarchalischen oder maternistischen.) 

Die Smelsers setzen diese Feststellung in einen direkteren Bezug zu den Problemen unserer eigenen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der man die Jugend beschuldigt, ihr fehle die Initiative und sie ignoriere Verpflichtungen. 

»Um das Problem in einer provozierenden Form zu statuieren, unsere Daten deuten an, daß die demokratische Familie, die so viele Jahre lang von Professionals und erleuchteten Laien hochgehalten und als Modell erstrebt wurde, dazu tendiert, junge Menschen hervorzubringen, <die nicht die Initiative ergreifen>, <die Richtung und Entscheidung von anderen erwarten> und <bei denen man sich nicht mehr darauf verlassen kann, daß sie ihre Verpflichtungen erfüllen>.« 

(Die drei Beurteilungen stammen aus einem Artikel von Professor U. Bronfenbrenner.)

Wohin bringt uns das alles? Allgemein ausgedrückt, macht es deutlich, daß wir, wenn wir das Schema der Gesellschaft ändern wollen, bei der Familie beginnen müssen. Leider kann man keine liebevollen Eltern dadurch schaffen, daß man ihnen sagt, was sie tun sollten. Es gibt einige Dinge, die man beeinflussen kann: ob der Vater Zeit für seine Kinder hat, wie weit er die Disziplin der Mutter überläßt, ob die Disziplin inkonsequent ist und so weiter. Aber selbst das ist gerade in den Familien, wo es am nötigsten ist, nur schwer zu erreichen.


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Nachdem ich die Straffälligkeit in Begriffen einer gestörten Persönlichkeit erörtert habe, muß ich etwas abschweifen und sagen, daß die straffälligen Handlungen auch noch andere Ursachen oder eine Mischung von Ursachen haben können. Bei einigen Delinquenten scheint das Bedürfnis nach Stimulantien und Erregung zu dominieren, und das kann einen physiologischen Ursprung haben. Professor Eysenck hat auf experimenteller Basis argumentiert, daß dieser <Stimulans-Hunger> vererbbar ist. Dann wiederum nehmen einige Straftäter die Welt falsch wahr, weil sie eine Gehirnschädigung haben. Sicherlich ist eine Komponente im Verhalten von Straftätern der Wunsch, den eigenen Mut oder die eigene Geschicklichkeit zu beweisen. 

Unsere Gesellschaft versagt darin, die institutionalisierten Proben von Tapferkeit, Ausdauer und Geschicklichkeit zur Verfügung zu stellen, die fast jede primitive Gesellschaft ihren heranwachsenden Jungen bietet und die sie befähigt, sich und anderen zu beweisen, daß sie Männer geworden sind. Da ist auch der Konformist, der einer Bande beitritt und sich natürlich ihren Werten konform verhält, so lange er dazu gehört. Als Erwachsener geht er gleichermaßen mit den Normen der Gesellschaft konform und wird als ungewöhnlich gesetzesfürchtiger Bürger bekannt.

Reformer haben oft behauptet, daß schlechte soziale Bedingungen eine Ursache der Straffälligkeit sind. Sie können mindestens auf dreifache Art zur Straffälligkeit beitragen, aber sie bestimmen sie nicht. Paul Goodman hat in <Growing up Absurd> leidenschaftlich argumentiert, daß sich der junge Slumbewohner intensiv frustriert fühlt. Die Gesellschaft bietet ihm keine bedeutungsvolle und befriedigende Rolle an. Die Kluft zwischen seinem Lebensstandard und dem, den er im Fernsehen und anderswo sieht, ist gewaltig. Und aus mannigfaltigen Gründen sind arme Familien mehr Streitigkeiten ausgesetzt als reichere. Doch geht es mir hier nicht um Straffälligkeit, sondern um die Bildung der Persönlichkeit.


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  4 Eine geordnete Welt  

 

Das Motiv, das das Kind dazu antreibt, den Vater zu imitieren, ist die Liebe und das Verlangen, geliebt zu werden: Liebesentzug von Seiten der Eltern ist eine mögliche Strafe für das Versagen, sich anzupassen. Eltern haben aber natürlich noch andere Waffen, sie können mit Privilegien belohnen und strafen, indem sie Privilegien entziehen oder Schmerz zufügen. Der Verhaltenspsychologe glaubt, daß das Lernen auch soziales Lernen einschließt und angemessen in Begriffen von Belohnung und Bestrafung studiert werden kann, was beabsichtigte Belohnungen und Strafen bedeutet. Er unterschätzt die spontane Befriedigung des Gefühls <wie Papa zu sein> und das spontane Entsetzen, den Kummer oder die Enttäuschung eines Elternteils zu sehen.

Eine vollständige Behandlung des Themas der Persönlichkeitsbildung würde daher auch die verschiedenen Formen von Belohnung und Bestrafung einbeziehen müssen, die von denen, die die Autorität besitzen, gebraucht werden. Die Variationen sind zahlreich: so bedeutet es einen Unterschied, ob die Strafe sofort nach der Übertretung, nach einer Pause oder einer Periode der Unsicherheit erfolgt. Muß eine Wiedergutmachung erfolgen oder bringt die Strafe selbst den Täter wieder in <den Stand der Gnade>? Wird lieber belohnt als bestraft oder umgekehrt? Welche Art von Bestrafung ist es: der Verlust von Privilegien, die Entziehung von Liebe oder die Zufügung von Schmerz? Wie konsequent ist die Disziplin? Übt sie der Vater oder die Mutter aus oder beide?

Heute kursieren viele Theorien, wie Eltern sich verhalten sollten. Einige sagen, man solle nur Belohnungen anwenden — aber wie belohnt man die Wahrheitsliebe bei einem Kind, das ohnehin immer die Wahrheit sagt? Andere richten sich sowohl gegen Belohnung wie Bestrafung, die Situation selber sorge für die Disziplin. Läßt man dann ein Kind mit Haarnadeln in elektrischen Steckdosen stochern, bis es möglicherweise einen tödlichen Schlag erhält? Die einfache Art, wie man Ratten mit Schocks und Futterkügelchen erzieht, kann nicht so leicht auf die menschliche Situation übertragen werden. Das Problem wird meiner Ansicht nach nicht richtig gesehen.


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Die entscheidende Tatsache ist die, daß ein Kind das Bedürfnis hat, in einer geordneten Welt zu leben. Wir haben das Bedürfnis des Kindes nach Liebe ziemlich gut verstehen gelernt, wir haben gelernt, anale und sexuelle Tätigkeiten eher als natürlich denn als böse zu behandeln, das Bedürfnis des Kindes nach einem Kontext der Ordnung wird jedoch noch sehr wenig begriffen. Auch Erwachsene erwarten, daß gewisse Dinge nach Regeln ablaufen. Sie werden ziemlich gereizt, wenn Züge nicht fahrplanmäßig ankommen, wenn Läden nicht zu der erwarteten Stunde geöffnet werden, wenn der elektrische Strom plötzlich ausbleibt und so weiter. 

Die Forderungen des Kindes sind ähnlich, wenn auch einfacher. Es erwartet, daß die Mahlzeiten zur üblichen Zeit kommen, daß die Mutter zur Verfügung steht, wenn etwas schief geht, daß es behaglich schlafen kann, wenn es müde ist. In der Art von Familien, die Betty Spinley studierte, wurden solche Erwartungen jedoch enttäuscht. Das Kind kann nicht einmal erwarten, daß es den gleichen Vater sieht wie in der letzten Woche oder daß es die Mutter oder eine Mahlzeit vorfindet, wenn es aus der Schule kommt. So lernt es die Lektion, daß nichts zuverlässig ist. Es ist verständlich, daß das ein Kind auf die Dauer ängstlich machen muß.

Um die Wende des Jahrhunderts wies Madame Montessori, die große Lehrerin, nach, daß ein Kind unbedingt die Regeln entdecken will, und zwar buchstäblich wie bildlich gesprochen. Es prüft die Stärke von Materialien, es entdeckt, daß heiße Gegenstände brennen, und untersucht, was nötig ist, damit die Tür geschlossen bleibt. Es untersucht auch die Regeln. >Mutter wird mich schlagen, wenn ich Süßigkeiten ohne Erlaubnis nehme<, ist eine Entdeckung, die analog ist zu der: <Der Ofen wird mich verbrennen, wenn ich ihn berühre.> 

Vorausgesetzt, daß es keinen Mangel an Liebe in die Reaktion der Mutter hineinliest, behandelt das Kind beide Ereignisse pragmatisch. Wie Madame Montessori herausstellte, wird das Kind allmählich den Bereich oder die Kraft seines Verhaltens steigern, indem es zu entdecken versucht, an welchem Punkt ein Verbot erlassen wird. Es testet ganz einfach die Grenzen der Situation. Ein guter Teil dessen, was die Erwachsenen fälschlicherweise für <Unartigkeit> halten, sind ganz einfach Erkundungen dieser Art. 


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Wenn die Grenzen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Stellen gesetzt werden, weiß das Kind nicht, wie es sich verhalten soll. Wenn die Mutter ein Verhalten einmal als <listig> oder amüsant behandelt und es ein andermal verbietet oder bestraft, bleibt das Kind im Zweifel, was es tun soll. Wenn das oft geschieht, entstehen in ihm Zweifel hinsichtlich anderer Verbote und Anweisungen. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, daß eine unkonsequente Behandlung weit schädlicher für die Entwicklung des Kindes ist als konsequente Strenge.

Das in Unordnung geratene Heim, wo es keine regelmäßigen Essens- oder Schlafenszeiten gibt, wo man sich nicht darauf verlassen kann, daß die Eltern zuhause sind oder daß sie sich konsequent verhalten, wenn sie da sind, und wo Verpflichtungen und Verantwortungen nicht definiert werden, wirkt zutiefst verwirrend. Kinder aus einer derartigen Umwelt können sich nicht in das Schema der Schule mit seinen Zeitplänen und festen Vorschriften einfügen. Später haben sich diese Kinder der Arbeitssituation und auch dem Leben selbst anzupassen. Ganz offensichtlich werden sie nicht in der Lage sein, sich in irgendein faßbares Utopia einzuordnen. Die technologische Gesellschaft wird immer geordneter. Das Bevölkerungswachstum macht auch strengere Vorschriften notwendig. (An einer wenig benützten Straßenkreuzung braucht man keine Verkehrsampeln.) Die Anpassung in eine geordnete Welt ist nötiger denn je. Die Familiensituation gerät jedoch immer mehr in Unordnung.

  

    5 Passe deinen Geist nicht an !  

 

<Passe deinen Geist nicht an, der Fehler liegt in der Realität>, lautete die Studentenparole in vielen Ländern der Welt. Sie drückt die gerechtfertigte Enttäuschung des Heranwachsenden mit der gegebenen Welt aus und seine Entschlossenheit, das Ideal einer besseren Welt nicht aufzugeben. Ich stimme mit dieser Haltung völlig überein: gerade davon handelt ja mein Buch.


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Die Worte werden aber manchmal in einem andersartigen Kontext angewandt, zu dem ich gerade den entgegengesetzten Standpunkt einnehmen möchte. 

Man argumentiert, daß der ganze Prozeß, durch den das Kind sozialisiert, das heißt erzogen wird, sich in einer sozial akzeptablen Art zu verhalten, allein seine Anpassung an den Status quo sicherzustellen hat und so den Fortschritt (mehr noch eine Revolution) unmöglich macht. Deshalb, so schließt man, sollte das Kind nicht sozialisiert werden, sondern man sollte ihm gestatten, seinen eigenen Neigungen zu folgen.*

Der Fehler des Arguments liegt darin, daß es zu sehr vereinfacht. Sozialisierung ist ein einfaches Wort für eine komplexe Gruppe von Vorgängen. Erstens ist da die Entwicklung eines Sinns für das <Du sollst!>; zweitens lernt das Kind die absoluten Kriterien, nach denen das <Du sollst> angewandt wird (zum Beispiel Ehrlichkeit), drittens erwirbt es Wertsysteme (zum Beispiel Spontaneität/Kontrolle) und zuletzt lernt es über Institutionen, Konventionen, Normen und anderes soziales Zubehör. 

Diese letzte Gruppe ist es, die am meisten revidiert werden muß. Hier stimme ich zu, daß wir dazu tendieren, die Menschen zu lehren, daß das, was ist, auch richtig ist, und ich würde energisch die Einführung einer konstruktiv-kritischeren Art von Erziehung unterstützen. Es hieße aber, das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man die Sozialisierung abschaffen würde, weil sie einem nicht gefällt. Der Sinn für das >Du sollst« oder das Gefühl einer sozialen Verpflichtung ist in jeder Gesellschaft wesentlich. 

Der zweite Punkt betrifft absolute Werte wie Ehrlichkeit oder Freundlichkeit. (Sicherlich werden einige Eltern dabei versagen, Ehrlichkeit oder Freundlichkeit zu lehren und in diesem Ausmaß ist der Sozialisierungsvorgang für eine Kritik und eine Verbesserung offen.) Die dritte Gruppe wird, wie ich in früheren Kapiteln zu zeigen versuchte, nicht >gelehrt< — man erwirbt ein Gefühl für Spontaneität oder Beherrschung aus Erfahrungen, die nicht geplant sind, obwohl Eltern später predigen werden, wie wünschenswert das eine oder das andere wäre. Kurz gesagt, der Sozialisierungsprozeß ist nicht gegen Fehler gewappnet, er ist aber nichtsdestoweniger wesentlich.

* Da die Worte sozialisiert« und <Sozialisierung> häufig in einem politischen Sinn gebraucht werden, möchte ich betonen, daß ich sie hier rein in dem Sinn von <zivilisieren> verwende. Ich spreche nicht über eine sozialistische Erziehung oder über die kommunistische Anschauung von der Familie.


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Der Angriff auf den Sozialisierungsprozeß wurde in seiner virulentesten Form durch Dr. Ronald Laing, dem Autor von <Das geteilte Selbst> und anderen Büchern, und seinem Schüler David Cooper, dem Autor von Der Tod der Familie, durchgeführt. Es lohnt sich, ihre Konzeption kurz zu betrachten, weil sie den Fehler sehr klar bloßlegt. Laing und Cooper sehen, daß der Prozeß der Introjektion davon abhängt, daß der Elternteil liebevoll ist; sie verdammen daher elterliche Zuneigung; so schreibt Cooper von dem <brutalisierenden Angriffen liebevoller Eltern>, gegen die sich das Kind vernünftigerweise durch einen Rückzug verteidigt. Nicht nur die elterliche Zuneigung, sondern die Familie selbst muß daher abgeschafft werden. Das ist meiner Ansicht nach verantwortungsloses Geschwätz. Ein Kind, das ohne Liebe und ohne Familienunterstützung erzogen wird, wäre höchst verwirrt, persönlich unglücklich und unfähig, mit anderen in irgendeiner Art von menschlicher Gesellschaft zu kooperieren.

Laing behauptet auch, daß man einem Kind keine Verhaltensvorschriften lehren sollte. So zitiert er Jules Henry: »Wenn die Jungen während der ganzen Schulzeit provoziert werden, die Zehn Gebote in Frage zu stellen, die Heiligkeit der offenbarten Religion, die Grundlagen des Patriotismus, das Zweiparteiensystem, die Monogamie, das Gesetz der Blutschande und so weiter ...« dann gäbe es, so sagt Laing, »so viel Schöpferkraft, daß die Gesellschaft nicht wüßte, wohin sie sich wenden sollte«, und er fügt hinzu: »Kinder geben nicht leicht ihre angeborene Phantasie, Neugier und Verträumtheit auf. Man muß sie lieben, weil sie das tun.« 

Nun bin ich ganz dafür, das Zweiparteiensystem und alles andere in Frage zu stellen. Aber die Schlußfolgerung, daß diese Art von Erziehung zu einer Blüte der Schöpferkraft führen würde, ist einfach absurd. Die größten schöpferischen Geister in der Geschichte waren alles Menschen, die man die Maßstäbe ihrer Gesellschaft gelehrt hatte. Die Jungen von heute, die alles in Frage stellen, sind nur selten schöpferisch oder glücklich.


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Der Kern von Laings Position besteht darin, daß der Mensch gut ist: man entferne den deformierenden Druck und seine natürliche Güte wird in Schöpferkraft und Liebe überfließen. Das ist genau so lächerlich wie der puritanische Standpunkt, daß der Mensch von Natur aus schlecht ist und seinen eigenen Weg in die Verdammnis finden wird. Wie ich aufgezeigt habe, ist der Glaube, daß der Mensch von Natur aus gut ist, die Täuschung der Maternisten. Die Dichotomie ist falsch: Tatsache ist, daß der Mensch weder gut noch schlecht ist. Die Worte sind nicht anwendbar. Er hat Impulse, die genau so gut guten wie schlechten Zwecken dienen können. Er kümmert sich in erster Linie um sich selbst, weil er, wenn er es nicht täte, nicht überleben könnte, wenn er aber ein Monstrum des Egoismus wird, hindert er andere am Überleben und das ist schlecht. Der Impuls selbst ist völlig neutral. >Schlecht< und >gut< sind subjektive Beurteilungen, wie Laing sehr wohl wissen muß.

Professor B. P. Skinner, der Verhaltenspsychologe, nimmt einen völlig anderen, aber genau so gefährlichen Standpunkt ein. (Nach ihm ist der Skinner-Kasten benannt, in dem Ratten, um das menschliche Verhalten zu verstehen, elektrischen Schocks unterworfen oder mit Futter belohnt werden.) Für Skinner ist der Mensch weder schlecht noch gut; er ist ganz einfach ein Bündel von konditionierten Reflexen und verhält sich einfach deshalb so oder so, wie ihm das durch Belohnung oder Strafe beigebracht wurde. Von hier aus zieht Skinner den Schluß, daß Kinder von Geburt an dazu konditioniert werden sollten, gute Bürger zu werden, wodurch alle unsere Schwierigkeiten verschwinden würden. In seinem vielgelesenen utopischen Roman <Walden II> (der Titel läßt Thoreaus klassisches Walden wieder aufklingen) gibt er Hinweise, wie diese <Verhaltenssteuerung> zuwegegebracht werden soll.

So finden beispielsweise Kinder, die nach einem langen Spaziergang müde und hungrig wieder in der Gemeinde ankommen und ihr Abendessen erwarten, daß es an der Zeit ist, eine Lektion in Selbstbeherrschung zu lernen. »Sie müssen fünf Minuten lang vor den dampfenden Suppenschüsseln stehen ... Alles Murren und Klagen wird als die falsche Antwort behandelt.« Nach Skinners Vorstellung machen die Kinder einen Scherz daraus und singen ein Lied, um sich die Zeit zu vertreiben.


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Später wird die Erfahrung noch einmal wiederholt, bei dieser Gelegenheit dürfen sie jedoch weder singen noch scherzen, sondern sie müssen schweigen. Dann wird der Hälfte von ihnen gestattet, mit dem Essen anzufangen, während der Rest weitere fünf Minuten warten muß. Das soll den Neid eliminieren und sie gleichzeitig Selbstbeherrschung lehren. Der Direktor erklärt: »Wir bauen ein System allmählich wachsender Unannehmlichkeiten und Frustrationen vor einem Hintergrund völliger, heiterer Ruhe auf.« Das beschreibt er als ein »einfaches und vernünftiges Programm«.

Nur ein Collegeprofessor kann so naiv sein und glauben, daß ein System dieser Art funktionieren würde. Wir können annehmen, daß Experimentier-Ratten durch die Welt ihres Skinner-Kasten begrenzt werden und wenig Ahnung von dem Experimentator als dem Planer ihrer Welt haben. Die Menschen sind jedoch dafür berühmt, daß sie sich Fragen stellen, die mit dem Wort »Warum ...?« beginnen. Ich fürchte, daß <Walden II> entweder Roboter hervorbringen würde oder daß wir es bald mit einer Revolution zu tun bekämen. Skinner läßt keinen Raum für Erbfaktoren; keinen für eine persönliche Katastrophe, etwa den Tod eines Elternteils, solange ein Kind noch jung ist. Er hat keinen Sinn für das Individuum, für ihn ist ein Elternteil nicht von dem anderen unterschieden. Er hat nie davon gehört, daß Adoptivkinder psychologische Schwierigkeiten haben.

Es ist aber nicht sosehr die Wirksamkeit der von Skinner vorgeschlagenen Mittel, die mich besorgt macht, als die Zwecke. Mit der Arroganz des Wissenschaftlers besitzt er ein unerschütterliches Vertrauen, genau zu wissen, welche Schemata man unterrichten und welchen Typ von Menschen man erzielen will.

Hinter all dem steckt eine Frage von wesentlicher Bedeutung, die auch für meine eigenen Argumente relevant ist. Werden Menschen mit einem eingebauten Entwicklungsplan geboren oder sind wir leere Schiefertafeln, auf die, wie Skinner annimmt, alles Beliebige geschrieben werden kann?


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Eine Pflanze oder ein Tier hat ein eingebautes Programm. Sie können eine bestimmte Größe erreichen und eine spezifische Gestalt annehmen. Wir können sie klein halten, indem wir die Nahrung reduzieren oder sie auf einen kleinen Raum beschränken; wieviel Nahrung wir aber auch geben, wir können sie nicht veranlassen, größer zu werden, als sie das normalerweise würden. Wir können auch keine Eiche dazu veranlassen, daß sie Kastanien trägt (obwohl eine genetische Interferenz über kurz oder lang möglich werden könnte). Besitzt der Mensch nun genauso wie ein physisches auch ein psychologisches Entwicklungsprogramm? Ist er sozusagen autonom oder ganz einfach das Produkt von Umständen? Studien der Kinderentwicklung haben es zur Gewißheit gemacht, daß mindestens einige Verhaltenszüge vorprogrammiert sind. Neue Fähigkeiten entwickeln sich in einer wohldefinierten Sequenz.*

Wenn der Mensch nun ein eingebautes Programm besitzt, müssen wir lediglich alles tun, um die optimalen Bedingungen sicherzustellen, und er wird ohne alle weitere Hilfe die Vollkommenheit erreichen. (Das ist als der normative Standpunkt bekannt, da er ein ideales Schema andeutet, dem sich die Individuen in verschiedenen Graden konformieren.) In diesem Sinne brauchen wir uns nicht um die ethische Verantwortung sorgen, ja, nicht einmal um die Techniken. Wir lassen ganz einfach die Natur ihren Lauf nehmen. Wenn der Mensch jedoch unendlich formbar ist, werden wir in das Skinnersche Dilemma gestürzt. Dann verschwinden Freiheit und Würde.

Ich meinerseits hege keinerlei Zweifel, daß beide Faktoren vorhanden sind. Wir müssen die optimale Umwelt herstellen, aber wir müssen auch die detaillierten Schemata lehren, wenn die Entwicklungsprogramme solche Unterweisungen fordern. Wir sind weder Götter, wie Skinner, noch bloße Zuschauer, wie uns Laing glauben machen möchte.

*  Tierstudien sind ebenfalls sehr aufschlußreich. So zeigen Studien des Vogelgesangs, daß einige Einzelheiten des Gesangs von anderen Vögeln gelernt werden, während andere produziert werden, selbst wenn die Vögel von Angehörigen ihrer eigenen Gattung isoliert aufgezogen werden.


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Ich habe die Wertbildung und die Entwicklung des Gewissens ziemlich ausführlich, wenn auch recht akademisch erörtert. Wie entsetzlich desorganisiert die häusliche Umgebung eines großen Prozentsatzes der Kinder in den westlichen Ländern geworden ist, ist dabei nicht herausgekommen. Wir wollen uns die Situation in Großbritannien ansehen, die wahrscheinlich nicht so schlecht wie die schlechtesten, aber auch nicht so gut wie die besten ist.

    

   6  Kinder in Not  

 

Fast unterschiedslos haben Eltern ein absolutes Vertrauen zu ihren Fähigkeiten und nehmen Rat oder Kritik bitter übel. Und doch unterscheiden sie sich sehr stark in ihren Praktiken und können folglich nicht alle recht haben. 

Häufig befinden sie sich nachweisbar im Unrecht. 

Dorothy Durlingame und Anna Freud haben beispielsweise gezeigt, daß Kinder im Alter von 1 1/2 bis 2 1/2 Jahren nicht länger als einen Tag von ihren Müttern getrennt sein dürfen, ohne sichtbare regressive Auswirkungen zu zeigen. Und doch ist es üblich, daß Mütter Kinder in diesem Alter für zehn Tage und mehr bei einer Kinderschwester oder einer Freundin lassen, während sie in Urlaub fahren. 

Und seit mindestens dreißig Jahren hat man schlüssig bewiesen, daß eine inkonsequente Behandlung ein Kind mehr schädigt als Strenge. Und doch gibt es zahlreiche Eltern, die ein bestimmtes Verhalten an einem Tag verbieten und es an einem anderen übersehen. Ich wähle diese Beispiele, weil sie besonders offensichtlich sind: es gibt noch viel mehr, die schwerer verständlich sind. Viele Menschen erfahren zu ihrer Überraschung, wie weit elterliche Methoden in der Strenge und der Art der Bestrafung, in ihrer Toleranz gegen Aggression, den sexuellen Interessen und dem Alter, in dem sie erwarten, daß das Kind gewisse Maßstäbe erreicht — zum Beispiel die Kontrolle über die Verdauungsorgane —, variieren.

Wir haben bislang viel zu wenig faktenmäßige Informationen, doch sind, vor allem in den Vereinigten Staaten, einige nützliche Studien vorgenommen worden, wie etwa die von Sears, McCoby und Levin vom Laboratorium für menschliche Entwicklung an der Harvard-Universität. Sie untersuchten 379 Mütter in zwei Vororten von Massachusetts, der eine hauptsächlich mittelständisch, der andere hauptsächlich proletarisch.


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Sie stellten fest, daß fast die Hälfte von ihnen die Kinder vor dem Alter von sechs Monaten zur Sauberkeit erzogen, während andere Mütter ihnen dazu achtzehn Monate und mehr Zeit lassen. Die Kinder, die am wenigsten emotionell gestört waren, waren die, die zwischen sechs und neun Monaten sauber wurden; nur achtzehn Prozent von ihnen waren verstört gegenüber 35 Prozent von denen, die vor einem Alter von sechs Monaten an den Topf gewöhnt wurden. Wenn die bei der Erziehung zur Sauberkeit verwendeten Methoden streng waren, waren 55 Prozent der Kinder verstört. Mit anderen Worten, die größte Gruppe von Müttern brachte durch ihre Methoden den größten Prozentsatz von verstörten Kindern hervor.

Die Mütter variierten sehr stark in dem Ausmaß, in dem sie Aggressionen gegen die Eltern oder gegen andere Kinder duldeten; 38 Prozent glaubten, daß weder eine verbale noch eine physische Aggression gegen die Eltern unter irgendwelchen Umständen geduldet werden sollte, und weitere 24 Prozent verhielten sich in diesem Punkt fast genauso entschieden, das heißt etwa zwei Drittel waren unduldsam. Elf Prozent waren ziemlich oder völlig duldsam. Ein ähnlicher Gegensatz war im Hinblick auf den Sex festzustellen.

Was aus dieser Studie besonders stark hervortrat, war der Zusammenhang der elterlichen Persönlichkeit mit den Erziehungsmethoden. Die Mutter, der Wärme für das Kind fehlte und die hinsichtlich der sexuellen Dinge in ihrem eigenen Leben ängstlich war, war auch die Mutter, die am meisten bestrafte, die Sex und Aggression am meisten beschränkte, die an Leistungen von dem Kind mehr forderte und die am wahrscheinlichsten ein emotionell gestörtes Kind heranzog. (Obwohl einzelne Kinder in ihrer Empfindlichkeit gegen eine solche Behandlung weithin variieren.) Auf der anderen Seite war die ruhige, warme Mutter duldsamer, erwartete weniger und erzog wahrscheinlicher ein emotionell stabiles Kind.

Die andere auffällige Schlußfolgerung war, daß Eltern aus der Arbeiterklasse viel eher von dem kalten strafenden Typ waren als die Eltern aus dem Mittelstand. (Andere Studien beweisen jedoch, daß es innerhalb der Klassen auffällige Unterschiede gibt: der obere Teil der Arbeiterklasse neigt zur Strenge, der untere aber zur Duldsamkeit, während beim Mittelstand in dieser Hinsicht gerade das Gegenteil der Fall ist. Es mag auch Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern sowie zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung geben.)


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Variationen dieser Art sind sogar in relativ wohlgeordneten Familien üblich. Die Situation ist offensichtlich in den stark ungeordneten Familien viel schlechter, die in den anomischen Bedingungen von großen Städten in der westlichen Gesellschaft nur allzu häufig sind.

Sir Alec Clegg, der leitende Erziehungsbeamte für West Riding von Yorkshire, und Barbara Megson, eine ehemalige Lehrerin, die jetzt in seinem Amt arbeitet, haben bei derartigen Kindern eine bewundernswerte Studie unter dem Titel Children in Distress durchgeführt. Ich werde daraus zitieren, weil die geschilderten Bedingungen in den meisten westlichen Ländern anzutreffen sind.

»Familien, die unter einem intensiven Streß stehen, können bei dem Kind mehr Schaden anrichten als solche, die arm oder schmutzig sind... Da haben wir das Kind eines Vaters, der im Übermaß trinkt, der ein Tyrann ist, der immer wieder im Gefängnis sitzt; da ist das Kind der Mutter, die neurotisch, geistig gestört oder bis zur Vernachlässigung schwach ist; das Kind von Eltern, die nie arbeiten oder die streiten oder selten miteinander sprechen; das Kind aus einer Familie, die offen Missetaten begeht; das Kind, das durch das Gesetz einer tugendhaften Mutter übergeben wurde, obwohl es den tadelnswerten Vater liebt; die Familie mit den sich widersprechenden Treuebindungen; die Familie, wo lange Krankheit herrscht und vielleicht am allerschlimmsten die Familie, die dem Kind weder Liebe noch Sicherheit bietet.«

Um das Wort >Schaden< zu konkretisieren, beschreiben die Autoren eine Anzahl von Fällen, von denen ich nur einen ausführlich zitieren möchte: 

»Als der Junge noch kleiner war, wurde er von seinem Vater gequält. Der Junge hatte eine Lieblingsmaus, die der Mittelpunkt seines Lebens war; der Vater erschreckte den Jungen dadurch, daß er sagte, er werde sie töten. Nachdem der Vater die Familie für eine Weile verlassen hatte, kam er zurück und erschreckte den Jungen mit der Drohung, er werde ihn seiner Mutter wegnehmen.

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Als Folge davon wurde der Junge zu einem nervösen Wrack. Er kann niemand ins Gesicht schauen, er verkrampft, wie von Schmerzen gepeinigt, die Finger und Hände und wird durch jede Situation außerordentlich verängstigt — so versäumte er beispielsweise den Schulbeginn um eine Woche, er hat vor dem Raum für Metallarbeiten Angst, er hat davor Angst, von seinem einzigen Freund getrennt zu werden und wenn er ein Unterrichtsfach hat, das er nicht leiden kann, kann er nachts nicht schlafen und ist krank.«

Einem britischen Bericht zufolge brauchen 15 Prozent der Kinder als Ergebnis häuslichen Stresses besondere Fürsorge und Aufmerksamkeit. 

D. H. Stott, ein britischer Erziehungssoziologe, hat Untersuchungen angestellt, die andeuten, daß Jungen häufiger gestört sind als Mädchen. Das ist aber sicherlich nicht das volle Ausmaß der Persönlichkeitszerrüttung: es gibt viele Kinder, die in der Schule entsprechend, ja sogar glänzend arbeiten und doch im Erwachsenenleben charakterliche Störungen aufweisen. Die Krankenstatistiken der Psychoanalytiker sind voll von solchen Fällen. Clegg und Megson befassen sich als Erziehungsbeamte natürlich vorwiegend mit jenen Fällen, die in der Schule ein Problem darstellen, sie geben sich nicht mit den weiteren Konsequenzen ab.

Die Grausamkeit und Dummheit mancher Eltern ist einfach unglaublich. 

Man kann vielleicht die Reaktion eines Vaters verstehen, der durch das Weinen eines Kindes so verrückt gemacht wird, daß er hart zuschlägt und dem Kind den Schädel bricht, selbst wenn man sein Verhalten verurteilt. Mindestens ist diese Reaktion jedoch verständlich. Was soll man aber von einem Vater halten, der sich weigert, sein Kind wegen eines Sprachdefekts (kostenlos) behandeln zu lassen? Oder was ist mit den zwei Kindern, die wegzulaufen drohten und dann in ihrem erbärmlichen Heim von einer Wohlfahrtsbeamtin besucht wurden, der sie erklärten, sie wollten weg, weil »Daddy immer hinter uns her ist«. 

Es stellte sich heraus, daß die Kinder Kohlen von einer Abfallhalde in einem Bergwerksdorf sammelten und sie dann für fünf Shilling pro Sack an eine alte Witwe verkauften. Dad war »hinter ihnen her«, weil er wollte, daß sie von ihr sechs Shilling fordern sollten. »Aber wir halten es nicht für fair, von der alten Mrs. C.... sechs zu verlangen, sie kann es sich nicht leisten, aber er setzt uns weiterhin zu, deshalb wollen wir von zuhause weg. Wir teilen uns das Geld und wir glauben, es ist genug.«


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Clegg und Megson befassen sich besonders mit dem, was sie den <arbeitsscheuen Vater> nennen, der von öffentlichen Unterstützungen und Gelegenheitsarbeiten lebt; dabei wird der größte Teil des Geldes vertrunken oder verspielt, während die Kinder unterernährt und schlecht gekleidet sind. Es ist keineswegs so, daß der Vater nicht arbeiten will: seine ganze Persönlichkeit ist desorganisiert und schwach, er ist auch zu Hause nicht imstande, ein längeres Arbeitsprojekt durchzuführen. Gewöhnlich haben diese Männer Hunde, Schäferhunde oder Greyhounds, die mit Fleisch gefüttert werden. Natürlich gibt es auch genauso schwache Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, während sie Bingo-Hallen* besuchen oder in den Kneipen trinken. 

Ein Lehrer erzählt, wie die Kinder einer solchen Mutter dem Lehrer durch die ganze Schule folgen, sie lungern an den Türen oder schleichen sich wieder in die Klassenzimmer oder die Garderobe und kauern sich in eine Ecke. »Das könnte deshalb sein, weil der Vater ins Gefängnis gesteckt wurde und weil Bruder und Schwester in der <Fürsorge> verschwunden sind — oder einfach deshalb — weil es von Anfang an keine wirkliche Familieneinheit gegeben hat, die ihnen ein Gefühl des <Dazugehörens> gibt... Diese Kinder wandern oft während der Ferien den ganzen Tag herum und klopfen an Türen in dem Versuch, jemand zu finden, der sie einläßt. Am Ende finden sie natürlich niemand mehr, denn wenn sie jemand einläßt, bleiben sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend dort und niemand bemüht sich festzustellen, wo sie sind, was sie machen oder ob sie verirrt, verletzt oder gar tot sind.«

Die Armut ist nicht die Ursache dieser Zustände, obwohl sie sie weniger erträglich machen kann, wie Clegg und Megson betonen. In einigen sehr armen Heimen findet man sichere und heitere, wenn auch schmutzige und wenig erzogene Kinder. 

*  Bingo — das englische Zahlenspiel


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Der bemerkenswerte Faktor ist jedoch, daß solche Kinder in industriellen Gebieten viel häufiger anzutreffen sind als in ländlichen; nach der Studie von Clegg und Megson waren es dreizehn Prozent in den industriellen gegen 2,5 Prozent in ländlichen. (Sie stellten auch fest, daß Landkinder aus schlechten Heimen aggressiver, Stadtkinder jedoch furchtsamer und in sich zurückgezogener sind.)

Es scheint so zu sein, daß diese Familien ohne jeglichen Zusammenhalt wenigstens in Großbritannien an Zahl zunehmen. So zeigen offizielle britische Berichte zwischen 1955 und 1966, daß die Zahl der im Stich gelassenen Kinder um 85 Prozent zunahm, die Zahl der von der Mutter verlassenen, wobei der Vater sich als unfähig erweist, damit zurechtzukommen, erhöhte sich um 100 Prozent. Die Zahl der unehelichen Kinder, für die die Mütter nicht sorgen konnten, erhöhte sich um 200 Prozent, Kinder, deren Eltern im Gefängnis sind, um 50 Prozent, Kinder in miserablen Heimen um 177 Prozent und die Zahl der Kinder, die wegen eigener Gesetzesübertretungen der Fürsorge übergeben wurden, um 76 Prozent. Diese Zahlen umfassen jedoch nur Kinder, die aufgespürt werden konnten. In der Zwischenzeit stieg die Zahl der unehelichen Geburten bei Mädchen mit fünfzehn Jahren um 377 Prozent und um 293, 248 und 22 Prozent für die drei Jahresgruppen von sechzehn bis achtzehn Jahren.

Clegg und Megson führen eine Anzahl von Schritten auf, die die Behörden ihrer Ansicht nach ergreifen sollten — hauptsächlich sind sie dazu bestimmt, den schlechten häuslichen Einfluß auszugleichen. Daß solche Heime aber bestehen, nehmen sie als gegebene Tatsache hin. Ich stelle hier eine andere Frage: warum wurden die Eltern so? Wahrscheinlich deshalb, weil sie in ihrer eigenen Kindheit ebenfalls schlecht behandelt wurden. Wie schon gesagt wurde, ist es der beste Weg, einen Jungen neurotisch zu machen, wenn man ihm einen neurotischen Vater gibt, und für neurotisch können wir viele spezifische Charakterdefekte einsetzen, wie etwa >hilflos<. Wie aber können wir aus dem circulus vitiosus ausbrechen?

Wenn derartige Fakten gegeben sind, ist es kaum ein Wunder, daß die Erwachsenenbevölkerung viele gestörte Individuen umfaßt, einige obsessiv oder sexuell verkrampft, andere antisozial oder straffällig.


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Es ist kein Wunder, daß wir uns mit Problemen wie Alkoholismus, Selbstmord und geistiger Instabilität konfrontiert sehen. Allen Anzeichen nach scheint die Situation noch schlimmer zu werden. Der Lebensstandard mag ansteigen, aber die soziale Desorganisation wächst ebenfalls.

Wirklich außergewöhnlich ist, daß so wenig dagegen unternommen wird. Die Kosten der sozialen Pathologie sind unberechenbar. Wenn wir die Kosten der Verbrechen zu denen der Geisteskrankheiten zählen und Arbeitsunruhen, Ausfälle aus dem Erziehungssystem und andere Auswirkungen hinzurechnen, wird es klar, daß das — finanziell gesehen — einfach das überwältigende gesellschaftliche Problem darstellt. 

Wir müssen einen großen Angriff auf vielen Fronten inszenieren, von der Verbesserung der Wohnungs­verhältnisse bis zur Erziehung der Eltern, wie sie ihre Kinder großziehen sollen. Wir müssen auch psychiatrische Hilfe zur Verfügung stellen und zwar in dem gleichen Maß, wie wir das für die physisch Kranken tun. Im Augenblick erfolgt die Hilfe, die den sozial Desorientierten zuteil wird, im wesentlichen auf freiwilliger Basis und ist dementsprechend unzureichend. Wir kümmern uns um die Geistesgestörten nur dann, wenn sie in einem materiellen Sinn zu einer Gefahr für andere oder sich selbst werden. Und doch haben, wie Alex Comfort gezeigt hat, Versuche, mit dem Problem der geistigen Gesundheit fertig zu werden, eine fast paranoide Opposition herauf­beschworen.

Wir müssen auch viel mehr Forschungsarbeit leisten und die Resultate dessen, was wir bereits wissen, weiter verbreiten. Die Budgets für die Forschung bei Geisteskrankheiten sind nur ein Bruchteil derer für physische Krankheiten (in Großbritannien bilden sie ein Zehntel), obwohl die Zahl der mit Geisteskranken belegten Betten genauso groß ist — ganz zu schweigen von den viel zahlreicheren Fällen, die nicht im Krankenhaus sind, die aber trotzdem eine Verpflichtung für die Gesellschaft darstellen. Die Prophylaxe für Geisteskrankheiten müßte ein Hauptpunkt in dem neuen politischen Programm sein, das den Konservativismus und den Sozialismus ersetzt. Sie ist das überwältigend große Bedürfnis unserer Gesellschaft.

Doch geht es mir um mehr als um eine Verbesserung des psychischen Gesundheitswesens. Mir geht es um eine grundsätzliche Veränderung der Persönlichkeitsstruktur in den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Denn ohne diese ist alle Hoffnung, eine bessere Welt zu schaffen, illusorisch. Die Bildung der Persönlichkeit ist der Hebel zur gesellschaftlichen Veränderung.

Der Versuch, die Gesellschaft durch eine Modifizierung der Persönlichkeitsstruktur der nächsten Generation — ein Prozeß, der sich auf die darauffolgenden Generationen ausdehnen mag — zu ändern, ist notwendigerweise ein langfristiges Programm. 

Die ungeduldige Jugend ist nicht bereit, auf Reformen zu warten, und wird das Programm ohne Zweifel ablehnen. Auch mag es, was schlimmer ist, Gruppen geben, die das Wissen um die menschliche Persönlichkeitsbildung ausnutzen, um einen unterwürfigen und konformistischen Bürger zu schaffen. 

Die Frage, wie wir das Wissen über Entwicklung und Verhalten des Menschen weise anwenden, ist daher die Kardinalfrage unserer Zeit. 

Die politischen und erzieherischen Themen, denen ich mich jetzt zuwende, sind nur dann sinnvoll, wenn wir uns dieses Zusammenhangs beständig bewußt sind. 

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