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11 - Der neue Anarchismus   

 

1 Rechts und links  2 Ziele und Mittel  3 Der Vertrauensverlust  4 <Geschlossene Gesellschaft> 
 5 Falsch-Denken und Nicht-Denken   6 Ein politisches Programm    7 Der neue Anarchismus

 1  Rechts und links  

327-354

In den westlichen Ländern ist eine wachsende Entfremdung der Öffentlichkeit von der Politik festzustellen. Immer mehr Menschen bekommen das Gefühl, daß die Regierungen gegen die Fragen, die sie am meisten betreffen, blind oder daß sie unfähig sind, mit ihnen fertig zu werden. 

Das pilzartige Hochschießen von Bürgerinitiativen, studentischen Protestbewegungen, Wissenschaftlern für soziale Verantwortung, Naturschützern, Vereinigungen für die Reform der Abtreibungsgesetze, Frauenbefreiungsbewegungen, ganz zu schweigen von ethnischen und nationalistischen Vereinigungen und so weiter ist der Beweis dafür, daß die Regierung nicht auf die Stimme des Volkes hört oder nicht zu zeigen vermag, daß sie sie gehört und verstanden hat. 

Ein auffälliges Beispiel für diesen Mangel an Kontakt ereignete sich in Großbritannien, als nach einer Untersuchung mit höchst verfeinerten Methoden, die insgesamt 2½ Millionen Pfund kostete, ein Platz für den dritten Londoner Flughafen ausgewählt wurde. Als die Wahl schließlich bekanntgegeben wurde, erfolgte eine gewaltige Reaktion der Öffentlichkeit gegen die Zerstörung eines prächtigen Stücks Landschaft in leichter Reichweite von London, einer Gegend, die von Städtern als Erholungsgebiet und von Pendlern aus der Stadt benutzt wurde: das ganze Projekt wurde von einer Welle des Unwillens weggefegt. 

Dabei hätte die Regierung dem Land 2½ Millionen Pfund sparen können, wenn sie daran gedacht hätte, eine viel billigere Umfrage zu veranstalten, was die Öffentlichkeit an erster Stelle akzeptieren würde. Wie das Beispiel beweist, schätzen Regierungen die relative Bedeutung der technologischen Bequemlichkeit gegenüber Annehmlichkeiten ganz anders ein als jene, die sie regieren.

Anthony Benn, der in der Labour-Regierung in Großbritannien Regierungsämter innehatte, schrieb kürzlich: »Die parlamentarische Demokratie und das Parteiensystem sind in letzter Zeit nicht nur wegen ihrer Unfähigkeit kritisiert worden, einige unserer Probleme zu lösen, sondern auch wegen ihres Versagens, andere angemessen zu durchdenken... Es sind nicht nur einige Mitglieder der Öffentlichkeit, die enttäuscht sind. Es gibt Menschen in der aktiven Politik, zu denen auch ich gehöre, die sich schon seit langem unbehaglich fühlen und die allmählich glauben, daß die Entfremdung des Parlaments vom Volk einen echten Grund zur Sorge darstellt.« Großbritannien ist nicht das einzige Land, wo man diese Sorge empfindet.

Parteien der Rechten und Parteien der Linken (ich verwende diese Begriffe, damit das, was ich sage, auf jedes westliche Land anwendbar ist, und überlasse es dem Leser, Konservative, Sozialisten oder jede beliebige Variante einzusetzen, an die er eben gewöhnt ist) stimmen in einem Punkt überein: der materielle Reichtum ist der Zweck der Übung. Selbst Marxisten und Maoisten sind sich mit Konservativen und Republikanern darin einig, daß sie das Brutto­sozial­produkt so schnell wie möglich steigern wollen. 

Wedgwood Benn, der die abnehmende Popularität der Labour-Partei in England zu erklären versucht, weist auf die Tatsache hin, daß der zentrale Zug aller kritischen Auseinandersetzungen in Großbritannien seit dem Krieg die wirtschaftliche Leistung gewesen ist, und man ohne Frage angenommen hatte, daß eine Regierung, die Vollbeschäftigung, stabile Preise und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz sicherstellen konnte, <es geschafft hatte>. Geschlagene Regierungen gaben die Schuld an ihrer Niederlage ihrem Versagen, diese wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. Aber, so meint Wedgwood Benn, vielleicht sind das gar nicht die Schlüsselfragen?


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Da es der Kern meiner Argumentation ist, daß sich die Menschen tiefe und wachsende Sorgen wegen der Frustrierung von nicht-wirtschaftlichen Bedürfnissen machen, und da sich die von mir erwähnten Bürgerinitiativen alle mit nichtwirtschaftlichen Forderungen befassen, zweifle ich nicht, daß Wedgwood Benn recht hat.

Die Analyse, die ich im ersten Teil dieses Buchs gegeben habe, ermöglicht uns sehr klar zu sehen, was jetzt geschieht. Im Grunde handelt es sich um einen politischen Kampf zwischen zwei Typen der Hartes-Ich-Mentalität, der paternistischen und der maternistischen Version, während der Kampf, an dem die Öffentlichkeit interessiert ist, der Kampf zwischen den Weiches-Ich- und Hartes-Ich-Mentalitäten ist. Wie sich der Leser vielleicht erinnern wird, glaubt der Paternist an die Erhaltung des Status quo, an ein hierarchisches Sozialsystem, ist hinsichtlich Sex und Moral repressiv und denkt, daß sich die Dinge verschlechtern werden. Der Maternist andererseits ist duldsam und gleichmacherisch, mehr an Nahrang und Wohlfahrt als an sexueller Moral interessiert; er glaubt, daß alles besser wird. Der Hartes-Ich-Typ glaubt an den Kampf um Erfolg zwischen unabhängigen Individuen. Der Weiches-Ich-Typ glaubt an die Gemeinschaft, mehr an das Sein als an das Handeln.

Wenn wir diese Begriffe auf die tatsächlichen politischen Parteien anwenden, ist die Position natürlich aus historischen Gründen nicht so klar umrissen. So drängten in Großbritannien die Hart-Egoisten die Paternisten um die Jahrhundertwende allmählich aus der Macht, aber das Etikett der Konservativen (das offensichtlich die Paternisten einschließt) wurde beibehalten, um die Tatsache zu tarnen, daß es sich, wie bei den Republikanern in den Vereinigten Staaten, jetzt um eine Partei der Geschäftswelt handelt. 

Die britische Labour-Partei wiederum hat einen soliden Kern von Paternisten aus der Arbeiterklasse, deren Gehirne für neue Ideen verschlossen und die hinsichtlich der Moral konventionell sind, die aber für die Labour-Partei stimmen, weil sie ein großes Stück des Kuchens für sich selbst wollen. Für <die Intellektuellen> des Mittelstands mit ihren gefühlsduseligen maternistischen Ideen empfinden sie nichts als Verachtung. In der Ich-Skala vertreten sie das extrem harte Ich. <Mir geht's gut, Jack>, ist eine Phrase, die auf ihre mangelnde Gruppensolidarität geprägt wurde.* Soweit haben sie sich vom Maternismus entfernt.

* Wenn eine Fabrik wenig Aufträge hat und wenn die Männer ersucht werden, die Arbeit zu verlangsamen, um Arbeitsmangel zu vermeiden, lehnen sie das oft unverblümt ab, wie mir ein Betriebsrat kürzlich sagte.


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Viele Soziologen haben sich hinsichtlich der reaktionären Haltung des unteren Mittelstands sowohl in Großbritannien wie in den Vereinigten Staaten geäußert, wo der >steife Hut< wegen seiner intoleranten Haltung berüchtigt wurde.**

Es könnte als Widerspruch erscheinen, daß die Position, die wir als die äußerste Linke ansehen, nämlich der Kommunismus, autoritär geworden ist. Die ursprünglichen Pläne der Kommunisten zielten jedoch auf eine extreme Gleichheit und eine extreme Streuung der Macht ab: jede Fabrik, jeder Bauernhof und jedes Dorf sollte von einem (als Sowjet bekannten) Rat geleitet werden, und die Sowjet-Union war einfach die Vereinigung aller Sowjets, die ihrerseits wiederum Unionen von Sowjets auf niedrigerer Ebene waren. 

Wie es aber allgemein geschieht, wurde die von Maternisten begonnene Revolution von Paternisten übernommen. Spontaneität und Diskussion sind im Ernstfall weniger wirksam als Disziplin und ein hierarchisches Befehls­system, und das ist auch der Grund, warum Armeen so geführt werden. Paternisten übernahmen das neugeborene kommunistische System und entmaternisierten es sehr schnell.

Im Grunde ist der Hartes-Ich-erfolgsorientierte Mann (ob man ihn nun einen Konservativen oder einen Republikaner nennt) gegen die große Vaterfigur des Staates, die einem sagt, was man tun und auf wen man sich verlassen muß. Er ist ein Mann, der gegen Familienabhängigkeit und Gehorsam revoltiert hat. Er hat, indem er das tat, auch der Familiengruppe den Rücken zugekehrt und sich entschieden, auf seinen eigenen zwei Füßen zu stehen. 

**  So antworten auf die Frage, ob Verbrecher ausgepeitscht oder noch höher bestraft werden sollten, 40,3 Prozent der unteren Schichten, 30,5 Prozent des Mittelstands und 8 Prozent der Oberschicht mit »Ja«. Zu der Feststellung »Junge Menschen brauchen eine strenge Disziplin« lauteten die entsprechenden Prozentsätze 63,3 - 49,1 - 8.


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Deshalb ist er auch gegen die staatliche Intervention in geschäftlichen Dingen (>Papi sagt dir, wie du es machen sollst<) und noch mehr gegen Staatsbesitz. Er ist gegen die gleichmäßige Aufteilung in der Familie, wo alle Kinder das gleiche Essen und die gleichen Privilegien erhalten und die gleichen gemeinsamen Dienste miteinander leisten. Er ist nicht so sehr für den Preismechanismus als gegen Bevormundung. Der Preismechanismus gibt ihm die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, wenn es aber ein anderes Mittel gäbe, das ihm ebenfalls Freiheit ließe, würde er es wahrscheinlich auch benützen. Der Preismechanismus garantiert und wiederholt nicht die paternistische Gesellschaft: er garantiert eine Hartes-Ich- oder eine Erfolgsgesellschaft.

Umgekehrt lehnt die Linke den Staat nicht völlig ab, in dem sie eine wohltätige Mutter sieht und nicht einen tyrannischen Vater. Sie hat auch nicht das Gefühl, daß alle auf gleich und gleich teilen sollten, daß alle gleich sind und daß alle in gleicher Weise von dem maternalistischen Staat abhängen. Diese Dinge scheinen natürlich und nicht anrüchig. <Mutter weiß, was das Beste ist.> Hiervon stammt die Leidenschaft der Linken, gesetzliche Vorschriften zu erlassen und statuierende und beaufsichtigende Körperschaften aufzustellen — das soziale Äquivalent zu Kinderschwestern und Dienstmädchen. (Die Auffassung ist sehr bürgerlich.) Aber das Kindermädchen kann sehr wohl zu einem kleinlichen Tyrannen werden und ist oft der Ansicht, daß ihre Herrin die Realität des Kinderzimmers nicht mehr richtig sieht. Ihr liegt nichts daran, die Kinder aufwachsen zu sehen und Entscheidungen von ihnen herauszufordern; sie neigt in jedem Fall mehr dazu, Verbote zu erlassen, als positive Vorschläge zu machen, was man tun sollte. Die radikale Idee sieht allmählich ziemlich altmodisch aus.

Während sich so die Rechte und die Linke auf der paternistisch/ maternistischen Skala heftig unterscheiden, sind sie in ihrem Glauben an den >Erfolg< praktisch identisch. Als Folge davon werden die Weiches-Ich-Typen, die nicht an den >Erfolg< glauben, entrechtet. Die Politik der Zukunft wird sich auf der Hart/Weich-Skala spalten, die Materialisten und Individualisten werden in einen erbitterten Kampf mit den Nichtmaterialisten und Gemeinschaftsorientierten verstrickt werden. (Die Letzteren müssen erst einmal ein Etikett finden: wahrscheinlich gibt es eine helle Zukunft für eine Nichtmaterialistische Partei.)


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Die Politik befaßt sich sowohl mit den Zielen wie den Mitteln. Und es scheint ein Teil der menschlichen Natur zu sein, daß die Mittel für die Menschen oft wichtiger werden als die Ziele, für deren Erreichung sie geplant wurden. Sie werden zum Selbstzweck. Es ist also nötig, daß wir die Mittel untersuchen, die von der Rechten und der Linken vorgeschlagen werden — und zwar besonders in der wirtschaftlichen Sphäre, da die materielle Produktion ihr primäres Ziel ist. Wie jedermann weiß, begünstigt die Rechte den Privatbesitz an der Industrie und die Durchführung des Preismechanismus. Die Linke bevorzugt den Staatsbesitz und zögert nicht, Vorschriften anzuwenden, um das erwünschte Ziel zu erreichen, wann immer der Preismechanismus unangemessen erscheint. Die Frage ist interessant, ob ihr jeweiliger Glaube gerechtfertigt ist.

  

  2  Ziele und Mittel  

 

Da sie hinsichtlich der fundamentalen Ziele so wenig differieren, muß ein großer Teil des Parteienkampfes aus den Unterschieden hinsichtlich der Mittel und besonders daraus abgeleitet werden, ob Privat- oder Staatsbesitz das wirksamere Mittel ist, Güter zu produzieren und Dienstleistungen bereitzustellen. In den Vereinigten Staaten wie in der UdSSR hat man sich, zumindest an der Oberfläche, der einen oder der anderen Sache mit ganzem Herzen verschrieben. In den USA nimmt man es stillschweigend hin, daß Behörden alle Tätigkeiten übernehmen, von denen man nicht erwartet, daß sie einträglich sind, genauso wie die UdSSR ein gewisses privates Unternehmertum gestattet, wo der Kommunismus offensichtlich wirkungslos bleiben würde. In den meisten europäischen Ländern ist die Erörterung hinsichtlich der Mittel noch im Gang.

Die Wahrheit der Sache besteht darin, daß beide Systeme beklagenswert unwirksam sind: in ihrem Wunsch, sie zu verteidigen, loben ihre Anhänger sie jedoch in den Himmel. Es wäre realistischer und reifer, wenn wir erkennen würden, daß im großen und ganzen zwischen den beiden nur wenig Unterschiede bestehen (abgesehen natürlich von den Individuen, die aus der einen oder der anderen Seite eine gute Sache machen) und daß wir viel energischer versuchen sollten, sie zu verbessern oder uns nach etwas Besserem umzusehen.


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In Kapitel 9 habe ich ausführlich beschrieben, warum der Preismechanismus, der Schlüsselmythos der Rechten, unmöglich eine vernünftige Anwendung der Hilfsmittel zuwege bringen kann. Richten wir unser Mikroskop jetzt auf den Schlüsselmythos der Linken.

In dem Glauben, daß der private Unternehmer den Konsumenten ausbeutet, wann immer er zu seinem eigenen Nutzen dazu fähig ist, und daß er dabei dank quasi monopolistischer Situationen übertriebene Gewinne einsteckt, schlägt der Sozialist vor, die geschäftliche Tätigkeit, besonders die industriell-produktive, in die Hände von Personen mit festen Gehältern zu legen, die einem unabhängigen Ausschuß oder der Regierung selbst verantwortlich sind und nicht den Aktionären. Die Täuschung besteht in dem Glauben, daß es eine angemessene Zahl technisch kompetenter, sozial gesinnter und energischer Individuen gibt, die müßig am Spielfeldrand sitzen, bereit vorzutreten, in die Schuhe ihrer Bosse zu schlüpfen und das neu verstaatlichte Unternehmen in der gewünschten Art zu leiten. 

Da es in Wirklichkeit kein derartiges Reservoir von Talenten gibt, werden die Industrien, wenn sie verstaatlicht werden, im wesentlichen von den gleichen Leuten geleitet werden wie zuvor. In Großbritannien war es eine der Hauptklagen der Kohlenbergleute nach der Verstaatlichung, daß die alten Manager der Kohlengruben weiterhin in ihren Büros die Befehle gaben, so, als ob nichts geschehen sei. Sie hatten erwartet, daß diese Bosse alle über Nacht weggefegt würden.

Man gibt die höchsten Positionen tatsächlich oft Männern, die außerhalb der Industrie stehen — in Großbritannien wurden sie während der Nachkriegs­verstaatlichung häufig entlassenen Soldaten übertragen, augenscheinlich in der Annahme, daß sie über große hierarchische Organisationen besser Bescheid wüßten. In der Tat wissen sie fast nichts darüber, wie man die Öffentlichkeit umwirbt: die <Privatsoldaten> nehmen nur hin; was man ihnen gibt. (Viele der früheren Schwierigkeiten der britischen Eisenbahnen ergaben sich aus dieser kavaliersmäßigen Haltung gegenüber dem Transportsystem.)


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Natürlich kann mit der Zeit eine neue Managerelite rekrutiert und geschult werden; die Verfügbarkeit von Männern mit technischer Erfahrung ist kein fundamentales Problem. Das fundamentale Problem ist eines der Haltung. Wird der durch Gehalt bezahlte Verwalter sich so hart bemühen wie der Unternehmer, dessen Gewinn mit seinen Anstrengungen verkettet ist? Es ist richtig, daß Junior-Manager auch in der Industrie Gehalt beziehen, sie haben aber die Hoffnung auf eine schnelle Beförderung und einen eventuellen Platz im Direktorium mit Anteilen an der Gesellschaft als Anreiz. 

Bei Strukturen vom Beamtentyp erfolgt die Beförderung in steigendem Maß nach dem Dienstalter statt auf der Basis außergewöhnlicher Fähigkeiten. Es ist ein Gemeinplatz, daß der Beamte zögert, Entscheidungen zu treffen: wenn er sich nämlich irrt, gibt man ihm die Schuld, während er, wenn er recht hat, weder eine Beförderung noch eine Gehaltsaufbesserung erhält, da die Gehälter abgestuft sind. 

Die Zivildienststrukturen, für die der Postdienst in Großbritannien und anderen Ländern ein Beispiel ist, können gerade mit einer statischen Situation fertig werden, der Dienst paßt sich aber nur sehr schwer Änderungen an. Er ist noch viel schwächer, wenn es gilt, den Launen der Öffentlichkeit zu folgen. Viele Jahre lang änderten sich die Postdienste nur sehr wenig in ihrem Charakter: die technischen Neuerungen der letzten Jahre haben die Starrheit und den Mangel an Anpassungsfähigkeit dieser Art von Struktur enthüllt. So verwendet die britische Postverwaltung in ihren Telefonzentralen immer noch mechanische Selektoren, lange nachdem fortschrittliche Dienste zu dem sogenannten Querbalkensystem übergewechselt sind, das auch schon wieder veraltet und durch neue elektronische Zentralen ersetzt wird. Das britische Postamt bemüht sich jetzt um dieses veraltete Querbalkensystem. Wahrscheinlich wird es erst über die elektronische Telefonzentrale nachdenken, wenn auch diese unmodern geworden ist.


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Wegen dieser Beschränkungen ziehen es die Sozialisten heute in der Regel vor, verstaatlichte Tätigkeiten in die Hände einer öffentlichen Korporation zu legen, die einem Minister verantwortlich ist und die Anweisung erhält, finanziell glatt <durchzukommen>. Solche Korporationen, die betont kommerziell geführt werden, erweisen sich sicherlich als wirksamer; die britischen Erfahrungen weisen aber darauf hin, daß sie viele der in der Privatindustrie üblichen Sünden begehen, die die Verstaatlichung eliminieren sollte; wegen ihrer Monopolstellung sind sie aber noch schwerer zu kontrollieren. 

Die Zentrale Britische Elektrizitätsgesellschaft ist wegen ihrer vielen Versuche berüchtigt, Hochspannungskabel durch grüne Zonen, Nationalparks und viele andere Gebiete von ausnehmender Schönheit zu legen. Sie hat manchen Rechtsstreit gegen lokale Gruppen, die zum Schutze der Umwelt gegründet wurden, mit genau so viel Verbissenheit durchgeführt wie die Privatindustrie; sie hat auch keinerlei Skrupel gezeigt, Pläne geheim durchzuführen oder die Opposition durch juristische Kniffe zu zermalmen. Als die Stahlindustrie verstaatlicht wurde, versuchte sie Bauten zu errichten, die ausschließlich von technischen Ingenieuren geplant und so häßlich waren, daß die beratenden Architekten sich weigerten, ihre Zustimmung zu geben; die Folge waren lange Kämpfe, die genau so erbittert waren wie die mit den reaktionärsten privaten Konzernen, um wenigstens einige Konzessionen im Sinne der Öffentlichkeit zu erhalten.

Ein Hauptfehler im sozialistischen Denken zeigt sich in der Annahme, daß derartige Direktorien der Öffentlichkeit gegenüber herangezogen werden könnten, indem man sie einem Minister gegenüber verantwortlich macht, und daß gelegentlich eine Debatte im Unterhaus erfolgt. Die Mitglieder des Unterhauses sind zum größten Teil nicht hinreichend über die Probleme von Kohle, Stahl, Gas, Elektrizität, Eisenbahnen, Straßen und Lufttransport, Post- und Computerdienst und so weiter informiert, als daß sie unfehlbar Mängel in der Leitung entdecken könnten, ehe diese schwerwiegend geworden sind. Wie wäre das auch möglich? Und wie können sie einen neuen Block von Fachkenntnissen über Nacht erwerben und zwar jedesmal, wenn eine neue Verstaatlichung durchgeführt wird? 


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Das Versagen des britischen Plans, in Afrika Nüsse anbauen zu lassen, hätte hier eine Warnung sein sollen: der Plan schlug wegen der Fehler des Managements fehl — das wurde jedoch erst erkannt, als der Fehlschlag bereits katastrophale Ausmaße angenommen hatte. (Ein weiteres Beispiel ist das US-Weltraumlaboratorium der US-Armee, das sich nie vom Boden erhob.)

Wir können die Fehler der Bürokratie wie folgt zusammenfassen: 

Tatsächlich sind die Lösungen, die von der Rechten wie von der Linken angeboten werden, sehr armselig, wir können bestenfalls die eine oder die andere anwenden, wie es die Umstände ergeben. Wo es sich um ein uniformes Produkt handelt und die Verteilung unvermeidlich monopolistisch ist, wie das etwa bei der Elektrizitätsversorgung der Fall ist, funktioniert der verstaatlichte Betrieb im Großen und Ganzen besser als ein Privatbetrieb. Wo aber das Produkt keineswegs uniform ist, weil der Geschmack weithin verschieden ist (wie etwa bei Gastronomiebetrieben), ist das private Unternehmen vorzuziehen, selbst wenn dadurch einige Restaurants hygienisch nicht einwandfrei sind und einige zu hohe Preise verlangen werden. Gerade die Tatsache, daß sowohl die Rechte wie die Linke glauben, sie hätten befriedigende Lösungen anzubieten, macht ihre Lösungen so unbefriedigend. Wir müssen hart arbeiten, um beide so zu kontrollieren, daß wir sie vor Fehlern bewahren.

Der beste Weg scheint es daher zu sein, die beiden zu kombinieren, den Bürokraten durch eine Prise Konkurrenz aufzuputschen und den Geschäftsmann durch Vorschriften zu bremsen. Was uns daran hindert, unseren Einfallsreichtum zur Verbesserung der sozialen Wirksamkeit beider Systeme einzusetzen, ist unsere Vernarrtheit in das Prinzip. Damit gepaart ist der tiefverwurzelte Mensch, alles zu zentralisieren.


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Der Untergebene gibt Entscheidungen auf der Leiter der Hierarchie nach oben, um die Verantwortung zu vermeiden; der Mann an der Spitze hat das Gefühl, daß die Entscheidungen nicht richtig gefällt werden, wenn er sie nicht selbst trifft. Das mag wahr sein, geschickte Manager wissen jedoch, daß ein solcher Kurs eher zu einer Überlastung und zu mehr Unwirksamkeit führt, als wenn die Entscheidung bereits dezentralisiert wäre. Politiker erkennen das nicht und unterhöhlen dauernd die Macht lokaler Behörden und der Ausführungskörperschaften. 

Warum sind dann die Bürger so von diesen Mythen besessen? Die Antwort ist wichtig. 

Jeder repräsentiert einen Versuch, die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, zu vermeiden und daher auch die Verantwortung für fehlerhafte Entscheidungen. Wenn in der privaten Unternehmerschaft eine Firma bankrott macht, fragen wir nicht: ist es sozial wünschenswert, daß das geschieht? Wir sagen lediglich: »Sie konnte nicht mithalten.« Die grundsätzliche Unangemessenheit dieses Arrangements zeigt sich, wenn offensichtlich wichtige Unternehmen bankrott machen, wie es kürzlich in Großbritannien im Fall von Rolls Royce und der Clyde Werft geschah; in solchen Fällen müssen wir uns den Tatsachen stellen und eine Entscheidung treffen, ob wir die betreffenden Firmen retten wollen.

Die Lösung der Linken erkennt die Schwäche dieser Methode an, versucht aber, die persönliche Verantwortung zu verringern, indem sie eine kleine Zahl von Personen auswählt und ihnen ein Buch mit Vorschriften gibt, nach dem sie die Entscheidungen treffen können — wir nennen diese Menschen Bürokraten. Als nächsten Schritt wird man Computer verwenden, die mit allen Vorschriften gespeist werden; der Bürokrat entgeht dann der Verantwortung, indem er erklärt: »Mein Computer hat mir das so gesagt.« Computer werden auf eine gewisse Art einen Vorteil gegenüber den Bürokraten darstellen, da sie detailliertere Systeme von Vorschriften handhaben können und dadurch auch mehr für Ausnahmefälle zuständig werden. Andererseits werden sie auch noch absurdere Resultate zuwegebringen, wenn sich Situationen ergeben, die in dem Vorschriftenbuch noch nicht vorgesehen sind, ganz zu schweigen von den unvermeidlichen mechanischen und Programmierungsfehlern.


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Beide Systeme verzichten auf das menschliche Element. Nur das menschliche Gehirn kann jede Situation in menschlichen Begriffen bewerten und die emotionellen und sentimentalen Elemente einer Situation abwägen. Wir können — außer um den Preis der Unmenschlichkeit — das Treffen von Entscheidungen nicht Maschinen oder maschinenartigen Mechanisten übertragen. Statt dessen müssen wir diese Entscheidungen zerstreuen und durch die ganze Bevölkerung dezentralisieren. Allein das ist Demokratie.

Der wachsende Vertrauensverlust ergibt sich jedoch nicht aus den veralteten Vorstellungen über Ziele und Mittel. Die Institution selbst steht unter Beschuß.

   

  3  Der Vertrauensverlust   

 

Die wachsende Unzufriedenheit mit den Regierungen als solchen hat zwei Hauptursachen. Die erste ist das unreife und unverantwortliche Verhalten einiger Mitglieder der Regierung — ganz zu schweigen von einfacher Dummheit und Vorurteilen. Wenn Mitglieder des Unterhauses, dieser <Mutter der Parlamente>, einander physisch angreifen oder auf die vulgärste Art beschimpfen, untergraben sie das Prestige der ganzen Institution. 

Mitglieder des Parlaments neigen (in jedem Land) dazu, sich als <Klub> zu fühlen, sie vergessen nur allzu oft, daß die scharfe Erwiderung, die zur gegebenen Zeit so wirksam erscheint, sehr billig aussehen wird, wenn die Presse am nächsten Tag darüber berichtet. Außerdem stellen sie oft ihre Unwissenheit bloß, indem sie über Themen debattieren, die sie nicht studiert haben. (So kritisieren Parlamentsmitglieder in Großbritannien oft öffentliche Korporationen deswegen, daß sie Dinge nicht tun, die ihnen durch ein Gesetz verboten sind, und zwar durch ein Gesetz, das durch die gleichen Parlaments­mitglieder gebilligt wurde.)

Schlimmer als Verantwortungslosigkeit und Unwissenheit ist jedoch Schikane, ein Ausdruck, den ich wähle, um ein Verhalten zu bezeichnen, das ausgesprochen unmoralisch ist, besonders wenn es den demokratischen Prozeß selbst verhindert. 


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Die Geschichte der Politik ist eine lange Kette von politischen Manövern voller Umwege. Das ist etwa der Fall, wenn sich Parlamentsmitglieder in die Kammer drängen, um auf Verabredung eine Maßnahme durchzudrücken, die bei einer offenen Debatte abgelehnt worden wäre — oder wenn gesetzliche Maßnahmen durch technische Tricks zu Fall gebracht werden. Dann reibt sich der Berufsparlamentarier vor Freude über ein geglücktes Manöver vergnügt die Hände. Vom Standpunkt der Öffentlichkeit aus sind derartige Intrigen verächtlich, sie dienen lediglich dazu, die niedrige Meinung der Öffentlichkeit über die Moral und die Interesselosigkeit ihrer Vertreter zu bestärken.

Gewählte Volksvertreter — und ich bin vielen begegnet — sind davon überzeugt, daß sie bei der Öffentlich­keit in hohem Ansehen stehen und daß sie eine solide Arbeit verrichten. Sie wären entsetzt, wenn sie erführen, wie gering man mancherorts von ihnen denkt. Ralph Borsodi sagt in seinem Buch <Prosperity and Security>, daß erfolgreiche Politiker entweder Katzen oder Pfaue sind. Die, die ich kennengelernt habe, waren fast ausschließlich Pfaue — und zwar ziemlich mitgenommene Pfaue.

Der zweite Grund für den Verlust des Vertrauens ist subtilerer Natur: er kann als der Glaube zusammen­gefaßt werden, daß die Regierungen — und die Bürokraten, die ihnen dienen — existieren, <um für das Volk etwas zu tun>. Mit anderen Worten, der durchschnittliche Volksvertreter hat über die einer demokratischen Regierung zugrunde liegenden Prinzipien oder die Art der Funktion, für die er gewählt wurde, nicht nachgedacht.

Parlamente sind keine Körperschaften der Exekutive. Die Volksvertreter besuchen sie, um die Ansichten derer auszudrücken, die sie vertreten, um zu erfahren, was die Exekutive vorschlägt und um den Wählern die Gründe zu übermitteln, die von der Exekutive zur Rechtfertigung ihrer Vorschläge vorgetragen werden. Die Macht ist aber selektiv, und die Parlamente haben in jedem Land versucht, Funktionen der Exekutive zu übernehmen — und zwar mit beträchtlichem Erfolg. Des weiteren haben sie in ihrem Hunger nach Macht den Prozeß der örtlichen und untergeordneten Autoritäten unterhöhlt: das heißt, sie haben die Macht zentralisiert. Sie haben auch Gesetze gebilligt, die ihnen — gegen die bestehenden Gesetze — neue Macht übertragen haben (zum Beispiel Zwangsenteignung von Land, willkürliche Verhaftungen, die Bildung einer Geheimpolizei oder polizeiähnlicher Organisationen).


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Die Funktion der Regierung ist es nicht, <für die Menschen etwas zu tun>, sondern das Volk zu konsultieren, was es getan haben will, sich seiner Billigung und Unterstützung bei eventuell wünschenswerten Plänen zu versichern, geteilte Meinungen, wo sie existieren, zu versöhnen und nicht die Opposition zu überrennen. Regierungen sollten in erster Linie Agenten und Mediatoren und nicht <Autoritäten> sein.

Stattdessen arbeiten sie ihre Pläne im Geheimen aus. Anträge werden unaufhörlich der Öffentlichkeit als faits accomplis vorgesetzt. Die Zeit, die für die Mobilisierung der öffentlichen Meinung zu solchen Plänen eingeräumt wird, wird oft absichtlich unmöglich knapp bemessen. Prüfungskommissionen können solche Meinungen erwägen, sind jedoch nicht dazu verpflichtet — oder, falls sie verpflichtet sind, sie in Erwägung zu ziehen, sind sie nicht gezwungen, sie zu beachten. Langsam wurde ein ganzer Gesetzeskörper entwickelt, um die Öffentlichkeit an ihrem Platz zu halten.

Eine der Mythen, durch die Regierungen ihr undemokratisches Verhalten zu rechtfertigen scheinen, ist die des <Mandats>. Mandat, so behaupten sie, heißt, daß sie durch ihre Wahl beauftragt sind, jeden Vorschlag ohne weitere Diskussion in die Tat umzusetzen, der nur irgend in ihrer Wahlerklärung enthalten gewesen sein mochte.*

In Wirklichkeit werden viele für die Regierung gestimmt haben, weil sie ein oder zwei Hauptpunkte ihrer Vorschläge billigten — es mag sehr wohl andere Vorschläge geben, die für die Mehrzahl ihrer Anhänger völlig unannehmbar sind. Andere werden bloß deshalb für sie gestimmt haben, weil sie die Vorschläge ihrer Gegner für noch viel zweifelhafter hielten.

*  Für die Zwecke dieser kurzen Erörterung war es nicht möglich, so sorgfältig, wie ich es gewünscht hätte, zwischen Parlament, Parteien, individuellen Abgeordneten, Exekutiven oder »Regierungen« zu unterscheiden, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die Strukturen in jedem Land etwas anders sind und ich versucht habe, in Begriffen zu schreiben, die universell anwendbar sind. Das gilt auch für die Bürokratien.


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Häufig werden die Wähler in jedem Fall eher für den Mann als für die Politik seiner Partei stimmen. Das Gerede vom >Mandat< ist großer Unsinn, es wird lediglich vorgebracht, um das Weglassen des Konsultationsvorgangs zu rechtfertigen, der den Kernpunkt der Demokratie bildet und den bescheidenere Menschen instinktiv übernehmen würden.

Tatsache ist jedoch, daß viele Bürokratien nicht nur an sich arrogant und diktatorisch sind, sondern daß sie auch den Wähler oder Bürger unterschätzen. Sie halten ihn für unwissend, voreingenommen oder apathisch. Heute sind die Bürger aber besser informiert und nachdenklicher als je zuvor. Viele sind in steigendem Maß über ihre Unfähigkeit gereizt, ihre Standpunkte durchzusetzen. Viele Menschen haben mir gesagt: »Ich verlange nicht nach Macht. Ich erwarte nicht, daß meine Ansichten sich notwendigerweise durchsetzen werden, aber ich möchte das Gefühl haben, daß man sie wenigstens ernstlich in Betracht zieht. Wenn die Regierung (oder die Lokalbehörde oder Regierungsabteilung), nachdem sie alle Standpunkte erwogen hat, immer noch der Ansicht ist, sie habe trotzdem recht, werde ich diese Entscheidung akzeptieren.«

So ist es nicht die Machtlosigkeit, die den Bürger aufbringt (wie man oft sagt), sondern die Tatsache, daß er als Individuum nicht beachtet wird. Das verletzt noch viel mehr.

Die politische Geschichte im Westen zeigt uns eine stetige Entwicklung der Macht von der ursprünglichen Diktatur oder dem Königtum von Gottes Gnaden zu einem auf Wähler basierenden System, das immer weiter verbreitet wurde, zuerst von den Landeigentümern auf alle Männer, dann auf die Frauen und schließlich auf Heranwachsende. Dieser Prozeß wurde durch die Entwicklung anderer >Machtzentren< — in erster Linie der Gewerkschaften — ergänzt, die fähig sind, die Regierungsentscheidungen zu beeinflussen. Das Anwachsen offener Interessengruppen ist ein weiterer Schritt in diesem langen Prozeß.

Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß die Entwicklung bei diesem Punkt anhalten wird. Die Macht wird immer weiter verteilt werden. Jetzt ergibt sich die Frage, ob die Parlamente nicht vielleicht schon im Abstieg begriffen sind. Ist die Wahl von Vertretern noch eine gültige Lösung?


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Diese Form entstand in einer Zeit, als die Bestimmung von Vertretern die einzige Möglichkeit bot, um die öffentliche Meinung nach oben zu übermitteln. Heute gibt es bessere Methoden, man könnte auch noch andere entwickeln, analog zu den Methoden, die man anwendet, um Fernsehprogramme in den USA zu bewerten. Der Wähler stimmt nicht nur bei Staatswahlen für einen bestimmten Kandidaten, er stimmt auch über verschiedene Fragen ab (zum Beispiel ob man die Kraftfahrzeugsteuer dazu verwenden sollte, um bessere Transportsysteme zu schaffen).

Das Parlament ist nicht nur ein unwirksames Instrument, um die Meinung zu testen, es ist (besonders in Großbritannien) als Gesetzgebungsmaschine unglaublich archaisch. Von der Zeit, die damit vergeudet wird, daß man bei Abstimmungen den Saal verläßt und wieder betritt — während das elektronisch in Sekunden geschehen könnte — bis zu der viel größeren Zeitverschwendung bei der Diskussion von Maßnahmen, die am Ende der Sitzungsperiode fallen gelassen werden, um in der nächsten Periode wieder aufgenommen zu werden, ist das ganze System pathetisch. (Das ist ein weiterer Grund für die Verachtung, die man für die Parlamente hegt, und der Stolz, den Mitglieder für >die Tradition des Hauses< empfinden, erscheint den meisten Außenstehenden einfach lächerlich.)

Parlamentarier neigen auch zu der irrigen Annahme, der Weg, ein Problem zu lösen, sei der, ein Gesetz zu erlassen. Gesetze sind jedoch bedeutungslos, wenn sie nicht durchgesetzt werden können oder durchgesetzt werden. Oft wird die Entscheidung, ob ein Gesetz durchgesetzt wird oder wie energisch das geschieht, von Polizeipräsidenten vorgenommen, die gegen den Druck aus der Öffentlichkeit praktisch immun sind. (Das war in England bei den Gesetzen gegen lärmende oder Unruhe stiftende Fahrzeuge der Fall.) Und — wie es der Fall Nordirlands beweist — können nicht einmal die vereinigten Bemühungen von Polizei und Armee Gesetze durchführen, denen sich eine entschlossene Minderheit widersetzt, ob das nun zu Recht oder zu Unrecht geschieht. 

Eine Regierung ist nur auf einer Basis der Übereinstimmung — oder mehr noch der Unterstützung — möglich. Es ist die erste Aufgabe jedes Parlaments­mitglieds, eine solche Unterstützung herbeizuführen. In Wahrheit besitzen die Menschen letztlich sehr viel Macht, eine Tatsache, die ihnen nur allmählich bewußt wird. 

Die Zukunft wird, dessen bin ich mir sicher, entweder eine erfolgreiche Umwandlung der Regierung in eine Körperschaft erleben, die der Auslegung, Versöhnung und Zügelung der Macht fähig ist, erleben — oder anderenfalls eine Anarchie, der die Diktatur folgt.


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  4 <Geschlossene Gesellschaft>  

 

Wenn dann die Ziele der beiden politischen Hauptgruppierungen keine Zustimmung finden, wenn die Mittel zu diesen Zielen unwirksam sind und wenn die Parteien selbst kein Vertrauen oder Respekt inspirieren, ist die Lage trist. Um das alles noch schlimmer zu machen, ist es außerordentlich schwierig, die existierenden Parteien zu entmachten. In jedem Land haben die bestehenden Parteien — in verschiedenem Maß — eingesehen, wie wünschenswert es (von ihrem Standpunkt aus) ist, wenn keine andere Partei sich einmischt; sie haben überall Schritte unternommen, um das so schwierig wie möglich zu machen. In den Vereinigten Staaten ist das vor allem dank der ungeheuren Kosten einer Kandidatur für ein politisches Amt und besonders für das des Präsidenten zustande gekommen. Die Kosten sind gegen die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren ungeheuer gestiegen und zwar vor allem, weil es nötig ist, Sendezeiten im Fernsehen zu kaufen.

In Großbritannien ist das Haupthindernis anderer Natur. Das wurde bei der Wahl von 1964 deutlich, als die Liberale Partei nur um wenige Tausend Stimmen weniger errang als die siegende Partei, aber nur sechs von den 316 Sitzen im Unterhaus, also etwa zwei Prozent erhielt. Es ist vollkommen richtig, daß eine Kammer, die aus einer großen Zahl leicht divergierender Gruppen besteht und in der keine Gruppe die Mehrheit besitzt, dazu tendiert, ein Schauplatz der Intrigen und der wechselnden Treuebindungen zu werden, und daher keine entscheidende Politik entwickeln kann. Das ist das Hauptargument gegen Instrumente wie eine proportionale Vertretung. 


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Unglücklicherweise hat das Verhältniswahlrecht auch die Wirkung, daß es eine geschlossene Gesellschaft produziert; als Ergebnis können die bestehenden Parteien den Kontakt zur Bevölkerung verlieren, ohne Macht einzubüßen. Die Wähler können für sie stimmen, weil die andern noch schlechter sind, oder sie stimmen für eine Partei, die nicht an der Macht ist, mit der Begründung, daß die Partei einen Teil des Schadens ausgleichen könnte, den die an der Macht befindliche Partei anrichtet. Oder sie können in Apathie versinken und eine Wahl überhaupt ablehnen.

Tatsächlich haben die Bürger, obwohl sie es selten erkennen, einen Ausweg: sie können ihre Wahlzettel ungültig machen. Politische Manager haben ein ziemlich feines Gefühl für Antipathien: sie erwarten, daß enthusiastisch für ihre Partei gestimmt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine politische Partei je den Mut hat, Wahlen zu gestatten, die Stimmen dagegen zulassen, so wünschenswert eine Reform dieser Art auch wäre; sie können aber nicht verhindern, daß Stimmzettel ungültig gemacht werden, und wenn sie konsequent ungültig gemacht werden, wäre die Botschaft klar genug.

Einen Wandel herbeizuführen, bedeutet nicht nur eine politische Rekonstruktion, sondern auch eine Rekonstruktion der Ideen. Es ist nicht so, daß die Menschen gegen den Paraprimitivismus sind, sie tun aber Dinge, die damit unvereinbar sind. Bestehende Dogmen müssen zerschlagen werden oder die neue Idee erstickt wie eine wertvolle Pflanze inmitten von Unkraut.

  

    5  Falsch-Denken und Nicht-Denken    

 

Ideen sind von einer außergewöhnlichen Persistenz. Wir wiederholen Schlagworte viele Jahre lang und erwachen dann plötzlich zu der Erkenntnis, daß das, was wir sagen, schon lange keinen Sinn mehr hat. Im Augenblick fängt die westliche Welt überhaupt erst an, sich über die Doktrin des wirtschaftlichen Wachstums ernstlich Gedanken zu machen. <Mehr ist besser> — ist das wirklich so? Bald wird dieser Slogan so veraltet sein wie der vom Gottesgnadentum der Könige. Bis jedoch dieser Augenblick der Wahrheit kommt, ist ein Wandel unmöglich: Ideen blockieren den Fortschritt wirksamer als Stahltüren. Auf solche Ideen werde ich mich — mit einer Verbeugung vor George Orwell — als <Falsch-Denken> beziehen.

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Fast genauso hinderlich ist jedoch etwas, über das sich Orwell nicht geäußert hat. 
Ich möchte es <Nicht-Denken> nennen. 
Damit meine ich, daß sich einige gesunde Ideen einfach nicht vom Boden erheben können. 

Ein Beispiel aus der Gegenwart ist der Naturschutz. Seit einem halben Jahrhundert hat man die Wichtigkeit des Naturschutzes — oder um einen smarteren, verchromten Ausdruck zu gebrauchen — des <Schutzes des Ökosystems>, gepredigt. Aber erst in den letzten zwei oder drei Jahren ist die Idee politisch wirksam geworden. 

Man könnte ein ganzes Buch über das Falsch-Denken und das Nicht-Denken schreiben mit einem Anhang über das Doppel-Denken: ein Kompendium über die geistige Starrheit unserer Zeit

Ich zweifle nicht, daß es ein langes Kapitel über Klassen und Status enthalten würde und ein weiteres über das, was die Jungen glauben, wie etwa, daß niemand über Dreißig je Mitleid empfand oder den Versuch unternahm, das soziale System zu verbessern. Es würde auch Kapitel über den Marxismus, Behaviorismus, Eskapismus und so weiter enthalten.

In dem Abschnitt über das Nicht-Denken würde das Buch ein Kapitel über die kommende Revolution unserer Haltung gegenüber der geistigen Gesundheit enthalten — ich verwende dieses Wort, um damit alles von der Geisteskrankheit bis zu Rassenvorurteilen, von der sexuellen Besessenheit bis zum Verlust der Lebensfreude zu erfassen. Es ist mir unbegreiflich, warum wir geistige Krankheit weiterhin als sekundäres Problem geringeren Ausmaßes behandeln und ihm nur einen so geringen Teil unserer Mittel widmen sollten, verglichen mit den Mitteln, die wir für die physische Gesundheit und weit weniger wichtige Dinge aufbringen. 

Ein Dreivierteljahrhundert ist verstrichen, seit Freud damit begann, unsere Hemmung, diesen unangenehmen Realitäten ins Auge zu blicken, zu untergraben; in der Zwischenzeit hat sich aber das Auftreten von geistigem Streß vermehrt, und die Streßsituationen sind größer geworden. 


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Das scheint gerade der richtige zeitliche Abstand, daß die Politiker für dieses Problem aufwachen sollten. Letzten Endes erzeugen die Frustrationen, Aggressionen und das Fehlen eines sozialen Gewissens soziale Probleme (man denke an Nordirland), mit denen Politiker fertig werden müssen — falls sie das können.

Natürlich kann ich mir die Reaktion vorstellen. Seit 1919 versucht man den Politikern die Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften beizubringen; es wird bis 2019 dauern, bis sie die Psychologie erlernt haben. Und bis dahin werden sie bereits unter Druck stehen, die Sozialwissenschaften zu erlernen. Es ist nämlich eine nicht weniger dringende Aufgabe, genug über unsere Gesellschaft zu wissen, um zu verhindern, daß sie unter dem Druck, den die Technologie erzeugt, noch weiter auseinanderfällt. Die soziale Gesundheit ist untrennbar mit der geistigen Gesundheit verwoben.

In dem Kapitel über soziale Gesundheit in meinem imaginären Opus wird es einen wichtigen Abschnitt über die Vermittlung der Kultur geben. Alles, was wir sind, verdanken wir dem, was wir aus der Vergangenheit lernen — wie es die gelegentlichen Fälle von wilden Kindern zeigen, die durch Wölfe erzogen wurden und wie Tiere blieben. Einige Teile der Kultur (ich brauche das Wort in dem anthropologischen Sinn der Gesamtheit all dessen, was wir wissen, glauben und praktizieren und nicht bloß im Sinn guter Manieren oder des künstlerischen Bewußtseins) werden natürlich durch das Erziehungssystem vermittelt. Andere werden in der Familie vermittelt (oder sollten das wenigstens) und diese werden armselig übertragen. Oft versucht das Erziehungssystem, die Lücke mit Kochkursen, mit Wertbegriffen oder Etikette auszufüllen — aber dieses verbale und begriffliche Lernen kann das Lernen-durch-Tun in der Familiensituation nicht ersetzen. Im Augenblick wissen wir nicht einmal, was vermittelt wird und was nicht.

Was noch viel schlimmer ist, wir vertrauen einen großen Teil der Vermittlung der kommerziellen Propaganda und der Reklame an, die sie korrumpiert und entkräftet.

Die Gesellschaft demonstriert auch, welche Werte sie bewundert, und zwar dadurch, wie sie ihren Lohn verteilt. Unsere Gesellschaft belohnt erfolgreiche Produzenten von Waren und Dienstleistungen verschwenderisch, indem sie sowohl viel Geld bekommen, als auch mit Titeln und Auszeichnungen geehrt werden. 


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Viel weniger verschwenderisch ist sie gegenüber Gelehrten, Künstlern und schöpferischen Menschen. Die US-Behörden beschäftigten zum Beispiel niemals ihren großen Architekten Frank Lloyd Wright in irgendeinem Gemeinschaftsprojekt, obwohl er ihnen ständig zusetzte. Wie Paul Goodman, der sich an diese Tatsache erinnert, bemerkt, würden nur wenige große Männer unserer Zeit an dem Personalabteilungs­leiter vorbeikommen, wenn sie sich um eine Anstellung bei einer großen Gesellschaft bewerben würden. Bertrand Russell (Vorstrafen? Freidenker?), Gandhi (Gefängnisstrafe? Unmögliche Aufmachung?), Bernard Shaw (Vegetarier? Naseweis? Sozialist?), Picasso (kein stabiles Familienleben), Churchill (trinkt?).

Schlimmer noch, die Gesellschaft belohnt nicht die Tugend. Wahrhaftigkeit, Integrität, Unabhängigkeit, Nützlichkeit für die Öffentlichkeit werden nicht belohnt, wohl aber sehr oft ihre Gegenteile. Weit davon entfernt, den guten Bürger zu belohnen, wird der gute Bürger oft durch Scheinangriffe verfolgt. Ein US-Senator enthüllte, wie ein Junge mit ausgezeichneter Vergangenheit wegen >seines schlechten Rufs< von der US-Marine abgelehnt wurde. Wie sich herausstellte, hatte er einmal einen Strafzettel wegen eines Parkvergehens erhalten; allerdings hatte er zu dem Zeitpunkt seinen Wagen nicht selber gefahren. Ähnlich kann jemand, dem einmal als Verdächtigem Fingerabdrücke abgenommen wurden und der dann als unschuldig freigelassen wurde, von dieser Sache auf ewig verfolgt werden, wenn sie einmal in seinen Personalpapieren steht.

Ich zitiere diese Fälle nur, um ganz allgemein festzustellen, daß sich viele Ursachen der sozialen Unzufriedenheit aus sozialer Zusammenhangslosigkeit einer Art ergeben, über die die Politiker nur sehr wenig nachdenken. Sie können vielleicht bereit sein, sich spezifischer Fälle von Ungerechtigkeit anzunehmen, wenn man sie darauf aufmerksam macht, sie vermeiden es jedoch, die sozialen Faktoren zu erwägen, die solche Ungerechtigkeiten herbeiführen. Es ist aber ihr Beruf, das zu tun.

Wenn das Nicht-Denken das Haupthindernis für den Fortschritt ist, so bildet das Doppel-Denken die Bremse am Rad. Die Geschäftsleute, die die Vorzüge des Preismechanismus in den Himmel loben, während sie stetig ein Monopol anstreben, oder die Sozialisten, die versuchen, universelle Probleme, wie die Umweltverschmutzung, als Klassenfragen zu präsentieren, sind beide einer Unehrlichkeit schuldig, die deshalb nicht weniger tadelnswert ist, weil sie ihnen nur halb bewußt ist.


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  6  Ein politisches Programm  

 

Politiker irren sich katastrophal, wenn sie glauben, die wachsende Unruhe der Wählerschaft sei nicht mehr, als daß der gebildete Bürger >seine politischen Muskeln recke<. Die wirkliche Frage besteht in dem Versagen der Regierungen; sie erkennen, daß die alten Ziele im Sterben liegen und daß ein völlig neues Programm, das mit den Begriffen der Qualität des Lebens und der Gelegenheit zur Selbstrealisierung verknüpft ist, immer dringender gefordert wird.

Wie können wir Gruppenbewußtsein, und Gruppenverantwortung unter den Bedingungen des modernen Lebens wirksam gestalten? Wie können wir eine psychologische Wachstumsgesellschaft an die Stelle einer wirtschaftlichen Wachstumsgesellschaft setzen? Wie können wir die Gemeinde und eine harmonische Beziehung zur Natur wiederherstellen? Wie können wir, kurz gesagt, unsere Beziehungen zur Natur, zur Zeit, der Gottheit, zu anderen Menschen und uns selbst wiederherstellen? Das sind die entscheidenden Fragen. Auf ihnen werden sich neue politische Bindungen formen, neue Parteien werden auftauchen und neue Schlagworte gedeihen. Als man einen vorsichtigen schottischen Pfarrer nach seinen Aussichten, Bischof zu werden, befragte, erwiderte er: »Es ist möglich, aber nicht wahrscheinlich.«


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In dem gleichen Geist möchte ich zusammenfassen, was wir tun sollten, wenn wir völlig vernünftig wären:

  1. Wir sollten versuchen, in unserem Leben die Komponenten des Weichen Ich wiederherzustellen, die wir gegenwärtig vernachlässigen. 

  2. Wir sollten versuchen, die Trennung zwischen Paternisten und Maternisten zu heilen, indem wir die gehemmten Paternisten auflockern, während wir die völlig ungehemmten Maternisten zurückhalten.

  3. Wir sollten versuchen, in der Arbeit und im Leben im allgemeinen die Elemente der Meisterschaft und der Selbstbestimmung wiederherzustellen, während wir die Konsistenz der Umwelt steigern.

  4. Wir sollten versuchen, die Gemeinde und ein funktionelles Statussystem wiederherzustellen.

  5. Wir sollten die Autorität und die Macht, einschließlich der industriellen und der kommerziellen Macht, dezentralisieren.

  6. Wir sollten versuchen, ein Gefühl der Identität wiederherzustellen und der Coca-Kolonisierung Widerstand zu leisten.

  7. Wir sollten den Übergang von der Jugend zum Erwachsenenalter durch geeignete Prüfungen und Zeremonien kennzeichnen.

  8. Wir sollten die gedankenlose Anwendung technologischer Neuerungen beschränken und das Tempo des Wandels zu mäßigen versuchen.

  9. Wir sollten das Gesetz ändern, das die Aktiengesellschaften reguliert, um ein pyramidenartiges Aufeinandertürmen von Macht und ein Ausweichen vor der Verantwortung zu verhüten.

  10. Wir sollten die gesetzgeberische Tätigkeit der Regierungen beschränken und ihre beratende, beaufsichtigende und vermittelnde Tätigkeit vergrößern.

  11. Wir sollten einen Hauptangriff auf klinische wie subklinische Geisteskrankheiten beginnen.

  12. Wir sollten große Anstrengungen machen, um den allgemeinen Maßstab der Kindererziehung zu verbessern, während wir die Forschung hinsichtlich der Aspekte vorantreiben, die noch rätselhaft sind.

*

Die Liste könnte mühelos verlängert werden, aber ich versuche nur die Art von Programm aufzuzeigen, das sich aus den Erörterungen der vorhergehenden Kapiteln ergibt. Man kann sofort erkennen, daß sich dieses Programm von dem aller bestehenden politischen Parteien radikal unterscheidet. Wenn es überhaupt Unterstützung finden würde, dann von Mitgliedern aller Parteien, die es dabei den anderen Mitgliedern dieser Parteien überlassen müßten, sich zu einer neuen Opposition zu verschmelzen.


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Das Programm würde natürlich sowohl von den Anhängern der Alten wie denen der Neuen Linie als reaktionär verdammt werden. Der Vorschlag, strengere Methoden zur Kindererziehung einzuführen, wäre besonders bei der <lauten> Jugend sehr unpopulär. Die Beschränkung der Technologie wäre bei den Wissenschaftlern und Technologen unpopulär, die Dezentralisierung des Geschäfts bei Industrie und Handel, die Wiedereinführung des gerechten Preises bei den finanziellen Institutionen, die Beschränkung der Macht von Regierung und Bürokratie würde auf den unversöhnlichen Widerstand von Regierungen und Bürokraten stoßen, während das pantheistische Element einen entsetzlichen Aufschrei der Kirche hervorrufen würde.

Und doch, und doch... Das ist das Programm, auf das sich die Welt — wenn zunächst auch noch blindlings — zubewegt. Darum geht es bei dem >Systembruch<. Das sind die Fragen, die sich, stückweise und von einander isoliert, langsam klären. Ich habe sie lediglich alle gleichzeitig auf den Tisch gelegt und ein helles Licht auf sie gerichtet, damit sie in einem unnatürlichen Schwarz und Weiß erscheinen.

Die Welt tastet nach einer neuen Arbeitsstruktur, einer neuen Wirtschafts-, einer neuen sozialen und einer neuen psychischen Struktur.

 

   7  Der neue Anarchismus   

 

Aber selbst eine <Unmaterialistische Partei> würde zusammenschrumpfen, wenn eine neue Verteilung der Macht Fortschritte macht — einer Macht, die wir den <neuen Anarchismus> taufen könnten.

Die natürliche politische Form für den weichen Egoisten ist der Anarchismus. Unglücklicherweise hat das Wort gleichzeitig die Bedeutung von Gewalt bekommen — besonders die des gewaltsamen Sturzes von Regierungen — dank der Bombenwerfertätigkeit von Vaterablehnern, die sich um die Jahrhundertwende der Bewegung anschlossen.


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Aber Anarchie bedeutet nicht <Kein Gesetz>, es bedeutet einfach <Kein Herrschen>, und das zentrale Dogma des Anarchismus lautet, daß man den allgemeinen Willen der Gruppe entdecken soll und daß Mitglieder der Gruppe ihre Unabhängigkeit aufgeben und den Konsens akzeptieren werden. Die Anarchisten sind verschiedener Meinung darüber, wie der allgemeine Wille festgestellt werden soll und unterschätzen im allgemeinen die Schwierigkeit dieses Problems in allen, außer den allerkleinsten Gemeinden. Die Väter der Bewegung — Männer wie Tolstoi — waren friedlich und kooperativ und neigten zu der Ansicht, daß jedermann so kooperativ ist wie sie oder das bereitwillig werden würde.

Die Vision geht ursprünglich auf Rousseau zurück, der der Meinung war, daß der richtig erzogene Mensch unfähig sein würde, eine Tyrannei einzurichten, und der den Schluß zog, eine Gemeinde könne einen Ausschuß wählen, der den allgemeinen Willen wirkungsvoll auslegen würde. So ist die Anarchie, richtig verstanden, die wahre Demokratie. Rousseau und seine Schüler irrten sich aber in ihrer Unterstützung der Schwierigkeit, Menschen >richtig< zu erziehen.

Die Erfolgsgesellschaft erhielt eine intellektuelle Untermauerung durch die Theorie vom >Überleben des Tüchtigsten<. Kropotkin argumentierte, daß die Natur in der Tat viele Beispiele wechselseitiger Hilfe aufweist, und er schloß daraus, daß die Gesellschaften, die auf Wechselseitigkeit gegründet sind, biologisch genau so gesund seien wie jene, deren Basis die Rivalität ist. In historischen Begriffen wird das Auftauchen des absoluten Staates durch das Auftauchen des absoluten Individuums gespiegelt. Die Staaten befassen sich notwendigerweise mit den Menschen als Individuen. So führte der Verfall der Wechselseitigkeit unvermeidlich sowohl zum modernen Absolutismus wie zum entfremdeten Individuum. Kropotkin, der versuchte, diesen Trend umzudrehen, forderte >weniger Vertretung und mehr Selbstregierung< — er prägte damit einen Slogan, den wir heute sehr wohl wiederbeleben könnten.

Des weiteren war die dezentralisierte Gesellschaft pluralistisch — das heißt, sie hatte viele Machtzentren, jedes befaßte sich mit einem spezialisierten Aspekt des Lebens — Arbeit, Gesundheit, Erziehung und so weiter — aber keine besaß die Macht über die Gesellschaft als Ganzes. So zerbrach der zentralisierte Staat die pluralistische Gesellschaft und >entrechtete< den Bürger, indem er ihm an Stelle der Teilnahme nur die Wählerstimme gab.


 7-  352

Kropotkin und noch mehr Landauer waren naive Optimisten: sie sahen nicht, daß eine kooperative Gesellschaft hinsichtlich ihrer eigenen kollektiven Interessen genauso egoistisch sein kann wie jedes beliebige Individuum; sie arbeiteten nie Methoden aus, um die Gemeinden erfolgreich zu koordinieren. Als Zeitgenossen des Viktorianischen Zeitalters waren sie auch durch den produktiven Aspekt hypnotisiert und neigten zu der Annahme, daß Gemeinden in erster Linie zur produktiven Arbeit organisiert seien. Die Geschichte zeigt, daß solche Gemeinden damit enden, daß sie wie kapitalistische Konzerne fungieren, wie es im Mittelalter mit den Bergbau-Kooperativen geschah.*

Wenn es einer Gesellschaft gelingen würde, im Sinn von Pluralismus, Dezentralisierung und so weiter einen Grad von Anarchismus zu erreichen, würden doch gewisse Funktionen bleiben, die eine Zentralregierung ausüben muß. Sie hat, wie ich glaube, eine Anzahl von Funktionen, von denen einige noch nicht realisiert wurden. Erstens muß sie, solange Nationalstaaten existieren, die Nation im Gespräch mit anderen Nationen vertreten. Zweitens muß sie echt nationale Fragen der Innenpolitik behandeln und den Teil der nationalen Mittel zur Verfügung stellen, der unvermeidlich national ist — die Streitkräfte und die Polizei, die Einrichtungen der Regierung selbst und vielleicht auch die Verwaltung der Justiz- und Gesundheitsdienste.

Die Hauptfunktion des Staates wird aber die eines Beraters und Vermittlers zwischen den verstreuten Brennpunkten der Macht sein, ob sie nun lokal geordnet oder für Ad-hoc-Zwecke gebildet wurden. Der Staat muß dafür sorgen, daß sie für die richtige Anwendung ihrer Macht verantwortlich sind und muß sie an einem Mißbrauch hindern. Er muß die individuellen Rechte und die Freiheit der Information schützen. Mehr noch, er muß seine Rolle als Hüter der nationalen Kultur, der Werte und der Identität entdecken — eine Rolle, die jetzt weitgehend verleugnet wird.

*  Martin Buber erzählt die historische Entwicklung dieser Ideen und ihre Perversion durch Marx und Lenin in seinem prächtigen Buch Pfade in Utopia.


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Die Sicherstellung, daß Entscheidungen auf der richtigen Ebene getroffen werden, ist vom organisatorischen Standpunkt die Schlüsselfrage in der Politik. Diejenigen, die an der Spitze stehen, sehen die Vorteile, die Entscheidungen an oder nahe an der Spitze zu fällen; die, die unten sind, möchten, daß sie weit unten getroffen werden. Wer ist objektiv genug, um die optimale Ebene zu bestimmen?

Schließlich wird die Zentralregierung eine Rolle bei dem bisher noch nicht gelösten Problem spielen müssen, internationale Brennpunkte der Macht sowohl in einer Zusammenarbeit zwischen den Regierungen wie in multinationalen Körperschaften zu beaufsichtigen. Bis zu dem noch fernen Tag, an dem eine rationale Struktur der politischen Macht auf supranationaler Ebene entwickelt werden kann, stellt die Kontrolle solcher Körperschaften ein großes, noch ungelöstes Problem dar und ihre Macht eine potentielle Gefahr für alle.

Die Aussichten einer wirklichen Dezentralisierung der politischen Macht scheinen noch in weiter Ferne zu liegen. Das Pendel schwingt wie üblich zu einem Extrem aus.

Genau so, wie das vor nahezu einem Jahrhundert geschah, beginnt die Gewalt wiederum, in die neue anarchistische Bewegung einzudringen. Wie es Michael Lerner von der Yale-Universität in einer wichtigen Studie über diesen Trend herausstellt, sind wir von dem >Alles, was ihr braucht, ist Liebe< der Beatles einen weiten Weg gegangen. Die Steve-Miller-Band singt: »Laßt mich euch Leuten sagen, daß ich einen neuen Weg gefunden habe — und ich bin all dieses Gerede von Liebe müde...«

Lerner sagt, zwei Charakteristika dieser Entwicklung sind »der Maßstab, in dem die Gewalt angewandt wird, und die Ansicht, daß der Gewaltakt der Rebellion irgendwie geheiligt sei«. Er berichtet, daß Charles Manson, der die Ermordung Sharon Tates und ihrer Freunde befohlen haben soll, für einige Gruppen — weit davon entfernt, verdammt zu werden — zu »einem Helden und Symbol der Revolte« geworden ist. 

Die Beliebtheit von Karate gründet sich auf diese Bewunderung der Gewalt, und Lerner stellt fest: »Ritualmorde und die ausdrücklich geheiligte Gewalt des Karate sind deutliche Beispiele für die Tatsache, daß diese Verwandlung der Gewalt vom Profanen zum Geheiligten tatsächlich stattfindet.«

Die Anarchie tendiert, wie ich glaube, deshalb dazu, in die Gewalt hineinzutreiben, weil das Versagen, ein Über-Ich zu bilden, keine Kontrollen für die Impulse des Es vorsieht. Nur das liebende Herz kann auf eine Kontrolle des Über-Ich verzichten. Ein Ausgleich muß aufrechterhalten werden.

Die Gewalt führt zu einer Verweigerung der Zusammenarbeit. Die in-group, die ein starkes Gefühl der inneren Gemeinschaft und dazu ein starkes der Nicht­gemein­schaft, ja Opposition in Beziehung zu anderen Gruppen besitzt, setzt in einem anderen Beziehungsrahmen einfach das nationalistische Schema wieder in Szene, das von den Nazis exemplifiziert wurde. Das ist eine sehr verwirrende Entwicklung.

Ist es möglich, das Tolstoische Ideal eines friedlichen Anarchismus wieder aufzugreifen?

Ein System, das Freiheit und Kontrolle ausbalanciert, ist nur möglich, wenn die Personen in diesem System ein ausgeglichenes Uber-Ich und Es besitzen. Die Gewalt wird jedes intellektuell abgeleitete System pervertieren, solange die Menschen in sich selbst Gewalttätigkeit beherbergen. Das wirkliche Feld der Politik liegt im Geistigen. Im Augenblick sehen wir uns der Gefahr einer Weiches-Ich-Philosophie gegenüber, die genauso übertrieben und überzogen ist, wie die Erfolgsphilosophie, die sie allmählich ersetzt.

Und wieder einmal bestehe ich darauf, daß man auf eine Mittelposition auf beiden Skalen abzielen sollte — und zwar nicht im Sinn eines Kompromisses zwischen gegnerischen Parteien, sondern in dem eines persönlichen psychologischen Ausgleichs. So langweilig eine Wiederholung sein mag: Die griechischen Philosophen hatten recht, als sie behaupteten, daß Mäßigung, Ausgeglichenheit und Harmonie die Basis des guten Lebens sind. 

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