Start    Quellen/Literatur

12 - Die Technomanen (Schluss)

Taylor-1972

1  Einleitung     2  Tempo des Wandels     3  Permanenter Wandel    4  Söhne und die Väter      5  Aktionspläne     6  Ultra-Gewalt und Revolution    7  Ist Glück möglich ?  

 

 

   1  Einleitung  

355-389

»Die Wände des Raumes pulsieren wie flüssiges Kristall. Die Einspeisung erfolgte von optischen Fasern und Lasern, alle von einem Computer. Der Gastgeber fragte seine Gäste: <Was wollt ihr?> Einer sagte: <Die Bahamas.> Ein anderer: <Hongkong.> Und ein dritter: <Paris im Frühling.> Der Gastgeber (vielleicht Macbeth, der den Geist Banquos erwartet) sagte: <Wir werden alles haben. Wir beginnen mit Paris.> Er beugte sich vor und drückte einen Knopf. Und schon waren sie dort.«

Ich kann mir den Rest der Geschichte vorstellen. Zwei oder drei weitere Wochen, in denen er die glorreiche Zauberlaterne seinen weniger erfolgreichen Freunden zeigt, ein frustrierender Abend im Haus eines noch erfolg­reichen Freundes (wo man auch den Mars bekommen kann) und dann wird das Wundergerät abgeschaltet. 

Eine Masse delikater und ingeniöser Instrumente, hergestellt aus seltenen Elementen, die der Erde entrissen wurden, Instrumente, bei denen die Spaltung von Atomen die Energie liefert, Verschmutzungsstoffe, die in den einen oder anderen Ausguß geschüttet werden. Tausende von Stunden menschlichen Nachdenkens und menschlicher Anstrengungen — und wozu das alles? Für das Spielzeug einer einzigen Stunde. 

Das ist aber noch keineswegs alles, denn wenn Macbeth schließlich tatsächlich nach Paris oder auf die Bahamas reist, wird der Schock der Neuheit dahin sein. Für eine echte Erfahrung hat er eine Pseudoerfahrung eingetauscht, und indem er Pseudoerfahrungen so dicht aneinander drängt, daß selbst sein Vermögen, auf Pseudoerfahrungen zu reagieren, abgestumpft ist, gewinnt er aus ihnen nicht viele Werte.

Der Absatz, den ich zitiert habe, stammt jedoch nicht aus einem zweitklassigen Science-Fiction-Roman, wie man vielleicht hätte vermuten können. Er stammt aus einem Industriemagazin unter dem gewagten Titel <Telekommunikation — ein Weltgehirn>. Der Artikel ist in der echten Erwartung geschrieben, die Menschen mit einem Verlangen nach den Wundern der Zukunft zu erfüllen. 

Ich meinerseits möchte dieses Gerät nicht einmal geschenkt haben. Solche Träume sind ganz einfach kindische Machtphantasien, die die Technomanen real machen wollen.

 

Die Technomanen beginnen eben zur Unterstützung ihrer Hartes-Ich-Werte gegen die Bewegung des Weichen Ich zu kämpfen. So erklärt das <Southwest-Research-Institute> in seiner Veröffentlichung <Tomorrow through Research> (unter dem Pseudonym Ned Ludd): »Es ist Zeit, die Neo-Luddisten zu demaskieren. Wir haben die Pflicht, einen Schwertstreich für die technologische Freiheit zu führen.« 

Um diesen Appell zu unterstützen, erklärt der Artikel: »Es ist Zeit, daß wir erkannten, wie dämonisch wir zur Suche nach der Wahrheit getrieben werden ... Sokrates hat es sehr gut ausgedrückt, als er sagte, daß ein unerprobtes Leben nicht lebenswert ist. Das einfache Leben ist auch nicht lebenswert. Wissenschaftler, Ingenieure, kurz jedermann sollte diesem Unsinn ein Ende machen.« 

Die Arroganz dieser Behauptung, die durch keinerlei Überprüfung der Tatsachen gestützt ist, verrät, wie unwissenschaftlich und wie emotionell die angeblich so rationalen Technologen sein können.

Eine frühere Ausgabe desselben Organs behauptet: »Wir befinden uns in dem Zeitalter der Neo-Luddisten, die den technologischen Rahmen der Zukunft zu zerschlagen suchen, weil die Maschine unserer Zeit für ihre schwachen Geister zu schnell läuft.«  

Wenn aber die Gehirne der Menschen so schwach sind, warum soll man sie dann unerträglichen Spannungen aussetzen? Die Technologie ist für die Menschen da und nicht umgekehrt.

356/357

Der Vorsitzende einer britischen Luftfahrtlinie und eines Marketing Instituts stellte die gleiche Frage vernünftiger, als er sagte: 

»Wenn wir wirklich lieber zu einer pastoralen Existenz zurückkehren oder Kuckucksuhren bauen als unsere Technologie und unsere Kommunikationen ausweiten wollen, dann sollten wir das wenigstens sagen; dann können einige von uns, die ihre Zeit in der Industrie vergeuden, die Kunst des Pflügens oder eine andere Tätigkeit lernen.«

Die technologischen Enthusiasten versprechen uns meilenhohe Städte, die eine Million Menschen aufnehmen, Städte, die auf dem Ozean (oder sogar darunter) schwimmen, Städte, die mit Plexiglas überdacht sind — kurz alles andere als ein Leben mit weiten Räumen, mit Bäumen, Tieren und Zeit zum Nachdenken, als ob sie in Wirklichkeit die Natur fürchteten und versuchten, sie auszusperren. Sie werden zu Unrecht Naturwissenschaftler genannt, weil sie in Wirklichkeit unnatürliche Wissenschaftler sind. Wenn sie, wie Philip Handler, der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaftler, sagen: »Die Wissenschaft ist fähig, unseren Traum zu erfüllen«, müssen wir erwidern: »Der Himmel verhüte das, denn euer Traum ist ein Alptraum und seine Erfüllung wäre die Hölle auf Erden.«

So beschreibt Handler den <amerikanischen Traum>: Zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft...

»...wird sich die Masse der Menschheit in Riesenstädten versammelt haben, sie wird in ungeheuren Häusern leben, umgeben von Parklandschaften, vielleicht überdeckt von Kuppeln, unter denen die Atmosphäre immer konstant bleiben wird... Jedes Individuum wird ein privates Zweiweg-Fernsehgerät und unmittelbaren persönlichen Zugang zu einem Computer besitzen, der als seine Nachrichtenquelle dienen wird, ein privat programmiertes Bildungsmedium, ein Gedächtnis und Verbindungsmittel zu der Welt im allgemeinen, wie der Bank, seinem Makler, den Vertretern der Regierung, den Einkaufsdiensten und so weiter... Die Masse der Arbeitskräfte wird dann in Tätigkeiten engagiert sein, die gegenwärtig mehr als Dienstleistungen denn als Produktion von Waren klassifiziert werden, die meisten von uns hegen gemeinsam einen derartigen Traum ... Das Wichtigste, was man über diesen Traum sagen kann, ist, daß man ihn sehr wohl verwirklichen kann.«


 1-358

Das ist genau das, wovor sich viele Menschen fürchten. Handler weiß nicht, daß die meisten Menschen keinen derartigen Traum haben. Nur extrovertierte Schuljungen werden von einer solchen Art von Wells'scher Zukunft eingenommen sein, einem Ideal, das um ein halbes Jahrhundert veraltet ist.

Ohne es zu wissen, legt Dr. Handler den Finger auf das wirkliche Problem, wenn er fortfährt: »Die biologische und physikalische Forschung kann uns gestatten, uns und unsere Welt umzuformen ... Es besteht wirklich keine Frage, ob der Mensch mit seiner Technologie leben kann. Die wirkliche Frage lautet, ob es der Mensch lernen kann, mit sich selbst zu leben.« Die Antwort darauf lautet: Er kann nicht lernen, mit sich selbst in einer von der Technologie besessenen Gesellschaft zu leben. Deshalb müssen wir die Technologie einschränken. Daher lautet auch die wirkliche Frage: Können wir mit den Technomanen leben?

Die Technomanen betonen auch die kurzfristigen oder offensichtlichen Gewinne, die ein technologischer Fortschritt bietet, während sie über die weniger unmittelbaren Nachteile schweigen, und die Werbung und die Massenmedien verbreiten diese Propaganda. So werden zum Beispiel die modernen Kommunikationen gepriesen, weil sie uns so viele Informationen bringen; aber ein Übermaß von Informationen verwirrt nur, es bringt input und Output aus dem Gleichgewicht und macht allen Reflexen ein Ende. Heute haben nur wenige Menschen Zeit, alles, was sie hören, auch zu absorbieren und in ihr Denken und Fühlen zu inkorporieren. Wir könnten wahrscheinlich mit weniger und nicht mit mehr Information auskommen.

Man kann das alles nur Technomanie nennen. Das Merkwürdige an dem Technomanen ist jedoch, daß er seinen Einsatz nicht auf das beschränkt, worüber er Bescheid weiß, wie das ein guter Wissenschaftler tun sollte, sondern überall munter herumtrampelt. So erklärt beispielsweise L. W. Branscomb, der Direktor des amerikanischen Patentamtes, in einem Artikel mit der Überschrift <Die Zähmung der Technologie>, daß die Technologie die »Macht verstreut« habe, während sie, wie jeder Politologe weiß, die Macht konzentriert und es so den Regierungen ermöglicht hat, viel größere Gebiete viel enger zu beherrschen.


1-359

»Das individuelle Eigenleben wird keineswegs von der Technologie bedroht, noch durch den Mantel der Anonymität verstärkt, wie er in der städtischen Gemeinde, also selbst einem Produkt der Technologie, zur Verfügung gestellt wird.« 

Angesichts der gegenwärtigen Befürchtungen hinsichtlich des Abhörens, der Datenbanken, der gesetzlichen Verpflichtung, Volkszählungen und andere Fragen zu beantworten, die durch Behörden gestellt werden, der immer mehr schwindenden Macht der Banken, die Angelegenheiten ihrer Kunden geheim zu halten, und so weiter ist eine Behauptung dieser Art so schrecklich ungenau, daß man sich fragen muß, wie ein Mann in einer öffentlichen Vertrauensstellung sie sich gestatten kann.

Aber selbst der Autor muß zugeben, daß die Technologie den Wandel »zu schnell und ohne wirksame Möglichkeiten herbeiführt, seine Auswirkungen zu debattieren«, obwohl er die Folgerung vermeidet, daß eine derartige Debatte dazu führen könnte, der Technologie eine Bremse einzulegen. Tatsächlich hält er die Technologie für wertvoll, »weil sie den Wandel herbeigeführt hat«, als ob der Wandel ein Selbstzweck sei.

 

Noch gefährlicher ist die Bereitschaft einiger Sozialwissenschaftler, in sozialen Angelegenheiten auf der Basis ihres Verständnisses eines beschränkten Teilgebiets allgemein ex cathedra zu sprechen. Ein besonders deprimierendes Beispiel liefert hier Professor Daniel McClelland von der Harvard-Universität, dessen Buch The Achieving Society sich allein damit befaßt, wie man das rivalisierende materialistische Schema der Erfolgsgesellschaft noch weiter vorantreiben kann. 

Er stimmt zu, daß wir, da die Mobilität der Arbeitskräfte ein primäres Erfordernis ist, die Familie unterminieren und hohe Scheidungs- und Wiederverheirat­ungs­quoten akzeptieren müssen. (Die Möglichkeit, daß das Familienleben genauso wertvoll oder noch wertvoller sein könnte wie die Produktivität, ist ihm dabei überhaupt nicht gekommen.)

*(detopia-2017:)   wikipedia  David_McClelland  1917-1998


  1-360

Nach McClelland müssen wir Kinder »von traditionellen Bindungen, wie der Treue zu den eigenen Eltern, befreien, die in einer modernen Gesell­schaft nur dazu dienen können, einen freien und wirksamen Fluß der Arbeitskräfte auf dem Markt zu verhüten«. Zwischenmenschliche Beziehungen sind einfach Geldtransaktionen, und er widersetzt sich der Vorstellung, einen Gegenstand einem Freund billiger zu verkaufen, als es »der Markt gebietet«. Er zieht die Fabrik-Industrie der Heimindustrie vor, weil dabei die Menschen leichter durch die Massenmedien zu beeinflussen sind. Er begünstigt Kriege, die seiner Ansicht nach sehr wohl eine bezeichnende Auswirkung auf das Verlangen nach Leistung haben können, indem sie autoritäre Väter von der Bildfläche entfernen; falls es nicht zu Kriegen kommt, empfiehlt er, daß Väter die Seefahrt oder eine andere Tätigkeit betreiben sollten, die sie von daheim wegholt.

(Wenn er etwas gründlicher gearbeitet hätte, hätte er feststellen müssen, daß das nicht unweigerlich den Drang nach Leistung steigert, der einzige Beweis, den er jedoch zur Stütze dieser Behauptung liefert, ist der, daß Telemach zu einem leistungsorientierten Sohn heranwuchs, während Odysseus in der Ferne kämpfte! Gewiß aber würde durch diese Methode das Auftreten von Homosexualität gesteigert werden.) 

Andere Methoden, um Menschen in die Erfolgsgesellschaft zu ziehen, die er ebenfalls vorschlägt, schließen die Reorganisation ihres Phantasielebens ein, indem man sie von Kindheit an eigens ausgewählten Märchen aussetzt und später einer anderen entsprechenden Literatur. »Ein Land oder wenigstens ein bedeutender Teil seiner Elite muß die wirtschaftliche Leistung dringend genug wollen, um ihr die Priorität vor anderen Wünschen zu geben«, sagt er, ohne auch nur zu bemerken, wie zweischneidig seine Bemerkung ist.

Als politische und wirtschaftliche Vorurteile reichen solche Ansichten auf Malthus zurück. Als Empfehlungen von einem Soziologen in einem offensichtlich wissenschaftlich gemeinten Werk, veröffentlicht von einem Professor an einer großen Universität des zwanzigsten Jahrhunderts, machen sie einen Kommentar einfach unmöglich.*

 * Genauso streng könnte Professor B. F. Skinners Beyond Freedom and Dignity (Jonathan Cape, 1973) kritisiert werden. Er ist der Ansicht, daß Freiheit und Würde überholte Ideen sind.


    1-361

Es ist offensichtlich, daß jeder Versuch, die Gesellschaft einer rationaleren Position zuzuführen, auf den hartnäckigen Widerstand nicht bloß industrieller und politischer Interessen und auf Unwissen, Vorurteile oder Egozentrik stoßen wird, sondern tatsächlich auch auf den Widerstand der intellektuellen Elite, deren primäre Aufgabe es dann ist, etwas Vernunft in den kochenden Sud der Verpflichtungen zu gießen. Natürlich ist nicht jeder Wissenschaftler ein Technomane wie Handler oder ein Liberaler aus dem neunzehnten Jahrhundert wie McClelland. Wissenschaftler sind aber im allgemeinen allzusehr dem verbunden, was ich die Harte-Ich-Position genannt habe. Da sie Wissen und Intuition so hoch bewerten, unterschätzen sie die Intuition, die Emotion und das <ozeanische Gefühl>. Viele von ihnen fürchten, was ihr eigenes Unterbewußtsein enthält, und haben sich daher davon gelöst.

Professor Thomas R. Blackburn, ein Chemiker, räumte ein, daß »einige unbestreitbar gefährliche Haltungen in der gegenwärtigen Stellung der Wissenschaft zur Natur existieren und daß sie in dem Maß, in dem sie vorhanden sind, Gefahren für die Integrität der menschlichen Freiheit und irdischen Umgebung darstellen«.

Obwohl die Wissenschaft behauptet, <ethisch neutral> zu sein, haben sich daraus tatsächlich Übel ergeben, und die Entfremdung der Wissenschaft und der Wissenschaftler von dem Rest der Kultur steht, wie Blackburn sagt, außer Frage.

Der Philosoph Alfred North Whitehead wies vor vierzig Jahren in seinem klassischen <Science and the Modern World> darauf hin, daß Wissenschaftler, indem sie ein vereinfachtes Modell der Realität benützen, um das Thema in eine intellektuelle Kontrolle bringen zu können, die philosophischen Fundamente ihres Unternehmens aus den Augen verlieren. Blackburn schlägt vor, daß die Wissenschaftler, so wie sie sich daran gewöhnt haben, das Licht als Wellenbewegung oder als Strom von Photonen zu behandeln, und ganz allgemein die Vorstellung der Komplementarität, jetzt lernen müssen, die sinnlichen und die intellektuellen Kenntnisse der Natur in einem gemeinsamen Bezugsrahmen zu kombinieren. Die Komplementarität warnt uns, daß Beschreibungen, die vollständig scheinen, nur partiell sind. Der Bezugsrahmen muß vergrößert werden, »um beide Modelle als alternative Wahrheiten einzuschließen, wie unvereinbar ihre abstrakten Widersprüche auch sein mögen«.


   1-362

Man muß, um fair zu sein, feststellen, daß einige Wissenschaftler einsichtig sind. Nicht alle Wissenschaftler sind von der Idee hypnotisiert, daß die Technologie allmächtig ist. So hat der hervorragende britische Biologe, Professor C. H. Waddington, der in der führenden wissenschaftlichen Zeitschrift Nature schreibt, gefragt: »Können wir die Gegenwart wirklich einigen wenigen technologischen Fixierungen und den Kräften des Markts überlassen?«

Vielleicht noch mehr Sorgen bereitet ein gewisser seichter Optimismus auf Seiten einiger Soziologen, die versuchen, den Zustand der Gesellschaft auszulegen. So scheint mir David Riesman, der in <Die einsame Masse> viele gültige Punkte erarbeitet hat, hinsichtlich der Möglichkeit einer wachsenden Gleichheit in der Welt in Begriffen der Entwicklung und der Lebensstile unvernünftig optimistisch zu sein. Er ist der Ansicht, daß das Verschwinden exotischer regionaler Unterschiede (womit er die Kontraste etwa zwischen Brighton und Bali oder Miami und Marseille meint) »nur Touristen aus der Fassung bringen wird, vorausgesetzt, daß die Unterschiede ... nicht durch Unterschiede ersetzt werden können, die sich aus den noch unerforschten Potentialitäten des menschlichen Temperaments, Interesses und der menschlichen Neugier« ergeben. 

Ich kann einfach nicht glauben, daß das wahr ist.

Kurz gesagt, es ist nicht so, daß wir uns den Stürmen anpassen müssen, die durch die Wissenschaft erzeugt werden, sondern die Wissenschaft und die Technologie müssen sich dem Menschen anpassen. Und diese Anpassung bedeutet mehr als eine einfache Begrenzung der wissenschaftlichen Tätigkeit. Sie bedeutet, daß es der Wissenschaftler lernen muß, seinen materialistischen und seinen individualistischen Drang zu mäßigen und in sich etwas die Romantik zu inkorporieren. Er muß wenigstens lernen, die intuitiven und emotionellen Aspekte, ein Mensch zu sein, zu verstehen und zu respektieren.


   2- 363

   2 Das Tempo des Wandels  

 

Die meisten unserer Frustrationen ergeben sich aus dem unerträglich hohen Tempo des sozialen Wandels, das wiederum ein Ergebnis der Ausweitung von Wissenschaft und Technologie ist. Professor John Platt vom Mental Research Institute (Forschungsinstitut für geistige Gesundheit) in Ann Arbor, Michigan, geht sogar noch weiter: »In der Welt gibt es nur eine einzige Krise. Es ist Krise der Umwandlung. Die Schwierigkeit besteht darin, daß sie jetzt als ein Sturm von Krisenproblemen aus allen Richtungen auf uns zukommt.«

Nicht jedermann erkennt das fantastische Maß, in dem diese Änderungen eingetreten sind. Unsere Fähigkeit, Krankheiten zu kontrollieren, hat sich gegenüber der Zeit vor einem Jahrhundert vielleicht um das Hundertfache gesteigert. Unsere Energiequellen haben sich vertausendfacht, und die Schnelligkeit der Kommunikation ist um das Millionenfache angestiegen. Die Wachstumsquote ist exponential. Die Zeit, die erforderlich ist, bis sich eine neue Erfindung zur allgemeinen Anwendung durchsetzt, schrumpft exponential zusammen. Die Verbreitung der Dampfmaschine erforderte 150 Jahre, die des Autos fünfzig, die des Radiogeräts 25 und die des Transistors weniger als fünfzehn Jahre. Gleichzeitig ist der Wandel durchdringender geworden. Heute ändert sich nicht ein einziges Gebiet, sondern viele zugleich. Wenn man eine Lebensspanne hat, um sich anzupassen, sind die Probleme lösbar. Wenn sich die Zeit auf fünfzehn Jahre verkürzt, wird die Einwirkung unerträglich. Die Technomanen können nicht erkennen, daß die menschliche Lebensspanne der unveränderliche Maßstab in dieser Situation ist.

Die Technomanen weisen begeistert auf die Segnungen hin, die sie von der Verwendung ihrer Geräte erhoffen — aber selbst wenn diese Segnungen so wünschenswert sind, wie sie behaupten, was höchst zweifelhaft ist, müssen wir immer noch den Preis des Wandels in Erwägung ziehen. Jeder kompetente Manager weiß, daß man aus einer Ausrüstung eine gewisse Lebensdauer herausholen muß. Es gibt einen Punkt, über den hinaus die Vergeudung, Maschinen oder andere Ausrüstungen wegzuwerfen, höher ist, als der Nutzen, eine verbesserte Ausrüstung zu installieren. Diese Frage ist heute in Telekommunikationen aktuell geworden. Die sozialen Kosten des Wandels, der in Beziehung zur menschlichen Lebensspanne schnell ist, sind gewaltig.


 2-364

Sir Geoffrey Vickers hat in seinem Buch <Value Systems and Social Progress> erklärt: »Wir scheinen uns jetzt dem Punkt zu nähern, an dem die Veränderungen, die innerhalb einer einzigen Generation erzeugt werden, in Zukunft die Fertigkeiten, Institutionen und Ideen ungeeignet machen, die das Haupterbe in dieser Generation bildeten.« Auf den Einwand, daß die Fertigkeiten eines Menschen veraltet sein könnten, wenn er vierzig ist, erwidert der Technomane: »Dann muß er umgeschult werden.« Er sieht nicht ein, daß er damit die Produktion über den Menschen stellt. Aller Wahrscheinlichkeit nach will der Mensch nicht auf den Ausgangsplatz zurückgehen, seinen Status als gelernter Arbeiter aufzugeben und wieder Lehrling werden. Warum sollte er auch? Die Befriedigung über die Stabilität seines Lebens mag für ihn wichtiger sein als ein gesteigerter materieller Wohlstand. Ich behaupte nicht, daß das immer und notwendigerweise der Fall ist. Ich weise nur darauf hin, daß in einer rationellen Analyse die psychologischen und persönlichen Kosten sowie die sozialen Kosten der Umschulung in Rechnung gestellt werden müssen.

Es geht nämlich um viel mehr als um die Frage, einen Arbeiter in industriellen Fertigkeiten umzuschulen. Wir sprechen von Veränderungen, die ganze Lebensschemata sinnlos werden lassen, die Wertsysteme stören, Entfremdung schaffen, das Leben langweilig oder frustrierend oder nicht mehr lebenswert machen, die Verbrechen und die Selbstmordquoten steigern und noch viel mehr. In anthropologischen Begriffen sprechen wir über Dekultivierung. Wir tun uns das an, was wir schon vielen primitiven Völkern angetan haben, sie nämlich in eine technologische Welt zu stürzen, für die ihre Institutionen und Werte ungeeignet waren. Es ist wohl bekannt, daß eine primitive Kultur daran zerbricht, daß Verlust der Motivierung, Alkoholismus und eventuell totale Anomie die Folge sind. Die unsichtbaren Kosten des Wandels sind gewaltig.


 2-365

Man hat kürzlich nachgewiesen, daß eine Veränderung, eine neue Stellung, Heirat, Scheidung, ein neues Heim, der Tod eines Elternteils, ja sogar eine Veränderung zum Besseren, die Gesundheit ungünstig beeinflußt. In einer bahnbrechenden Studie, die zu einem Standardwerk werden sollte, kam Dr. Thomas H. Holmes mit Hilfe eines jungen Psychiaters namens Richard Rahe in der Washington School of Medicine zu »so spektakulären Ergebnissen, daß wir zögerten, sie zu veröffentlichen. Wir gaben unsere einleitenden Feststellungen erst 1967 frei.« Indem sie größeren Veränderungen im Leben Punkte zuteilten, trugen sie ein Lebensveränderungsschema für Tausende von Menschen zusammen und verglichen sie mit ihren Krankengeschichten. 

Alvin Toffler faßte ihre Ergebnisse in <Der Zukunftsschock> folgendermaßen zusammen: 

»In jedem Fall hatte die Korrelation zwischen Veränderung und Krankheit Bestand. Man hat festgestellt, daß Änderungen in der Lebensweise, die große Anpassungen und Bemühungen erfordern, mit Krankheiten in Korrelation stehen, ganz gleich, ob diese Veränderungen unter der eigenen Kontrolle des Individuums stehen oder nicht oder ob er sie für unerwünscht hält oder nicht. Je höher des weiteren der Grad der Lebensveränderung ist, desto höher ist auch das Risiko, daß die folgende Krankheit sehr schwer sein wird. Diese Beweise sind so stark, daß es möglich wird, durch ein Studium der Lebensveränderungspunktzahlen bei verschiedenen Populationen die Ebenen der Krankheit voraussagen zu können.«

Für 3000 Angehörige der US-Marine wurden Voraussagen gemacht. Nachher berichtet Commander Ransom J. Arthur vom Medizinisch-Neuropsychiatrischen Forschungsinstitut der Marine in San Diego: »Es ist klar, daß es einen Zusammenhang zwischen Abwehrkräften des Körpers und den Forderungen nach einem Wandel gibt, die die Gesellschaft auferlegt.« Daher ist es nicht überraschend, wenn die westliche Gesellschaft trotz verbesserter medizinischer Dienste wachsende Krankheitsquoten aufzuweisen hat.  

Tofflers wichtiges Buch führt viele Beweise für den psychologisch wie physisch schädlichen Einfluß des Wandels auf - und sein großer Erfolg zeigt, wie ich glaube, daß viele Menschen bereits anfangen, das zu vermuten.


 2-366

Wie Vickers betont, hängt die Stabilität primitiver Gesellschaften von der Tatsache ab, daß ihre Lebensweise das Milieu oder die Gesellschaft selbst nicht stört. Er glaubt, daß eine derartige Stabilität »auf einen Punkt hin verschwindet, der, wie ich glaube, bereits in Sicht ist«. Wir haben, wie es Vickers nennt, eine Phase des »freien Falls« mitgemacht, in der wir uns der Produkte der Technologie erfreuten, ohne das riesige Netz von Kontrollen und Vorschriften zu akzeptieren, die ein derartiges System zur Folge hat. »Der Inhalt unseres politischen Systems, die Summe der Beziehungen, die wir zu regulieren erstreben, ist gewachsen und wächst noch an Umfang, und die zu erreichenden Maßstäbe sind gestiegen und gestiegen. Die Aktion, die nötig ist, um diese Maßstäbe zu erreichen, erfordert massivere Operationen, die durch einen größeren Konsens über längere Zeitabschnitte als in der Vergangenheit unterstützt werden müssen. Auf der anderen Seite ergeben sich die Situationen, die eine Regelung und einen Wandel fordern, mit immer kürzerer Vorwarnung und werden immer weniger voraussagbar, da sich das Tempo des Wandels beschleunigt und die sich gegenseitig beeinflussenden Variablen sich vervielfältigen.«

Während aber das überwältigende Bedürfnis nach Regulierung wächst, nimmt die Fähigkeit der Gesellschaft, Regulierungen hinzunehmen, ab. Zum Teil ist das so, weil man die Situation nicht physisch erlebt, wie etwa Hunger oder eine Trockenheit, sondern diese »geistig konstruiert ist und auf ungewissen Voraussagungen basiert«; weil die Individuen von der unmittelbaren Einwirkung der Folgen des Wandels durch den Staat abgeschirmt werden; weil sich Minderheiten der nötigen Reaktion aus Gründen des Profits oder der Vorurteile widersetzen und vor allem, weil sich die zur Verfügung stehende Zeit immer mehr zusammenzieht und verkürzt. Deshalb besteht Vickers Meinung nach eine »wachsende Disparität zwischen den geringsten Regelungen, die die Situation erfordert und den meisten, die sie gestattet«. Und er setzt hinzu: »Wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß sich politische Gesellschaften auf irgendeiner Ebene, die wir für akzeptabel halten, als regulierbar erweisen werden. Viele Gattungen sind in ökologischen Fallen, die sie sich selbst stellten, zugrunde gegangen. Wir haben bereits den Punkt ohne Wiederkehr auf der Straße zum Abgrund passiert.«


 2-367

Es gibt auch noch subtilere Gefahren: so erleben wir, wie die Industrie, die verzweifelt einen Vorsprung vor der ausländischen Konkurrenz sucht, ganze Sektoren von Universitäten für alle praktischen Zwecke anwirbt. Die Wissenschaftler arbeiten selbst manchmal darauf hin, die Wissenschaft in dieses Wettrennen einzuspannen. Lord Rothschilds Vorschläge, die Forschung zur Dienerin der Industrie in Großbritannien zu machen, sind, wenn sie auch dem Wunsch der Regierung nach einer ausgeglichenen Handelsbilanz und nach einer Unterstützung der Industrie entsprechen mögen, vom sozialen Standpunkt aus katastrophal.

Wie weitreichend die Konsequenzen einer technomanen Gesellschaft sind und wie wenig sie verstanden weiden, mag an einem der vielen Beispiele demonstriert werden. Das Marktsystem bricht infolge der immensen Kompliziertheit und der Kosten der modernen technologischen Unternehmen zusammen. Große Firmen fusionieren, um die Atomenergie, den Raumflug, die Telekommunikation, den Flugzeugbau auszuweiten, und die Regierungen unterstützen aktiv solche Fusionen. Die Regierungen finanzieren auch die Technologie, 90 Prozent der Forschung und Entwicklung, die von Boeing vorgenommen werden, werden vom Staat finanziert; mehr noch, die neuen technologischen Machtzentren können auf die Regierungen einen beträchtlichen Druck ausüben. So zerbricht die <freie Marktwirtschaft> durch ihre eigenen Bemühungen, ein Punkt, der bisher weder den Regierungen noch den Technomanen klar geworden zu sein scheint.

Eine beliebte Täuschung bei der Jugend besteht darin, daß sich diese Probleme unter einem sozialistischen oder kommunistischen System selbst lösen würden. Insbesondere nimmt man an, daß man die vorübergehende Arbeitslosigkeit vermeiden könnte. Aber nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Die Aufgabe eines stimulierenden Konsums neuer Güter in einer Welt, in der immer mehr Menschen nach einer psychologischen Nahrung verlangen, ist in einer vom Staat kontrollierten Gesellschaft genauso schwierig wie in einem kapitalistischen Staat, wenn nicht noch schwieriger. Der Besitz der Produktionsmittel ist irrelevant, wenn es nicht die Produktion ist, die die Bedürfnisse befriedigt. Es ist sogar zweifelhaft, ob ein sozialistischer Staat unter diesen Bedingungen die Vollbeschäftigung garantieren kann.


 2-368

Das soll aber keineswegs besagen, daß wir auf eine statische Gesellschaft abzielen sollten; ich behaupte jedoch, daß es eine optimale Rate der Veränderungen gibt. Dieses Optimum steht in Beziehung zu der menschlichen Lebensspanne, da eine neue Generation eine neue Welt akzeptiert. Daraus folgt natürlich, daß die Jugend eine Veränderung willkommen heißt. Sie hat wenig Verpflichtungen, sie heißt die Wahl unter neuen Möglichkeiten willkommen und sie hat in ihren wenigen Jahren noch so wenig Wandel erlebt, daß er sie noch nicht <getroffen> hat. Wenn man älter wird, wird der Wandel schmerzlicher, und die eigene Kraft, sich anzupassen, schrumpft zusammen. Man kann sich nicht aus seinen emotionellen, intellektuellen und nicht einmal aus seinen wirtschaftlichen Verpflichtungen zurückziehen. Man hat mehr auf dem Spiel stehen — vielleicht das ganze Leben.

Wenn unser Ziel die menschliche Befriedigung ist, ist es unsere primäre Verpflichtung, die optimalen Quoten der Veränderung (denn es kann auf verschiedenen Gebieten verschiedene Quoten geben) zu bestimmen und diese Quoten so zu regulieren, daß sie sich dem Optimum so weit als möglich nähern. Professor Gabor (Nobelpreisträger für Physik und Erfinder der Holographie) hat es so ausgedrückt: »Wir reiten auf einem Tiger."

Ein Weg, das Tempo der Veränderung zu begrenzen, wäre der, die Zahl der Menschen zu beschränken, die sich auf wissenschaftlichem Gebiet betätigen. Heute gehören wahrscheinlich fünf Millionen Menschen der Armee der Wissenschaft an, für die im Jahr zwischen 280 bis 300 Millionen Mark ausgegeben werden. Olaf Holmer, ein Futurologe, früher bei der RAND-Korporation tätig, zufolge wird sich die Zahl bis gegen Ende des Jahrhunderts verdoppeln.

Kurz gesagt, wenn <Ned Ludd> behauptet, daß die Maschinerie unserer Zeit für die schwachen Gehirne der Menschen zu schnell läuft, hat er wahrscheinlich völlig recht. Könnten wir uns dem Tempo anpassen? Wenn nicht, so müßten wir es sicherlich verlangsamen.


 2-369

<Anpassen> ist einer der so bequemen unbestimmten Begriffe. Man kann sich dem Sturz aus einem Flugzeug nicht anpassen, dem Einatmen von Schwefeldioxyd oder dem Essen von Quecksilber, Blei oder anderen Schwermetallen. Die Anpassungskräfte des Körpers sind sehr begrenzt. Überschreitungen ziehen schwere Strafen nach sich. Ein Mann kann sich dem Tragen von Zentnerlasten anpassen um den Preis, daß er seine Bandscheiben beschädigt, seine Fähigkeiten für die meisten anderen Arbeiten reduziert und wahrscheinlich seine Lebensspanne verkürzt. Er kann sich aber nie anpassen, Lasten von etwa einer Tonne zu tragen. Natürlich sind in Millionen von Jahren größere Anpassungen möglich gewesen — Meerestiere haben es gelernt, Luft zu atmen und an Land zu leben. Wir sprechen aber davon, was in einer oder zwei Lebensspannen vollbracht werden könnte, und das ist sehr wenig. Deshalb bleibt wirklich keine andere Wahl. Wir müssen langsamer werden.

Dr. Arnold Schon, ein Industrie- und Sozialberater, der 1970 die Reith-Lektionen von BBC hielt, erklärte an einer Stelle: »Der Wandel ist enorm stark und produziert Angst«, und an einer anderen: »Der Wandel muß eine Lebensweise werden.« Mit anderen Worten, wir müssen uns darein schicken, in einem Zustand dauernder Angst zu leben. Warum sollten wir das?

Bertrand de Jouvenel, der französische Diplomat und Wirtschaftswissenschaftler, hat es bewunderungswürdig ausgedrückt: 

»Für meine Begriffe liegt in der Ermahnung, die wir hören, wir sollten uns einer technologischen Gesellschaft anpassen, eine gewisse Absurdität. Warum sollten wir es? Ist es nicht vernünftiger, den Prozeß der Neuerung einzuspannen, um ein Leben reich an Annehmlichkeiten zu schaffen, ein Leben, das zum Aufblühen der menschlichen Persönlichkeiten führt?«

»In unserer ganzen Gesellschaft«, das gibt Schon zu, »erleben wir die tatsächliche oder drohende Auflösung stabiler Organisationen und Institutionen, die Anker für die persönliche Identität und das Wertsystem sind.« Er hält das für unvermeidlich. Wir müssen unentwegt alles wieder lernen. Auf diese Weise den Menschen dem Mechanismus zu opfern, ist in meinen Augen reiner Nihilismus.


2- 370

Keines der sich in der Entwicklung befindlichen Mittel für technische Verbesserungen sollte blockiert werden, wie es oft durch monopolartige Körper­schaften geschieht. Schon hat darauf hingewiesen, wie die rückständige US-Bauindustrie sich einem Plan der Bundesregierung widersetzte, die Forschung zu fördern, und wie es ihr gelang, diesen Plan zu neutralisieren. Nicht nur Ziegel- und Kachelfabrikanten, sondern auch Gewerkschaften und sogar Bauinspektoren vereinigten sich in dem Wunsch, der Verwendung von Kunststoff, Leichtmetall und anderen Materialien Widerstand zu leisten. Die metatechnologische Gesellschaft steht nicht für den von Eigeninteressen getragenen Konservativismus.

   

    3  Permanenter Wandel    

 

Es gibt einen wichtigen, oft übersehenen Unterschied zwischen einer spezifischen Veränderung vom Zustand A zum Zustand B und einen dauernden Vorgang des Wandels. Im ersten Fall muß sich das Individuum neu anpassen: das kann schwierig oder auch schmerzhaft sein, wenn es die Anpassung aber einmal vollzogen hat, kann es wieder seßhaft werden. Diese Art von Veränderung findet statt, wenn wir die Wohnung wechseln, heiraten, auswandern, wenn ein Ehepartner stirbt und bei vielen anderen Gelegenheiten. Etwas ganz anderes ist es, in einem dauernden Zustand des Wandels zu leben. 

Man fordert von uns, daß wir uns der Unbeständigkeit anpassen, daß wir Veränderung als Norm akzeptieren. Die Fähigkeit des Menschen, sich wiederholt anzupassen, erschöpft sich aber bald. Wenn man sein Heim ein halbes Dutzend Mal wechselt, hört es auf, ein Heim zu sein und wird zu einer Zimmerflucht in einem Hotel. Emotionell kann man hier nichts investieren. Der Impuls, diese Zimmerflucht zu verbessern oder eine Zuneigung dazu zu gewinnen, wird durch das Wissen beeinträchtigt, daß die Mühe vergeudet ist.

Das ist die Anpassung, die heute von uns gefordert wird, die Anpassung nicht an Veränderungen, sondern an die Unbeständigkeit als Lebensstil. Das kann schweren Schaden anrichten. Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, in einer sich dauernd und schnell wandelnden Umgebung zu leben. Die Anpassungen, die er vornehmen muß, um mit einer solchen Situation fertig zu werden, sind höchst unerwünscht; sie garantieren ihm Unglück und untergraben die Struktur der Gesellschaft selbst.


 3   371

Einige Auswirkungen permanenten Wandels sind — bereits 1949 — von der großen Anthropologin Margaret Mead skizziert worden. Sie schrieb im Hinblick auf die Vereinigten Staaten, wies jedoch darauf hin, daß die Situation für die ganze Welt relevant werden würde. Sie stellte drei Hauptpunkte heraus:

1. Unter Bedingungen eines ständig wechselnden sekundären Kulturkontakts, begleitet von schnellen technologischen Änderungen und hoher Mobilität, kann sich kein stabiles Schema entwickeln. Das Kind reagiert damit, daß es eine >situationelle< Einstellung zum Leben entwickelt. (Erikson hat das eine tentative — versuchsweise Haltung zum Leben genannt, und dabei einen vielleicht klareren Ausdruck geprägt.) Situationen werden akzeptiert, man nimmt nicht an, daß sie Bestand haben. So schließt sich der Amerikaner völlig neuen Gruppen an, er vermeidet es dabei, allzu starke Bindungen zu entwickeln und kann sich so ohne große Schmerzen wieder zurückziehen, wenn sich eine neue Situation entwickelt. Er erwartet auch nicht, daß diese Gruppen einen homogenen Charakter haben, denn er weiß, daß sie eher durch Zufall zusammengeworfen werden als durch eine langsame Reihe erwogener Entscheidungen, wie es wahrscheinlich in Europa und noch mehr in prätechnologischen Gesellschaften der Fall sein würde.

2. Da man nicht die Zeit hat, die Menschen gründlich einzuschätzen, neigen die Bewertungen dazu, auf einfachen quantitativen Maßnahmen zu basieren. So gibt es in einigen amerikanischen Schulen eine hundertprozentige Versetzung pro Jahr. Die Noten müssen als Hinweis auf die Fähigkeit aufgefaßt werden, man hat nicht genug Zeit, jeden einzelnen persönlich zu bewerten. Ähnlich werden die Menschen als Erwachsene nach Dollars oder der Länge der Spalten bewertet, die man ihnen in der Presse unter Personalnachrichten einräumt. Restaurants werden nach ihrer Größe, dem Luxus oder dem Ton der Reklame eingeschätzt. Das erklärt die Tatsache, daß sich die Amerikaner so stark mit Äußerlichkeiten wie der Größe oder mit auffälligen Statussymbolen wie einem großen Auto befassen.


 3   372

(Dr. Mead erwähnt, daß bei den Prärie-Indianern ein ähnlicher Wandel stattfand, als ihre traditionelle Kultur, die auf der Büffeljagd basierte, von den weißen Siedlern vernichtet wurde. Allmählich beruhe der Status nicht mehr auf bekannten Fertigkeiten, sondern auf einfachem Zählen.)

3. Die Art, wie das Kind die Außenwelt wahrnimmt, wird atomisiert. In einer normalen Gesellschaft wird dem Kind ein Satz von Erfahrungen geboten, die kulturell alle miteinander verwoben und zusammen­hängend sind. Sie verkörpern die gleichen Grundwerte und leiten seine Wahrnehmungen in einer bezeichnenden Art. Wenn sie jedoch nicht in Beziehung stehen oder adoptiert werden, ist es fast so, als ob dem Kind alle Knochen eines Skeletts gezeigt werden, die durcheinander geworfen sind wie die Teile eines Puzzlespiels. Vielleicht könnten sie wie die Teile seines Baukastens in eine von hundert Formen wieder zusammengesetzt werden? (Die Teile eines Baukastens haben keine Identität.) Ähnlich besteht die Erfahrung des Kindes aus Stücken, »von denen jedes eine zeitweilige Bedeutung in einem von tausend verschiedenen Schemata erhalten kann«.

 

Diese Atomisierung lenkt die Wahrnehmung des Kindes von der Welt auf Wege, die, wenn man nicht spezifische Beispiele wählt, nur schwer zu erfassen sind. So wird das Wissen eher als eine Sammlung von Tatsachen angesehen, die sich unter verschiedenen Umständen als nützlich erweisen können oder nicht, denn als die Organisation und Interpretation von Fakten, um eine Lebensphilosophie zu bilden. Daraus stammt das, was man das <Snackbar-Schema> der amerikanischen Erziehung genannt hat, bei der der Schüler selbst die Unterrichtsthemen wählt, die ihm interessant zu sein scheinen; man macht keinerlei Versuch, seine Einspeisung zu einem bedeutungsvollen Schema zu koordinieren. (Das geht so weit, daß Studenten heutzutage bereits den Vorschlag einer Regulierung übelnehmen.) 

Oder man sieht die Entwicklung von Begabung nur in Begriffen der Erwerbung von Fertigkeiten statt als Grundlagen für eine Lebensweise. In der Tat werden menschliche Wesen als unendlich austauschbar angesehen: ein Geschäftspartner ist kaum von einem anderen zu unterscheiden, ein Ehepartner gleicht auf lange Sicht dem anderen; so werden Stellungen und Ehepartner mit einem bisher unbekannten Mangel an Gewissensbissen ausgetauscht.


3   373

Margaret Mead weist darauf hin, daß die ständige Zunahme der Schizophrenie wahrscheinlich eine Folge oder zumindest ein Symptom dieses Geisteszustandes ist. Bei der Schizophrenie wird alle Beziehung zu einer organisierten Wirklichkeit aufgegeben, der Patient zieht sich in eine Innenwelt subjektiver Eindrücke zurück. Ich möchte hinzufügen, daß die gegenwärtige Beschäftigung mit Drogen, bei der es sich auch um einen Rückzug aus einer schmerzlichen Wirklichkeit in eine subjektive Welt handelt, ein weiterer Hinweis dafür ist.

In Kapitel 7 habe ich des weiteren gezeigt, wie die bloße Tatsache des Wandels — zuzüglich der spezifischen Auswirkungen gewisser Arten des Wandels wie etwa der Steigerung der Mobilität — enorme Schwierigkeiten für die Identitätsbildung schafft, genauso wie es die Natur der Identitäten ändert, die gebildet werden können.*

Die psychologischen und sozialen Kosten des permanenten Wandels sind kurz gesagt so hoch, daß sie den viel besprochenen materiellen Vorteil und die kurzfristigen Segnungen weit überwiegen. Diese wesentliche Tatsache sollte denen deutlich gemacht werden, die so unverantwortlich die Fanfaren der Technomanie blasen.

  

   4 Die Söhne und die Väter  

  

Die erste Drohung, die die technomanische Gesellschaft bietet, ist, daß sie den Menschen unbedeutend macht; er ist nicht nur eine Nummer, er wird auch unnötig. Wie glorreich daher die technologische Leistung auch sein mag, der Mensch hat als Mensch keine Zukunft. So schwierig das Gefühl des Unbedeutendseins auch zu messen ist, es ist trotzdem lebenswichtig. Die Technologie liegt an der Wurzel der modernen existentiellen Verzweiflung, das Leben habe keine Bedeutung.

* Die Menschen müssen in ihrer Anpassungsfähigkeit ihre Selbstachtung finden, erklärt Donald Schon, ohne erst zu untersuchen, ob so etwas überhaupt möglich, geschweige denn wünschenswert ist, in Beyond the Stahle State (Temple Smith, i97r).


374

Dieses Gefühl ist natürlich bei der Jugend am stärksten, die spürt, daß die Welt sie nicht braucht. Aus diesem Grund beharren sie darauf, daß sie eine bessere Welt bauen werden, denn niemand hat ihnen bislang erklärt, daß sie gebraucht werden. Das erklärt auch, warum die Revolte der Jugend in den Vereinigten Staaten am stärksten ist: die USA sind technologisch das am weitesten entwickelte Land. Und das erklärt auch, warum das Gebiet der Erziehung der Schauplatz von so viel Unruhe war, weil es die Erziehung ist, die einen Menschen für die Aufgabe vorbereitet. Darum beklagt sich die Jugend, daß ihre Erziehung >irrelevant< sei. Es ist, wie der Yippie-Führer Jerry Rubin bitter gesagt hat: »Die amerikanische Wirtschaft braucht keine jungen Weißen und Schwarzen mehr. Wir sind Abfallmaterial.«

An Demonstrationen, Sit-ins und so weiter teilzunehmen, gibt einem das Gefühl, man werde gewünscht, das Gefühl, etwas beitragen zu können. Aber wie der Kinderpsychiater Bruno Bettelheim in einem brillanten Artikel aufgezeigt hat, reicht das Problem viel tiefer. Die Jugend mußte immer um Anerkennung ringen. Heute haben wir neue Faktoren in die Situation eingeführt. »Ich halte es für unnatürlich, einen jungen Menschen fast zwanzig Jahre lang durch Schulbesuch in Abhängigkeit zu halten«, sagt Bettelheim. Für die, die wirklich durch das akademische Leben angezogen werden — eine Minderheit —, mag das akzeptabel sein, heute aber zielen wir darauf ab, einer Mehrheit, wenn nicht allen, eine verlängerte Ausbildung zu geben. Nachdem man so lange passiv dasaß und Informationen in sich aufnahm, bildet der Aktivismus eine angenehme Abwechslung. (Und, wie Bettelheim erklärt, haben die Universitäten nicht genug erfahrene Lehrer, die mit der Flut fertig werden können, so daß der Unterricht anonym bleibt oder jungen Assistenten übertragen wird, die kaum reifer sind als die Studenten, mit deren Revolte sie sympathisieren.)


  4   375

Während die Jugend aber intellektuell hoch entwickelt ist, ist sie emotionell ungewöhnlich unreif. Ihr Intellekt ist auf Kosten ihres emotionellen Lebens entwickelt worden, und einige blieben »auf der Ebene eines Wutanfalls fixierte Sie sind oft unfähig, eine Verzögerung zu ertragen, rationell zu denken und verantwortungsbewußt zu handeln. In den extremsten Fällen, bei jenen, die dazu tendieren, militante Führer zu werden, zeigt sich ein Verlust der Fähigkeit zu fühlen, kombiniert mit einem paranoiden Mißtrauen. Diese sozial isolierten Menschen fühlen sich zum Extremismus hingezogen, weil er ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit gibt und eine Bestätigung ihrer Verblendung liefert; er bewahrt sie davor, völlig den Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren. Es ist nicht unnatürlich, daß Studenten unter der Oberfläche von einer Angst gequält werden, einer Angst hinsichtlich ihrer Fähigkeit, in einem psychologischen Sinn zu bestehen, sich als Individuen in der Gesellschaft als tauglich zu erweisen, die ihnen dazu wenig Möglichkeiten bietet. Diese Angst wird natürlich durch ein Revolutionsprogramm intensiviert, das keine Pläne hat, wie das Zerstörte ersetzt werden kann. Insgeheim fürchten sie die Macht, die sie, wie sie sagen, wollen.

Einige der Studentenführer werden zusätzlich, trotz ihrer Behauptung, sozialen Zwecken zu folgen, von Haß getrieben. Einer von ihnen sagte Bettelheim: »Statt meiner inneren Leere und meines Hasses konnte ich in der Bewegung behaupten, daß ich den Menschen liebe. Ich konnte denken, daß ich konstruktiv und nicht destruktiv sei.« In ziemlicher Übereinstimmung mit meiner Analyse in früheren Kapiteln erwägt Bettelheim, ob die treibende Kraft der Studentenbewegung die Ablehnung eines schwachen Vaters ist. Es ist die Welt der Eltern, die in all ihren Aspekten abgewiesen wird. Alles Verhalten, sogar die Kleidung und die persönliche Hygiene, werden mehr durch den Wunsch reguliert, die ältere Generation zu ärgern, als in einem positiven Sinn dessen, was in sich selbst wünschenswert erscheinen könnte. Und wenn Studenten das Loblied Mao Tse-tungs singen, geschieht das deshalb, weil sie einen starken und keinen schwachen Vater wollen. Es folgt daraus, daß die ältere Generation die Werte fest behaupten sollte, und sei es nur deshalb, um der Jugend die Befriedigung zu geben, sie abzulehnen. Die Umkehr des elterlichen Standpunkts ist eine vernünftige Beschäftigung, wenn das Leben bedeutungslos ist.


   4     376

Und von allen Standpunkten, die behauptet werden müssen, sind jene die wichtigsten, die sich mit Sex und Gewalt befassen. Bettelheim argumentiert: 

«... viele Kinder lernen es heute nicht genügend, die Aggression zu unterdrücken. Da sie, als sie jünger waren, dabei versagten, Über-Ich-Kontrollen zu schaffen (indem sie ihre Vaterfigur introjizierten), sehen sie sich unfähig, mit ihrer eigentlichen jugendlichen Aggression fertigzuwerden. Wiederum bleiben Gesellschaften, die nicht einen gewissen Grad von Repression üben, völlig primitiv.« 

Ohne einen fairen Grad von Repression gibt es keine Latenzperiode, ohne Latenz keine verlängerte Spanne intellektuellen Lernens. Das bedeutet jedoch nicht, daß wir zu traditionellen Sitten zurückkehren sollten. Zu oft basiert die Entscheidung darüber, was unterdrückt werden soll, nur auf der Bequemlichkeit der Erwachsenen. Des weiteren ist es die Faszination der Erwachsenen von Sex und Gewalt, die den Studenten ermöglicht, ihren Einfluß auszuüben. Die Studenten können durch Nacktheit oder andere Akte, die schockieren sollen, Berichte in Presse und Fernsehen erzwingen — und zwar in einem völligen Mißverhältnis zu ihrer Zahl oder der Bedeutung ihrer Ansprüche. So beuten sie schlauerweise die Schwäche der Erwachsenen aus. Die Moral dieser Geschichte lautet nicht, daß sie weniger schlau, sondern daß die Erwachsenen reifer sein sollten.

Tatsächlich beneiden viele Erwachsene insgeheim die Freiheit, besonders die sexuelle Freiheit der Jugend; statt nun eine deutliche moralische Haltung einzunehmen, versuchen sie, die Jüngeren zu kopieren, die so zu Führern der Gesellschaft werden, ein Trend, den die Nachrichten- und die Reklamemedien mit ihrer dauernden Zurschaustellung jugendlicher Moden und der Betonung des <Trendhaften> noch verstärken. Diese Bemerkungen sind keineswegs ein Angriff auf die <Jugend>. Sie versuchen lediglich, eine bestehende Situation zu diagnostizieren — bei der es auf beiden Seiten Defekte gibt. Wir brauchen keine Umkehr des Trends, sondern eine konstruktive Mittelposition.

Ehe wir auch nur beginnen können, uns eine bessere, geschweige denn eine paraprimitive Gesellschaft vorzustellen, müssen wir mit der >Jugendmisere< fertig werden, weil sie die Individuen unglücklich macht, und noch mehr, weil ein konstruktiver sozialer Wandel nur möglich ist, wenn die nächste Generation positiv und reif handeln kann, statt in einer Protesthaltung einzufrieren, die auf einem emotionellen Aufruhr basiert und von Haß durchsetzt ist.


 4    377

Das schließt große Veränderungen in der Familie und in der Erziehung ein, gepaart mit der Schaffung weit besserer Möglichkeiten, daß die Jugend ihre Energien und ihren Enthusiasmus zu Reformprogrammen beisteuern kann. Es erfordert die Ausgabe echter (und nicht konventioneller) moralischer Gebote durch die Erwachsenen und die Proklamation von positiven (und nicht bloß prohibitiven) Zielen. Es ist keineswegs geklärt, ob die Erwachsenen heute im allgemeinen fähig sind, den Forderungen, die die Jugend — und durch die Jugend die Gesellschaft als ganzes — ihnen stellt, zu begegnen.

Bettelheim versäumt es, den erschreckendsten Aspekt der Haltung vieler Jugendlicher (und einiger nicht mehr so junger) zu untersuchen, das Element der beleidigten Leberwurst*. Es ist so, als ob sie um das betrogen worden wären, was ihnen zusteht — und das hat eine Verstimmung all derer herangezüchtet, die nicht so betrogen wurden. Einige sind natürlich gesellschaftlich und wirtschaftlich benachteiligt worden — besonders rassische Minderheiten —, aber die gleiche Haltung findet man auch bei Menschen, die begünstigt wurden und die sicherlich viel weniger zu klagen haben als ihre Eltern. Man muß daher nach einer anderen Erklärung suchen.

Tatsache ist, daß die Welt auf alle enttäuschend und frustrierend wirkt — und diese schmerzliche Erfahrung beginnt bereits, wenn man den Mutterschoß verläßt, auf die kalte Luft stößt und den traditionellen Klaps erhält. Einige Menschen lernen, mit den Begrenzungen der Existenz zu leben, auch wenn sie vielleicht kämpfen, um sie zu reduzieren. Sie lassen sich dadurch nicht umwerfen. Andere akzeptieren die Realität nie; sie bleiben unreif. Ich glaube, daß die westliche Gesellschaft an einer viel weiter verbreiteten psychischen Unreife leidet, als je zuvor. Sie ist lediglich eine Manifestation des Versagens, sich von der Mutter zu lösen und den Vater zu akzeptieren, wie ich das im zweiten Kapitel beschrieben habe. 

* Abgesehen von der ausgezeichneten Arbeit von Helmut Schoeck, Envy, a Theory of Social Behaviouz (Secker und Warburg, 1969), ist die Bedeutung des Neides sehr stark vernachlässigt worden.


 378

Von einem übermäßigen Paternismus hat sich ein großer Teil der Gesellschaft einem übermäßigen Maternismus zugewandt. Spontaneität, Duldsamkeit, Zwanglosigkeit sind gut, aber man kann auch zu viel des Guten haben — sogar der Freiheit. Disziplin, Selbstbeherrschung und Ordnung sind ebenfalls wichtige Werte. Die totale Ablehnung von Tradition, Autorität, Konvention und sogar von Rücksichtnahme auf andere sind ganz einfach eine <üble Sache>. Die Gesellschaft braucht auch diese Elemente.

Genauso, wie wir es nötig haben, paternistische und maternistische Elemente in der Persönlichkeit zu integrieren, ist das auch in der Gesellschaft erforderlich. Die zentrale Frage lautet: Wie können wir größere Veränderungen zuwegebringen, ohne alle Rücksicht auf die Vergangenheit zu opfern und in eine gedankenlose Revolution zu verfallen, die uns in einem schlimmeren Zustand zurückläßt als vorher? Wir müssen die sozialen Ziele, die Struktur der Regierung, das Arbeitsschema, die Schulbildung und Kindererziehung und vieles andere total umdenken und neu zusammensetzen. Um einen derartigen Wandel angesichts der Trägheit und der Opposition durchzusetzen, werden wir sehr heftig agieren müssen. Es kann also sein, daß wir, wie ein Mann, der gegen eine versperrte Tür anrennt, durchbrechen und der Länge nach zu Boden fallen werden. Offensichtlich müssen wir eher den Widerstand gegen eine Änderung reduzieren als den Druck auf eine Änderung steigern.

Im Augenblick ist die Gesellschaft in einem ungewöhnlichen Maß zwischen Paternisten und Maternisten, zwischen Hartem- und Weichem-Ich aufgespalten; die, die in der Mitte stehen, fühlen sich verwirrt und hilflos. Wir empfinden keine Sympathie für die Barschheit und den Materialismus der einen, aber auch keine für die Sentimentalität und den Unrealismus der anderen. <Realisten> und <Wohltäter> verachten sich gegenseitig. Der Mann in der Mitte wird von beiden Seiten beschimpft und geschlagen. Diese Situation ist sozial außerordentlich explosiv. Aber sie kann nicht durch lediglich politische und soziale Mittel gelöst werden. Das Problem hat seinen Ursprung in der Struktur der Persönlichkeit und der Art, wie sie in der Gesellschaft verteilt ist. Wenn wir die Prozesse, die die Persönlichkeit bilden, weiterhin ignorieren, wird sich die Lage wahrscheinlich noch mehr verschlechtern statt verbessern. Es besteht die Möglichkeit, daß eine Diktatur einer Periode des Chaos folgen wird. Das soll nicht heißen, daß die sozialen Faktoren unwichtig sind.


        379

   5 Aktionspläne  

  

Wie der französische Soziologe Jacques Ellul argumentiert hat, befaßt sich die Technologie nicht nur mit Maschinen, sie ist das Studium der Techniken, der Methoden, etwas zu tun. Um etwas richtig zu tun, müssen wir unsere Emotionen und persönlichen Neigungen unterdrücken. Ein Pilot, der sich dauernd wegen der Gefahren des Fliegens oder des Stands seines Bankkontos Sorgen macht, wird seinen Pilotenberuf aufgeben müssen. So beschränkt die Technologie unsere Freiheit, und während sie komplizierter und weiter verbreitet wird, begrenzt sie unsere Freiheiten auf immer mehr Arten.

Da wir es uns aber nicht leisten können, die Technologie vollkommen loszuwerden, müssen wir sie mit der nötigen Diskretion einsetzen (Ellul spricht davon, sie zu >transzendieren<, erklärt aber nicht wie, da er es auch nicht wisse). Die übliche menschliche Antwort auf ein derartiges Problem ist es, sich der politischen Aktion zuzuwenden, sei es, um Maßnahmen innerhalb des bestehenden Systems zu erwirken oder das System zu ersetzen.

Meine These lautet, daß eine rein politische Antwort nicht wirksam sein kann. Wir wissen, daß die Menschen ihre Haltung mit der größten Hartnäckigkeit beibehalten, weil sie in ihren Persönlichkeiten verwurzelt sind. Man kann einen Hartes-Ich-Menschen weder überreden noch gesetzlich zwingen, ein Weicher-Ich-Mensch zu werden, und die beiden in eine Mittelposition zu bringen, wäre noch schwieriger. Gewaltsame Revolutionen legen einfach dem Rest der Gesellschaft starre paternistische Schemata auf. Ich suche nach einem Utopia, das flexibel ist, das sich entwickeln und den sich wandelnden Umständen anpassen kann. Ein solches Utopia ist aber nur möglich auf der Basis einer modifizierten Persönlichkeit.


 380

Dann können in dem Verhältnis zu dem Ausmaß, in dem Menschen ihre Haltungen ändern, auch politische und soziale Veränderungen vorgenommen werden. Natürlich erfordert eine Veränderung in der grundlegenden Persönlichkeitsstruktur zwei oder drei Generationen, um einen effektiven Wandel zu erzielen, obwohl wir aus dem Tempo, mit dem sich die Freiheiten des achtzehnten Jahrhunderts in den Viktorianismus des neunzehnten veränderten und mit dem dieser wiederum der Duldsamkeit Platz machte, ersehen können, daß sich dramatische Änderungen innerhalb von etwa fünfzig Jahren, das heißt innerhalb von zwei Generationen vollziehen können.

Wenn gewaltsame Revolutionen neue institutionelle Systeme über Nacht einführen, werden die nächsten fünfzig Jahre damit zugebracht, die Persönlichkeitsstrukturen der Überlebenden in Reih und Glied zu bringen und die zu vernichten, die sich diesem Vorgang widersetzen oder die einen anderen Lebensstil vorziehen. Das ist eine Prokrustes-Politik, die den Gast dem Bett und nicht das Bett dem Gast anpaßt. Es ist eine kostspielige und unwirksame Prozedur, und zudem eine, die die Gesellschaft so materialistisch wie zuvor lassen wird. Heute versuchen politische Regimes, die einer Bevölkerung einen nicht erwünschten Lebensstil aufzwingen wollen, ihre Bürger <umzuerziehen>, sie einer Gehirnwäsche zu unterwerfen oder sie so umzukonditionieren, daß sie das Regime akzeptieren, und wir müssen erwarten, daß derartige Techniken immer wirksamer werden. 

Das wirft grundsätzliche Fragen auf: wenn die Bevölkerung so konditioniert wird, daß ihr das Gegebene gefällt, ist sie vermutlich glücklich, und man hat ein Schein-Utopia irgendeiner Art geschaffen. (Es ist eine seltsame Sache, daß viele von denen, die sich bestehenden Gesellschaften widersetzen, weil sie ihre Mitglieder subtil unterweist, den Status quo billigen, für den Marxismus sind, der seine Mitglieder noch gründlicher und auch derber unterrichtet. Das gilt besonders für das gegenwärtige Regime in China, das fortschrittliche psychologische Techniken verwendet, um ein individuelles Denken zu verhindern und das Gruppendenken zu fördern.)

Während der soziale Wandel meiner Ansicht nach in erster Linie eine Widerspiegelung des Persönlichkeits­wandels ist, möchte ich die Bedeutung sozialer Fakten bei der Verlangsamung oder Ausbreitung solcher Veränderungen nicht unterschätzen. 


381

Und während veränderte Menschen bald Institutionen verändern und neue Werte äußern werden, schließt das nicht aus, daß wir dennoch die Techniken für solche Veränderungen verbessern müssen. Wie können wir beispielsweise wissen, ob eine gegebene Institution wirklich gute Arbeit leistet oder ob sie richtig organisiert ist? Blockiert oder unterstützt unser Erziehungssystem die Äußerung veränderter Werte? Wir haben nicht die wesentlichen grundlegenden Daten: wie verschieden sind die Werte bei der bestehenden Bevölkerung? Wie verschieden sind die Maßstäbe des öffentlichen Verhaltens, und gründet sich eine solche Variation auf die Klasse, das Alter, die Region, die Religion oder ist das alles rein zufällig? Und welcher Grad von Verschiedenartigkeit ist bei diesen Problemen tolerierbar?

Noch allgemeiner ausgedrückt, wir wissen nur wenig über die psychologischen Schlüsselsituationen; wieviel Zeit verbringen Väter beispielsweise in den verschiedenen Gesellschaftsschichten tatsächlich mit ihren Söhnen? In all diesen und vielen ähnlich gelagerten Situationen sollte jedes Land intensive soziale Forschungen unternehmen. In der Praxis geschieht aber wenig oder nichts, und die Regierungen scheinen sich der Notwendigkeit von Informationen nicht bewußt zu sein.

Wie Anthony Downs, der Präsident der Real Estate Research Corporation in einem anregenden Artikel <Neue Richtlinien in der Stadtforschung> aufweist, besteht ein großer Mangel an Ideen für institutionelle Formen. Wie er feststellt, sind unsere wirklichen Probleme sozial und nicht technologisch — er übersieht aber die Schlußfolgerung, daß die Technologie sie deshalb nicht lösen kann. Es ist, wie der Comic-Strips-Held Pogo sagt: »Wir sind dem Feind begegnet und — wir sind es selbst.« Pogo bezieht sich nur auf den Rassismus, die Bemerkung hat aber viel weitere Relevanz. Das ist die grundsätzliche Begrenzung der <technologischen Fixierung>, die von Technomanen wie Alvin Weinberg, dem Direktor des Oak Ridge Nationalen Laboratoriums (für nukleare Forschung), vertreten wird. Die Verwendung einer Droge wie Antabuse zur Heilung des Alkoholismus zu empfehlen, befreit uns nicht von dem Problem, Menschen am Trinken zu hindern, womit sie in erster Linie ihr Elend abstumpfen wollen.


 382

Der Kontext, in dem diese ganze Diskussion stattfindet, ist der einer Welt, die rapide ihren Hilfsmitteln davonläuft. Von der Begrenzung der Technologie zu sprechen, von dem Austausch materieller Befriedigungen gegen nichtmaterielle, wird für Länder irrelevant erscheinen, wo die Armut weit verbreitet ist und wo die Grunddienstleistungen einschließlich der medizinischen Fürsorge gering sind oder völlig fehlen. Und doch besteht keine Aussicht, die ganze Welt auf den gegenwärtigen amerikanischen Lebens- und Ernährungsstandard anzuheben, und gegen Ende des Jahrhunderts, wenn die Bevölkerung der Erde um weitere 3,5 Milliarden angewachsen sein wird, wird diese Aufgabe noch hoffnungsloser sein. 

 

Man könnte sehr wohl ein Maß an Gleichheit wiederherstellen, indem man die Forderungen und den materiellen Lebensstandard der reicheren Länder etwas auf den der ärmeren reduziert, statt diese anzuheben. Die unterentwickelten Länder sind vielleicht die einzigen, die sich noch in einer ökologischen Ausge­glichenheit mit der Umwelt befinden. Eine Reduzierung dieser Art wird wohl kaum freiwillig vorgenommen werden, eher wird sie durch Seuchen oder durch Kriege herbeigeführt werden. Wie der Club von Rom erklärte, werden Anstrengungen, die man jetzt unternimmt, um eine größere Bevölkerung zu ernähren, nur eine noch größere Katastrophe in einer späteren Zeit garantieren. 

Die erschreckende Wahl, vor die wir jetzt gestellt sind, ist die, ob wir lieber jetzt zehn oder später Hunderte von Millionen verhungern lassen. 

Ähnlich mögen, wenn die Ermahnungen und die Programme für die Bevölkerungskontrolle erfolgreich sind, Menschen zu der Annahme ermutigt werden, daß sie mit der Industrialisierung weitermachen könnten — aber nur, um schließlich die Katastrophe über die Verschmutzung des Ökosystems herbeizuführen. Wie Professor Forrester über Computer demonstriert hat, gibt es in der gegenwärtigen Situation viele alternative katastrophale Ausgänge, und das Entkommen aus der Scylla kann sehr wohl bedeuten, daß wir der Charybdis zum Opfer fallen.


  383

Aus derartigen Gründen empfiehlt der Club von Rom eine sofortige 75prozentige Reduzierung in der Verwendung der natürlichen Hilfsquellen, eine bemerkenswerte Empfehlung für eine Organisation, die auch viele Geschäftsleute umfaßt. Sie empfehlen auch eine 20prozentige Reduzierung in der Lebensmittelproduktion, zusammen mit einer 30prozentigen Verringerung der Geburtenzahlen (was die Stabilisierung der Weltbevölkerung auf dem Stand von 1970 zur Folge haben würde). Vielleicht noch bemerkenswerter ist für eine solche Organisation die Empfehlung, die Kapitalinvestitionsquote um 40 Prozent herabzusetzen. Die Reduzierung der Gesundheitsdienste wird ebenfalls vorgeschlagen. 

Es erscheint aber unwahrscheinlich, daß eine dieser Empfehlungen durchgeführt wird.

   

    6  Ultra-Gewalt und Revolution   

 

Wenn wir keine der von mir angedeuteten Maßnahmen ergreifen, werden wir uns in die Aussicht ständig zunehmender physischer Gewalt schicken müssen. Wie bereits gesagt, ist der Ursprung der Gewalt die Frustration: sie stellt einen groben, unreifen Versuch dar, mit einer Situation fertigzuwerden, um ein Ziel zu erreichen. (Das ist häufig nicht der Fall, entweder weil sie Gegengewalt hervorruft oder weil sie das System zerstört oder beides. Da die Gesellschaft in steigendem Maß frustrierter wird, da die gesellschaftlichen Kontrollen über die Gewalt schwächer und immer mächtigere Waffen und Werkzeuge erfunden werden, wird die Gewalt immer mehr Schaden anrichten.) 

Optimisten versuchen oft, das Problem unter den Teppich zu fegen, indem sie sagen <Gewalt hatten wir schon immer>. Sie verweisen auf die Renaissance mit ihren gesetzlosen Condottieri-Banden, auf die Garotteure und die Jack-the-Rippers des neunzehnten Jahrhunderts. Sie erinnern an die grausamen Hinrichtungs­methoden, die von Tyrannen ersonnen wurden, um mögliche Nachahmer der betreffenden Rebellen, Verbrecher oder Ketzer abzuschrecken. Es hat auch nicht-gewalttätige Perioden und Gesellschaften gegeben. Es ist aber eine sehr wenig hilfreiche Antwort auf ein Problem, wenn man sagt, es habe das schon gegeben. Mehr noch, das Argument überzeugt nicht völlig. 


 6      384

Obwohl es schon gewalttätige Perioden gab, besonders wenn die Menschen in religiöse oder politische Kämpfe verstrickt waren, waren die <gedankenlose Gewalt> und der Vandalismus, wie wir sie heute kennen, verhältnismäßig selten, und der Bewohner eines kleinen Dorfes oder eines Landstädtchens konnte ein ganzes Leben verbringen, ohne mit Vergewaltigung und Mord, Raub und Gewalt konfrontiert zu werden, wie wir es von den Tagebuchschreibern vieler Perioden kennen.

Mehr noch, die Zukunft kann jedoch nicht mit der Vergangenheit verglichen werden, weil die Technologie den Menschen so starke Waffen in die Hand gegeben hat. Vor zweihundert Jahren war es einem Teenager einfach unmöglich, an einem einzigen Nachmittag zwanzig oder dreißig Menschen zu töten, wie das in Amerika vor nicht langer Zeit geschah, und zwar einfach, weil das Gewehr, das er dazu hätte verwenden müssen, noch nicht erfunden war. Noch viel weniger war es einem einzigen Menschen möglich, ein ganzes Gebäude mit all seinen Bewohnern oder einen Damm oder eine Brücke zu zerstören. Eine Ebene der gewaltsamen Impulse, die vielleicht in der Vergangenheit erträglich war, ist heute unerträglich und wird in der Zukunft noch unerträglicher werden.

 

Neben der <Gewalt der Straße>, wie wir sie bezeichnen könnten, wird es eine wachsende Gewalt im politischen Leben geben, entsprechend der marxistischen Interpretation von Gewalt, und das wird unweigerlich zu wachsenden repressiven Reaktionen führen. Die Entführung von Persönlichkeiten der Öffentlichkeit, das Verstecken von Bomben in Flugzeugen und öffentlichen Gebäuden sowie politische Morde sind bereits viel häufiger geworden: sie werden bald normal sein. 

Auch der Krieg ist erbarmungsloser geworden, die Begrenzungen, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so schmerzlich erreicht wurden, wurden in Vietnam ignoriert. Auch auf der psychologischen Ebene werden heftigere verbale Angriffe erfolgen, und die Diskreditierung von Menschen durch Verleumdungs­kampagnen und so weiter werden immer rücksichtsloser und allgemeiner werden. Das Fantasieleben wird gewalttätiger werden, und dieser Trend wird in die Ehe, die Familie, die Arbeitsbeziehungen und so weiter eindringen. Die Gewalt wird auch immer raffinierter werden, sie wird versuchen, nicht nur eine Klasse, sondern die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu unterhöhlen.


6      385

Das Versagen, aggressive Impulse zu zügeln, wird begleitet von dem Versagen, selbstsüchtige und habgierige zu drosseln. Wir werden ein Anwachsen der Unehrlichkeit, der Diebstähle, der nachlässigen Arbeit, des rücksichtslosen Autofahrens, der allgemeinen Verschmutzung, der Unhöflichkeit und allgemein der fehlenden Rücksichtnahme anderen gegenüber erleben. Das ist keine sehr verlockende Aussicht. Wenn eine Gesellschaft auf diese Art krank ist, zerbricht sie entweder, wird besiegt oder sucht nach einem Diktator, der die Ordnung wiederherstellt. So befinden wir uns auf einem Kollisionskurs, und es ist von entscheidender Bedeutung, daß wir eine wahrhaft titanische Anstrengung unternehmen, um die Frustrationen zu reduzieren, die die Ursache der Gewalttätigkeit sind, und zwar die situationsbedingten Elemente in der Gesellschaft genauso wie die <eingebauten> Aggressionen, die aus einer armen Kindheit herzuleiten sind. Unglücklicherweise haben unsere Führer davon keine Ahnung.

Der Marxismus erhebt den Anspruch, er denke an das Wohl der größten Zahl, das heißt, er gründe sich auf Liebe; was aber die Revolutionäre predigen und praktizieren, ist reiner Haß. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, möchte ich einen Vorfall an einem Seminar über die Neue Linke in Amerika berichten.

In dem Seminar schilderte eine radikale Studentin im Detail ihre Pläne für die Gesellschaft nach der Revolution. Ein Professor sagte zu ihr: »Ich stehe nur eine Schattierung rechts von ganz links. Wie würden sie nach der Revolution mit Menschen wie mir verfahren?« Sie erwiderte: »Wir würden Sie umerziehen.« Er drängte jedoch weiter: »Ich halte mich aber schon für ziemlich gut erzogen, und ich ziehe die Position vor, die ich jetzt innehabe. Was würden Sie deswegen unternehmen?« Mit Haß in den Augen und mit eisiger Stimme sagte sie: »Wir würden Sie eliminieren.« Man kann Ziele der Liebe nicht mit Mitteln des Hasses erreichen.

Angesichts der großen Schwierigkeiten, die Gesellschaft zu ändern, stellen besonders Studenten die Frage: »Ist die Gewalt zu rechtfertigen?« Das ist eine unsinnige Frage. Man müßte zuerst fragen: »Welcher Grad von Gewalt, von welcher Art, von wem gegen wen angewandt und zu welchem Zweck?« 


6     386

Gewalt ganz allgemein zu billigen oder zu mißbilligen wäre genauso absurd wie die Billigung oder Mißbilligung von Sauerstoff. Zu viel oder zu wenig Sauerstoff oder Sauerstoff am falschen Platz bringt einen Menschen um, und doch kann man ohne Sauerstoff nicht leben. Wenn Gewalt angewandt wird, um einigen Sektionen der Gesellschaft eine abstoßende Lebensweise aufzuzwingen, die diese Sektionen nicht wünschen, wird sie zum falschen Zweck angewandt. Demokratie heißt — oder sollte das — die Koexistenz alternativer Lebensweisen zu gestatten und die Evolution von lohnenderen aus den weniger lohnenden.

Ich sage <Evolution>, aber der Wandel, den ich fordere, stellt eine Revolution im metaphorischen Sinn des Wortes dar: eine vollständige Umwandlung unserer Ideen und Institutionen. In diesem Sinn zumindest bin ich für eine Revolution.

  

   7   Ist Glück möglich?  

 

Der Soziologe Kenneth Keniston erklärt, daß die Amerikaner den Glauben an die Möglichkeit verloren haben, ein Utopia oder auch nur eine bessere Gesellschaft zu errichten. »Die Amerikaner versuchen selten, wenn überhaupt, eine bessere Gesellschaft zu errichten, die besser ist als die, in der sie jetzt leben.« Ich bezweifle, ob das wahr ist, ich denke dabei an den großen Verkaufserfolg der Werke von Lewis Mumford, ganz zu schweigen von B.F. Skinners <Walden II>, Reichs <The Greening of America>, Roszaks <Gegenkultur> und so weiter.  en.wikipedia  The_Greening_of_America

Es gilt sicherlich nicht für die, die Kommunen errichten, ja nicht einmal für die, die dem Marxismus, Anarchismus und anderen Theorien huldigen. Es ist jedoch wahr, daß die Amerikaner zynischer geworden sind, als sie es waren, und daß sie wie die Europäer nicht mehr glauben, der Fortschritt werde automatisch kommen.

Es gibt jedoch eine Anzahl von Leuten, die einen abgrundtiefen desillusionierten Standpunkt einnehmen, wie etwa Malcolm Muggeridge, der unter dem Slogan <Rückwärts, christliche Soldaten!> zynisch erklärte: 


   387

»Die Befreiung vom Glück erscheint heute wohl als das größte Bedürfnis der Menschheit zu sein, und die christlichen Kirchen besitzen ein ideales Instrument, das zuwege zu bringen. Das Neue und das Alte Testament sind voll Hoffnungslosigkeit in der Welt nach etwas anderem als Trübsal zu suchen und so weiter und so weiter.«  

Der Schriftsteller Henri Montherlan bemerkt jedoch: »Unglück ist oft nur eine falsche Auslegung des Lebens.«

Natürlich ist das Wort Glück schlecht definiert. Offensichtlich ist es nicht der Fall, daß menschliche Wesen in einem Zustand einer permanenten Euphorie fortfahren können. Auch eine Politik des einfachen Hedonismus genügt nicht. Die Befriedigung höherer Bedürfnisse bedeutet gewöhnlich die Frustrierung niedrigerer. Die Befriedigung, einen Berg zu bezwingen, schließt auch ein, daß man Kälte, Hunger und Strapazen ertragen muß. Die Dinge immer auf die leichte Art zu tun, heißt die tieferen Befriedigungen versäumen — eine Lektion, die viele Menschen heute vergessen haben. Größere Bequemlichkeit bedeutet nicht größere Befriedigung, trotz der Reklame, die uns das Gegenteil einreden will. Wenn wir jedoch Glück mit Erfüllung gleichsetzen, scheint es mir reine Torheit zu sein, wenn man behauptet, daß kein größerer Grad von Erfüllung möglich ist, als der, den wir gegenwärtig besitzen.

Meine Befürchtung ist die, daß der Begriff <paraprimitiv> von einigen Leuten einfach als <primitiv> ausgelegt und daß das Konzept als bloßer romantischer Rückschritt in die Vergangenheit angegriffen werden wird. (Hätte ich den Begriff <metatechnologisch> gewählt, wären die Technologen beschwichtigt gewesen, andere hätten ihn aber als verkleidete Technomanie gesehen.) Ich möchte daher noch einmal und mit allem Nachdruck sagen, daß ich eine Synthese aus beidem vorschlage. 

Einige Menschen hoffen auf eine wunderbare neue und bisher unerhörte Lösung. Aber es sind keine Wunder zu erwarten. Wir müssen mit den Fakten auskommen, die lauten: die primitiven, uralten Bedürfnisse des Menschen und seine neuen technologischen Fertigkeiten. Der Wandel, den wir vornehmen müssen, der einzige Wandel, den irgendjemand vornehmen kann, besteht darin, die Prioritäten neu zu ordnen und das Gewicht zu verlagern, das wir den verschiedenen Werten beimessen. Gründe für einen vorsichtigen Optimismus liegen in der Tatsache, daß eine derartige Verlagerung eben einzutreten scheint. Die einfallsreichen Japaner versuchen sogar, einen <Index des Glücks> aufzustellen.


 7-388

Wenn das, was ich gesagt habe, einfach erscheint, dann deshalb, weil ich versucht habe, es so einfach wie möglich zu gestalten. Ich erkenne viele Kompliziertheiten und Feinheiten und bezweifle auch nicht, daß es weitere gibt, die ich nicht erkenne. Doch müssen wir zuerst die allgemeine Idee erfassen, sonst können wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.

Es ist der Fehler der Soziologen und mehr noch der Wirtschaftswissenschaftler, den Menschen allzu sehr zu vereinfachen, ihn als komplizierte Maschine zu behandeln, die mit Brennstoff versehen, gepflegt und programmiert werden muß, damit sie zufriedenstellend funktioniert. Und vielleicht habe ich in meinem Bestreben, Verschwommenheiten zu vermeiden und konkret zu bleiben, einen ähnlichen Eindruck erweckt. Aber der Mensch ist unendlich komplizierter. Der Mensch fühlt beispielsweise ein Bedürfnis nach dem Geheimnis: es ist schwer vorstellbar, daß das bei einem Roboter der Fall ist. Sein psychisches Leben kann auf eine Art verunreinigt werden, die wir kaum wahrnehmen, geschweige denn verstehen. Wie können wir beispielsweise den Verlust von Naivität qualifizieren? Wie können wir dem wirtschaftliches Gewicht beimessen oder ein solches Bedürfnis zu befriedigen suchen?

Wir können lediglich sagen, daß der Mensch in einer paraprimitiven Gesellschaft von dem Streß des Konkurrenzkampfes der Wirtschaft und dem einer unstabilen technologischen Umwelt befreit werden sollte — und nur unter diesen Umständen wird er genug Zeit haben, den geistigen Horizont und die Sensibilität zu finden, um auf die profunden Manifestationen seiner geheimnisvollen Menschlichkeit zu achten.

Ich habe versucht, dieses Buch auf eine ruhige, objektive Art zu schreiben, weil Zorn nur Feindschaft erweckt und verwirrt. Aber es gibt auch guten Grund zum Zorn. Die groteske Unzulänglichkeit, mit der wir geistige Störungen behandeln, und allein die wiederholten Skandale um Krankenhäuser und Heime für Geisteskranke würden genügend Brennstoff für diesen Zorn liefern. 

Wenn wir die stählerne Selbstgefälligkeit vieler Vertreter der Öffentlichkeit, die Rücksichtslosigkeit vieler Industrieller, die Arroganz vieler Jugendlicher und die Vorurteile und die Gleichgültigkeit der Älteren und vor allem die selbstzufriedene Mittelmäßigkeit jener <Kater und Pfaue> sehen, die wir Politiker nennen, ist es mir ein Geheimnis, wie jemand ruhig bleiben kann.

Man sagt, alles verstehen, heißt alles verzeihen. Ob wir aber unzufrieden oder zufrieden sind, die unerschütterliche Tatsache bleibt bestehen, daß wir das Privileg — das beschwerliche Privileg — erworben haben, unseren Lebensstil selbst zu wählen. Wir haben die intentionelle Gesellschaft. Deshalb sollten wir das Privileg besser ausnutzen, oder wir werden in die Alptraumwelt treiben, die die Technomanen für uns vorausgesehen haben: auf dem Weg dorthin sind wir bereits.

Dr. E. Fried, eine Psychoanalytikerin, schildert ihre Begegnung mit Buddhisten in Nepal: »Ihre eigenen Wahrnehmungen waren ihnen wichtig. Die Erkundung von allem, was gesehen werden konnte, war eine Quelle der Freude. Die kleingebauten Männer und Frauen schlürften nicht dahin, sondern bewegten sich frei durch die Reisfelder oder über die holprigen Wege. Spiel, Gesang, Lächeln und freudige Emotionen herrschten vor. Fast alle Fremden, die in dieser Region lebten, hielten das für ein gutes Leben. Es zog mich an, weil es aktiv war — nicht in energischen Taten, für die diese Menschen keine sinnfällige Neigung zeigten, sondern in Wahrnehmung, Emotion, Spiel und bei den Gebildeten auch im Denken.« 

Wer von meinen Lesern könnte das gleiche vom Leben in unseren Ländern behaupten? 

In fast jeder Situation gibt es drei Alternativen: Sichtreibenlassen, Rückkehr zur Vergangenheit oder eine neue Synthese. Wie können wir die Qualität des Lebens - anstatt Macht oder Profit oder Trickserei - zum Kriterium all unserer Entscheidungen machen? 

Das ist die vorrangige Frage des nächsten halben Jahrhunderts. 

7-389

 

Ende

 

 

  www.detopia.de      ^^^^

Gordon Rattray Taylor  1972  Experiment Glück