Eine Kultur ist so leicht zerstörbar wie ein Leben. --Paul Valery--
1 Das neue Gleichgewicht der Macht - 2 Bruchstellen der Technik - 3 Mehr machtvolle Waffen - 4 Systemverkleisterung - 5 Läßt uns der Egoismus Überlebenschancen?
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1 Das neue Gleichgewicht der Macht
Im November 1972 brachten drei Bewaffnete eine DC-9 der Luftfahrtgesellschaft Southern Airways auf einem Linienflug zwischen Birmingham und Montgomery (beide Alabama) in ihre Gewalt und verlangten für die 30 Fluggäste und die Besatzung pro Kopf ein Lösegeld von 10.000 Dollar. Zusätzlich verlangten sie ein amtliches Schriftstück, versehen mit dem Siegel der Regierung der Vereinigten Staaten, in dem bestätigt werden sollte, daß die Lösegeldsumme eine «Staatsanleihe» darstelle. Bei Nichtbefolgung ihrer Bedingungen, so drohten die Luftpiraten, würden sie das Flugzeug über dem Atomenergiezentrum von Oak Ridge abstürzen lassen.
Tatsächlich ist Oak Ridge das experimentelle Zentrum der <Atomic Energy Commission>, ein ausgedehnter Komplex aus zahlreichen Bauten, von denen die meisten keine Reaktoren beherbergen — also keine allzu günstige Zielauswahl. Aber selbst wenn sich die Luftpiraten entschlossen hätten, ihr Flugzeug auf einen deutlicher auszumachenden Atomreaktor zu lenken, so dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit der Stahlmantel des Reaktorgebäudes dem Aufprall standgehalten haben. Falls nicht, so hätten weitere Sicherheitsvorkehrungen den Reaktor zum Erlöschen gebracht.
Gefährlicher wäre schon ein Treffer im Maschinenhaus gewesen, wo die Turbinen untergebracht sind. Die mit sehr hoher Drehzahl laufenden Schaufelradturbinen würden durch den Aufprall eines abstürzenden Flugzeuges jäh angehalten, die messerscharfen Turbinenblätter infolge des Drehmoments nach allen Seiten abgeschleudert. Die Folge: durchtrennte Dampfleitungen, Stromkabel — auch Menschen wären mit Sicherheit tot oder verletzt.
Dieser Fall beleuchtet eine ganze Reihe typischer Erscheinungen moderner Gewaltanwendung. Zunächst finden wir die Bereitschaft, Unbeteiligte in großer Zahl in Gefahr zu bringen. Dann haben wir da den selbstmörderischen Wunsch, in einem Inferno unterzugehen, wenn das Ziel sich nicht erreichen läßt. Hier erscheint nihilistisches Verhalten in einem nicht politisch motivierten Kontext.
Es wird aber noch ein anderer Aspekt unserer Situation deutlich: die entscheidende Wandlung, welche die moderne Technik herbeigeführt hat, indem sie dem Kriminellen Mittel zur Hand gibt, weitaus gefährlicheren Schaden zu stiften, als dies früher möglich gewesen wäre, und sich ungleich leichter vom Ort des Verbrechens abzusetzen. Ein Bandit war früher wohl imstande, ein paar Geiseln zu nehmen — der Luftpirat von heute aber kann 150 in seine Gewalt bringen. Ein Terrorist vergangener Zeit mochte ein Haus in Brand stecken; heute könnte er mit einem Knopfdruck tausend Häuser in die Luft jagen. In Amerika haben Halbwüchsige zum Spaß ganze Wohnblocks unbewohnbar gemacht, einfach durch die Zerstörung der Aufzüge.
Wir befinden uns in der Tat in einer ganz neuen Phase der Geschichte der Gewaltanwendung, denn es sind nicht nur die Waffen und Zerstörungsmöglichkeiten um den Faktor Tausend oder gar eine Million gewachsen — auch die Gesellschaft insgesamt ist weitaus verwundbarer als früher.
Das Gleichgewicht der Macht, beruhend auf der Balance von aggressiven und defensiven Möglichkeiten, hat sich gewandelt. Wir kennen das aus der Kriegsgeschichte: Da gab es Zeiten, in denen die Angriffswaffen stärker waren, und Zeiten, in denen die Defensivwaffen dominierten. Im Ersten Weltkrieg blieben die Kämpfe in den Gräben stecken, im Zweiten Weltkrieg waren meist die großen Bewegungsschlachten mit Panzerverbänden entscheidend. Das Gleichgewicht der Macht in der Gesellschaft hat sich heute in ähnlicher Weise zugunsten der aggressiven Möglichkeiten verlagert, zugunsten des beweglichen, wohlbewaffneten Terroristen und zum Nachteil seiner Opfer. In fünfzig Jahren mag sich diese Balance wieder anders darstellen, weil dann womöglich ganz anders wirksame neuartige Methoden antiaggressiver Gehirnwäsche oder Medikation zur Verfügung stehen. Im Augenblick aber hält der Terrorist, hält der Kaputtmacher alle Trümpfe in seiner Hand.
2 Bruchstellen der Technik ^^^^
Die technische Gesellschaft ist hochspezialisiert und daher besonders abhängig von Systemen wechselseitigen Austauschs, wechselseitiger Abhängigkeit: Wenn irgendwo eine spezifische Funktion ausfällt, macht sich dieser Ausfall bald in der gesamten Gesellschaft bemerkbar. Einen Vorgeschmack solcher Zusammenhänge bekommen wir bereits immer dann, wenn durch einen Streik eine der Grundlagen des modernen Alltags vorübergehend ausfällt: Strom oder Postverkehr.
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Als noch die Windmühlen und Wasserräder liefen, war es selbst für eine organisierte Gruppe nicht möglich, die Industrie eines ganzen Landes lahmzulegen. Auch die Verbindungen der Menschen untereinander waren durch Gruppen nicht ernstlich zu gefährden. Heute hingegen ist das nur allzu einfach. Um bloß ein Beispiel zu nennen: Ein Großteil des europäischen Luftverkehrs wird heute von zwei oder drei Überwachungszentren aus gesteuert. Ein Guerillakämpfer mit einer Bombe oder einem Schnellfeuergewehr könnte beim Eindringen in solch ein Luftfahrtkontrollzentrum einen nicht geringen Teil des Flugverkehrs über einem Land zum Erliegen bringen, wobei es im Nebeneffekt wohl noch zu einigen verheerenden Luftzusammenstößen käme.
Allein vom Londoner Flughafen Heathrow werden pro Tag zwischen 900 und 1000 An- und Abflüge gemeldet, während manche amerikanische Luftverkehrszentren das Zehnfache bewältigen.
Anfällig sind auch Einrichtungen des Nachrichtennetzes. Viele Länder benutzen für ihre Rundfunknetze hauptsächlich Ultrakurzwellensender, die auf hohen Funktürmen installiert sind. Da Ultrakurzwellen sich nur über gerade Strecken fortpflanzen können, muß jeder der hohen Funktürme so postiert sein, daß er in Sichtlinie zum nächsten steht, ohne daß sich Hügel oder Bauwerke dazwischenschieben. In Großbritannien stehen etwa 100 solche Türme mit Zwischendistanzen von 35 bis 40 Kilometern. Sie wären durch Sprengstoffanschläge leicht zu zerstören, ebenso durch Kappen der ein- und ausleitenden Mehrstrangkabel. Systeme dieser Art haben gewisse Sicherheitsspielräume; so etwa könnte der Verkehr durch Kabel wieder in Gang gebracht werden, die gesichert unter der Erde laufen. Zweifellos sind Leitungen, die für den Verteidigungsfall vorgesehen sind, auf diese Art in mehrfacher Ausführung verfügbar. Bei einer Zunahme der Sabotage könnte ihr also dadurch begegnet werden, daß diese Sicherheitsspielräume bis zu einem Grad erhöht werden, der künftigen Aktionen kaum noch Aussicht auf Erfolg läßt.
Anfälliger wäre da schon die Stromversorgung. Am 1. April 1973 bestanden in Großbritannien 174 Kraftwerke mit einem Verbundnetz aus 4268 Kilometer Hochspannungsleitungen von 400.000 Volt sowie Netzen geringerer Kapazität von 275.000 und 132.000 Volt. Die einzelnen Kraftwerke werden dem Versorgungsnetz angeschlossen, je nach Tageszeit und hierdurch bedingtem Bedarf, und dies bewerkstelligt ein komplexes Kontroll- und Regelsystem, das auf sieben lokale Zentren verteilt ist, die ihrerseits aber unter dem für ganz England zuständigen Zentrum in London zusammengefaßt sind. Das National Centre in London erhält über das Telefonnetz mehr als 1100 Meter Ablesungen aus den Unterstationen und 9000 Angaben, die sich auf die An- und Abschaltungen in anderen Zentren beziehen. Der Vorsitzende des Central Electricity Generating Board, Arthur Hopkins, äußerte sich darüber jüngst wie folgt:
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«Um es ganz offen zu sagen — wir segeln etwas hart am Wind, weil das im wohlverstandenen finanziellen Interesse unserer Kunden liegt, und dank des Könnens unserer Leute an den Schaltungen haben wir nur selten nasse Füße bekommen. Dieses Das-Boot-gerade-noch-über-der-Wasserlinie-Halten ... verlangt oft Entscheidungen im Bruchteil einer Sekunde und stählerne Nerven.» Es verlangt aber auch noch mehr. Ein Mann mit einer Bombe oder einem Gewehr könnte die in einem solchen Zentrum Tätigen unschwer daran hindern, die nötigen Ausgleichsmaßnahmen im Stromnetz vorzunehmen, und das müßte zum sofortigen Zusammenbruch großer Teile der englischen Stromversorgung führen. Nachhaltiger noch wären die Auswirkungen, wenn die Verantwortlichen im Zentrum von den eingehenden Daten abgeschnitten würden, die für jede Entscheidung Voraussetzung sind.
Es wäre also gar nicht nötig, eine Bombe zu zünden; es genügt schon, einige Schalter verkehrt zu bedienen, und schon ist kein Ausgleich zwischen Stromverbrauch und Stromzufuhr mehr gegeben; das ganze System gerät durcheinander.
Ähnlich störanfällig ist jeglicher Transport zu ebener Erde. Wer eine Autostraße sperren will, muß nur ein Fahrzeug auf einer Überführung oder Brücke quer zur Straße stellen — wenn er sie nicht durch Sprengung für länger unpassierbar machen möchte. Im Eisenbahnverkehr bricht das Chaos aus, wenn nur ein einziger Zug auf einer Strecke liegenbleibt, wo er viele andere blockiert. Ebenso sind die Signale an sehr stark überfahrenen Weichen oder Kreuzungen neuralgische Punkte. Hochgradig gefährdet sind auch die Untergrundbahnen, da hier für die Fahrgäste kaum eine Möglichkeit des Entkommens besteht. Dabei brauchte man weder den Schienenweg zu zerstören noch auch die Wagen selbst oder das Signalsystem, da Untergrundbahnen vom Funktionieren der Ventilation abhängen. Vor dem letzten Krieg untersuchten deutsche Agenten die Möglichkeiten einer Einleitung von Giftgas in die Londoner Untergrundbahn, indem sie harmlose Bakterien vor dem Lufteinzug des Ventilationssystems verbreiteten und dann nachprüften, ob diese Bakterien auch an anderen Stellen des Systems auftauchten — was der Fall war.
Praktisch jeder Weg, auf dem wichtiger Bedarf angeliefert oder verteilt wird, bietet dem Terroristen oder Zerstörungswütigen einen Ansatzpunkt. Nicht allein Wasser, Milch, Öl, Strom, Müll — jede Leitung, jeder Leitungsdraht, jeder Kanal der Medien birgt ein Risiko. Der Tunnel unter dem Ärmelkanal (man hat die Pläne gegenwärtig wieder einmal in die Schublade gelegt) wäre nach Professor Richard Clutterbuck von der Exeter University, einem Experten in Fragen der Stadtguerilla, ein höchst lohnendes Ziel. Eine einzige Bombe könnte hier den Handel Großbritanniens mit dem Kontinent auf einen Schlag ins Stocken bringen und ein unvorstellbares Verkehrschaos auf 100 Kilometern nach jeder Einfahrt auslösen.
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Ein anderes augenfälliges Ziel sind die 40 Ölbohrinseln und die 23 Erdgasplattformen in der Nordsee, leicht zugänglich für einheimische wie landesfremde Terroristen. Gar nicht erwähnen will ich die Pipelines auf dem Meeresgrund. Die britische Navy spielt gegenwärtig mit dem Gedanken, einige Fischkutter zu kaufen und zu bewaffnen, als eine Art Wach- und Schließgesellschaft auf See — eine nicht eben sehr verläßliche Abwehrmaßnahme angesichts der Möglichkeiten von Angriffen aus der Luft und mit Kleinst-U-Booten.
In gewissen Industriezweigen, etwa in der Papierindustrie, bei der Stahlerzeugung und in einigen Bereichen der chemischen Industrie, hängt die ganze Branche von einigen wenigen, fest in das System integrierten Herstellungsbetrieben ab. Die Explosion im Chemiewerk von Flixboipugh zog die gesamte britische Plastikindustrie in Mitleidenschaft. Die Möglichkeiten der Industriesabotage in großem Stil sind heute so horrend, daß es einen wundern muß, wie wenig noch immer passiert ist.
Zwar ist es richtig, daß durch Bombardierungen im Krieg die Industrie nicht zum Erliegen kam, aber so ohne weiteres ist die Situation von heute mit der von damals nicht vergleichbar. Die Angriffe waren meist nicht sehr präzise; auch war vor dreißig Jahren die Integration der einzelnen Betriebe in die Herstellungskette weniger eng als gegenwärtig. Außerdem sind ja in Kriegszeiten Sicherungsvorkehrungen getroffen, die im Frieden nicht oder noch nicht existieren. Bislang waren nur gelegentlich Sprengstoffanschläge gegen die industrielle Struktur gerichtet, vielleicht weil Terroristen mehr darauf abzielen, Menschen Schaden zu bringen, als darauf, tatsächliche Erfolge zu erreichen. Wenn aber jemals eine politische Gruppe eine planmäßige Zerstörungsaktion beginnen sollte, so hätte sie damit sicher einige Zeit für Chaos gesorgt und könnte das für ihre Ziele nutzen.
Am allerempfindlichsten sind die Steuerungssysteme einer Gesellschaft, einschließlich der Steuerung auf geldwirtschaftlichem Gebiet.
Sollten die Banken einmal streiken, so wäre die Gesellschaft in einer vertrackten Lage. Heutzutage basieren alle unsere Steuerungssysteme, gleich, ob für die Energieversorgung, den Geldverkehr, die öffentliche Sicherheit oder selbst nur für die lokale Verwaltung, auf der Funktion von Computern — und das sind hochanfällige, leicht zu zerstörende Geräte. Wohl nicht von ungefähr haben Studenten in Amerika verschiedentlich Aktionen gegen Computer unternommen. Dabei muß gar nicht einmal die Apparatur selbst kaputtgemacht werden. Es reicht aus, wenn die Daten einfach nicht gelöscht werden oder die Programmierungen verschwinden. Computer können durchaus im wichtigen Moment etwas Falsches machen. Erst jüngst mußte eine Bank feststellen, daß versehentlich die Geldeingänge einer ganzen Woche gelöscht worden waren, worauf die Kunden gebeten wurden, doch anzugeben, wieviel Geld ihrer Meinung nach auf den Konten stand.
Die immer häufiger über Computer in Datenbanken umgewandelten Polizeikarteien sind ein Ziel, das sich nachgerade anbietet. In England hat die Angry Brigade bereits versucht, den Polizeicomputer im Tintagel House in die Luft gehen zu lassen. Wäre aber gesellschaftliches Chaos das Ziel, so müßte es sich als wirkungsvoller erweisen, Daten über Einkünfte des Staates oder über Börsengeschäfte zu vernichten.
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Gegenwärtig erfährt gerade die Steuerung des Verkehrs durch Computer einen zügigen Ausbau — da bieten sich phantastische Möglichkeiten an. Buchungen für Flugreisen laufen zumeist schon über Computer, und die Kosten im Falle einer Panne wären so enorm, daß gewöhnlich Duplikate angefertigt werden. Was aber dann, wenn irgendwo ein verbiesterter Programmierer sitzt und den Computer einfach mit falschen Daten füttert? Das hätte ein viel größeres Durcheinander zur Folge als ein bißchen Löschen der Informationen. Eine solche Störaktion könnte dann etwa nach der Regel gehen: Teile alle Bankguthaben über 50.000 DM durch 10; multipliziere alle Bankguthaben unter 10.000 DM mit 10 — wäre ja doch ganz spaßhaft.
Unsere Gesellschaft hat sich dazu entschlossen, ihren Sicherheitsspielraum herabzusetzen. Heute werden Brücken gebaut, deren Höchstbelastbarkeit um 40-50 % über den Werten liegt, die im normalen Verkehr die obere Grenze bilden. Früher aber baute man Brücken, die zwanzigmal belastbarer waren, als es normaler Gebrauch erforderte. Der moderne Ingenieur hält sich etwas darauf zugute, daß er wirtschaftlich denkt und daher die Sicherheitsspanne verringert.
Wolkenkratzer werden zwar so gebaut, daß sie dem stärksten erwartbaren Sturm standhalten. Was aber dann, wenn ein Sturm einmal stärker als erwartbar ist? Wenn eine Abweichung von der meteorologischen Statistik nach oben erfolgt? Daß Schuldächer zusammenstürzten, weil ein unerwarteter Leistungsabfall der tragenden Elemente nicht durch eine latente Reserve aufgefangen werden konnte, hat man leider erlebt. Die Tragflächen der Flugzeuge sind gerade so konstruiert, daß sie nicht abbrechen. Kraftwerke erzeuge gerade so viel Strom, um den Bedarf zu decken. Die Züge fahren so, daß sie dem voranfahrenden Zug nicht gerade hinten auffahren. Nahrungsmittel sind gerade noch verwertbar, trotz fraglicher Konservierungspraktiken. Das Wasser ist eben noch für den Verbrauch als Trinkwasser geeignet.
Es ist schon eine ungewöhnlich anfällige Gesellschaft, die wir uns da geschaffen haben.
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In seinem bemerkenswerten Buch The Jagged Orbit versucht John Brunner sich auszudenken, welche neuen Möglichkeiten für Mord und gesellschaftssprengende Aktivitäten gegeben sind.
en.wikipedia The_Jagged_Orbit en.wikipedia John_Brunner - novelist
Da wir bereits über Bakterien verfügen, die sich von Erdöl oder Kunststoffen ernähren, ist es vielleicht nicht ganz abwegig, sich auch Bakterien vorzustellen, die Metalle in ihren Nahrungskreislauf einbeziehen. Auf Metall gebracht, würden solche Bakterien sich vermehren, dabei aber ihre Unterlage einem Zersetzungsprozeß infolge chemischer Prozesse unterwerfen. Etwas Bakterienpaste, auf einen Brückenpfeiler geschmiert, könnte also vielleicht die Zerstörung der Brücke bewirken.
Und da wir heute über sehr feine Fasern von enormer Reißfestigkeit verfügen, die bei der Verstärkung von Plastik Verwendung finden, lassen sich auch Fasern denken, die durch ihren geringen Durchmesser überhaupt unsichtbar bleiben, jedoch stark genug sind, um etwa, über eine Straße gespannt, jedes Fahrzeug mitsamt Insassen säuberlich in zwei Hälften zu zerteilen. Ähnliches geschah bereits im letzten Krieg mit Klaviersaiten, die unter den Kradmeldern der deutschen Wehrmacht einige Todesopfer forderten — sie waren aber nur im Dunkeln verwendbar.
Während die Gesellschaft immer anfälliger für gewaltsame Einwirkungen wird, werden die verfügbaren Waffen immer gefährlicher.
Wenn im vorindustriellen Zeitalter einen Mann die Mordlust überfiel, dann mochte er allenfalls drei oder vier Menschen niederstechen, ehe er überwältigt wurde. Heute kann er mit einem Maschinengewehr zehnmal so viele Unschuldige töten, mit einer Bombe vielleicht hundertmal so viele. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß diese Progression bald aufhören werde. Der nächste Steigerungsschritt wären dann eindeutig nukleare Waffen, entweder gestohlen aus irgendeinem Armeedepot oder von einer sympathisierenden Regierung an Terroristen weitergegeben (wie mit lenkbaren Raketen bereits geschehen ist) — vielleicht auch selbstgefertigt.
Eine Publikation des Untergrunds, <Undercurrents>, die in London herauskommt, hat jüngst Instruktionen für den Bau einer Privatatombombe veröffentlicht, zugleich mit der Anweisung, wo man sie tunlichst zur Explosion bringen solle: in der Charing Cross Station, weil damit auf einen Schlag das Parlament, die königlichen Paläste und wenigstens ein Bahnhof zusammen mit einem wesentlichen Teil des U-Bahn-Netzes zerstört würden. Nun ist es allerdings schwerer, eine Atombombe herzustellen, als sich der Schreiber dieses Artikels hat träumen lassen. Die Explosion nach dem angegebenen Rezept wäre auch ziemlich schwach gewesen (gemessen jedenfalls an den Erwartungen, die heute an atomare Sprengkörper gestellt werden), aber einige Menschen hätten einen solchen Versuch wohl mit dem Leben bezahlen müssen, ganz abgesehen von der dann freigesetzten Radioaktivität.
Aber selbst wenn man die Untergrundbombe allzu ernst nicht nehmen möchte, so besteht doch kein Zweifel, daß etwa ein Land des Nahen Ostens über das nötige Material wie auch über die Kenntnisse verfügt, um etwas noch weit Häßlicheres zusammenzubauen — Zeit wie Geld hätte es dazu genug. Und wenn sich eine solche Bombe auch nicht in der Hutschachtel unterbringen ließe, so doch in einem Bahncontainer oder in einem überschweren Lastwagen.
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Der Umweltforscher Jon Tinker hat dazu im <New Scientist> angemerkt: «Die Herstellung einer Atombombe ist technisch ein einfacher Vorgang. Alles, was man dazu braucht, ist ein fähiger Kernphysiker mit erstklassiger Ausbildung, dazu ein Dutzend guter Techniker, leicht zu beschaffende Ausrüstung im Werte von etwa 50.000 Pfund (wie manche glauben, auch nur 10.000 Pfund) sowie sechs Monate oder ein Jahr ungestörter Arbeitszeit. Und spaltbares Material: Uran 235 oder Plutonium 239.» Wie wir in Kapitel 14 noch sehen werden, werden Brutreaktoren dafür sorgen, daß spaltbares Material in hinreichender Menge vorhanden ist.
Laut dem Rezept in <Undercurrents> wird die kritische Masse für die Kugelbildung mit einer Neutronen reflektierenden Schicht als Strahlungsschild umgeben. Da Brutreaktoren bis zu 3 Tonnen Plutonium enthalten, bestehen da keine Probleme.
Radioaktive Substanzen können auch als neuartige Waffe auf schreckliche Weise zur Anwendung kommen, ähnlich wie biologisches Material. Zu Beginn des Jahres 1974 machte sich das ein deutscher Wirrkopf zunutze, als er ein Lösegeld in Höhe von 35 Millionen DM forderte, anderenfalls er das Trinkwasser vergiften und biologische Zeitbomben in jüdische Geschäfte und Hotels legen sowie infektiöse Briefe an Politiker versenden werde.
Ohnehin werden wir die Entwicklung weiterer neuer Waffen erleben, von denen keine vor Mißbrauch gesichert ist. Schon heute kann fast jeder intelligente Schuljunge einen Laserstrahl erzeugen, der über Hunderte von Metern Menschen zu blenden vermag. Es gibt ja genug eingehende Beschreibungen seiner Funktionsweise in populärwissenschaftlichen Publikationen, und in den USA werden Laserstrahlen zunehmend im experimentellen Schulunterricht verwendet. Aber das sind noch Kinkerlitzchen. Die US Air Force unterstützt mit hohen Summen die Entwicklung eines Superlasers, der kilometerweit entferntes Metall zu durchbohren vermag, um den Absturz eines Bombers oder einer Rakete zu bewirken.
Es ist davon auszugehen, daß noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts leicht tragbare «Taschenlaser» entwickelt sein werden, deren Besitzer weit über die Reichweite einer Handfeuerwaffe hinaus mit dem Strahl Feuer entzünden, blenden, verstümmeln und töten können. Doch noch vor ihrer Entwicklung zur tragbaren Waffe werden Laserstrahlen von irgendwelchen Wandalen dazu mißbraucht werden, Autoreifen zu durchbohren, Uhren außer Betrieb zu setzen, Löcher in Öltanks und Milchkannen zu bohren und aus sicherer Entfernung hübsche Feuerchen anzufachen.
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Nach Brunners Voraussage werden die Häuser dann Stahlläden nötig haben, die sich bei Hitzeeinwirkung sofort automatisch über die Fenster herablassen. Die Menschen aber wären dann gezwungen, Brillen zu tragen, deren Gläser von selbst dunkel werden, wenn sie starker Lichteinwirkung ausgesetzt sind — Gläser, wie man sie zum Schutz gegen den Blitz bei Atombombenexplosionen entwickelt hat.
Schließlich sollte neben der Möglichkeit terroristischer oder wandalistischer Zerstörungsaktionen nicht jene andere Möglichkeit vergessen werden, die derartige Aktivitäten in ungleich größerem Maßstab wahrscheinlich werden läßt: als generalstabsmäßig organisiertes Unternehmen einer Großmacht am Vorabend eines Konflikts oder während eines Krieges, der offiziell nie erklärt wird. Und selbst dann, wenn wir die Gefahren bewußter Zerstörung künftig vermeiden können, wäre doch unser System derart hochgradig anfällig aufgrund seiner Komplexität, daß es allein von seiner Struktur her zu einem Stillstand kommen könnte. Mangels einer besseren Terminologie nenne ich eine solche Möglichkeit hier «Systemverkleisterung».
Als Präsident Roosevelt am 12. April 1945 starb, griffen so viele Menschen zum Telefonhörer, um mit ihren Freunden und Bekannten die Nachricht zu diskutieren, daß das gesamte Telefonnetz der USA für einige Stunden zusammenbrach und kaum noch ein Ferngespräch durchkam. Damals gab es bloß 30 Millionen Anschlüsse. Heute, da 100 Millionen Anschlüsse bestehen, ist die Gefahr eines Netzzusammenbruchs ungleich größer. In den letzten Jahren ist das New Yorker Telefonnetz häufig zusammengebrochen; die Werbeagentur Benton & Bowles veröffentlichte einmal eine ganzseitige Anzeige in der <New York Times>, in der sie alle Mitarbeiter aufführte und dazu schrieb: «Sie glauben vielleicht, daß diese Leute nicht mehr für Sie arbeiten und daß Sie deshalb keinen ans Telefon gekriegt haben. Aber sie sind alle da. Kommen Sie her und überzeugen Sie sich.»
Mit dem Verkehr steht es nicht anders als mit den Telefonnetzen. Straßen haben nur eine gewisse Kapazität; wird diese überschritten, bricht das ganze System zusammen, und niemand kommt mehr voran. Ähnlich bricht die Stromversorgung zusammen, wenn der Bedarf über die Versorgungskapazität hinausgeht. Dann sitzt alles im Dunkeln, wie in einem Teil der amerikanischen Ostküstenstaaten im Jahr 1965.
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Roberto Vacca, ein italienischer Elektroingenieur, der in Cambridge und Harvard studierte und an der Universität Rom gelehrt hat, glaubt an eine ähnliche Art der Überbelastung unserer ganzen Gesellschaft in naher Zukunft:
«Meine These lautet, daß die großen technischen und organisatorischen Systeme weiterhin wild draufloswachsen werden, bis sie eine kritische Größe erreichen, die durch Instabilität gekennzeichnet ist. An diesem Punkt der Entwicklung wird die Krisis eines einzelnen Systems die großen städtischen Ballungszentren noch nicht blockieren können, aber die zufällige Gleichzeitigkeit von Zusammenbrüchen in verschiedenen Systemen kann im gleichen Gebiet zur Auslösung eines katastrophischen Prozesses führen, der das Funktionieren einer höherentwickelten Gesellschaft unmöglich macht und zum Tod von Millionen von Menschen führt.»
wikipedia Roberto_Vacca *1927 in Rom
Zusammenbrüche dieser Art häufen sich zunehmend. Die Energieversorgungskommission der Vereinigten Staaten untersuchte 179 Fälle von Versorgungsausfällen, die in den zwei Jahren von Mitte 1967 bis Mitte 1969 vorgekommen waren, wobei sie herausfand, daß in 80 Fällen funktionale Unzulänglichkeiten die Ursache bildeten. Vacca verdeutlicht, daß die moderne Gesellschaft von zahlreichen «Großsystemen» abhängig ist, also nicht nur von Telefonnetzen und Energieversorgungseinrichtungen, sondern ebenso von der Postzustellung, den Bahnverbindungen, Verteidigungseinrichtungen usw. Wenn eines dieser Systeme zusammenbricht, nimmt der Druck auf die anderen zu. Kann man jemanden brieflich nicht mehr erreichen, ruft man ihn an. Ist das Telefon ständig belegt, fährt man mit dem Auto hin. Sind die Straßen verstopft, steigt man in den Zug. So besteht die Gefahr, daß an einem einzigen Tag alle Systeme gleichzeitig verkleistern.
Vacca entwirft einen möglichen Ablauf solcher Systemverkleisterung.
Ein Fluglotse, erschöpft nach ununterbrochener zehnstündiger Tätigkeit infolge Ausfalls des ihn ablösenden Kollegen, begeht einen Irrtum: Zwei Flugzeuge stoßen in der Nähe des O'Hare Airport bei Chicago zusammen. Dabei wird eine elektrische Hochspannungsleitung unterbrochen, wodurch die ganze Stromversorgung durcheinandergerät, was zu einem Stromausfall von mehrtägiger Dauer in einem großen Gebiet der Vereinigten Staaten führt. Es ist mitten im Winter, es liegt hoher Schnee. Da weder die Verkehrsampeln noch die elektrischen Ölpumpen funktionieren, kommt der Verkehr bald zum Erliegen. Viele Leute, die aus ihren Autos aussteigen, um zu Fuß nach Hause zu gelangen, erfrieren im Schnee. In den Häusern verdirbt der Inhalt der Eisschränke. Zentralheizungen mit elektrischen Ölpumpen fallen aus. Wasserleitungen frieren ein. Die Öllaster kommen über die verstopften Straßen nicht mehr voran. Da die Leute ständig um Hilfe telefonieren, bricht das Fernsprechnetz zusammen. Die Menschen sitzen im Dunkeln, fröstelnd, hungrig, voll Sorge. Brände brechen aus, aber die Feuerwehr kommt nicht mehr durch. In den finsteren, eisig gewordenen Krankenhäusern sterben die Patienten weg. Leute, die auf den Straßen steckenblieben, versuchen sich mit Gewalt Zutritt in Privathäuser zur Übernachtung zu verschaffen, werden aber von den Hausbesitzern mit der Waffe abgewiesen. Am dritten Tag beginnen die Leute die Supermärkte nach Nahrungsmitteln zu plündern.
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Nach zwei Wochen einer solchen Krise sind einige Millionen Menschen tot. Gerade als die Lage sich zu bessern scheint, kommen die Seuchen. Da Abwässer und Müll nicht mehr beseitigt wurden und bei der großen Anzahl von Toten die Leichen oft tagelang unbestattet liegenblieben, ist die Stunde der Ratten gekommen. Jetzt erst beginnt die Bevölkerung wirklich zusammenzuschmelzen. Sie stirbt zu vielen Millionen.
Ich habe hier kurz zusammengefaßt, was Vacca in seinem atemberaubenden Buch «II Medioevo Prossimo Venturo» (1971) ausführlicher dargestellt hat.
Wie dieser Autor aufzeigt, verfügen wir über keine theoretische Grundlage zur angemessenen Planung sehr großer Systeme. Man kann aber die Leute nicht davon abhalten, daß sie irgendein Dienstleistungssystem in einem Maße in Anspruch nehmen, das dessen Kapazität übersteigt. Viele der Schwierigkeiten des amerikanischen Telefonnetzes resultieren aus neuartigen Verwendungsweisen des Telefons: Es wird in Anspruch genommen durch das Fernsehen, durch Kontrollsysteme, durch Simultanübertragungen und vor allem durch automatische Datenübermittlung.
Laut Frederick R. Kappel, Präsident der American Telephone and Telegraph Co., der Holding-Gesellschaft von Bell, schicken die Computer der USA bereits mehr Informationen durch die Leitungen, als private Ferngespräche anfallen. Zudem befinden sich Systeme in einem dynamischen Gleichgewicht stets in der Gefahr, über das erforderliche Maß hinaus zu reagieren oder mit ihren Leistungen darunter abzufallen. Je größer Systeme werden, desto schwerer fallen derartige Abweichungen ins Gewicht, desto teurer kommen sie zu stehen. Die Schwankungen können ein unerträgliches Maß annehmen und sich jeder Kontrolle entziehen.
Vaccas Theorie der Begrenztheit komplexer Systeme gilt auch für das Wachstum der Städte. Der deutsche Städteplaner und Verkehrsexperte Kurt Leibbrandt schätzt, daß die oberste Grenze der Einwohnerzahl für eine noch als Ganzheit funktionierende Stadt bei 20 Millionen Einwohnern liegt, sofern eine hohe Dichte der Bewohnung veranschlagt wird (600 Einwohner je Hektar). Doch angesichts städtischer Verkehrsverhältnisse läßt sich als Obergrenze nur die Hälfte dieses Werts ansetzen. Die größten städtischen Ballungsgebiete sind heute New York-New Jersey und Tokio-Yokohama, jedes mit etwa 16 Millionen Einwohnern. Hier zeigen sich bereits große Schwierigkeiten, namentlich in der Wasserversorgung und in der Müllabfuhr, mehr noch aber hinsichtlich der Luftverschmutzung.
Vacca sieht daher ein neues Mittelalter heraufziehen, in dem sich die Reisedistanzen wieder auf Strecken verkürzen werden, die ein Pferd zu bewältigen vermag, und in dem Wind- und Wassermühlen die Energie liefern werden. Naturwissenschaften, Ingenieurstechnik und Massenfertigung von Gütern werden dann ihr Ende finden. Einige Länder werden nach seiner Auffassung früher, andere später betroffen sein.
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Die USA und Japan scheinen ihm als erste Länder in den Zusammenbruch zu schlittern. Dank seiner geringen Wachstumsraten wird Großbritannien noch eine Zeitlang mit einer Schonfrist rechnen können. Zuletzt aber wird dieser Prozeß auch die Dritte Welt erfassen. Die Gesellschaft werde in kleine Gruppen auseinanderbrechen, und die Kultur soll dann in die Obhut weltlicher «Klöster» gegeben sein.
Von diesem Prozeß werde sich die Welt nur langsam erholen, schließlich aber sei der Tag einer neuen Renaissance gekommen, dank der eine neue und hoffentlich bessere Tradition begründet werden wird. Der amerikanische Kommentator Barrington Moore faßte einen ganz ähnlichen Gedanken: «... jede schwerwiegende Fehlfunktion des bestehenden technischen Apparats, einschließlich der Unmöglichkeit, ihm sachkundiges Personal zu gewährleisten, wird bei plötzlichem Eintreten so viele Tote zur Folge haben wie ein größerer Krieg, selbst wie ein Atomkrieg, sofern die Fehlfunktion umfassend und von längerer Dauer ist.»
Möglich, daß solche Durchspielungen Findigkeit und Entschlossenheit des Menschen unterschätzen, dank deren Improvisation und Korrektur von Fehlern möglich wären. Viel hängt auch hier von der allgemeinen Lage ab, in der sich die Gesellschaft befindet, und von der Befähigung ihrer politischen Führer zum Zeitpunkt des Desasters. Vollends gefährlich wäre eine solche Situation wohl vor allem dann, wenn mit dem technischen Zusammenbruch ein sozialer Zusammenbruch einhergeht.
5 Läßt uns der Egoismus Überlebenschancen? ^^^^
Die von mir hier skizzierten Entwicklungstendenzen sind außerordentlich schwerwiegend in ihren möglichen Folgen, und dennoch hat weder die Öffentlichkeit noch die verantwortliche Politik sich bisher dieser Probleme in einer Weise angenommen, die ihrer Bedeutung entspricht. Kaum je ist versucht worden, sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen; noch weniger sah man darauf, mögliche Auswirkungen in Schranken zu halten. Es ist die neue Verwundbarkeit der Gesellschaft, welche die Entfremdung einiger ihrer Mitglieder so folgenschwer macht.
Mit wieviel rücksichtslosen, mörderisch gesinnten Menschen kann eine Gesellschaft noch weiterleben?
Es liegt auf der Hand, daß nur sehr wenige solche Individuen zu verkraften sind. In Nord-Irland haben es ein paar hundert Heckenschützen vermocht, jegliches Regieren unmöglich und den Alltag unerträglich zu machen. Betroffen war eine Bevölkerung von eineinhalb Millionen Menschen, wiewohl die Techniken der Terroristen ziemlich einfallslos und simpel waren. Wenn der Topf das nächste Mal überkocht, könnte es schlimmer aussehen.
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Wenn der Topf auf dem Herd überkocht, kann man entweder den Deckel entschlossen wegreißen oder die Flamme kleiner stellen. Letztere Maßnahme wirkt schneller, hält länger an und macht weniger Umstände. Gewöhnlich aber reißt man den Deckel entschlossen weg, und das ist auch unsere Reaktion gegenüber der Gewalt. So werden wir zweifellos erleben, daß gegen politische Gewalt mit immer schärferen Strafen eingeschritten werden wird. Spezialeinheiten werden entstehen, Agenten in Zivil überall tätig sein. Wie stets in solchen Situationen ist dann die Zeit der Spione, Provokateure, Informanten und Denunzianten gekommen.
Bis zum Ende des Jahrhunderts wird es wohl jedermanns Pflicht sein, stets mit Ausweispapieren herumzulaufen, wenn das Signalement nicht gar eintätowiert auf der Haut zu tragen ist. Auf jede Organisation und Bewegung wird dann der Blick der strengen Staatsgewalt fallen. Das öffnen von Briefpost und das Abhören von Telefongesprächen wären nur noch Alltagsroutine, in öffentlichen wie in privaten Räumen knistern die Abhörwanzen hinter den Tapeten. Leibesvisitationen beim Betreten gewisser gefährdeter Bezirke werden Vorschrift, jeder Wagen, der dort stehenbleibt, ist ein Fall für polizeiliche Untersucher. Da die Explosivstoffe dann stärkere Wirkung zeigen werden, scheinen Briefkästen und Pakete nicht mehr geheuer.
(Noch während ich diese Zeilen schreibe, werden vor den Museen Londons Briefkästen und parkende Autos auf Explosivstoffe untersucht.)
Und manche Politiker totalitärer Regimes leisten sich auf ihren Reisen schon heute Vorkoster wie weiland Despoten, die sich so vor Gift zu schützen versuchten. Bald werden sie vielleicht schon berufsmäßige Brieföffner mit Sprengstofferfahrung nötig haben, werden Doubles für sie einspringen müssen, und wie vor siebenhundert Jahren in Italien wird dann das Leben selbst für ganz Unbeteiligte voller Gefahren stecken. Und was man auch zu ihrer Abwehr unternehmen wird — es kann nie genug sein, denn die Terroristen werden mit großer Findigkeit sich immer neue Überraschungen ausdenken!
Die britische Polizei versendet bereits Merkblätter, in denen Firmen empfohlen wird, «Bombenwarte» aufzustellen, die Fenster mit Drahtgeflecht zu schützen, Gebäude von außen zu beleuchten, Postkästen zu versiegeln und Regenrohre mit einer glatten Lackierung zu bestreichen, die das Hochklettern erschwert.
Es bestünde aber auch die Möglichkeit, daß man versuchte, den Hang zur Gewalt zu vermindern. Das wäre aber nicht einfach dadurch zu bewerkstelligen, daß man die politischen Forderungen von Splittergruppen erfüllte. Es ist gar nicht immer möglich, solche Forderungen zu erfüllen, weil es dann sofort andere Gruppen gäbe, die Gegenforderungen erheben oder die Gewährung von Forderungen nun ihrerseits mit Terror beantworten. Es ist einfach Tatsache, daß politische Bewegungen bestimmter Art immer auch Leute anziehen, die zur Aggressivität neigen und denen die politische Bühne Gelegenheit bietet, ihre Aggressionen zu ventilieren. Doch hemmt allzu rückhaltloser Einsatz für politische Ziele oft eher den Prozeß ihrer Erreichung — so in Nord-Irland, wo die unterschiedslose Tötung schuldloser Unbeteiligter vernünftigen Leuten auf beiden Seiten kaum noch einen Spielraum des Handelns ließ.
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So wird es also nötig sein, der Gewalt dadurch zu begegnen, daß man die sozialen Bedingungen verändert, unter denen sie gedeiht, wobei es wohl auch darauf ankäme, Individuen mit erhöhter Aggressionsbereitschaft frühzeitig einer besonderen Behandlung oder Schulung zu unterziehen. Diese besondere Behandlung könnte in psychotherapeutischen Maßnahmen im weitesten Sinne bestehen, darüber hinaus in einer dauernden beobachtenden Fühlungnahme mit der betreffenden Person, gegebenenfalls auch in ihrer Absonderung von der übrigen Gesellschaft.
Die Öffentlichkeit aber wird natürlich nach schwereren Strafen rufen — kaum zu zweifeln, daß die Todesstrafe wieder eingeführt werden wird. Einige werden sich wohl auch wieder aufs Auspeitschen besinnen, doch bleibt zu hoffen, daß statt des Rückgriffs auf historische Strafformen neuartigere Verfahren gefunden werden, bei denen die Arbeit des Verurteilten der ganzen Gesellschaft zugute kommt. Kleine Schritte in dieser Richtung sind bereits unternommen worden — ein späteres Kapitel soll auch der Erörterung dieser Fragen dienen.
Wenn sich Menschen durch ein Verbrechen besonders hart betroffen fühlen, wenn sie selbst körperlich dabei Schaden nahmen oder gar Nahestehende dadurch verloren, dann wächst häufig die Bereitschaft, härtere Justizmaßnahmen zu befürworten; Präventivhaft etwa, vor oder nach ergangenem Urteil, könnte sehr bald zur Rechtspraxis gehören. Die meisten Leute sind der Auffassung, daß lieber einige wenige Unschuldige fälschlich für einige Zeit hinter Schloß und Riegel sitzen sollen, als daß viele Unschuldige verkrüppelt oder getötet werden. Dabei wird vielfach unterstellt, daß die meisten der dann in Polizeigewahrsam gehaltenen Personen ohnehin Leute wären, denen nicht ganz über den Weg zu trauen sei, selbst wenn sie im konkreten Fall frei von jeglicher Schuld sind. Solche Maßnahmen hätten aber einen großen, auf das eigene Land gerichteten Spionageapparat zur Voraussetzung, also eine Aufblähung der Geheimdienste von Polizei und Armee, und das wäre dann kaum mehr weit von einem Polizeistaat entfernt.
Da aber solche Maßnahmen immer nur begrenzt wirksam sein können und zudem in keiner Weise eine Garantie gegen Systemverkleisterungen bieten, werden die Leute auf das Zerbröckeln der Industriegesellschaft dadurch reagieren, daß sie andere soziale Strukturen schaffen, die auf kleineren, mehr autarken Einheiten beruhen. Die Regierungen werden einer solchen Entwicklung dadurch Rechnung tragen, daß sie ihre Energieversorgungsnetze stärker dezentralisieren. Für die Stromversorgung wäre dies ziemlich einfach, da hier die regionalen Netze noch existieren und bloß überregional zusammengefaßt sind.
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Mit der Erdgasverteilung sähe es in dieser Hinsicht jedoch schon ungünstiger aus. Die eigentliche Schwierigkeit beginnt aber erst dort, wo es darum geht, Gebiete mit einer gewissen wirtschaftlichen Autarkie zu entwickeln, und von Regierungsseite dürfte in dieser Hinsicht wenig mehr zu erwarten sein als die Bereitstellung von Vorräten an Treibstoff, Nahrungsmitteln und Rohmaterial für jede Einzelregierung. Ähnlich mag es auch vielleicht zur Bildung regionaler Verwaltungen kommen, doch da diesen wahrscheinlich nur beschränkte Bewegungsfreiheit zugebilligt wird, dürfte totales Chaos die Folge sein.
Die Menschen werden jetzt wieder mehr auf ihre eigenen Kräfte und Möglichkeiten zurückgeworfen sein. Sie werden versuchen, ihre Haushalte mit Hilfe eigener Energiequellen zu versorgen, etwa durch Butangas oder durch die Nutzung von Wind- und Sonnenenergie. Doch dadurch werden wohl nur zeitweilige Versorgungsausfälle zu überbrücken sein. Die Leute werden sich also zu größeren Einheiten zusammenschließen müssen, wie das vereinzelt in Großbritannien und anderen Ländern bereits geschehen ist, um eine Miniökonomie im Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft und kleiner Industrie aufzubauen. Natürlich werden die Regierungen sich dem zu widersetzen versuchen, da der Warentausch auf der Basis einer solchen Kleinwirtschaft zum Steueraufkommen nichts beizutragen vermag. Schwierigkeiten hinsichtlich der Besitzfrage und die Androhung einer eventuellen Verstaatlichung von Land könnten geeignet sein, solche Versuche (die in vielem dem System der römischen Latifundien gleichen) scheitern zu lassen. Auf jeden Fall lassen sie sich nur für die Minderheit der Bevölkerung eines so übervölkerten Landes wie England realisieren.
Sobald die Bewohner der Städte Nahrungsmangel und fehlende Beheizung härter zu spüren bekommen werden, ist Stadtflucht die Folge. Ein Strom von Menschen wird aufs Land hinausgehen, um dort die entstehenden Kommunen zu plündern (und damit wahrscheinlich zu zerstören). Erst nach dem völligen Abwirtschaften der zentralisierten Regierungsformen und einem Bevölkerungsrückgang durch Hungersnöte und Seuchen könnte sich möglicherweise eine Art von neuem Feudalsystem etablieren.
Führende Personen werden sich durch politisches Geschick und Rücksichtslosigkeit über die desorganisierten Gruppen der Überlebenden aufschwingen, und sie werden Gesellschaften bilden, die zunächst notwendigerweise autark sein müssen. Aber in dem Maße, wie die einzelnen Gruppen besondere Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, wird auch der Handel wieder aufleben. Die Geschichte könnte wieder von vorne beginnen.
Natürlich wäre eine solche Durchspielung auf verschiedene Weise zu variieren. So könnte etwa eine Großmacht die Zeit der Schwäche und Verwirrung nutzen, um durch politisches oder militärisches Eingreifen sich die Macht zu verschaffen. Aber wie sich die Dinge wirklich entwickeln werden, hängt davon ab, welches Land als erstes zusammenbricht, wie viele Länder überhaupt ins Chaos abgleiten und wie eng zeitlich und räumlich derartige Ereignisse aufeinanderfolgen. In späteren Kapiteln sollen auch noch weitere Alternativen umrissen werden. Was wir gegenwärtig noch längst nicht ernst genug nehmen, ist die Tatsache, daß wir in einem System leben, das verwundbarer ist als irgendeine der historischen Zivilisationen. Es fiele uns wohl nicht schwer, uns dieses System über dem Kopf einzureißen wie Samson den Tempel.
Die Komplexität der Industriegesellschaft macht sie höchst anfällig für Störungsaktionen, noch anfälliger aber für den plötzlichen Entzug an Arbeitsleistung. In England war der Streik als Waffe gegen eine bestimmte Firmenleitung entstanden, ist aber nach und nach zu einer Gefahr für die ganze Gesellschaft geworden. Auch hier werden Gruppenziele durchgefochten, gleichgültig, wie stark Dritte davon betroffen sind oder nicht. Wenn Ärzte streiken, besteht der Zwang, entweder ihren Forderungen nachzugeben oder den Tod unbeteiligter Patienten in Kauf zu nehmen. Ein ähnlicher Fall wäre das Sterben älterer Leute durch einen Streik, der das Heizungssystem einer ganzen Stadt im Winter lahmlegte. Hier käme Hegels Dialektik zu ihrem Recht, die den Umschlag durch Quantität in eine neue Qualität konstatiert: Der Streik könnte durch einen solchen dialektischen Umschlag zu etwas ganz anderem werden, als er ursprünglich gemeint war.
Heute haben es bestimmte Gruppen in hochspezialisierten Arbeitsgebieten in der Hand, die Gesellschaft wie eine Uhr zum Stehenbleiben zu zwingen. Auch wird die Volkswirtschaft durch überzogene Streiks geschädigt, so etwa, wenn eine Kohlenzeche infolge mangelnder Instandhaltung der nötigen Einrichtungen völlig absäuft. Diese exzessive Entwicklung des Streiks hat in England die ganze politische Situation verändert und die Zukunftsaussichten für die Gesellschaft in einer Weise beeinträchtigt, die noch nicht voll ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen ist. In einem späteren Kapitel werde ich versuchen, mögliche Folgen abzuschätzen.
Zunächst aber sei gesellschaftsfeindlichem Verhalten noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet, denn diese Spielart der Gewalt ist nur die Spitze eines Eisbergs, und um mit ihr fertig zu werden, müssen wir ihre sozialen Bedingungen verstehen, die zusammenhängen mit Frustrationen und dem Gefühl eines sinnlosen Lebens.
Bisher sind es nur wenige gewesen, die ihrer Erbitterung durch politische Aktivität Ausdruck gaben.
Das mag nicht immer so bleiben.
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Gordon Rattray Taylor (1975) Zukunftsbewältigung