5 - Flut des Hasses
1 Sicherheit als dickes Ende 2 Wo die Gewalt uns hinführt 3 Abc-Schützen mit dem Ballermann 4 Die neuen Wandalen 5 Totschläger und Zeittotschläger 6 Pathologische Fälle
"Die Krisis der Gewalt ist die Krisis des Menschen." --Daniels, Gilula, Ochberg; Violence an the struggle.., 1970--
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1 Sicherheit als dickes Ende
Es gibt immer noch Menschen, die nicht wahrhaben wollen, daß heute mehr Gewalt in der Welt ist als vor fünfundzwanzig Jahren. Der Begriff «Gewalt» wird im heutigen Sprachgebrauch auch für gesetzliche und soziale Beschränkungen und allgemein für Ungerechtigkeiten verwendet. Ich verwende ihn nur für handgreifliche Aktionen gegen Menschen oder Eigentum.
Eine jüngst veröffentlichte Übersicht aus den USA zeigt, daß unter drei Stadtbewohnern im letzten Jahr einer das Opfer eines Überfalls oder Raubversuchs geworden ist. 40 von 100 Menschen fühlen sich unsicher, wenn sie im Umkreis ihres Hauses spazierengehen. In der New Yorker Untergrundbahn fährt jetzt die Polizei mit, und Taxifahrer sind vom Fahrgast durch eine Scheibe aus kugelsicherem Panzerglas getrennt.
Schwarze leiden am meisten durch Raubüberfälle von Schwarzen, und auch wer ohne dicke Brieftasche in eine Bank geht, wenn dort gerade die Männer mit den schwarzen Tüchern vor dem Gesicht auftauchen, riskiert, zur Geisel genommen zu werden oder eine Kugel ins Genick zu kriegen. Die Post trägt den Tod ins Haus, Autos werden in den Straßen in die Luft gejagt, und jeder, der an Bord eines Flugzeugs geht, spürt den ängstlich nagenden Zweifel, ob seine Maschine nicht eben jene sein wird, die von Luftpiraten entführt oder mitten in der Luft gesprengt wird.
Was Wunder, daß heute viele wieder eine Kette vor die Tür legen, wenn sie öffnen, und sich zuvor erst einmal durch den Spion den Draußenstehenden vorsichtig anschauen. In dem Dorf, wo ich heute lebe, dachte niemand daran, die Haustür abzuschließen, als ich vor einigen Jahren dort einzog. Jetzt aber wird abgesperrt.
Man darf es als ein Zeichen der Zeit nehmen, wenn heute Bücher herauskommen, die Ratschläge geben, wie man sich gegen tätliche Angriffe schützt. [«Survival in the City» von Anthony Greenbank]
Es gibt sogar bereits eine Wissenschaft, die sich «Viktimologie» nennt. Da erfährt dann der Leser: «Beiße in die Fingerspitzen, die Zehen, die Nase; grabe deine Zähne ein in Ohren, Wangen und andere empfindliche Körperteile; ramme mit eingezogenem Kopf wie ein wild gewordener Bulle...»
Die neue Woge der Gewalt trifft vor allem ältere Menschen, die oft als Opfer von Raubüberfällen ausgesucht werden, weil sie weder Widerstand leisten noch davonlaufen können. Viele von ihnen fühlen sich als Gefangene in der eigenen Wohnung, die sie aus Furcht vor Überfällen nicht mehr zu verlassen wagen.
Der wohl bezeichnendste und beunruhigendste Aspekt des Gewaltproblems ergibt sich aus der Tatsache, daß heute Leute zur Gewalt greifen, die man gewöhnlich nicht unter die Kriminellen einreihen möchte. Während der Ölkrise 1973 bewaffneten sich streikende amerikanische Lastwagenfahrer und schossen auf Kollegen, die sich ihrem Streik nicht anschlossen, wobei zwei Männer getötet und weitere verwundet wurden. An einem einzigen Tag wurde von nicht weniger als 57 heftigen Zwischenfällen berichtet, an denen Lastwagenfahrer beteiligt waren.
Auch in England werden derartige Arbeitskämpfe immer häufiger zum Hintergrund für Gewalt. Die Polizei zog den Kopf ein, als eine Gruppe von 300 militanten Scharfmachern an einem Gebäude ausstieg, in dem sich Streikbrecher befanden, und zu brüllen begannen: «Bringt sie um, die Kerle!» Als später ein Polizeisergeant vor Gericht gefragt wurde: «Wären Sie bereit gewesen, da einzuschreiten?», gab er zur Antwort: «Nein, Herr Richter, würde ich nicht gemacht haben. Ehrlich, wir hätten dagegen überhaupt keine Chance gehabt.» Augenzeugen schilderten die Scharfmacher als «Wahnsinnshorde, eine Bande wilder Apachen, fanatisierten Mob». Bei einer anderen, ähnlichen Gelegenheit marschierten solche Anheizer vor das Büro und sangen: «Umbringen, umbringen, umbringen!» oder schrien: «Kapitalistensäue! Das ist kein Streik, das ist Revolution!»
Unter normalen Umständen werden solche Leidenschaften in gewissem Ausmaß kontrolliert. Wenn sich aber einmal Gruppen gebildet haben, fühlt sich jedes Gruppenmitglied so frei, sich gehenzulassen — ja es kann für sein Verhalten sogar noch mit Beifall rechnen.
Aus einer halbrevolutionären Situation heraus vermögen sich die Dinge also sehr schnell zuzuspitzen. Selbst in Japan, diesem sonst so gehorsamsstolzen Land, legten wütende Fahrgäste Feuer an stehende Züge, als die Eisenbahner Dienst nach Vorschrift machten.
Auch Wettkampfspiele wie Fußball scheinen bei vielen den Eindruck hervorzurufen, hier sei jetzt eine Gelegenheit, bei der man ruhig auch Dampf ablassen könne. Was sich die Fähnchenschwenker der englischen Fußballmannschaft Tottenham Hotspur während der Niederschrift dieser Zeilen in Rotterdam an Aggression und Zerstörungswut geleistet haben, ist ein Extremfall, wenngleich bei Fußballspielen Ausschreitungen gegenüber früher immer stärker in Erscheinung treten.
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Als jüngst der Glasgower Fußballklub Celtic nach Madrid zu einem Spiel kam, wollten die Behörden sichergehen: Rings um das Stadion standen Wasserwerfer, während die mit Tränengasgrananten und Gummikugelgewehren ausgerüstete Polizei allgegenwärtig war. Das Flugzeug, in dem die Schlachtenbummler angereist kamen, wurde auf einen Sonderflugplatz dirigiert, und die Fans wurden durch Polizei zum Stadion geleitet.
Selbst wer zur Vogelstraußmeierei neigt, müßte in solchen Vorfällen doch ein Warnzeichen sehen.
Fußballereignisse sind oft nur Orgien, aber nicht selten kommt in ihnen auch ein sozial motivierter Gruppenhaß zum Ausdruck, und das nicht nur in England. Das wurde in Italien deutlich, als die Veroneser Mannschaft ein Spiel verlor, durch das sie für das Jahr 1974 in die Regionalliga absteigen mußte.
Da sammelten sich vor dem Amphitheater von Verona, wo eine Freilichtaufführung von «Aida» stattfinden sollte, die enttäuschte Anhängerschaft des Veroneser Klubs, und als die ersten Takte begannen, fingen sie an zu schreien, sangen Fußballieder und setzten einen Radau in Szene, daß die Opernbesucher keinen Takt mehr hören konnten — und das ging so weiter, bis die Oper zu Ende war.
Mit Klassenhaß im gemeinten Sinn des Wortes hat dies wohl nicht mehr viel zu tun, denn gerade in Italien geht ja auch der Minderbemittelte gelegentlich gern in die Oper.
Nein, das hier war Haß der Abgebrühten gegen die Feinerbesaiteten — der Barbaren gegen die Kultivierten.
Wir sehen in solchen Vorfällen nicht nur das Anwachsen von impulsiver Gewalttätigkeit, sondern die Zunahme einer Haltung, die sich unbekümmert und rücksichtslos über die Belange des Nächsten hinwegsetzt und der ein Zuschuß von Sadismus nicht fremd ist. Was mir mehr oder weniger noch verständlich wäre: wenn etwa ein Revolutionär einen politischen Gegner erschießt. Wenn ich aber lese, daß vier Angehörige der Ulster Defence Association, allesamt fromme Protestanten, einen Mann namens McCartan in einem Belfaster Hotel entführten, den Winselnden hierauf in einen «Austob-Raum» schleppten, wo sie ihn verprügelten und mit Messern auf ihn einstachen, ehe sie ihn mit einem Seil an den Füßen festbanden und vom Dach herunterhängen ließen — dann wird mir schlicht übel vor Entsetzen.
«Mr. McCreery sagt Mr. Doherty, er soll ihn mit einem Pickelstil prügeln, und das tat er mehrere Male. Mr. McCreery stieß ihm mit dem Messer in die Hände.»
Schließlich wurde er erschossen.
Ich weiß nicht, wie man solche Fakten anders interpretieren könnte als dahin, daß eine moralische und soziale Krise heraufzieht. Jede Gesellschaft verträgt aber nur ein begrenztes Maß an sozialfeindlichem Verhalten.
Wie im nächsten Abschnitt dieses Buches gezeigt werden soll, gibt es jedoch keinen Grund für die Hoffnung, daß dieser Trend sich schon von selbst wieder umkehren werde.
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Wir müssen also damit rechnen, daß er weiterhin zunimmt. Es wird größere Gangsterbanden geben, besser bewaffnet, mit sorgfältigerer Planung. Diebstahl und Wandalismus werden zunehmen. Kein Kunstwerk und kein Denkmal werden sicher sein. Jeder, der im öffentlichen Leben steht, riskiert böswillige Beschädigung seines Heims und tätliche Angriffe gegen seine Person, wenn nicht gegen seine Familie.
Im Bestreben, mit solchen Erscheinungen fertig zu werden, wird die Polizei immer brutaler, wird zusehends stärker zu Überwachungsmethoden greifen, wird laufend Menschen und Fahrzeuge kontrollieren und ohne Vorwarnung mitten in der Nacht Hausdurchsuchungen vornehmen.
Gleichzeitig aber wird die Polizei korrupter, denn es wird unter solchen Vorzeichen schwerer, Leute mit Gewissen für den Polizeidienst zu gewinnen.
Doch werden die meisten das Vorgehen der Polizei stillschweigend dulden, denn eines Tages könnte man ja ihre Hilfe nötig haben, und es ist für einen vielbeschäftigten Polizisten nicht schwer, mit der Entschuldigung zur Seite zu sehen, es gebe gerade Wichtigeres zu erledigen. Wie wir am Falle Frankreichs sehen können, bewirkt eine Zunahme an Gewalt bei der Polizei auch mehr Selbstherrlichkeit.
Private Leibgarden und Sicherheitstrupps werden häufiger aufgestellt werden, Häuser dürften sich in Festungen verwandeln, Bürgerwehren werden, sich bilden, unter der Hand von Polizei ermuntert, auch bewaffnet aufzutreten, mit dem Hinweis, daß ein guter Notwehrschuß manches Problem löst.
2 Wo die Gewalt uns hinführt
Trotz der vielfachen Anzeichen für eine Zunahme der Gewalt gibt es immer noch Leute, die in Vogel-Strauß-Manier zu zeigen versuchen, daß es mit der Gewalt heute auch nicht schlimmer stehe als in früheren Zeiten, mithin kein Grund zur Aufregung gegeben sei.
Nun ist es sehr schwer, sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens vor hundert oder mehr Jahren zu formen. Gewiß scheint das Verbrechen in den großen Städten mit angeschlagener Sozialstruktur ziemlich verbreitet gewesen zu sein, aber aus den täglichen Aufzeichnungen von Menschen, die in kleineren Städten und Ortschaften auf dem Lande beheimatet waren, erfahren wir kaum von Verbrechen, allenfalls von kleinen Diebereien, Trunkenheit und ähnlichem. Selbst in den Städten waren Kapitalverbrechen immerhin so selten, daß sie als Sensation empfunden wurden.
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Ein Buch zu diesen Fragen, Louis Chevaliers <Classes laborieuses et classes dangereuses á Paris pendant la premiere moitie du 196 siede> greift wiederholt auf literarische Schilderungen, so etwa von Sue und Balzac, zurück und enthält keine verläßlichen Schätzungen der Verbrechenshäufigkeit. Immerhin erwähnt es Verbrechen wie Personenraub und Bombenattentate nicht. Schlägereien in angetrunkenem Zustand und die typischen Straftaten der Armut, wie Kindstötung und Prostitution, werden hauptsächlich genannt.
Wir müssen die Frage daher im Verhältnis sehen. Es geht nicht darum, ob es in der Vergangenheit jemals Zeiten gegeben hat, die unsere Zeit an Gewaltsamkeit übertrafen — es hat sie gegeben, zweifellos. Vielmehr stellt sich uns die Frage, ob es jemals Zeiten gegeben hat, in denen Gewalt weniger verbreitet war als heute, womit sich erweisen könnte, daß in unserer Zeit mehr Gewalt herrscht, als für eine menschliche Gesellschaft zwangsläufig wäre.
Sofern die statistischen Angaben früherer Jahre überhaupt befriedigen können, zeigen sie doch, daß innerhalb unserer eigenen Lebenszeit — also in den letzten vierzig oder fünfzig Jahren — die Situation sich auffallend verschlechtert hat.
Aus einer Anzahl von Gründen, die wir hier nicht erörtern können, eignen sich statistische Angaben aus den USA nicht für den hier verfolgten Zweck. Instruktiver sind die Angaben für Großbritannien, da sie sich auf ein räumlich relativ kleines und gleichartig verwaltetes Gebiet beziehen. Zudem ist Großbritannien im Vergleich zu den USA immer noch ein von Gewaltverbrechen weitaus geringer betroffenes Land. Die Zahlen aus Großbritannien zeigen aber, daß die Gewaltverbrechen gegen Menschen 1950-1972 von 6249 Fällen auf 52432 Fälle angestiegen sind. (Diese Angaben beziehen sich auf Fälle, die der Polizei bekannt wurden, nicht auf gerichtlich zur Aburteilung gelangte Straftaten.)
1969 |
1970 |
1971 |
prozentualer |
|
Mord / Mordversuch (ohne Kindstötung) |
448 |
470 |
543 |
+21 |
Körperverletzung
/ |
2708 |
2956 |
3287 |
+21 |
Vergewaltigung |
869 |
884 |
784 |
-10 |
Raubüberfall / tätlicher Angriff |
6041 |
6273 |
7465 |
-24 |
Ein hervorragender Kriminologe, F. H. McClintock von der Cambridge University, erstellte eine ins einzelne gehende Analyse der wichtigsten Arten von Straftaten für die Jahre 1969, 1970 und 1971, aus denen ich die auf Gewaltverbrechen bezogenen Straftaten herausgesucht habe. Es ist sofort ersichtlich, daß — mit der bemerkenswerten Ausnahme von Vergewaltigungsverbrechen* — Gewaltverbrechen während der drei Jahre um über 20 % gestiegen sind.
* Man schätzt, daß mindestens die Hälfte der Vergewaltigungen in Großbritannien nie durch Anzeige zur Kenntnis der Polizei gelangen, da die Betroffenen sich scheuen, ihren Fall öffentlich bekannt werden zu lassen.
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Ein Argument jener, die so gern den Kopf in den Sand stecken, lautet, es sei nur die erhöhte Effektivität der Polizei oder die genauere Dokumentierung von Straftaten, die den Eindruck eines Ansteigens erwecken. Selbst wenn das im Falle der kleineren Verbrechen zuträfe, so kann man doch für Kapitalverbrechen eine solche Argumentation nicht gelten lassen. Auch wenn zusätzlich auf die verbesserten technischen Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung verwiesen wird, dank deren sich die Zahl der Dunkelfälle verringert habe, kann dies doch nicht für Schwerverbrechen zutreffen.
Die Vogelstraußmeier führen auch immer ins Feld, daß im 18. Jahrhundert in den Parks von London genug Raubüberfälle vorgekommen seien, wobei sie aber außer acht lassen, daß solche Vorkommnisse damals außerhalb der großen Städte sehr selten waren, während heute die Verbrechen längst auf die Vororte übergegriffen haben und kaum minder draußen im Land geschehen. Ich habe bereits die Gallup-Befragung erwähnt, nach der innerhalb Jahresfrist von drei amerikanischen Stadtbewohnern einer das Opfer eines Raubüberfalls wurde oder in sonst einer Weise um sein Eigentum kam. Selbst in den Vororten war von fünf Personen immer noch eine betroffen, und die Zahl der Zwischenfälle stieg dort doppelt so schnell wie in den Städten selbst. Die Untersuchung erbrachte auch, daß unter sechs Personen eine ein Gefühl der Unsicherheit hatte, wenn sie nachts in ihrer Wohnung schlief. Wenn das nichts aussagt!
Der Kriminalstatistik des FBI ist vorgeworfen worden, sie sei künstlich aufgebläht, um dem Verlangen des FBI nach mehr Geld den nötigen Nachdruck zu verleihen. Wie dem auch sei: Sie zeigt für die 1960er Jahre einen enormen Anstieg der Verbrechenshäufigkeit von 160 auf 393 Fälle pro 100.000 Einwohner. Unbestreitbar ist auch, daß im vergangenen Jahr nahezu eine Million amerikanischer Bürger tätlich angegriffen wurden. Der Polizeichef von San Francisco, Lieutenant William Koenig, schätzt die Situation so ein: «Die große Verschiebung über die letzten zehn Jahre hin ist die zum wirklich gemeingefährlichen Verbrechen, und das geht weiter.» Im Jahr 1973 erreichte Detroit, Amerikas «Hauptstadt des Mordes», die Höchstzahl von 750 Morden, fast 15 % mehr als im Jahr zuvor — das Vierfache der Mordfälle in ganz Großbritannien. (Ich subsumiere hier Mord und Totschlag einfach unter dem Sammelbegriff «Mord».)
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Nach den Morden von Martin Luther King und Robert Kennedy berief Präsident Johnson eine Untersuchungskommission zur Aufklärung der Ursachen der Gewalt und zur Einleitung präventiver Maßnahmen. Schon bald kam die Kommission zu dem Ergebnis, daß, falls nicht bald Entscheidendes getan werde,
«die Geschäftszentren ... starken Polizeischutz nötig haben werden; gehobene wie gutbürgerliche Wohngelegenheiten werden dann durch private Wachmannschaften und Sicherheitsvorrichtungen geschützt werden müssen, wodurch sie zu Festungen für die Mittelklasse würden. Ohne Gesetzesänderung könne man nicht verhindern, daß Schußwaffen fast in jedermanns Hand seien. Private wie geschäftlich verwendete Fahrzeuge müßten mit Panzerglas und kugelsicherer Karosserie sowie anderen Sicherheitsvorkehrungen ausgerüstet werden. Die öffentlichen Verkehrsmittel könnten dann nur noch mit bewaffnetem Transportschutz in Betrieb bleiben.»
Ist das der Weg, den auch Europa gehen wird? In Großbritannien schießen die Sicherheitsorganisationen nur so aus dem Boden. In ihrem Dienst stehen bereits mehr Schutzhunde als im Dienst der Polizei — nicht zu reden von Flugzeugen, gepanzerten Fahrzeugen und Waffen. Die Zahl der dort Beschäftigten soll 30.000 übersteigen.
In Zukunft wird zweifellos die Überwachung durch Fernsehmonitoren zunehmen. Schon heute sind sie fast überall in Warenhäusern und großen öffentlichen Gebäuden zu finden. Über kurz oder lang werden sie auch in Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen, öffentlichen Toiletten, Parkhäusern und Tiefgaragen, vielleicht auch in einer Reihe von Straßen und Lifts — wie schon längst in New York — installiert werden. Es wird bald nicht mehr möglich sein, in Häuser und Büros ohne Ausweis oder magnetische Kontrollkarte Zugang zu erhalten, und es wird Vorrichtungen geben, die jeden festhalten, der doch hineinkommt und ein Verbrechen begeht. Telefonämter, Schaltwerke der Stromversorgung und die Kontrolltürme der Flugplätze werden befestigt werden müssen, mit Doppelkontrollen für alle, die ein und aus gehen.
Oscar Newman hat in seinem Buch <Defensible Space> die Ansicht vertreten, daß viele Wohnbauten heute in einer Weise errichtet würden, die geradezu eine Einladung an Kriminelle darstelle, da es in ihnen viele dunkle Winkel und Fluchtwege gebe und sie zudem viel «Niemandsland» bereithielten, in dem ein Eindringling als solcher nicht zu identifizieren sei.
Wenn Häuser von Gärten oder abgegrenzten Flächen umgeben sind, dann ist es für einen Eindringling schon weniger leicht, sich unbemerkt Zugang zu verschaffen. Wohnungen, die sich um einen Innenhof gruppieren, lassen bei den Bewohnern leichter ein nachbarschaftliches Gefühl aufkommen, das Verbrechen erschwert, während in den großen Appartementblocks die einzelnen Bewohner voneinander isoliert sind und bei verdächtigen Geräuschen eher dazu neigen, ihren Fernseher lauter zu stellen, statt nachzusehen, was los ist.
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Newman hat gezeigt, daß schon allein durch die Anlage einer Wohnarchitektur eine Struktur geschaffen werden kann, die dem Verbrechen ungünstig ist, und zweifellos wird man von solchen Möglichkeiten künftig mehr Gebrauch machen. Tatsächlich werden amerikanische Botschaften bereits nach dem Prinzip erhöhter Sicherheit angelegt, mit freiem Schußfeld und Hindernissen für herandrängende Menschenmengen — etwa abschüssigen Geländeunterteilungen und Stufen vor dem Haupteingang.
Das alles wird noch weitere Entwicklungen nehmen. Länder, die bisher keine gesetzliche Regelung für den Besitz von Schußwaffen kannten, werden dies ändern, früher oder später — und gerade Verbrecher werden Mittel und Wege finden, auch hier das Gesetz zu umgehen. Das wird neuerlich erschwerende Umstände für den friedlichen Teil der Bevölkerung mit sich bringen. Ganz sicher aber wird jeder Versuch einer gewaltsamen Kontrolle der Gewalt zum Scheitern verurteilt sein.
Wenn wir das Maß der Gewalt wirklich verringern wollen, anstatt uns auf einen Kampf um Leben und Tod mit ihr einzulassen, müssen wir etwas tiefer unter die Oberfläche blicken. Da werden wir zunächst die Einsicht gewinnen, daß ein zur Gewalt tendierendes Verhalten schon in sehr frühen Lebensjahren vorgeprägt wird. Tatsächlich ist das Problem der Gewalt zu einem Teil ein Jugendproblem.
3 Abc-Schützen mit dem Ballermann
Es gibt den Fall des George Riddell, eines fünfzehnjährigen Jungen, der im Namen Ihrer Majestät der Königin zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil er einen anderen Jungen erstochen hatte — einen ihm unbekannten Jungen, der zufällig wartend an einer Edinburgher Bushaltestelle stand. Vor dem Richter beschrieb Riddell, wie er und sein Freund sich mit Messern versahen und einfach loszogen, um irgend etwas vom Zaun zu brechen. Sie hätten vorgehabt, erzählte er dem Gericht, «irgendeinen niederzustechen». Er «war dafür», einen Jungen niederzustechen. Nach seiner Behauptung habe sein Freund wenige Tage vor dem Mord gesagt: «Ich denk mir, daß ich mir am Wochenende einen ansaufe, und dann geh ich einen umlegen.» Er behauptete zunächst auch, sein Freund habe den Mord begangen, gab aber vor Gericht dann doch zu, das Opfer durch mehrere Stiche getötet zu haben. Dieses Opfer war Stephen Nicol, ein neunzehnjähriger «stiller Junge, der an Asthma litt».
Einen Monat nach diesem Mord wurde der fünfzehnjährige Sohn eines britischen Parlamentariers, der mit seiner siebzehnjährigen Schwester nach Hause ging, mit einem Messer niedergestochen und schwer verprügelt: Gemeinschaftstat einer Bande von fünfzehn Jugendlichen. Zwei Wochen darauf geriet ein Elfjähriger unter die Anklage eines Mordversuchs an einem Baby; er hatte versucht, es zu ersticken. Dem folgte schon bald darauf eine Anklage wegen Mordes gegen ein Kind von neun Jahren.
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In den USA wurden drei Oberschüler angeklagt, «Höllenmaschinen» angefertigt zu haben; auch sollen sie Drohungen verschickt haben, in denen sie ankündigten, die Polizeistation und die Oberschule in die Luft zu sprengen. Der örtliche Schulbeirat erhielt ebenfalls anonyme Bombentod-Drohungen. Dies geschah alles in der kleinen neuenglischen Industriestadt Haverhill, etwa 60 Kilometer nördlich von Boston, wo die meisten Einwohner in der dortigen Schuhindustrie tätig sind. In der ganzen Umgebung wurden Schulen wegen Bombendrohungen geschlossen.
Wie es um die Schulen in amerikanischen Großstädten steht, ist nur allzu gut bekannt. Ein typisches Beispiel bietet die Public School 304 (wahrhaftig ein Name, der die Gefühle der Schüler für sich zu mobilisieren vermag!), knapp 5 Kilometer vom Zentrum Manhattans entfernt. Sie wurde in eine Festung umgewandelt, nachdem eine Sekretärin während der Frühstückspause im Oberstock zusammengeschlagen worden war. Alle Eingänge bis auf einen wurden durch Absägen der Türgriffe nach der Straße hin verschlossen, die Fenster erhielten Maschendrahtschutz, ein bewaffneter Polizist patrouilliert auf den Schulgängen, die Lehrer halten ihren Unterricht hinter verschlossenen Türen, und ohne Sicherheitsüberprüfung darf niemand mehr ins Schulhaus. Ein Lehrer gestand: "Wir sind mit den Nerven fertig, wir schauen uns immer um."
Soll so die Zukunft aussehen?
In den ersten neun Monaten des Jahres 1972 waren in den fünf Bezirken New Yorks nicht weniger als 4724 Schulverbrechen registriert worden, einschließlich von 4 Morden, 28 Vergewaltigungen, 496 Raubüberfällen und 3200 Einbrüchen. In einer Schule wurde das Alarmsystem gestohlen, noch ehe es vom Lieferwagen ins Schulhaus gebracht worden war. Auf den Druck der Lehrerschaft hin hat die Stadt erstmals 6 Millionen Dollar bereitgestellt, von denen 1200 Wachmänner mit Spezialtraining bezahlt werden sollen.
Europa folgt den USA im Abstand von etwa einer Generation. In England hat die Gewalttätigkeit an Schulen, bislang auf eine Minderheit beschränkt, in erschreckendem Ausmaß zugenommen. Tätlichkeiten gegen Lehrer, die 1971 nur in 10 Fällen vorkamen, stiegen 1974 sprunghaft auf 600 Fälle. Doch nicht nur die Aggressivität gegen die Lehrer hat zugenommen, sondern auch die zwischen den Schülern — bis zu Gewaltanwendung mit Todesfolge. Auf dem Schulhof der Wandsworth School wurde 1971 ein Schüler erstochen. Während früher die Schulhof kämpfe ausschließlich mit den Fäusten ausgetragen wurden, wird heute mit Stiefeln brutal getreten, kommen Schlagketten und auch Messer zur Anwendung. Daß Kinder mit Waffen herumlaufen, ist gar keine Seltenheit mehr; Revolver, Dolche, Schlagwaffen, Rasiermesser wurden in Kinderhand gefunden. Unter den ausgeklügelteren Waffen befand sich ein Tennisball mit Eisenkern und ein Schulbuch, das mit Reißnägeln gespickt war. Von Diebstählen redet schon niemand mehr, und die Garderoben werden in diesem Schuljahr schon nicht mehr benutzt.
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Auch Mädchen leisten ihren Beitrag zur Gewalt.
Die Zahl der von ihnen verübten Gewaltverbrechen stieg 1969-1974 um 179 %. Der britische Lehrerinnenbund gab 1972 die Erklärung ab, daß die Lehrer vielfach Fälle von Gewaltanwendung im Klassenzimmer vertuschen, um nicht den Vorwurf auf sich zu ziehen, sie könnten sich disziplinar nicht durchsetzen. Mrs. Norrie Shelton, Vizepräsidentin dieser Vereinigung, meint dazu: «Es nimmt zu, und das weiß auch jeder. Wir meinen, daß darüber mehr gesprochen werden sollte, und wir erwarten auch Unterstützung beim Fertigwerden mit diesen Problemen.» Die Beteiligung der Mädchen bei Gewaltexzessen habe «während der letzten drei Jahre zugenommen, und das gibt zu ernster Besorgnis Anlaß».
Derartige Warnungen riefen heftige Abwehrreaktionen hervor; die Berichte über Gewalt an Schulen seien stark übertrieben, hieß es. Aber eine solche Vogel-Strauß-Politik mußte ihre Haltlosigkeit erkennen, als eine umfassende Studie des Institute of Research Techniques wissen ließ: «Bei kleineren Gewaltexzessen wird fast überall ein Auge zugedrückt, und es gibt einen harten Kern von etwa 10 %, der sich von Gewalt beeindrucken läßt und oft sogar bereitwilligst mitmacht.»
Die Untersuchung erstreckte sich auf 1565 Jungen im Alter von 12 bis 17 Jahren, die nach Zufallskriterien ausgewählt worden waren; im Untersuchungszeitraum von sechs Monaten hatte jeder Junge 68mal «ein geringeres Maß gewalttätigen Verhaltens» an den Tag gelegt, 36mal aber «ziemlich gewaltsames Verhalten». Die erstgenannte Klassifizierung umfaßt etwa Taten wie das Einwerfen einer Fensterscheibe, die zweite Taten wie das Niederbrechen eines jungen Baumes im Park. Jeder einzelne Junge hatte aber 104 solcher Taten innerhalb von 90 Tagen verübt — also mehr als eine pro Tag.
«Schweres gewaltsames Verhalten» wurde jedem der Jungen zweimal attestiert, und das waren dann schon Taten wie der Versuch, mit einer angesplitterten Flasche jemandem das Gesicht zu verschrammen. Allerdings: «Extrem gewaltsames Verhalten» wie Messerstecherei oder Brandstiftung gab es pro Schüler nur 0,01mal. Das bedeutet jedoch, daß während eines halben Jahres unter 1565 Schülern solche Fälle 15- bis 16mal vorkamen. 8 dieser Jungen gestanden, jemanden mit der Rasierklinge geschnitten zu haben, 33 gaben zu, sie hätten Leute zusammengeschlagen. 13 der Jungen hatten sich an «ziemlich gewaltsamem Verhalten» zwischen 100 und 500 Malen beteiligt. Der Direktor der Schule sagte dazu: «Es war ein Fehler von mir, daß ich einige von ihnen spät in der Nacht nach Hause gebracht habe — ich hatte Angst um mein Auto. Wir hatten da oft schon mit Leuten zu tun, die weder lesen noch schreiben konnten — fürchterlich.»
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Der Schlüsselpunkt in diesen statistischen Angaben ist wohl die Tatsache, daß 12% der Jungen an Gewalttaten beteiligt waren, die als «ziemlich», «schwer» oder «extrem» bezeichnet wurden, und das mindestens 10mal in sechs Monaten. Der Sekretär der Lehrervereinigung Englands gab hierzu folgenden Kommentar: «Ich bin schockiert über den hohen Anteil an Fällen extremer Gewalt, der in dieser Untersuchung zutage tritt... wenn 12% einer beliebigen Altersgruppe ein solches Maß an Gewalt entwickeln, dann gnade uns Gott!» Indes meinte die Schulbehörde der Londoner Innenstadt: «Begeht nicht jedes Kind irgendwann einmal eine Gewalttat?» Worauf man nur antworten kann: Wenn «Gewalttat» Brandstiftung meint oder Splitterflasche ins Gesicht, dann: Nein!
Auch auf dem europäischen Festland zeigen Untersuchungen einen Anstieg der Gewalt an, verbunden mit einer Senkung der Altersgrenzen — so etwa in Deutschland, wo bereits Sechs- bis Siebenjährige betroffen sind. In Frankreich und Italien wird nach den Aussagen der <Times> Gewalt bei Jugendlichen vor allem durch politische Motivationen ausgelöst: Halbwüchsige Faschisten bekämpfen halbwüchsige Anarchisten mit Molotowcocktails und Kanonenschlägen. Die blinde Gewalt, wie sie auf amerikanischen und britischen Schulen auftritt, ist indes selten. In den Niederlanden und Belgien kommen unter Jugendlichen Gewalttaten kaum vor. Belgische Erzieher führen dies darauf zurück, daß bei den meisten Schülern ein stabiler Familienhintergrund besteht.
Ich werde sogleich auf die Ursachen all dieser Gewalttätigkeiten zurückkommen, doch sei zuvor noch der Wandalismus als eine gleichfalls in Zunahme begriffene Parallelerscheinung besprochen, da er uns einige zentrale Einsichten erlaubt.
4 Die neuen Wandalen
Eine Gruppe von acht jungen Burschen zwischen 17 und 20 Jahren beschaffte sich versprühbare Farbe und eine Sorte von Spritzen, die zur Einspritzung von Schmieröl in Zylinder gebraucht werden und die sie aus Tankstellen entwendet hatten. Damit und mit weiteren Ausrüstungsgegenständen fuhren sie durch die Stadtteile und Vororte des Londoner Ostens und besprühten Passanten sowie Gruppen von Mädchen mit Sprühfarbe, weil sie deren Kleider ruinieren wollten. Der Graphit, der in den Schmiermittelrückständen ihrer Spritzen enthalten war, verschmutzt Kleider in einer Weise, daß sie kaum noch zu reinigen sind. Sie hatten auch herausgefunden, daß Zitronensaft auf Mohairstoffen besonders scheußliche Flecken macht; also füllten sie auch ihn in ihre Spritzen. Über eine Strecke von 160 Kilometern sah man sie am Werk. Später erklärten sie sich dann in 47 Fällen für schuldig, darunter auch in der Anklage auf Körperverletzung. Vier Leute hatten ins Krankenhaus gemußt.
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Ich greife dieses Beispiel für den Anfang meiner Erörterung über den Wandalismus heraus, nicht weil es ein besonders schwerwiegender Fall dieser Art wäre, sondern weil mir hier ein charakteristischer Zug deutlich ausgeprägt erscheint: die Mutwilligkeit solcher Handlungsweisen.
Da geschah kein sozialer Protest: Die Angespritzten gehörten nicht der Oberschicht an, ja es waren noch nicht einmal alle Bürgerliche.
Die Delinquenten machten jungen Männern und Mädchen aus ihrem eigenen Milieu die Kleider kaputt und verdarben ihnen den Nachmittag.
Dies aber war nicht etwa der Einfall eines Augenblicks. Das verdient deshalb Hervorhebung, weil es immer Leute gibt, die sich als Soziologen bezeichnen, solche Verhaltensweisen aber mit spontaner Aggressionsentladung gegen höhere Klassen erklären wollen.
Wandalismus ist die mutwillige Zerstörung gefälliger Dinge, die Wert für andere haben und ihnen nützlich sind, und daher unterscheidet sich dieses Verhalten auch wesentlich von Gewaltverbrechen, die dem Täter materiell etwas einbringen.
Als typische Beispiele mutwilliger Zerstörungslust nennt ein jüngst erschienener Artikel in der <Sunday Times>:
«Aufsprühen von Säure auf Autos, Ausreißen aller Blumen aus einer Blumenuhr in einem Stadtpark, Strangulieren von Schwänen auf Parkweihern, Durchlöchern der Reifen an allen Wagen eines Parkplatzes, Abschälen der Isolation von einem Hauptrohr der Wasserleitung, das Hineinwerfen von Abdeckplanen in einen Klärteich, Auswerfen von Rettungsringen ins Wasser, das Schleudern von Steinen auf vorbeifahrende Lokomotiven, das Bepissen von Telefonzellen, das Eingießen von Farbe in Schwimmbecken, die Erzeugung von Kurzschlüssen mittels über Oberleitungen geworfener Fahrradketten.»
Eben erst fertiggestellte Appartementhäuser scheinen auf solche Wandalen eine besondere Anziehungskraft auszuüben: Noch ehe die Bewohner eingezogen sind, sind schon die Türen eingetreten, die Toiletten verstopft, Verputz heruntergeschlagen, die Fenster zersplittert. Die Bauindustrie kalkuliert bereits derartige Verluste ein. Sie betreffen übrigens häufiger Vorhaben des öffentlichen Wohnungsbaues für weniger Begüterte als die im Entstehen begriffenen Villen der Reichen. Aber auch in bewohnte Häuser dringen immer häufiger solche Wandalen ein und verwüsten sie vor den Augen der Mieter.
Der Wandalismus erreicht schnell Ausmaße, die eine Gefährdung von Eigentum im großen Umfang mit sich bringen. Angeführt sei hier ein Beispiel aus Colin Wards Buch <Vandalism>.
«Sabotage oder Wandalismus dürfte gestern in Liverpool das Austreten großer Mengen brennbaren Naphtas bewirkt haben, das eine Gefahr für Tausende von Leuten darstellte. Die entflammbare Flüssigkeit ergoß sich in den Merseyfluß, der daraufhin für die Schiffahrt gesperrt werden mußte. Abgesperrt wurde auch ein ganzer Stadtteil.»
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Aber es ist bereits so weit, daß sich der Wandalismus zu einer Gefahr für Leib und Leben auswächst. Jüngst kam in England ein Zugführer bei Durham ums Leben, als von einer Überführung herunter ein großer Stein auf seinen Triebwagen geworfen wurde. Ähnlich gefährliche Zwischenfälle entstanden durch die Errichtung von Hindernissen an schlecht beleuchteten Schienenwegen mit Öltonnen, Eisenschienen oder anderen gewichtigen Gegenständen. Rowdytum dieser Art bilde heute eine der stärksten Gefährdungen der Sicherheit im Bahnverkehr Großbritanniens, erklärte Oberst Robertson, der leitende Inspektionsoffizier des Eisenbahnwesens. Im Jahr 1972 wurden 17,3 % aller Bahnunglücke durch mutwillige Täter hervorgerufen — eine Verdreifachung des Prozentsatzes in neun Jahren! Insgesamt fuhren 147 Züge im Jahr 1972 auf solche Hindernisse, aber nur 50 Züge im Jahr 1963. Acht Züge entgleisten, an anderen brachen Brände aus. «Die Zunahme des Rowdytums ist ein Problem des ganzen Landes», warnte Robertson.
Hinter dem Wandalismus steht angestaute Aggressivität, die sich abreagieren möchte, also eine Art Ersatzhandlung, bei der sich die Wut nicht gegen die eigentlich verursachenden Personen richtet, sondern gegen Gegenstände oder auch unbeteiligte Personen, von denen keine Gegengewalt zu befürchten ist. So redet ein Mann, den sein Chef getadelt hat, dessen Sekretärin scharf an. Der Ehepartner, der verzweifelt, schubst die Katze mit dem Fuß weg.
Gewalt spiegelt immer auch die Art und Weise wider, in der wir die Beziehungen zwischen den Menschen in der Gesellschaft aufbauen, worüber ich gleich mehr zu sagen haben werde.
Aber wer solche Ventilationen der Aggressivität versteht und mit den Betroffenen fühlt, weil deren Frustration sie zu Handlungen dieser Art treibt, muß sie nicht notwendigerweise billigen oder verteidigen. Wenn manche Soziologen dies heute tun, so scheint mir das schon ein alarmierendes Zeichen.
Da schreibt etwa Stan Cohen von der Essex University mit Bestimmtheit: «Wandalismus ist einfach in Ordnung.» Und zustimmend zitiert er eine Äußerung des russischen Anarchisten Bakunin: «Der Drang zu zerstören ist auch ein schöpferischer Drang» — ein Ausspruch, der den Sinn der Sprache verkehrt. Vielmehr ist der Zerstörungsdrang ein Surrogat, eine Pervertierung des schöpferischen Drangs.
In den Augen Colin Wards (von seinem Buch <Vandalism> war bereits die Rede) ist Wandalismus nicht Ausdruck sozialen Elends, sondern ein Zeichen moralischer Gesundheit. Er zitiert einen amerikanischen Autor namens Guy Debord zustimmend, der gesagt hat: «Jeder Akt des Wandalismus usw. findet meine volle Zustimmung, ohne Differenzierung und ohne Entschuldigung für die Täter.» Ein Anonymus erklärt gar in <Skelf>:
«Auf Schaufensterfronten (vor allem auf neue Schaufenster!) gesprühte Parolen; kaputtgeschlagene Busse mit aufgeschlitzten Polstern; diese riesigen Plündereien in Geschäften und Werken ... Das sind die einzigen Dinge, die mir Hoffnung machen.»
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Einige Soziologen haben versucht, den Wandalismus als Ausdruck überschäumenden Lebensgefühls zu deuten, als eine Art Studentengaudi für jüngere Menschen der unteren Klassen — aber die hier genannten Beispiele gehen über studentischen Ulk doch weit hinaus. Vieles von dem, was durch Angehörige der gehobenen Klassen verübt werde, so argumentieren sie, würde als Wandalismus gelten, wenn die Täter Menschen der Unterklassen wären.
Bei soviel Nachsicht gegenüber derartigen Formen des Sich-Abreagierens kann es nicht überraschen, daß wandalistisches Verhalten jetzt auch kleinen Kindern gelehrt wird. Das <Children's Rights Magazinen veröffentlichte ein «Kommunique der Brigade der Zornigen Kinder», in dem es hieß: «Jegliche Sabotage in hierarchischen Systemen ist wirksam, so auch in der Schule. Schraubt Türschlösser raus, macht Lautsprecher kaputt, malt die Tafeln rot an, macht Staub aus der Kreide — ihr seid zornig und wißt, was ihr tun müßt.» Unter Soziologen heißt so etwas «kreative Täterschaft».
Es ist daher ziemlich sicher, daß aus solchem Verhalten in den nächsten zwanzig Jahren ein Maß an Destruktion und Brüchigkeit erwachsen wird, das alles Dagewesene übersteigt. Nationalparks werden verwüstet werden, Denkmäler und Plastiken werden aus den öffentlichen Bereichen entfernt werden müssen; auch wird es bald keine öffentlichen Toiletten und Telefonzellen mehr geben.
Alvin Toffler prophezeit in seinem Buch <Der Zukunftsschock> und der Belletrist John Brunner in seinem Roman <The Jagged Orbit> für die Zukunft eine Individualisierung des Wandalismus zu einer Spielart der Freizeitgestaltung.
So, wie es Telefonierkünstler gibt, die durch ausgeklügelte Maßnahme lange Telefongespräche ohne Gebührenzahlung führen, werden dann nach Tofflers Meinung gut organisierte Gruppen mit Computerprogrammen herumspielen, werden sich in Rundfunksendungen einschalten, Postsendungen umleiten, am Wertpapiermarkt manipulieren oder die Zufallsergebnisse abfälschen, auf denen Meinungsumfragen beruhen. Ja er vermutet sogar, die «Verübung komplex organisierter Raubüberfälle und Morde» könnte zu einem spannenden Freizeitspiel werden.
Der Unterhaltungsschriftsteller John Brunner jedoch sieht diese Entwicklungstendenz in noch gefährlichere Zonen vorstoßen; er erwartet das Schüren von Rassenunruhen wie die Zwangsinjektion psychedelischer Drogen bei zufällig vorbeikommenden Fremden mit anschließender Beobachtung der Resultate (es schießt der den Vogel ab, der bei seinem Opfer dauernden Wahnsinn hervorruft). Über welche Möglichkeiten verfügen wir angesichts solcher Tendenzen?
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5 Totschläger und Zeittotschläger
In der englischen Stadt Bath befand sich ein sechzehnjähriges Mädchen nach einer Wohlfahrtssammlung bei der Abbey auf dem Heimweg. Es war 6 Uhr abends, als sie sechs Jungen entgegenkommen sah, die sich über die ganze Breite der Straße verteilt hatten. Irgend etwas kam ihr nicht geheuer vor. Sie wollte zwischen den Jungen hindurch, aber sie traten nach ihr, daß sie stürzte. Als sie am Boden lag, erhielt sie von allen heftige Tritte. Dann ging die Gruppe lachend weiter. Kein einziges Wort war gefallen. Der ganze Vorgang dauerte neunzig Sekunden und wurde von einer älteren Frau beobachtet, die aus Angst nicht eingreifen wollte. In einer Entfernung von etwa hundert Metern hielten sich zwei Polizisten auf.
Als es später im Krankenhaus interviewt wurde, sagte das Mädchen: «Ich weiß schon, was los war. Denen war's eben langweilig.»
«Ich habe die eine große Überzeugung, daß dem letztlich Langeweile zugrunde liegt... Die Leute wissen offenbar nicht mehr, warum sie auf der Welt sind», sagt der Dramatiker Arthur Miller und weist darauf hin, daß viele der gängigen Romane und Theaterstücke Langeweile zum Thema haben. «Die Leute scheinen psychologisch zu stagnieren, festgehalten durch ihre Verstrickung in halbe Erfahrungen.»
In den Berichten der Sozialarbeiter erscheinen ähnliche Beobachtungen immer wieder.
James Patrick, Lehrer einer Schule für Gefängnisinsassen, wurde für einige Zeit Mitglied der Glasgower Teenagerbande, die er in seinem hochinteressanten Buch <A Glasgow Gang Observed> schilderte. Aus seiner Darstellung wird ganz deutlich, daß die Jugendlichen die obligatorische Wochenendschlacht mit einer anderen Bande nur deshalb suchten, um in die Monotonie ihres Alltags, der sich zumeist in Herumlungern erschöpfte, etwas gepfefferte Abwechslung zu bringen.
Einer der Jungen beschrieb das Gefühl vor dem Kampf wie folgt: «Da läuft einem das Herz auf Touren, da fühlt man sich wie im Fieber; das ist besser als Sex.» Seine Freunde stimmten ihm zu. Es ist nicht so sehr die Schlägerei selbst als vielmehr die Vorbereitung darauf und die spannenden Minuten, ehe es richtig losgeht. Wenn man so etwas plant und organisiert, gibt das dem Leben ein Ziel. Wie der amerikanische Autor W. B. Miller über amerikanische Halbwüchsigenbanden schrieb: «Es ging den Bandenmitgliedern vor allem darum, sich selbst in die Haltung des Kämpfenden hineinzusteigern, weniger darum, tatsächlich zu kämpfen.»
Patrick sagt: «Die Schule erschien ihnen zweifellos öde, ihre Arbeit ließ sie unzufrieden, aber es kam nicht zu offener Auflehnung.» Paul Goodman unterstreicht, daß bei den gesellschaftlich sehr benachteiligten Jungen der Puertorikaner, mit denen er in New York arbeitete, das Gefühl, nicht aus dem alten Fahrwasser herauszukönnen und nie auf anständige Weise Geld zu verdienen, sehr prägend war.
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Während bei einem kleinen Teil der Banden der Wunsch artikuliert wurde, «der Gesellschaft einen zu verpassen», weil sie von ihr als Nieten zurückgewiesen worden seien, hätte die Mehrzahl der Gangs sich jedoch in einem «Kult maskuliner Härte» erschöpft. Langeweile ist ein anderer Name für das Gefühl, ohne Bestimmung zu sein. Hinzu kommt, daß der Jugendliche das Bedürfnis hat, sich als Mann bestätigt zu sehen.
Es hat Gesellschaften urtümlicher Struktur gegeben, bei denen sich der Heranwachsende als «junger Held» bewähren mußte, entweder durch Töten oder durch Skalpieren eines Stammesfeindes. Um aggressiven Impulsen Abfuhr zu sichern, waren bei nicht wenigen Naturvölkern gefahrvolle und schmerzhafte Initiationsriten gebräuchlich, in denen der junge Mann Gelegenheit fand, seinen Mut zu beweisen — wobei er manchmal auch seine Befähigung zeigen mußte, eine Frau zu ernähren.
Ein Bedürfnis nach Selbstbestätigung lebt sich auch in Fußballspielen aus. Ein Reporter beschreibt die «verpflasterten und blutverschmierten Halbwüchsigen, die stolz auf der Straße ihre Verletzungen zur Schau stellen» und setzt hinzu: «Für das rabaukenhafte Element ist nicht das Spiel das Wichtigste — vielmehr gelten die Dinge drumherum: der Sportplatz, die Zuschauer, die Gegenpartei.» Es geht nicht so sehr um das «Dampfablassen» als vielmehr um Selbstbestätigung.
Patricia Elton Mayo betrieb vergleichende Studien bei Gruppen von Straffälligen aus Marseille und im Wohnviertel einer britischen Stadt, wobei bemerkenswerte Ähnlichkeiten in den Verhaltensmustern zutage traten. Sie kam indes zu einem abweichenden Schluß:
«Die Haltung, mit der ausgedrückt werden sollte, daß man sich nicht als zugehörig zur Gesellschaft der Eltern ansah, fand sich bei allen befragten Straffälligen, unabhängig von ihrem Alter, ihrer Intelligenz, ihrem Beruf oder ihrem Bildungsgrad. Sie fühlten sich als Zurückgestoßene der Gesellschaft und nahmen für sich das Recht in Anspruch, geschlossen Widerstand zu leisten. Unter anderen Verhältnissen können Mitglieder einer Widerstandsbewegung sehr wohl zu Helden werden, und Helden wollten sie eigentlich auch sein.»
Etwas tun, was mit dem Geruch des Abenteuers umgeben ist, ohne dabei gegen Gesetze zu verstoßen, also Bergsport, Segeln, Jagen, war stets Privileg der oberen und mittleren Klassen. Für den Jungen aus benachteiligten Klassen hält die moderne Gesellschaft kaum Gelegenheit bereit, sich mannhaft zu bewähren.
In Marseille ließ ein unkonventioneller Polizeichef einen Klub für solche Jungen gründen, in dem sie segeln, zelten und auf verschiedene Weise sich sinnvoll betätigen konnten. «Großer Beliebtheit beim Klub erfreuen sich sportliche Betätigungen unter freiem Himmel wie Unterwasserfischen, Bergsteigen und Segeln, die auch alle körperliche Wagnisse mit sich bringen», registriert Frau Mayo. «Auch für geistige Wagnisse ist Raum, und die Jungen sind erstaunt, wie spannend so etwas sein kann. Sie sind ja meist recht intelligent, und als man daranging, Theaterstücke mit ihnen zu schreiben und sie auch aufzuführen, hat es sie selbst überrascht, was dabei alles für sie herauskam.»
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Frau Mayo schreibt weiter — und was sie sagt, ist beherzigenswert: «Wer einige Zeit lang in zwei Wohnvierteln wie dem in Marseille und dem von Queen's Park tätig war, den überfällt das Bewußtsein, wie elend der Mensch hier verschlissen wird. Daß diese Menschen nicht mehr hungern, besagt noch längst nicht, daß ihre menschlichen und sozialen Bedürfnisse wirklich gestillt sind.» Das sollte man mit ehernen Lettern in die Schreibtische all jener Politiker eingravieren lassen, die sich allein um wirtschaftspolitische Fragen kümmern, und auch Gewerkschaftsführer täten gut daran, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Nach dem gängigen Jargon waren diese Jungen «entfremdet». Sie konnten sich nicht selbst als Teil unseres Gesellschaftssystems verstehen. Sie befanden sich in jenem Zustand, den die Soziologen als «Anomie» bezeichnen. Wer sich nicht zu einer Gesellschaft zählt, fühlt sich auch nicht bemüßigt, die Normen dieser Gesellschaft einzuhalten. Andererseits aber wird dieses Außenseitertum zum Anlaß für Ressentiments, erscheint als Kränkung. Eine derartige Entfremdung ist natürlich vor allem bei jungen Leuten leicht gegeben, da sie ja zum erstenmal in ihrem Leben versuchen müssen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Nicht wenigen wird dies zuletzt auch gelingen; sie passen sich an. Aber anders als die sogenannten primitiven Gesellschaften zeichnet unsere Gesellschaft keinen eindeutigen Weg vor, auf dem ein Junge zum Erwachsenen wird, und so bleiben viele, die überhaupt keinen Weg finden.
Man könnte auch sagen, daß das Problem des Heranwachsenden in der Selbstachtung liegt — und vielfach gilt dies ebenso für kriminelle Erwachsene. Hans Toch untersuchte 69 Männer, die wegen Gewalttaten verurteilt worden waren, und fand, daß über ein Viertel ihr persönliches Image verteidigten, während weitere zehn um Verteidigung ihrer Reputation bemüht waren. Er fügt die Bemerkung an, daß ein Mensch, «sobald er entdeckt hat, daß sich das eigene Ich auf Kosten von anderen stärken läßt, immer wieder erneut Nutzanwendung aus dieser Entdeckung zieht».
Während die Mehrzahl der entfremdeten Jugendlichen unfreiwillige Opfer einer pathologischen sozialen Situation sind, muß doch andererseits gesehen werden, daß eine kleine Anzahl an persönlichen pathologischen Zügen leidet. Diese aber sind häufig die Anführertypen oder die «harten Fälle» asozialer Gruppen. Wer anfällig für Manipulation ist, tut sich oft mit anderen zusammen, die in ihren Mitmenschen nur Werkzeuge für ihre Zwecke sehen — und beide greifen gern zur Gewalt.
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6 Pathologische Fälle
In seinem interessanten Buch «The Frying Pan» gibt der Schriftsteller Tony Parker, der insbesondere die Lage der benachteiligten Bevölkerungsschichten im Auge hat, die Äußerungen eines Strafgefangenen wieder, eines Mannes mit langem Strafregister, Gewalttaten zumeist, der in der fortschrittlichen britischen Strafvollzugsanstalt Grendon Underwood seine Jahre absaß. In dieser Anstalt erhalten die Gefangenen intensive psychotherapeutische Betreuung, und Parker zeichnete lange Gespräche der Insassen mit dem Betreuungspersonal auf.
Der Gefangene, dessen Äußerungen Parker zitiert, war ein junger Mann irischer Herkunft, der als uneheliches Kind geboren worden war. Nicht lange nach seiner Geburt hatte ihn seine Mutter, eine Kellnerin, zu Verwandten in Pflege gegeben.
«Mich hat ja schon von Anfang an keiner haben wollen — das ist ja ganz klar, und ich glaube, da wird man schon gleich in der Abwehr groß und hat einen Haß auf andere Leute, weil man weiß, daß man kein Mitglied der Gesellschaft ist, das was gilt. Dann zeigst du denen den Rücken. Dann denkst du: <Leckt mich doch alle am Arsch.»
Und er fügte hinzu: «Ich hab auf jeden einen Haß, kann ich nur sagen; den größten Haß hab ich auf mich selber. Haß, Wut — da bin ich voll davon. Ich glaube, wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich die ganze Welt kaputtgemacht.»
Die Beziehung zwischen früher Abweisung und politischem Nihilismus könnte kaum besser illustriert werden. Dazu Dr. Kellmer Pringle, Direktor des National Children's Bureau: «Wut, Haß und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen sind bei den Ungeliebten und Zurückgewiesenen die Regel.»
Ein weiterer Faktor wird sichtbar in der Aussage eines neunzehnjährigen Jungen — kein krimineller Fall —, der schrieb:
«Ich bin manchmal so frustriert, daß ich alles rings um mich her kaputtmachen könnte... Wenn ich wieder lese, daß da jemand ein großes Ding gedreht hat... Einbruch oder einen Mord, habe ich Lust, es genauso zu machen, damit die Leute sehen, der kann das so gut wie andere auch... Ich ertrag's einfach nicht, nur als Null dazustehen.»
Hinter solchem Verhalten steckt ganz zentral der Wunsch, in der Massengesellschaft sich als Persönlichkeit irgendwie zu verwirklichen. Über diesen Punkt wird noch mehr zu sagen sein.
Als dritter Faktor kommt eine Art Gefühlsroheit hinzu, eine Unfähigkeit zur Einfühlung in andere, die bei starker Ausprägung als Schizophrenie gelten mag. Es ist oft beobachtet worden, daß schizophrene Mörder keinerlei Gemütsbewegung zeigen, auch dann nicht, wenn sie mit ihrem eigenen Todesurteil konfrontiert sind. Um so weniger natürlich angesichts des Todes ihrer Opfer. So sagte ein Häftling zu Tony Parker, wenn er ihn nach seiner Entlassung träfe und Parker käme im Auto daher, dann solle er lieber nicht aussteigen. Denn wenn er anhielte und ausstiege, würde er ihn aus dem Wagen zerren und selbst davonfahren. Als Parker hierauf mit einem Lächeln antwortete, sagte er: «Lachen Sie nicht. Das meine ich ernst.»
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Menschen wie dieser Mann sind früh in ihrem Leben emotional schwer geschädigt worden, und sie reagieren darauf mit dem Grundsatz: «Wenn ich mir alles Gefühl vom Hals schaffe, kann auch mich niemand mehr verletzen.» Gleichzeitig aber wollen sie es dieser kalten Welt zurückgeben, und dabei dehnen sie ihre persönliche Erfahrung mit der Gesellschaft zu scheinbarer Allgemeingültigkeit aus. (Umgekehrt überschätzt ein als Kind mit Liebe und Sicherheit umgebener Mensch später leicht die Güte seiner Mitmenschen.) Wegen ihrer Gefühlsroheit suchen solche Charaktere den außergewöhnlichen Anreiz der Gefahr und der Gewalt (auch Drogen), um ihre innere Unerfülltheit wenigstens mit einem Surrogat auszufüllen.
Die außergewöhnlichen Extremformen, in denen sich eine solche Beschädigung der Persönlichkeit manifestieren kann, werden deutlich in der niedergeschriebenen Erklärung eines Mannes, der ein kleines Mädchen entführt, es zu Tode gequält und dann aufgegessen hatte, sich dann aber nicht scheute, die fassungslosen Eltern über die Todesart ihrer Tochter genau zu informieren. Vor seiner Hinrichtung schrieb er: «In meinem Leben habe ich einundzwanzig Menschen ermordet, Tausende von Einbrüchen begangen, dann Raubüberfälle, Diebstähle, Brandstiftungen; außerdem beging ich auch in über tausend Fällen Unzucht mit Männern. Für all das empfinde ich nicht die geringste Reue. Ich habe kein Gewissen, deshalb ist mir das gleich ... Ich hasse die ganze Menschheit, mich eingeschlossen.» Der Schreiber dieser Zeilen war seinen eigenen zwei Kindern ein guter Vater.
Es wird manchmal behauptet, daß Gewalttätigkeiten ein angeborenes Verhalten darstelle, das durch keinerlei soziale Einflüsse ausgeschlossen werden könnte. Bereits an anderer Stelle (<Conditions of Happiness>, 1949) habe ich darauf hingewiesen, daß diese Meinung auf einem Mißverständnis beruht.
Der Mensch besitzt keinen Aggressionstrieb, wohl aber einen angeborenen Drang, seine Umwelt zu verändern oder Widerstände gegen die Erfüllung seiner Bedürfnisse aus dem Weg zu räumen. Wenn ein Mensch einen Baum fällt, um sich ein Haus zu bauen, so nennen wir dies konstruktiv; schlägt er einen anderen Menschen nieder, der ihn daran hindern möchte, so reden wir von destruktivem Verhalten. Wir können aber den Drang zur Umweltgestaltung nicht verhindern, wollen dies auch gar nicht tun. Es kommt vielmehr darauf an, daß die Fixierung dieses Drangs auf haßerfüllte, destruktive Äußerungsformen infolge frühkindlicher Frustrationen in der hier anhand von Beispielen geschilderten Form möglichst verhindert wird. In Kapitel 18 werde ich darüber sprechen, wie dies in Einzelheiten zu bewerkstelligen wäre. Hier möchte ich nur festhalten, daß Persönlichkeitsstörungen, die schon fast ins Pathologische reichen, allen unseren Problemen zugrunde liegen, was nicht immer hinreichend Beachtung erfährt.
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Zusammenfassend kann gesagt werden, daß es ein Spektrum von Verhaltensweisen gibt, das sich vom relativ normalen Verhalten Jugendlicher unter frustrierenden Sozialumständen bis zum psychisch schwer geschädigten Individuum erstreckt, das wegen Mangel an liebender Zuwendung und Hilfe in der Kindheit eine tiefe Wunde davongetragen hat. Weltvertrauen erhält das Kind in den Armen der Mutter, indem es ihrer liebevollen Stimme lauscht, und dadurch, daß seine Bedürfnisse stets erfüllt werden. Fehlt dieses Grundvertrauen, so maskiert der Erwachsene seine Verwundbarkeit durch Aggressivität.
Bei den von Patrick beobachteten Banden war der Anführer gewöhnlich einer dieser psychisch Gestörten. Die Bandenmitglieder waren sich darüber klar und belegten die Wutausbrüche ihres Anführers mit Ausdrücken wie «Irrsinn hinlegen» oder «einen Psychotischen abziehen». Sie erfanden Namen wie «der irre Mexikaner» oder «der Großkranke». Patrick bemerkte dazu: «Diese Jungen zeigten keinerlei Schuldgefühle; sie konnten sich sozial überhaupt nicht anpassen, und auch untereinander blieben die Beziehungen immer nur an der Oberfläche. In manchen ihrer Unternehmungen steckte ein Element bewußter sadistischer Grausamkeit...»
Big Dave Malloy, einer der Anführer, erzählte, wie er in seiner Kindheit die Skelette von Tieren zerrissen habe. Mitglieder der Kerngruppe schlugen die Schaufenster eines Modegeschäftes ein und enthaupteten zeremoniös die Kleiderpuppen. Wiewohl Patrick kein Befürworter schwerer Strafen ist, sah er sich doch zu folgender Einschätzung gezwungen: «Um den sofortigen Schutz der Gesellschaft zu gewährleisten, müssen die Mitglieder der Kerngruppe der Bande festgenommen und inhaftiert werden.»
Während die kleinen Routineverbrechen allein soziale Ursachen haben, beruhen solche Persönlichkeitsstörungen auf dem Auseinanderbrechen der Familie.
Das ist der typische Fall des Jungen, der von der Schule nach Hause kommt und weder seine Mutter noch ein Essen vorfindet; der nie Gelegenheit hat, irgend etwas zusammen mit einem Vater zu unternehmen, für den er Achtung empfindet; das sind die Jungen, die sich später so ungeheuerlich entwickeln, fast schon jenseits jeglicher Hoffnung auf Gesundung.
Die Familie ist der Mikrokosmos der Gesellschaft: Eine Familie, in der Kinder alles dürfen, bedeutet eine Gesellschaft, in der fast alles möglich ist; eine Familie, in der alles durcheinandergeht, bedeutet eine chaotische Gesellschaft; eine Familie voller Haß bedeutet eine Gesellschaft voller Haß; eine auseinanderbrechende Familie bedeutet eine auseinanderbrechende Gesellschaft.
Nicht das Anwachsen der Gewalt ist das eigentliche Problem, sondern das Anwachsen von Ressentiment, Verzweiflung und Zerstörungssucht, das pathologische Formen annimmt. Dies zwingt uns die Frage auf: Welches Maß solcher Einwirkungen kann eine Gesellschaft noch aushalten? Wie lange können wir es uns noch leisten, die Dinge treiben zu lassen?
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Keiner der Sozialfaktoren, die für den Haß unter den Menschen und für ihre Gefühlsverrohung verantwortlich sind, nimmt in merklichem Grade ab. Die Slums bleiben weiter. Was auch immer mutig zum Wohl der Halbwüchsigen unternommen wurde — es erwies sich als noch zuwenig. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist hoch und wird wohl noch zunehmen. Immer mehr Familien brechen auseinander, weil immer mehr Frauen in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden und immer weniger Väter ihrer Verantwortung nachkommen. Daraus folgt, daß Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Verbitterung bis zum Ende des Jahrhunderts ansteigen werden. (Die jugendlichen Mörder von 1995 sind schon geboren und lernen die bittere Lektion der Asozialen, während Sie diese Zeilen lesen.)
Diese pathologischen Erscheinungen sind ein Teil des Preises, den wir für rapide Entwicklungsprozesse, für das Auseinanderbrechen der Familie, den Verlust durchgängiger prägender Kulturtraditionen und Gruppenstrukturen zu zahlen haben. Da bisher noch kaum Anzeichen auf Änderung dieser Entwicklung abzusehen sind und da das Wertsystem unserer Gesellschaft eine Rückkehr zu beständigeren sozialen Verhältnissen ausschließt, wird man voraussagen können, daß die sozial-pathologischen Erscheinungen künftig noch schlimmer werden.
Dies ist das dringlichste Problem der Gesellschaft, dringlicher als die wirtschaftlichen und politischen Streitfragen, auf die unsere politischen Führer die meiste Zeit verwenden. Die Tatsachen sind verfügbar. Aber wenn hier nicht eine gewaltige Anstrengung unternommen wird, die vorrangig und mit großzügigster Unterstützung voranzutreiben wäre, hat unsere Gesellschaft keine Überlebenschance. Denn wenn Gewalt nicht mehr beschränkt werden kann, führt dies zu einem Zusammenbruch der Alltagsabläufe.
Wir haben unsere Prioritäten falsch gesetzt. Wir reagieren nicht mehr sensibel genug auf Gewalt. Wir haben nur noch ein Organ für Gewalt mit Todesfolgen. Wenn wir jedoch lesen, daß nach einem Sprengstoffanschlag oder einem Banküberfall einige Betroffene nach wenigen Tagen wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurden, dann haben wir das Gefühl, es sei ja alles gar nicht so schlimm gewesen. Aber eine Frau mit gebrochenem Kiefer, ein Mann mit geschädigter Niere, ein Kind mit Brandverletzungen leiden. Und ein Mann, der seine Hand verliert, oder eine Frau, die ihres Augenlichts beraubt wird, ist lebenslang schwerstens behindert. Keine materiellen Reichtümer können solche Verluste wiedergutmachen, und wenn Gewalt der Preis für eine hochindustrialisierte Gesellschaft ist, so dürfte dieser Preis allzu hoch sein.
Die Verminderung der Gewalt sollte daher eines unserer sozialen Hauptziele sein, an zweiter Stelle allenfalls hinter dem Ziel der Gesundheit im allgemeinsten Sinne und wohl noch vor dem Ziel der Erziehung.
Die Gewalt ist ja nicht ein Problem für sich, sondern das Ergebnis einer langen sozialen Ereigniskette. Sie ist über uns gekommen wie eine Art psychische Pest. Wie im alten Rom erweist sich das Überhandnehmen von Verbrechen, Gewalt und Haß als Weg in den Abgrund. Wie lange können wir mit der Gewalt noch existieren?
Natürlich lenkt Gewalt die Aufmerksamkeit auf sich, und jede neue Manifestation trifft auf das schaudernde Entzücken der Zeugen vor den Massenmedien, die in Berichten über Gewalt wohl ihre eigenen unterdrückten Impulse zur Gewalttätigkeit abzureagieren vermögen. Weniger offensichtlich, weniger faszinierend, aber dennoch nicht minder wichtig sind die gewaltfreien Formen asozialen Verhaltens, denen das folgende Kapitel gilt.
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Gordon Rattray Taylor Zukunftsbewältigung How to Avoid the Future Wie diese Zukunft zu vermeiden ist