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    3. Keelings Kurve   

Also geschieht es häufig, daß mittelgroße und kleine Dinge große entdecken — eher, als große Dinge
kleine entdecken — und deshalb notiert Aristoteles zu Recht: <Die Natur aller Dinge ist am
leichtesten in ihren kleinsten Teilen sichtbar.> -Francis Bacon

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Mitte der fünfziger Jahre machte sich kaum jemand Gedanken über den Treibhauseffekt. Er war so gut wie unbekannt. Aber die Geochemiker wußten von ihm, und zwar schon seit geraumer Zeit. Die grundsätz­liche Theorie des Treibhauseffektes wurde zuerst von einem Mathematiker aufgestellt: Jean Baptiste Joseph Fourier, der unter Napoleon in Ägypten diente. Er schlug sich dort so gut, daß Napoleon ein paar Jahre später, als Fourier seinen wichtigsten wissen­schaft­lichen Durchbruch erzielte — die Theorie der Wärmeausbreitung —, dies zum Anlaß nahm, ihn zum Baron zu machen.

Fourier war der erste, der erkannte, daß die Atmosphäre uns warm hält. Der Weltraum ist ein sehr kalter Ort, und wären nicht die Gasschichten, die unseren Planeten umhüllen, müßten wir alle erfrieren. Ohne Luft wäre die Erde kein blauer Planet, sondern ein weißer. Vom Mond aus betrachtet, hätte der ganze Globus das Aussehen des Südpols.

Fourier verglich 1827 diesen glücklichen Einfluß der Erdatmosphäre mit den Verhältnissen in einem Gewächs­haus. Er stellte fest, daß die Gase der Erde wie die gläsernen Wände eines Gewächshauses wirken. Mit anderen Worten: Luft hat einen Treibhauseffekt.

Ein paar Jahrzehnte nach Fouriers Tod analysierte ein englischer Physiker namens John Tyndall alle atmosphärischen Gase, um herauszufinden, welches von ihnen am stärksten zum Treibhauseffekt beiträgt. In den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckte er, daß Stickstoff und Sauerstoff keinen Anteil daran haben. Das bedeutet, daß neunundneunzig Prozent der Atmosphäre keinen Treibhauseffekt hervorrufen. Die drei Gase, die diese Wirkung haben, sind Wasserdampf, Kohlendioxid und Ozon.

Es mag für manch einen ungewohnt klingen, Wasserdampf als atmosphärisches Gas zu betrachten. Vielleicht liegt das daran, daß »häuslicher« Wasserdampf wie auch Wasser selbst ein alltäglicher Bestandteil unseres Lebens ist, von feuchter Luft bis zu dampfenden Töpfen und Dampf ablassenden Wäschetrocknern. Andere Gase wirken esoterischer und weniger gewöhnlich, obwohl wir wissen, daß wir von ihnen umgeben sind und sie ein- und ausatmen.

Wasser setzt, wenn es verdunstet, ein unsichtbares Gas frei, wie verbrennendes Holz. Es gibt eine Menge Wasser auf der Oberfläche unseres Planeten, so daß sich immer viel Wasser in der Atmosphäre befindet. Tatsächlich ist Wasser das am meisten verbreitete Treibhausgas auf der Erde. Es ist viel verbreiteter als Kohlendioxid, das wiederum weit häufiger als Ozon vorkommt.

Diese drei Gase haben etwas, das Stickstoff- und Sauerstoffmolekülen fehlt. Sie besitzen ein drittes Atom. Stickstoff (Nitrogen) ist N-N, und Sauerstoff (Oxygen) ist O-O; es sind Dubletten. Die drei häufigsten Treibhausgase dagegen sind Dreiergruppen: Wasser ist H-H-O (H2O), und Ozon ist O-O-O (O3), eine seltene und unstabile Form des Oxygens; eine menage á trois. Kohlendioxid ist C-O-O (CO2). Die wirkliche Anordnung im Raum sieht wie ein fliegender Vogel aus.

 

Der Besitz von drei statt zwei Atomen (Tyndall nannte sie »kleine Triaden«) verleiht diesen Gasen eine besondere Eigenschaft. Wie Stickstoff und Sauerstoff sind sie völlig transparent für das auf die Erde fallende Sonnenlicht. Im Gegensatz zu diesen Gasen aber sind sie undurchdringlich für die Wärmestrahlung, die vom durch die Sonne erhitzten Boden aufsteigt. Diese Wärmestrahlung ist infrarot (wörtlich: unterhalb rot). Sie ist unterhalb rot im Regenbogenspektrum, knapp außerhalb des Bereichs der Farben, auf die das menschliche Auge eingestellt ist. Einige Tiere, zum Beispiel die Grubenotter, nehmen ihre Opfer in Infrarot wahr; und wir spüren es in der Nähe eines Feuers oder eines heißen Ofens auf Händen und Gesicht. Infrarot ist das Licht der Erde. Der Planet leuchtet mild in Infrarot, bei Tag und Nacht. 

*(d-2015:)  wikipedia  Joseph Fourier  1768-1830     wikipedia  John Tyndall  1820-1893

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Wenn Infrarotstrahlung auf Moleküle mit drei Atomen trifft, läßt es sie erzittern und erbeben. Kohlendioxidmoleküle flattern in ihren Käfigen wie Vögel.

 

Und beim Flattern geben sie Energie in Form weiterer dunkler Strahlen, weiteren Infrarots, ab. Jedes Kohlendioxidmolekül in der Atmosphäre ist wie ein dunkler Stern; es strahlt in alle Richtungen, nach oben, nach unten und nach allen Seiten.

Auf diese Weise werden unsichtbare energetische Strahlen viele Male zwischen der Atmospäre und den Sphären unter ihr — der Litosphäre, Biosphäre, Hydrosphäre und Kryosphäre — hin- und hergereicht, bevor die Energie letztlich in den oberen Bereich der Atmosphäre gelangt und in die verhältnismäßige Ruhe und Leere des äußeren Weltraums entflieht, in der, um den Vergleich fortzuführen, nur wenige flügelschlagende Vögel vorkommen.

Und das ist der Treibhauseffekt. Die dunklen Strahlen werden viele Male immer wieder innerhalb der Atmosphäre reflektiert, bevor sie endlich ins All entweichen können. Wasserdampf, Kohlendioxid und Ozon, so spärlich sie auch vorkommen, verwandeln die Luft der Welt in eine gigantische Wärmefalle. Seit Milliarden von Jahren ist das Leben auf der Erde von dieser besonderen Eigenschaft dieser drei Gase (und einiger weniger anderer, sogar noch seltenerer Gase) abhängig, der Planet dank ihnen bewohnbar.

Der englische Physiker Tyndall hat die schreckliche Macht, die vor allem das Kohlendioxid durch seine Wirksamkeit und Seltenheit dargestellt, sehr bald begriffen. Er erkannte, daß Pflanzen ständig Kohlendioxid ein- und ausatmen und daß der Anteil dieses Gases in der Luft zudem aus hundert anderen natürlichen Ursachen schwankend ist. Wenn der Gehalt an Kohlendioxid auch nur eine Spur zu stark abfiele, könnte diese Veränderung den Planeten abkühlen. Tyndall schlug ein solches Ereignis sogar als mögliche Erklärung für die Eiszeiten vor.

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Seltsamerweise wandte Tyndall die gleiche Aufmerksamkeit nie der anderen Seite der Medaille zu, wie es im Rückblick naheliegend scheint. Dabei war er ein Universalgelehrter, der wichtige Entdeckungen in der Chemie, Physik, Bakteriologie und bezüglich der Theorie über den Ursprung des Lebens machte. Er erklärte sogar, weshalb der Himmel blau ist. Außerdem war er ein großer Bergsteiger und unerschrockener Polemiker, und er wäre nicht vor der dunklen Seite des Treibhauseffekts zurückgeschreckt.*

* »Es ist ebenso fatal wie feige, Fakten auszuweichen, weil sie nicht nach unserem Geschmack sind«, schrieb Tyndall in <Science and Man>. 

Vielleicht wäre er noch darauf gekommen. Aber zu Beginn seines sechsten Lebensjahrzehnts ließ seine Gesundheit nach, und er zog sich in eine Villa in der Heide zurück, um seine Autobiographie zu schreiben. Seine junge Ehefrau Louise kümmerte sich um ihn, gab ihm jeden Morgen eine große Dosis Magnesia wegen seiner Verdauungsschwäche und abends eine kleine Dosis Chloralhydrat wegen seiner Schlafstörung. Eines Wintermorgens im Jahr 1893 vertauschte sie die beiden Flaschen versehentlich und verabreichte ihm eine riesige Dosis Chloralhydrat. Er war tot, bevor die Sonne unterging.

 

Drei Jahre nach Tyndalls Tod drehte Svante Arrhenius, ein schwedischer Chemiker, endlich die Medaille um. Arrhenius, der einen der ersten Nobelpreise in Chemie erhielt, nahm die einfache Tatsache wahr, daß jedes Jahr Menschen eine Menge Kohlen, Öl und Holz verbrannten; jedes Jahr mehr als im Jahr zuvor. Die Verbrennung dieser Heizstoffe beschickt die Atmosphäre mit vielen Millionen Tonnen Kohlendioxid. Und Kohlendioxid ist ein Treibhausgas.

Arrhenius erklärte es im Jahr 1896 in der Aprilnummer des <London, Edinburgh and Dublin Philosophical Magazine and Journal of Science>. »Wir blasen unsere Kohlenminen in die Luft«, schrieb er. Der Luft soviel Kohlendioxid zuzufügen, muß »eine Veränderung in der Transparenz der Atmosphäre« bewirken. Mit jedem weiteren Jahr muß die Luft mehr und mehr dunkle Strahlen einfangen, mehr und mehr Erdlicht. Es wäre leicht möglich, daß diese Veränderung schließlich den Planeten derart aufheizt, daß es jenseits aller menschlichen Erfahrung läge.

Die Seiten des <London, Edinburgh and Dublin Philosophical Magazine> sind heute so alt und säuregeschädigt, daß sie beim Umblättern auseinanderfallen, wie jene aufsehenerregenden Instruktionen, die man nach der Lektüre verbrennen soll: Mission Impossible. Diese Nachricht zerstört sich selbst. Aber hier steht: »veröffentlicht während der Regierung der Königin Victoria«.

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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fanden Arrhenius' Überlegungen nur geringe Anerkennung. Die Wissenschaftler bezweifelten zwar nicht, daß Kohlen­dioxyd einen Treibhauseffekt besitzt. Aber sie bezweifelten (unter anderem), daß es im Begriff war, sich in der Atmosphäre anzusammeln. Es gab Gründe zu glauben, daß es, wenn überhaupt, nur sehr, sehr allmählich zunahm. Die Kohlenstoffverschmutzung durch Kohle und Öl mochte ebenso rasch wieder aus der Luft ausgeschieden werden, wie sie Kamine und Schlote hinaufgeblasen hatten. Das Gas konnte zum Beispiel vom Ozean absorbiert werden. Der Ozean ist in gewisser Hinsicht ein großes Gefäß voll Kalkwasser. In ihm sind viele Milliarden Tonnen in Wasser gelöster Kreide in Form von Kalziumkarbonat enthalten. Wenn die Menschen der Luft Kohlendioxid zufügten, würde das zusätzliche Gas mit der Kreide reagieren und unschädlich auf den Meeresgrund sinken. Je mehr Gas, desto mehr Schnee. Je mehr Schnee, desto weniger Kohlendioxid. Das Weltklima war gesichert.

Während Europa in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts eine Serie ungewöhnlich warmer Jahre erlebte, machte sich ein englischer Kohleningenieur names George Callendar die Mühe, die in den vergangenen hundert Jahren gemessenen Kohlendioxidwerte zusammenzustellen und noch einmal zu überprüfen. Callendar fand Hinweise auf eine Zunahme des Gases, indem er die ihm verdächtig vorkommenden Werte aussortierte und die am zuverlässigsten scheinenden annahm. 

Auch diese Entdeckung wurde nicht beachtet.

Nicht einmal Keeling erkannte zu Beginn seines Projekts, daß der Betrag an Kohlendioxid in der Atmosphäre im Begriff war, gefährlich, ja sogar lebens­gefährlich für den Planeten zu werden. Keeling wollte nur Messungen vornehmen. Ihn interessierte Gas um seiner selbst willen. Er sorgte sich nicht im geringsten um Kohlendioxid.

Inzwischen entdeckte jedoch ein Ozeanograph names Roger Revelle, daß der Ozean nicht wie ein Gefäß voll Kalkwasser funktioniert. Die Chemie des Meerwassers verhindert wirksam, daß es mehr Kohlendioxid aufnimmt, als es bereits enthält. Revelle war Direktor der <Scripps Institution of Oceanography in La Jolla>, Kalifornien. Er war damals und ist auch heute noch eine der beachtetsten Stimmen in der Wissenschaftspolitik — ein Mann mit der Gabe, komplexe Bilder zu begreifen und einfache Wahrheiten herauszufinden. Seine Erklärung der Resistenz des Meerwassers gegen die Absorption von Kohlendioxid ist als der Revelle-Effekt bekannt. Er veröffentlichte seine Entdeckung im Jahr 1957 in einer Schrift, die in Zusammenarbeit mit Hans Suess entstand. Die beiden faßten die neue Situation der Menschen auf dem Planeten in den seitdem oft zitierten Worten zusammen: »Die Menschen führen ein langfristiges geophysikalisches Experiment einer Art aus, die in der Vergangenheit nicht möglich gewesen wäre und in der Zukunft nicht wiederholbar sein wird.«

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Als Keeling mit der magischen Zahl dreihundertfünfzehn wieder von seinem Berg herunterkam, überstürzten sich die Ereignisse. Ein Wissenschaftler am California Institute of Technology, der Keelings Vorgehen verfolgt hatte, gab ihm eine Telefonnummer in Washington. Forscher aus aller Welt planten eine ehrgeizige Untersuchung des Planeten: achtzehn Monate, die der konzentrierten globalen Beobachtung von Erde, Luft, Feuer und Eis gelten sollten, mit Teilnehmern aus siebzig Ländern und allen Disziplinen der Geowissenschaft. Dieses International Geophysical Year (IGY) war jahrelang vorbereitet worden (Revelle war einer der Planer gewesen), und es sollte jetzt beginnen. Der weltfremde Keeling hatte nicht viel darüber gehört.

Zwei Wochen, nachdem er aus dem Sturm auf dem Berg zurückgekehrt war, saß Keeling in einem Flugzeug nach Washington. Dort führte man ihn ins Planungsbüro der Vereinigten Staaten für meteorologische Forschung für das IGY.

Das Aufnahmegespräch begann pünktlich um acht Uhr morgens und verlief zügig. Harry Wexler, der Kopf des Weather Bureau's Office of Meteorological Research, befragte Keeling über seine Zahl dreihundertfünfzehn. Was würde Keeling tun, falls er die Absicht hätte, Kohlendioxid im IGY zu messen?

Keeling sagte, er würde das Gas auf der ganzen Welt messen. Außerdem würde er eine Möglichkeit finden, diese Messungen nicht nur stichprobenartig vorzunehmen, indem er täglich ein paar Flaschen fülle, sondern kontinuierlich.

Wexler verzog bei diesem Vorschlag keine Miene. Wenn Keeling den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre weltweit messen konnte, wollte ihn Wexler beim IGY dabeihaben. Er kannte abgelegene Wetter- und Forschungsstationen auf der ganzen Welt, in denen Kohlendioxid gemessen werden konnte. Insbesondere erwähnte Wexler eine Station auf dem Vulkan Mauna Loa auf Hawaii, die der U.S. Weather Service soeben eingerichtet hatte. Sie bestand aus einem Betonbau, in dem man essen, schlafen und die Instrumente bedienen konnte. Keeling hielt den Mauna Loa für geeignet.

*

Also verließ Keeling das <California Institute of Technology>, um zur Scripps <Institution of Oceanography> und zu Roger Revelle zu gehen. Damals war Revelle nicht nur Direktor des Scripps und Planer des IGY. Er war zudem Ozeanograph der Marine und hatte jahrelang Wissenschaftler instruiert und Forscherteams und größere ozeano-graphische Expeditionen geleitet. Aber jemand wie Keeling war ihm noch nie begegnet.

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»Seine hervorstechendste Eigenschaft«, sagt Revelle heute, »ist sein überwältigendes Verlangen, Kohlen­dioxyd zu messen. Er möchte es in seinem Bauch messen; es in allen seinen Manifestationen messen; atmosphärisch und ozeanisch. Und er mißt es schon sein ganzes Leben lang. Sehr zielstrebig und, wie ich glaube, in sehr enger Sichtweise, denkt er ausschließlich über dieses eine Problem nach. Seine allein darauf gerichtete Konzentration macht es sehr schwer, mit ihm umzugehen, wie Sie sich vorstellen können.«

»Wie oft kommt eine solche Besessenheit bei Forschern vor?« fragte ich Revelle.
»Nun, er ist sturer als alle Wissenschaftler, die ich je kennenlernte.«
»Und Sie haben viele kennengelernt.«
»Das will ich meinen.«

Als Keeling am Scripps ankam, teilte er Revelle mit, er habe vor, ein neues Gerät zur Gasanalyse auszuprobieren. Es schickte einen Strahl Infrarotlicht durch die Gasprobe und maß den Anteil an Licht, der durch das Gas gelangte. Je mehr Kohlendioxid sich in der Probe befand, desto mehr Licht wurde resorbiert. Der Einzelpreis für dieses Gerät würde zehntausend Dollar betragen, und jede Luftsammelstation in Keelings globalem Netz würde eines davon benötigen.

Am Tag, an dem das IGY beginnen sollte, erklärte Keeling Revelle außerdem, er habe beschlossen, ein neues und besseres Manometer zu bauen, das mehr Kammern aufwies. Keeling beabsichtigte, die Genauigkeit um eine weitere Zehnerpotenz zu steigern. Statt das Gas mit der Genauigkeit eines halben Teils pro Million, wollte er versuchen, es nach Fünfhundertsteln eines Teils pro Million zu messen.

Eine Weile kam es Revelle so vor, als würde das IGY zu Ende sein, bevor Keeling auch nur einen Teil seiner neuen Ausrüstung fertiggestellt hatte. Revelle behielt ihn im Auge, aber es geschah nicht viel, nur, daß Keelings Pläne für das neue Manometer immer ausgefeilter wurden. Das erste Analysegerät sollte nach Little America gehen, ein antarktisches Eisschelf, das Admiral Byrd erforscht hatte. Der Tag, an dem das letzte Schiff in dieser Saison in die Antarktis auslaufen sollte, war der nach Weihnachten. Keeling begann Heiligabend, es zu beladen.

Als die Zahlen des Analysators in Little America bei Keeling ankamen, überprüfte er sie sofort. Sie waren unbrauchbar. Die Pumpen des Geräts leckten.

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Keeling schraubte die Teile für ein zweites, für den Mauna Loa vorgesehenes Gerät zusammen. Inzwischen füllte sein neues Manometer, das immer noch seiner Fertigstellung harrte, das Labor völlig aus. Er mußte den Mauna-Loa-Analysator auf dem Flur vor seinem Labor bauen. Seine Kollegen waren gezwungen, einen Umweg zu machen.

Keeling glaubte zu wissen, was der Gasanalysator anzeigen würde, wenn er funktionierte. Die Luft auf Mauna Loa auf der Insel Hawaii inmitten des Pazifik bleibt so rein, wie sie dort ankommt. Hawaii ist das isolierteste Inselarchipel auf der ganzen Erde. Die Passatwinde, die dort wehen, müssen in etwa die Durchschnittsluft des ganzen Planeten repräsentieren (oder zumindest der nördlichen Hemisphäre, weil sich Luft über dem Äquator nicht leicht vermischt). Die über den Pazifik kommende Luft, die den Vulkan umwehte, war dieselbe, die Keeling im Sturm in den Inyo Mountains in Flaschen gefüllt hatte, nur noch freier von den Verunreinigungen des Landes. Keeling prophezeite, wenn sein Gasanalysator funktionierte, würde sich erweisen, daß die Konzentration bei ungefähr dreihundertfünfzehn Teilen pro Million lag.

Ein Mann vom Weather Bureau installierte den Gasanalysator im März 1958 am Hang des Mauna Loa. Am ersten Tag, an dem das Gerät arbeitete, warf er einen Blick auf die graphische Kurve, die der Apparat aufzeichnete. Sie wies den Wert dreihundertvierzehn auf. Das Gerät maß den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre der nördlichen Hemisphäre.

*

Die Berichte über die Aufzeichnungen des Analysators auf dem Vulkan im zweiten Monat stimmten nicht mit denen des ersten Monats überein. In diesem Monat stieg der Kohlendioxidgehalt um einen Teil pro Million. Auch im folgenden Monat stieg er an. Dann versagte die Energieversorgung des Observatoriums, und der Analysator fiel für einige Wochen aus.

Als das Observatorium seine Arbeit im Juli wiederaufnahm, war die Gaskonzentration unter den Wert gesunken, den sie im März gehabt hatte. »Ich bekam Angst, daß die Messung dabei war, hoffnungslos erratisch zu werden«, erinnert sich Keeling, »besonders, als die aufgezeichnete Konzentration im späten August wiederum fiel.« Dann gab es neue Zusammenbrüche der Energieversorgung.

Waren Keelings Messungen so erratisch wie die Buchs? Oder gab es überhaupt keinen Sinn im Auf und Nieder des Kohlendioxids?

Das wissenschaftliche Personal und die Techniker auf dem Vulkan erinnern sich an lange, besorgte Anrufe aus La Jolla. »Hier lief ein sehr spezielles Programm ab, an dem wir das intensivste persönliche wie auch wissenschaftliche Interesse hatten«, berichtet einer von ihnen. »Und doch bekam Keeling praktisch nichts aus erster Hand mit. Alles geschah Tausende von Meilen weit entfernt und Tausende Fuß oberhalb des Ortes, an dem er sich befand.«

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Spät in jenem Herbst begann die Konzentration erneut zuzunehmen. Harry Wexler vom amerikanischen Wetterdienst griff tief in die Tasche und kaufte große Generatoren für das Observatorium. Es kamen keine Stromausfälle mehr vor. Keeling sah die Konzentration den ganzen Winter über bis zur Höhe von dreihundertachtzehn Teilen pro Million steigen und dann im nächsten Frühling wieder absinken. Die Daten des ersten Jahres vom Mauna Loa, von März bis März, bildeten die folgende Wellenlinie:

 

 

Inzwischen glaubte Keeling zu wissen, was vorging. Er hatte einen weiteren unsichtbaren Zyklus gefunden, der für den gesamten Planeten galt.

Um ihn zu verstehen, mußte er sich die ganze Pracht der Jahreszeiten, die alljährliche Verfärbung der Blätter von Grün über Rot und Gelb zu Braun und Schwarz, noch einmal in Form von unsichtbaren Effekten in Erinnerung rufen. Pflanzen in der nördlichen Hemisphäre nehmen im Frühjahr und Sommer, ihrer grünen und geschäftigen Saison, Kohlendioxid auf. Sie werfen ihr Laub im Herbst ab. Das Laub verwelkt und fault, und das Kohlendioxid, das die Pflanzen im Sommer aus der Luft geborgt hatten, wird zurückerstattet.

Hier vollziehen sich Photosynthese und Respiration wieder einmal in verschiedenen Rhythmen. Die Photosynthese spielt sich hauptsächlich im Sommer ab. Sie setzt im April ein, erreicht im Juni ihren Höhepunkt und fällt im Oktober, wenn das Sonnenlicht rar wird, nahezu auf Null. Mit anderen Worten: Sie vollzieht sich in der hellen Zeit des Jahres und kommt während der dunklen Jahreszeit zum Erliegen.

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Die Respiration erlebt ebenfalls im Juni ihren Höhepunkt, aber im Gegensatz zur Photosynthese hört sie nie auf*, sie setzt sich den Winter über und das ganze Jahr hindurch fort. Zu den Lebensformen, die das abgelegte Laubkleid zersetzen, gehören eine große Zahl Pilze, Bakterien, Würmer, Termiten, Schnecken, Schimmelpilze wie penicillium, Fäulnismikroben; die dunkle Unterseite der Biosphäre. Sie alle wetteifern darin, das abgestorbene Laub zu verzehren, die abgefallenen Äste zu kompostieren, und gemeinsam erstatten sie der Luft den größten Teil des geborgten Kohlenstoffs zurück.

Jedes Jahr, wenn die grünen Pflanzen Kohlenstoff einatmen, um ihre Knospen, Triebe, Blätter und Stengel zu treiben, atmet die Biosphäre ein. Wenn das Laub fällt und am Boden verrottet, atmet die Biosphäre aus. Keeling hatte einen der schönsten, regelmäßigsten und globalsten Zyklen der Natur entdeckt. Ein oder zwei Jahre zuvor hatte er die Atmung eines Waldes beobachtet; jetzt sah er die Atmung eines Planeten. Ein Wald macht einen Atemzug pro Tag. Der Planet atmet einmal im Jahr.

Was noch wichtiger ist: Die Biosphäre atmet so ruhig und regelmäßig, daß selbst die leiseste Veränderung auffällt. Im Verlauf des zweiten Frühjahrs sah Keeling, als er die Zahlen vom Mauna Loa las, daß sich in der Atmosphäre ein wenig mehr Kohlendioxid befand als im vergangenen Frühling. Das Gas hatte um ungefähr einen Teil pro Million zugenommen.

Das war der Beweis — nur ein Jahr nach dem IGY nahm der Kohlendioxidgehalt zu. Es geschah wirklich. Die Veränderung der Luft war meßbar, und er maß sie. Er sagte Jahre später nur halb im Scherz, es komme ihm so vor, als sei er für die Zunahme des Kohlendioxids persönlich verantwortlich.

*

Jetzt würden sich die meisten Forscher nach anderen Gipfeln umgesehen haben, um sie zu erstürmen. Aber Keeling blieb in seinem Labor beim Scripps, Jahr um Jahr. Er hielt seine ursprünglichen Gasanalysatoren — sie wirken heute wie Ford-T-Modelle — und das Manometer, das er im IGY gebaut hatte, ständig in Betrieb. Ein Jahrzehnt lang beobachtete er, wie das Kohlendioxid überall auf der Welt in jedem Jahr um einen Teil pro Million zunahm. Danach begann die Konzentration rascher zuzunehmen, um eineinhalb Teile pro Million im Jahr. Keeling setzt seine Beobachtungen noch immer fort, von den Hängen des Mauna Loa, einer Station nahe dem Südpol, und von so vielen Stationen des globalen Netzes aus, wie er im Griff behalten kann. 

* Außer dort, wo der Boden gefroren ist.

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Der Flur zwischen seinem Büro und seinen Labors ist fast immer mit Lattenkisten voller Flaschen zugestellt: Proben frischer Luft aus Alaska, von Samoa, von den Weihnachtsinseln, aus Neuseeland. Dutzende weitere rings um den Planeten verteilte Meßstationen werden von der US National Oceanic and Atmospheric Administration und von der World Meteorological Organization angehörenden Ländern unterhalten. Sie schicken rund sechstausend Flaschen pro Jahr. »Es ist mittlerweile eine Art Heimindustrie«, sagt Revelle. 

Weil die Zahlenwerte in jeder der letzten Dekaden gestiegen sind, sieht die inzwischen berühmt gewordene Graphik wie das Entwicklungsdiagramm eines erfolgreichen Unternehmens im saisonbedingten Handel aus. In jedem Herbst weist sie eine Steigung auf. In jedem Sommer geht sie nach unten, so daß eine Schlangenlinie entsteht. Aber abgesehen davon erreicht der Gipfel jeden Winter eine größere Höhe als im Winter davor. 

In der Mathematik werden gerade Linien, Spiralen und die Umrisse einer Treppe als Kurven bezeichnet. Hier ist Keelings Kurve:

 

Zum silbernen Jubiläum des International Geophysical Year im Jahr 1988 näherte sich der Gehalt an Kohlendioxid in der Atmosphäre dreihundertfünfzig Teilen pro Million. Keelings Kurve war fast zu einer Reliquie unter den Wissenschaftlern geworden: das deutlichste Bild vom Treibhauseffekt und das wichtigste Symbol der globalen Veränderungen.

Als Keeling mit seinen Aufzeichnungen begann, schien die Idee, den Planeten zu beobachten, neu und unkonventionell. Heute wird diese intensive Betrachtungsweise auf der ganzen Welt als erforderlich für unser Überleben in den nächsten hundert Jahren erkannt. Weitere große Veränderungen zeichnen sich jedes Jahr ab. Vor kurzem führte eine Analyse der Kurve Keelings zu einer anderen überraschenden Entdeckung.

Der Atemrhythmus des Lebens verändert sich. Seit Mitte der siebziger Jahre ist die Atmung der Biosphäre nicht mehr ganz gleichmäßig. Die Phasen des Ein- und Ausatmens der Erde scheinen länger und länger zu werden.

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Geochemiker bemühen sich herauszufinden, was das bedeuten könnte. Weshalb atmet die Welt überhaupt? Ein Wald hat keine Lungen, nur grüne Blätter, Moore und Sümpfe, von Bächen gespeiste Seen und stehende Tümpel. Auch die Biosphäre hat keine Lungen, nur die mit Grün bedeckten Kontinente mit ihren Wäldern, Prärien, Steppen, Äckern und Tundren und die Plankton enthaltenden Meere. Wenn sich die Atmung der Biosphäre ändert, kann das nicht das gleiche wie eine Veränderung der Atmung eines Waldes oder Hundes oder Farns oder Menschen bedeuten. Temperatur, Niederschläge, hohe Kohlendioxidkonzentrationen, das sind die Dinge, die bei der Atmung der Welt eine Rolle spielen.

Ein Ökologe nahm einmal einen Ruderfußkrebs mit einer Pipette auf, beförderte ihn in einen Kartesischen Taucher* und maß seine Atemfrequenz. Ruderfußkrebse sind crustacea, entfernte Verwandte der roten Garnelen in einer ÖkoSphäre. Dieser spezielle Ruderfußkrebs stammte aus einer kleinen Sandhöhle am Ufer eines Waldbachs. Dort hatte er seinen bescheidenen Anteil an der Respiration in der Atmung der Welt geleistet. (Wie die australischen Aborigines sagen: »Nichts bedeutet nichts.«)

In dem kleinen Taucher fand sich der Ruderfußkrebs zum erstenmal in seinem Leben in einer sandlosen Umgebung. Das Tierchen schlug wild im Wasser um sich, und seine Respirationsrate begann höher und höher zu klettern.

Der Forscher gab versuchsweise ein paar Sandkörner in den Taucher. Der Ruderfußkrebs ergriff ein Sandkorn und krümmte sich in seiner ganzen Länge darum. Langsam stabilisierte sich seine Respirationsrate wieder.

Der Ökologe wiederholte den Versuch mit anderen Exemplaren dieser Spezies, und alle Ruderfußkrebse reagierten gleich.

* Kleine hohle Glasfigur zur Demonstration des Schwimmens, Hebens und Sinkens in einer Flüssigkeit (Anm. d. Übers.)

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Die Atmung der Biosphäre, die Ursache ihrer Veränderung, die Beschaffenheit und Implikationen dieser Veränderungen befinden sich jedoch jenseits jeder Erforschbarkeit durch derartige einfache und wiederholbare Experimente. Wir wissen, daß der Kohlendioxidanteil in der Luft steigt. Die Temperatur des Planeten nimmt ebenfalls zu. Man vermutet, daß diese beiden Veränderungen in der Atmosphäre die Auslöser der Veränderung in der Atmung der Lebewesen waren; obwohl die Biosphäre in denselben Jahren tausend andere Schocks verkraftet hat, einschließlich der starken Zunahme an saurem Regen und Schnee, der Ausdehnung der Wüsten und der Verbrennung der tropischen Wälder. Ganze Ökosysteme sind vernichtet oder irreparabel verändert worden, von der Austrocknung des Aralsees in der UdSSR bis zum Verschwinden des Beifußes im amerikanischen Westen. Die globalen Zyklen nicht nur des Kohlen- und Sauerstoffs, sondern auch des Phosphors, Schwefels und der Spurenmetalle wie Blei und Zink sind gestört; in vielen Fällen heftiger als die Zyklen von Kohlenstoff und Sauerstoff.

 

Es scheint logisch, daß diese Veränderungen zuerst in der Atmung der Welt, der gewaltigen Summe aller Lebensäußerungen auf Erden, sichtbar werden. Man kann vermuten, daß die Auswirkungen der globalen Veränderung in größtem Umfang erkennbar werden, bevor wir sie in unseren Gärten feststellen, wie der Ökologe Richard Houghton bemerkte: »Der Gesamteffekt vieler Umweltveränderungen könnte tatsächlich leichter für die ganze Erde beobachtet werden als in einzelnen Ökosystemen.«

In jedem Jahr entdecken die Geochemiker weitere umfassende Veränderungen in der Funktionsweise der sieben Sphären und bemühen sich herauszufinden, was sie bedeuten. Ohne genaue Kenntnis von Ursache und Wirkung können nicht alle zustimmen, daß die Veränderungen alarmierend sind. 

In bezug auf die Atmung der Welt ergeben sich unter anderem folgende Möglichkeiten:

Diese Veränderung ergibt eine Art globalen Rorschachtest. 

Natürlich sollte für die Bewohner einer Ökosphäre jede Veränderung dieses Ausmaßes Anlaß zur Besorgnis sein. Und die jetzige Veränderung durch die Zunahme des Kohlendioxids ist nicht die größte zu erwartende; sie gehört nur zu den ersten.

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The Next One Hundred Years / Die Klimakatastrophe