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    5. Langsames Heureka   

 

Vorzeichen bedeuteten ihm nichts, und er war unfähig, die

Botschaft der Prophezeiung zu entziffern, bis die Erfüllung

sie direkt vor seine Tür gebracht hatte. - Joseph Conrad

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Man gerät ins Staunen, wenn man liest, was Menschen zu Beginn des Treibhauseffekts über ihn gedacht haben. In seinem populären, 1906 veröffentlichten Buch <Das Werden der Welten> hieß der schwedische Chemiker Svante Arrhenius die Wärme noch willkommen. »Durch Einwirkung des erhöhten Kohlensäuregehalts der Luft hoffen wir, uns allmählich Zeiten mit gleichmäßigeren und besseren klimatischen Verhältnissen zu nähern, besonders in den kälteren Teilen der Erde...«

In einer (damals unbekannten, heute oft zitierten) 1938 erschienenen Arbeit verkündete der englische Ingenieur George Callendar, daß sich die Temperatur der Erde bereits erhöhe. Fast niemand erwähnt je Callendars Fazit: Er erklärte, das Kohlendioxid, das wir in die Luft abgäben, verbessere nicht nur das Weltklima, sondern ließe außerdem alle Feldfrüchte besser gedeihen. »Jedenfalls«, schrieb Callendar, »sollte die Wiederkehr der tödlichen Eiszeiten um unbestimmte Zeit aufgeschoben sein.«    en.wikipedia  Guy_Stewart_Callendar    wikipedia  Guy_Stewart_Callendar 

1957 veröffentlichten Revelle und Suess die berühmten Zeilen, die ich schon zitiert habe. »Die Menschen führen ein langfristiges geophysikalisches Experiment einer Art aus, die in der Vergangenheit nicht möglich gewesen wäre und in der Zukunft nicht wiederholbar sein wird«, schrieben Revelle und Suess. »Das Experiment könnte«, fügten sie hinzu, »wenn es entsprechend dokumentiert würde, eine tiefe Einsicht in die Prozesse gewähren, die Wetter und Klima bestimmen.«

Heute werden diese Worte meist als Warnung verstanden. Ein Autor nannte sie vor kurzem eine »morbide Untertreibung«. Mit unserem jetzigen Wissen fällt es uns schwer, sie anders zu lesen. Aber die Worte des Berichts sind bestenfalls neutral; Revelle selbst hat bekannt, daß er nicht wirklich über den Treibhaus­effekt besorgt war, als er sie schrieb. Er hatte sie hauptsächlich aus reiner wissenschaftlicher Begeisterung zu Papier gebracht. Er und Suess waren froh darüber gewesen, daß dieses Experiment zu ihren Lebzeiten stattfand und sie Zeugen sein konnten.

Wir wissen schon sehr lange davon, aber wir haben es erst vor ganz kurzer Zeit verstanden. Seit Arrhenius wußten die Menschen einfach nicht, was sie sahen. Und es gab auch keinen einzelnen Augenblick, in dem jemand <Heureka!> rief. Es gab nur etwas, das ein Student, der sich mit dem Treibhauseffekt beschäftigte, »die Entwicklung eines Bewußtseins« nannte.

In den sechziger Jahren zum Beispiel ermöglichten neue Geräte den Forschern, mit der Überprüfung der Hypothese Arrhenius' zu beginnen. Der erste elektronische Computer wurde während des Zweiten Weltkriegs gebaut. In den frühen sechziger Jahren waren die Computer »klug« und zuverlässig genug, um den Klimaexperten zu helfen, die immens komplizierten Mechanismen zu untersuchen, die das Wetter der Erde bestimmen.

Arrhenius hatte geschätzt, welche Erwärmung des Planeten Breitengrad für Breitengrad durch den Treibhauseffekt zu erwarten war. Er hatte die Zeittafel seiner Voraussagen im <Philosophical Magazine> vom April 1896 veröffentlicht. Es war eine bemerkenswerte Vorhersage, wenn man bedenkt, daß es die erste überhaupt war, und sie berücksichtigte sämtliche Faktoren. Arrhenius begann damit, daß er die Konzentrationen von Wasserdampf und Kohlendioxid in der Atmosphäre schätzte.* Er erklärte Schritt für Schritt die physikalischen Mechanismen, durch die jene Gase die Luft erwärmen.

* Er stützte diese Schätzungen auf die Beobachtung, die ein amerikanischer Astronom vom Mondaufgang gemacht hat. Samuel Langley hatte die infrarote Strahlung des vollen Mondes gemessen, wenn dieser über Lone Pine, Colorado, aufging. Indem er Langleys Ergebnisse benutzte, war Arrhenius fähig zu schätzen, wieviel Infrarotstrahlung die Atmosphäre der Erde absorbiert, und daher auch, wieviel Treibhausgas in der Luft war. (Die Erforschung des Treibhauseffekts war bereits interdisziplinär und international.) 

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Er versuchte sogar in seine Berechnungen miteinzubeziehen, was wir heute Rückkopplung nennen. Er nahm an, daß ein großer Teil des Eises und Schnees in der Nähe der Pole zu schmelzen beginnen könnte, wenn sich der Planet aufwärmt. Das hinterläßt dunkle Tundren und dunkle Meere. In der Folge erwärmt sich alles — als striche man ein weißes Dach mit schwarzer Farbe. Je dunkler das Terrain wird, desto mehr erwärmen sich diese Teile der Erdoberfläche. Dort schmilzt mehr Schnee, der Erdboden erwärmt sich noch mehr... und so weiter.

All diese Überlegungen füllen mehr als dreißig in kleiner Schrift bedruckte Seiten im <Philosophical Magazine>, und Arrhenius hatte jede der darin vorkommenden Berechnungen selbst vorgenommen. Am Ende folgt eine Aufstellung der Vorhersagen. Demnach erhöht sich die Durchschnitts­temperatur auf dem Planeten Erde um fünf bis sechs Grad Celsius, wenn sich die Kohlendioxid­konzentration in der Atmosphäre verdoppelt.

 

In den sechziger Jahren begannen Klimaexperten, Arrhenius' Voraussagen mit Hilfe von Computern nachzurechnen. Eine der ersten ernst zu nehmenden Analysen wurde 1967 von S. Manabe und R. Wetherald vom <Geophysical Fluid Dynamics Laboratory> in New Jersey veröffentlicht. Nachdem sich immer mehr Wissenschaftler mit dem Computer vertraut machten und viele Forscher anfingen, sich mit dem Treibhauseffekt zu befassen, wurde dieses Phänomen zu einem der interessantesten Gegenstände der Wissenschaft. Der Computer half den Forschern, die Angelegenheit auf einer Detailebene zu durchdenken, die Arrhenius phantastisch gefunden hätte.

Um Vorhersagen bezüglich des Treibhauseffekts machen zu können, konstruieren die Experten heutzutage ein funktionsfähiges maßstabgetreues Modell der Erde im Innern eines Supercomputers. Sie fangen mit einem leeren Globus an, der in ein den Längen- und Breitengraden entsprechendes Gitter aufgeteilt ist. In der Regel hat jeder Gitterausschnitt eine Seitenlänge von mehreren hundert Kilometern. Die Ausschnitte setzen sich, beginnend an der Planetenoberfläche, in die dritte Dimension bis hoch in die Atmosphäre fort und sind in ein Dutzend Schichten riesiger Luftraumkörper unterteilt.

Auf die Oberfläche dieses leeren Globus zeichnen die Experten eine Karte der Erde mit den größten Seen, Flüssen und Gebirgen. Dann geben sie dem Computer die für die Bewegungen von Luftmassen geltenden physikalischen Regeln ein: Heiße Luft steigt empor, kalte sinkt; jede Aktion bewirkt eine gleich starke Reaktion. (Die meisten dieser Regeln sind einfach — ein Mathematiker kann sie auf die Rückseite eines Kuverts schreiben.) 

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Daraufhin programmieren die Forscher den Computer, so daß er unter Beachtung der Regeln das Wetter in jedem einzelnen Teil der Atmosphäre berechnet, vom Boden bis in die oberste Schicht, und immer berücksichtigt, auf welche Art das Wetter in ihm durch das Wetter in den benachbarten Teilen beeinflußt wird.

Die vier ausgeklügeltsten dieser globalen Zirkulationsmodelle oder GZMs befinden sich im Hauptquartier des <British Meteorological Office> in Bracknell bei London, im <National Center for Atmospheric Research> in Boulder, Colorado, im <Goddard Institute for Space Studies> in New York und im <Geophysical Fluid Dynamics Laboratory> in Princeton, New Jersey.

Wenn man eine dieser Modellerden aktiviert und sie sich drehen läßt, beginnt irgendwo in den Siliziumschaltkreisen des Computers eine leuchtende Sonne auf- und unterzugehen. Winde kommen auf und lassen wieder nach. Strahlströme ziehen in neuntausend Meter Höhe nach Westen. Aktiviert man das Modell lange genug, geht der Sommer in den Herbst über, die Sonne steht niedriger am Himmel, Eis bildet sich auf dem arktischen Meer, Schneestürme suchen Kamtschatka und Ontario heim. Aus den wenigen einfachen Regeln entwickelt der Computer in einem digitalen Code aus Einsen und Nullen ein Modell des Wetters auf dem Planeten Erde.

Die nationalen Wetterdienste benutzen derartige Modelle. Meteorologen sammeln in großen Mengen Daten von Wetterstationen und -satelliten. Dann lassen sie ihre Modellerde das Wetter des nächsten Tages simulieren. Die schnellsten Supercomputer der Welt können eine Milliarde Rechenschritte pro Sekunde ausführen, aber das Wetter ist derart kompliziert, daß der Computer selbst bei dieser atemberaubenden Geschwindigkeit ungefähr eine halbe Stunde Rechenzeit benötigt. In dieser halben Stunde schieben sich Warm- und Kaltfronten kreuz und quer über die Oberfläche des Modellglobus — sprunghaft wie die Bewegungen der Schauspieler in alten Filmen —, bis sie die Gebiete erreichen, die sie in der Realität morgen einnehmen könnten.

Klima stellt ein anderes, in mancher Hinsicht einfacheres Problem dar. Klima ist das durchschnittliche Wetter. Genauer gesagt, Klima ist das Wetter, das in einer bestimmten Gegend des Planeten in einem typischen Frühling, Sommer, Herbst oder Winter zu erwarten ist. Wetter ist ein unerwarteter Platzregen in Allentown, Pennsylvania, am Mittwoch um 12.08 Uhr; Klima dagegen ist der in Millimetern ausgedrückte Niederschlag im Lehigh Valley während eines durchschnittlichen Aprils. Wetter ist die Route, die ein einzelner Sturm einschlägt; Klima ist die Sturmbahn, die eine Million Stürme über eine Ecke eines Kontinents eingeschlagen haben, wie der Trampelpfad von Generationen von Studenten über eine Ecke des Campusrasens.

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Das Leben eines Individuums ist nicht vorhersagbar, aber die durchschnittliche Lebenskurve einer Million Individuen ist statistisch ziemlich genau erfaßbar. Das ist der Grund, weswegen Physiker das Verhalten von Gasen voraussagen können, die aus Schwärmen von Molekülen bestehen, deren individuelles Verhalten nicht bestimmbar ist; und das ist auch der Grund, aus dem Versicherungen genug Geld einnehmen, um Büropaläste in allen größeren Städten der Welt bauen zu können.

Für ihre Klimastudien vereinfachen die Forscher ihre Zwillingserde, lassen sie sie für das Äquivalent von Jahrzehnten, Jahrhunderten und sogar Jahrtausenden drehen und entnehmen jedem Punkt der Oberfläche die jahreszeitlichen Mittelwerte. Die Resultate sind eine ziemlich genaue Annäherung an das Klima der realen Welt. Die Modelle weisen die groben klimatischen Züge aller Kontinente in allen vier Jahreszeiten auf. Sie sind noch nicht fähig, Einzelheiten wie unterschiedliche Länder darzustellen; alles, was viel kleiner als ein Kontinent ist, wird als Detail behandelt.

Das lateinische Wort für »voraussagen« ist praedicere; das Wort »prophezeien« beinhaltet das griechische prophanai, das ebenfalls »voraussagen« bedeutet. Im Japanischen lautet das entsprechende Wort ura oder uranai, »dasjenige, das vorausliegt und daher unsichtbar ist«. Manchmal können uns Computermodelle helfen, dem Schicksal in die Karten zu schauen, das Unsichtbare zu sehen. Immer wieder haben die Erbauer von Modellen in Brackneil, Boulder, Princeton und New York in ihren Spielzeugwelten dasselbe Experiment nachvollzogen, das die menschliche Rasse zur Zeit mit ihrem Planeten anstellt. Sie fügen der Atmosphäre zusätzliche dreihundert Teile pro Million Kohlendioxid hinzu, aktivieren ihr Modell und achten darauf, was passiert. Auf jeder dieser Erden beginnt die Oberflächentemperatur nach dem Zusatz an Kohlendioxid zu steigen; anfangs langsam, dann immer schneller und schneller.

Natürlich sind diese Modelle, wie einer ihrer Schöpfer es ausdrückte, nur »schmutzige Glaskugeln«. Die tatsächliche Rate der Temperatursteigerung ist ungewiß. Die Höhe, in die die Quecksilbersäule an den verschiedenen Orten der Welt steigen wird, ist nicht exakt vorherzusagen. Aber der Anstieg der globalen Temperatur kann als gesichert gelten, mit einer Abweichung von nur plus/minus fünfzig Prozent.

Die durchschnittliche Temperatur an der Planetenoberfläche wird um zwei bis sechs Grad Celsius ansteigen; das entspricht etwa dem, was Arrhenius 1896 vorausgesagt hat.

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In den sechziger Jahren, während Klimaexperten ihre ersten Computersimulationen vornahmen, entdeckten Astronomen, daß der Nachthimmel bereits zwei Beweise für die Kraft des Treibhauseffekts zeigt. Der eine ist die Venus, der andere der Mars.

Diese Planeten haben sich ungefähr zur selben Zeit wie die Erde gebildet, vor rund viereinhalb Jahrmilliarden. Sie bestehen auch in etwa aus denselben Elementen wie die Erde. Sie haben ähnliche Umlaufbahnen um die Sonne — weder sehr weit draußen, wie der Pluto, noch sehr weit innen, wie der Merkur. Venus und Erde sind fast gleich groß; der Mars ist ein wenig kleiner.

Aber trotz der starken Ähnlichkeit sind diese drei Welten getrennte Wege gegangen. Astronomen haben das in den sechziger und siebziger Jahren durch von der Erde aus vorgenommene Mikrowellenbeobachtungen und Raumsonden, die den Planeten Besuche abstatteten, herausgefunden.

Die Oberfläche der Venus ist so heiß wie das Innere eines Ofens, etwa vierhundertfünfzig Grad Celsius, bei Tag und bei Nacht, das ganze Jahr über, vom Äquator bis zu den Polen. Falls je Wasser auf der Venus existiert haben sollte, ist es längst verdampft.

Der Mars hingegen ist kälter als die Antarktis, das ganze Jahr über, von den Polen bis zum Äquator. Alles Wasser ist unter der Marsoberfläche im Permafrost gebannt.

Man kann diese Temperaturunterschiede nicht durch die Entfernung von der Sonne erklären. Zwar ist die Venus der Sonne am nächsten, etwa hundertacht Millionen Kilometer, dann folgt die Erde mit hundertfünfzig Millionen Kilometern, dann der Mars mit zweihundertachtundzwanzig Millionen Kilometern. Aber nach der Entfernung allein müßte die Venus wärmer, die Erde milder und der Mars kälter sein; wie drei Camper, die in Entfernungen von einem, anderthalb und zweiein viertel Metern um ein großes Lagerfeuer sitzen. Die Auswirkung des Abstands auf die Temperatur läßt sich genau berechnen, und sie allein ist auch nicht annähernd stark genug, um die Venus in einen Brutkasten und den Mars in einen Eiskeller zu verwandeln. Dieses Phänomen wird gelegentlich als Goldilocks*-Problem bezeichnet: Wieso ist die Venus zu heiß, der Mars zu kalt, und wieso hat die Erde in etwa die richtige Temperatur?

* »Goldilocks and the three Bears«, Untertitel des Buchs Tetrascroll von R. Buckminster Fuller; deutsch: Goldlöckchen und die drei Bären, Köln 1983 (Anm. d. Übers.)

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Der entscheidende Punkt ist der, wie die drei Welten mit ihrem Kohlenstoff verfahren sind. Sie sind mit etwa der gleichen Menge an Kohlenstoff ausgestattet. Aber der größte Teil des Kohlenstoffs auf der Erde ist in Sedimente und Gestein eingeschlossen. Er ist sicher unter unseren Füßen verstaut, wo er keinen Treibhauseffekt erzeugen kann. Auf der Venus wurde der größte Teil des Kohlenstoffs auf irgendeine Weise freigesetzt. Die Atmosphäre der Venus beinhaltet 350.000mal so viel Kohlenstoff wie die der Erde. Das ist soviel Kohlenstoff, daß er die Venus allein durch sein Gewicht unbewohnbar macht. Kohlendioxid drückt mit der hundertfachen Kraft der Erdatmosphäre auf die Oberfläche dieses Planeten. Durch diesen Druck ist die Venusluft so dick und suppig, daß selbst die sanfteste Brise die Gewalt eines Hurrikans hat. Die sowjetischen Ingenieure mußten ihre Venera*-Robot-Sonden so massiv wie U-Boote bauen, weil die Landung auf der Venus einer Tauchfahrt von etwa einem Kilometer Tiefe in einem irdischen Meer entspricht.

Die Venus ist von Wolken verhüllt, und nur sehr wenig Sonnenlicht dringt bis an ihre Oberfläche durch. Der Boden liegt in einem so tiefen Schatten, daß seine Temperatur unter dem Gefrierpunkt sein müßte. Aber die großzügige Ausstattung der Venusatmosphäre mit Kohlendioxid hält die Oberflächen­temperatur nicht nur oberhalb des Gefrierpunkts, sondern sogar über der Temperatur, bei der Wasser siedet — sie ist heiß genug, um Blei schmelzen zu lassen.** Von der Erde aus erscheint der Abendstern mit bloßem Auge betrachtet wie eine kühle Schönheit (daher sein Name »Venus«), aus der Nähe gesehen ist er ein Inferno.

Der Mars ist das Gegenteil der Venus. Seine Atmosphäre ist hundertmal dünner als die der Erde und zehntausendmal dünner als die der Venus. Sein gesamter Kohlenstoff ist in Sedimenten eingeschlossen. Aufgrund des mangelnden Treibhauseffekts ist die Oberfläche des Mars steinhart gefroren.

* Die russischen Sonden Venera 3 bis 9 erreichten die Venus in den Jahren 1967 bis 1975, Nummer 3 stürzte ab, 8 und 9 blieben auf der Venusoberfläche knapp eine Stunde lang funktionstüchtig. (Anm. d. Übers.)

** Der Treibhauseffekt auf der Venus verhindert nicht nur die Evolution von Lebewesen, er verhindert auch die Entwicklung der Lithosphäre, der festen Kruste der Venus. Auf der Erde sinken an manchen Stellen beständig große Bruchstücke der Lithosphäre —Platten genant — ins Erdinnere hinab, an anderen Orten erheben sie sich aus der Tiefe. Ihre Bewegung gehört zu einem Muster der Konvektion, das an das Aufschäumen kochenden Wassers erinnert (und auch von denselben Kräften erzeugt wird: heißes Gestein steigt empor, kaltes sinkt). Das Brodeln des Planeten wird in Zehnmillionen von Jahren gemessen. Eine an der Oberfläche zutage tretende Folge ist die Kontinentaldrift. Dieses Phänomen ist als Plattentektonik bekannt. Auf der Venus ist die Oberfläche hingegen zu heiß, um zu sinken. »Von der Venus«, schreibt der Geophysiker Don Anderson, »haben wir erfahren, daß eine dichte Atmosphäre und der Treibhauseffekt die Oberfläche so weit erwärmen können, daß sie in schwimmendem Zustand bleibt und verhindert wird, daß die Kruste absinkt.«

Wenn die Erde einen so starken Treibhauseffekt aufwiese, wäre unser Planet tot. Es gäbe keine Biosphäre, keine Hydrosphäre, keine Kryosphäre und keine Noosphäre; und in der Lithosphäre würden gar die Kontinente aufhören zu driften.

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Wahrscheinlich war der Mars einmal mit mehr Leben erfüllt. Sein gefrorener Boden weist Gräben auf, die große Ähnlichkeit mit ausgetrockneten Flußbetten haben. Zudem gibt es zahlreiche erloschene Vulkane. Als sie noch tätig waren, könnten sie genug Kohlendioxid freigesetzt haben, um eine Atmosphäre zu schaffen, die hundertmal dichter als die jetzige war — so dicht wie die der Erde heute. Deshalb mag der Mars einst einen stärkeren Treibhauseffekt und ein so gemäßigtes Klima wie das der Erde erlebt haben — mit Regenfällen und Wasserläufen (und vielleicht sogar mit primitivem Leben).

Die Farbe des Planeten ist rot und feurig (daher der Name Mars), aber er ist so kalt, daß sein Wasser nicht schmelzen kann, nicht einmal im Sommer; nicht einmal am Äquator. An den Polen sind die Winter so kalt, daß ein Teil der Atmosphäre des Mars am Boden festfriert.*

Diese Kontraste sind derart auffällig, daß Weltraumforscher Allegorien der drei Planeten schufen, fast in der Manier mittelalterlicher Astronomen. Sie sprechen von Venus und Mars als den warnenden Beispielen für die Menschen. Venus: Das Vierhundertfache unserer Treibhauserwärmung — ein Ofen, Mars: weniger als die Hälfte der auf der Erde durch den Treibhauseffekt erzeugten Wärme — ein Eisschrank. Wenn in der Erdatmosphäre so viel Kohlenstoff wie in der Venusluft wäre, würden unsere Ozeane verkochen. Wenn die Erdatmosphäre so wenig Kohlenstoff wie die Marsluft aufwiese, wären unsere Ozeane kompakte Eismassen. Es ist offensichtlich, daß wir genau darauf achten sollten, was wir mit unserem Kohlenstoff anfangen.

Generationen von Kindern haben sich beim ersten Stern, den sie am Abendhimmel sahen — meist war es der Abendstern, die Venus —, etwas gewünscht. Alle diese Generationen arbeiteten und arbeiten an der Erfüllung ihrer Wünsche und lassen diese Welt ein wenig mehr der Venus ähnlich werden.

Diese Studien im Weltraum haben nicht nur die Treibhaustheorie erhärtet, sie haben außerdem aufgezeigt, daß der Treibhauseffekt in extremen Fällen eine Scheide zwischen Leben und Tod sein kann. Die Klimaexperten William Kellogg und James Hansen und der Astronom Carl Sagan zählten zu den ersten Forschern, die einen Blick in das Inferno der Venus geworfen haben. Sie alle sprachen später freimütig über den Treibhauseffekt auf der Erde. Zum Teil hatte die Venus sie radikalisiert.

* Sie bildet Trockeneis: gefrorenes Kohlendioxid.

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In den achtziger Jahren wurde eine noch bedeutungsvollere Reihe von Indizien für die Wirksamkeit des Treihauseffekts in den Eisdecken der Erde gefunden, nach einer langen Suche, die im International Geophysical Year begann. Im Verlauf dieses großen Jahres der Forschung bohrte ein Team amerikanischer Eisexperten ein mehr als dreihundert Meter tiefes Loch in die Eisschicht im nordwestlichen Grönland. Es gelang dem Team, das Eis aus dem Loch herauszuholen. Sie schnitten es in kurze, schimmernde Zylinder, die sie Eiskerne nannten (das Eis aus dem Kern des Lochs).

Das Bohrteam verschiffte einen Teil des Eises in Labors, um es analysieren zu lassen. Die dortigen Geochemiker erkannten sofort, daß die Eisdecke in geologischen Schichten angelegt war, ähnlich dem Schlamm am Boden eines Sees oder Sand und Steinen auf dem Meeresgrund. Die Schichten sind nahe der Oberfläche sehr jung und werden immer älter, je tiefer man gelangt. Viele der jährlichen Schichten sind ziemlich deutlich abgegrenzt (obwohl die Grenzen gewöhnlich eher chemisch bestimmbar als dem Auge sichtbar sind). Durch chemische und isotopische Meßmethoden kann man die Jahre zurückverfolgen, wie bei den Ringen der Bäume.

Es stellte sich heraus, daß die Schichten weit zurückreichten. Die unterste Schicht der Eisdecke Grönlands und der Antarktis, in mehreren hundert Metern Tiefe, besteht aus Eis, das vor fast einer halben Jahrmillion als Schnee fiel.

Anfangs wollten die Eisexperten nur mehr über Eis erfahren. Aber die sieben Sphären der Erde sind derart verkettet, daß die Erforschung der einen zu Enthüllungen über alle sieben führen kann. Nach sorgfältiger Untersuchung stellte sich heraus, daß die Eisschichten Spuren allen Geschehens verewigt hatten, von plötzlichen Helligkeitsschwankungen der Sonne bis zu prähistorischen Vulkanausbrüchen. Das Eis hat Spuren einer heftigen Eruption im Jahr 1645 v.Chr. festgehalten. Ungefähr zu jener Zeit könnte der Vulkan Thera (ital. Santorin) im Ägäischen Meer ausgebrochen sein, die minoische Kultur ausgelöscht und die Legende von Atlantis begründet haben.

Das Eis hat außerdem offenbart, wie sehr das Vorhandensein des Menschen die Atmosphäre verändert. Man bedenke nur zum Beispiel die Menge an Blei in unserer Atemluft. Vor nicht allzulanger Zeit gab es noch Experten, die behaupteten, das meiste Blei sei natürlichen Ursprungs und stamme aus Vulkanen, Seegischt und Bodenausdünstungen. 

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Dann untersuchten Claude Boutron, ein Eisexperte aus Grenoble, und Clair Patterson, ein amerikanischer Geochemiker am California Institute of Technology, die Eisschichten der letzten siebenundzwanzigtausend Jahre. Sie entdeckten, daß der Bleigehalt im Schnee Grönlands und der Antarktis heute zweihundertmal größer ist, als er in prähistorischen Zeiten war. »Unsere Resultate«, schreiben Boutron und Patterson, »zeigen, daß mehr als neunundneunzig Prozent des Bleis, das sich heute in der Troposphäre der nördlichen Hemisphäre befindet, von menschlichen Aktivitäten herrührt.«

Und obendrein zeigt das Eis das rasche Ansteigen des Säuregehalts der Niederschläge. Ein Team unter der Leitung Paul Mayewskis von der Universität von New Hampshire und Willi Dansgaards aus Kopenhagen analysierte einen Eiskern aus Grönland, der die Jahre 1896 bis 1984 umfaßte. Sie stellten fest, daß sich die Sulfatkonzentration etwa seit 1900 verdreifacht hatte. Die Nitratkonzentration hat sich seit ungefähr 1955 verdoppelt.

Diese Veränderungen sind auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen, ebenso wie die Radioaktivität in den jüngsten Schichten der Eiskerne. Diese Schichten weisen eindeutig Spuren der Radioaktivität auf, die bei den in den fünfziger Jahren durchgeführten nuklearen Testexplosionen freigesetzt wurde.

Aber die dramatischste Geschichte, die das Eis erzählt, handelt vom Kohlendioxid. 

Das Eis enthält eine Unzahl von Gasbläschen — wie Mineralwasser —, und jedes dieser Bläschen umschließt eine Probe der Erdatmosphäre, seit Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden hermetisch versiegelt. (Tatsächlich bestehen etwa zehn Volumenprozent aller Gletscher aus eingeschlossener Luft.) Die Anthropologen können auf Knochen, die Geologen auf Gestein und Fossilien zurückgreifen, die Archäologen verfügen über Töpfe, Pyramiden und Papyri. Schon in den sechziger Jahren erkannten Eisforscher, daß sie auf eine Quelle von vergleichbarem Wert für Klimaexperten gestoßen waren. Sie hatten fossile Luft gefunden. Wenn sie es schafften, die winzigen Gasblasen zu öffnen und die darin eingeschlossenen Gasproben zu analysieren, konnten sie herausfinden, wie die Erdatmosphäre in prähistorischen Zeiten beschaffen war.

Das führte unter anderem zu einer dringlichen Frage: Wieviel Kohlendioxid haben die Menschen in die Atmosphäre gejagt, und eine wie hohe Dosis hat die Erde tatsächlich mitbekommen? Dank Keeling wußte man, daß sich das Gas heute in der Luft ansammelt. Aber ohne eine Probe fossiler Luft konnte niemand genau sagen, wieviel Kohlendioxid vor der industriellen Revolution in der Luft war. Niemand wußte genau, was sich in der Luft befand, bis Keeling sein globales Netz errichtete. Diese Ungewißheit verdunkelte den Forschungsgegenstand.

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In den sechziger und siebziger Jahren versuchten Teams unter Leitung des Physikers und Eisexperten Hans Oeschger an der Berner Universität, Claude Lorius in Grenoble und andere sich darin zu übertreffen, die Eisdecken Grönlands, der Antarktis und der Alpen anzubohren. Sie veröffentlichten Dutzende wissenschaftlicher Arbeiten darüber und sammelten Eiskerne, die aneinandergelegt eine Länge von rund zehn Kilometern ergeben hätten. Das Eis lagert heute zum größten Teil im zehnstöckigen Gefrierhaus der Buffalo Refrigerating Company in Buffalo, New York. (Die Wissenschaftler mieteten einen Teil des besten Stockwerks an, das die Firma zu bieten hatte, dasjenige, in dem auch Hummer gelagert werden.)

In den frühen achtziger Jahren hatte die Berner Gruppe eine brauchbare Methode gefunden, die Luft in den Eisblasen zu analysieren. Als erstes zerlegten sie einen Eiskern in spielwürfelgroße Stücke. Dann, im Labor, nahmen sie einen Würfel mit Zangen auf, ließen ihn in eine Vakuumkammer, die unter dem Namen »Cracker« bekannt ist, fallen, versiegelten die Kammer und pumpten die Luft aus ihr heraus. Anschließend wurde ein Schalter umgelegt, und Stahlnadeln drangen durch ein Gitter in die Kammer. Der Eiswürfel wurde augenblicklich in winzige Splitter zerteilt. Die Luft entwich sofort und wurde in einen Tubus gesogen. Dort schoß ein Laser einen Strahl infrarotes Licht in das Gasgemisch und maß den Anteil an Kohlendioxid. Die Wissenschaftler wiederholten diesen Prozeß einige Male und stellten den mittleren Wert fest.

Nur ein Zehntel des Volumens eines Eiswürfels besteht aus Luft. Und nur ungefähr ein Dreitausendstel davon ist Kohlendioxid. Um den Betrag an Kohlendioxid in der alten Luft mit dem entsprechenden Gehalt in der heutigen Luft zu vergleichen, müssen die Forscher diesen Hauch eines Hauchs farblosen, geruchlosen und geschmacklosen Gases mit einer Genauigkeit von wenigen Teilen pro Million messen. »Man muß schon ziemlich feinfühlig vorgehen«, sagt ein Physiker der Schweizer Gruppe lakonisch dazu.

Während die Forscher diese raffinierte Labortechnik noch weiter ausarbeiteten, bohrte ein Team amerikanischer und Schweizer »Luftjäger« einen Eiskern an der Siple Station in der westlichen Antarktis heraus. Dort sind die Schneeschichten aus den letzten Jahrhunderten ungewöhnlich regelmäßig und fein säuberlich getrennt. Indem sie diesen Kern an andere, ältere Kerne ansetzte und die im Eis eingeschlossene Luft mit Hilfe des Crackers und des Lasers analysierte, gelang es Oeschgers Mitarbeitern, die fortlaufende Geschichte des Gases der letzten zehntausend Jahre zu rekonstruieren — von der späten Steinzeit bis zum postindustriellen Zeitalter.

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Während des größten Teils dieses Zeitraums war der Kohlendioxidgehalt in der untersuchten Luft ungefähr gleich. Er wich nie mehr als ein paar Prozent von der Grundlinie von zweihundertachtzig Teilen pro Million ab. Mitte des 18. Jahrhunderts begann er anzusteigen, kurz nachdem Watt seine erste Dampfmaschine konstruiert hatte. Im 19. Jahrhundert wurde er durch die brennenden Wälder und die Verwertung des von den amerikanischen Pionieren gefällten Nutzholzes hochgetrieben. Um 1958 hatte er etwa dreihundertfünfzehn Teile pro Million erreicht. Die Geschichte des Gases von 1734 bis 1958 stellt sich wie folgt dar:

 

Das Jahr 1958 erscheint in dieser Aufzeichnung im Eis wie der Bolzen, der zwei von gegenüberliegenden Ufern aus gebauten Autobahnbrückenteile miteinander verbindet. Denn der Wert, den die Forscher für 1958 im Eis herausfanden, entsprach Keelings Zahl aus diesem Jahr. Die beiden Methoden der Beweisführung hatten zu demselben Ergebnis geführt. Wenn man Keelings Aufzeichnungen mit einbezieht, liest sich die Geschichte der letzten zehntausend Jahre so:

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Einen weit älteren Eiskern haben russische Forscher und Techniker in der Wostok-Station in der Ostantarktis, dem kältesten Ort der Erde, ausgebohrt. In den achtziger Jahren begann die Grenoble-Gruppe, diesen über anderthalb Kilometer langen Kern zu analysieren. Er reicht durch das gesamte Holozän (Alluvium) der warmen Periode, in der wir uns heute befinden, bis zur letzten Eiszeit, durch diese hindurch bis in die vorige warme Periode hinab und von dort bis an den Beginn der vorletzten Eiszeit vor hundertsechzigtausend Jahren zurück. 

Mitte der achtziger Jahre veröffentlichte die französische Gruppe die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre für die Länge dieses Kerns — neben Keelings Kurve wahrscheinlich der wichtigste Beweis für den Treibhauseffekt.

Arrhenius würde viel darum gegeben haben, wenn er diese Resultate hätte sehen können. Seiner Ansicht nach lag eine globale Erwärmung, der er positiv gegenüberstand, noch in so ferner Zukunft, daß er es für angebracht hielt, sich bei seinen Lesern dafür zu entschuldigen, daß er sich auf den Seiten des <Philosophical Magazine> noch weiter mit diesem Punkt befaßte: »Ich hätte diese langwierigen Berechnungen gewiß nicht ausgeführt, wenn nicht ein außergewöhnliches Interesse mit ihnen verbunden gewesen wäre«, schrieb er. Worin bestand dieses außergewöhnliche Interesse?

In der Physikalischen Gesellschaft in Stockholm ist es gelegentlich zu sehr lebhaften Diskussionen über die wahrscheinliche Ursache der Eiszeiten gekommen, und alle diese Diskussionen haben meiner Meinung nach ergeben, daß noch keine zufriedenstellende Hypothese darüber vorliegt...

Das ist es, was sowohl Arrhenius als auch den englischen Physiker Tyndall und den amerikanischen Geologen Thomas Chamberlin erregte. Wie schon erwähnt, nahmen diese Forscher an, daß ein Absinken der Kohlendioxidwerte vor mehreren Jahrzehntausenden die Ursache der letzten Eiszeit gewesen war.

Der Eiskern von Wostok beweist, daß der Kohlendioxidgehalt in der Luft mit der Eiszeit sinkt und steigt, wenn das Eis zu schmelzen beginnt. In warmen Perioden des Planeten kommt Kohlendioxid zwischen zweihundertsechzig und zweihundertachtzig Teilen pro Million vor. In kalten Zeiten sind es hundertneunzig bis zweihundert Teile. Es ist eine Berg- und Talfahrt, und zwischen den Bergen und Tälern liegen Jahrtausende.

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Niemand weiß, was die Kohlendioxidwerte vor dem Auftreten des Menschen ansteigen und absinken ließ. Hier liegen Ursache und Wirkung nach wie vor im dunkeln. Manchmal scheint sich zuerst der Gasgehalt, manchmal zuerst die Erdtemperatur geändert zu haben. Reagiert das Eis auf die Veränderung des Gasgehalts, oder reagiert das Gas auf eine Veränderung im Eis? In beiden Fällen liefert der Eiskern aus Wostok einen direkten Beweis für Arrhenius' Hypothese. Klar ist, daß Änderungen des Kohlendioxidgehalts in der Vergangenheit mit Klimaveränderungen verbunden waren, die zu den größten und sich am schnellsten vollziehenden gehörten, welche unser Planet je erlebt hat — den Eiszeiten.

Die Analyse des Eises aus Wostok hat zudem ergeben, daß es Aussagen über die globalen Durchschnittstemperaturen ermöglicht.* Der Anstieg und Abfall der Erdtemperatur in den letzten hundertsechzigtausend Jahren liest sich wie folgt:

 

* Diese Analyse geschah indirekt durch eine Analyse der Sauerstoffisotope im Eis. Siehe auch mein Buch <Planet Erde>.

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Eines Tages breitete Hans Oeschger die Tabellen der Temperatur und der Kohlendioxidwerte in seinem Büro in Bern vor sich auf dem Schreibtisch aus und schüttelte den Kopf. Die meisten der Berge und Täler in den Temperaturaufzeichnungen stimmten mit denen der Kohlendioxid­aufzeichnungen überein. Sie hätten zwei Ansichten derselben Berg- und Talfahrt sein können, oder ein Profil desselben Alpenteils. »Zu schön«, sagte Oeschger. Er meinte, die Übereinstimmungen seien zu groß, um in ihnen einen Zufall sehen zu können. Das Kohlendioxid scheint eine Art Hauptregler für das Klima dieses Planeten zu sein. Und wir haben diesen Regler bereits jetzt so weit hochgedreht, wie die letzte Eiszeit ihn nach unten stellte.

In Princeton, New Jersey, studierte Syukuro Manabe die der Eisdecke entnommenen Daten, um ein Computermodell zu entwerfen, und beschloß, sie seinem Modell zuzufügen. Er reduzierte den Kohlendioxidgehalt seiner Modellerde auf zweihundert Teile pro Million. Die Temperatur der Modellerde sank, eine Eiszeit war die Folge. Anschließend erhöhte er den Gasgehalt auf dreihundert Teile pro Million, und sein Erdmodell ließ die Eiszeit hinter sich. Manabe hob und senkte den Kohlendioxidspiegel seines Modells, wie auch der atmosphärische Kohlendioxidgehalt in der realen Welt in den vergangenen hundertsechzig­tausend Jahren gestiegen und gesunken war. Jeder Änderung der Kohlendioxidwerte folgten die globalen Temperaturen, stiegen an oder sanken, wie sie es in den letzten hundertsechzigtausend Jahren tatsächlich getan hatten.

»Das überzeugte mich«, sagt Oeschger in Bern. »Wissen Sie, ich hatte diese Dinge schon seit dreißig Jahren untersucht. Aber als Wissenschaftler muß man stets skeptisch bleiben. Man muß immer wieder von vorn anfangen — verstehen Sie, was ich meine?«

Während sich die untrüglichen Hinweise häuften, änderte sich die Weltsicht der Geowissenschaftler. Die Turbulenzen in den sieben Sphären und die erstaunliche Verkettung der Sphären rückten immer mehr in ihr Bewußtsein. Sie begannen zu erkennen, wie vieles schiefgehen kann. Einen Wendepunkt stellte ein Buch dar, das eine amerikanische Biologin 1958 zu schreiben begann — zufällig in demselben Jahr, in dem Keeling anfing, den Kohlendioxidgehalt der Erdatmosphäre auf dem Mauna Loa zu messen.

Rachel Carson hatte jahrelang bei einer amerikanischen Naturschutzbehörde gearbeitet und schon zwei schwärmerische Bestseller über die Weltmeere geschrieben. Für das Buch, das ihr letztes werden sollte, begann sie Informationen über Insektizide zu sammeln. Es widerstrebte ihr, das Schwärmerische zugunsten des Polemischen aufzugeben, aber sie fühlte, daß die Beweise ihr keine andere Wahl ließen.

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Damals hielten die meisten Leute das Versprühen der massenhaft verkauften Insektizide für eine elegante Methode, gegen Moskitos, Hausfliegen und Zecken anzugehen. Die Industriechemiker, die DDT (Dichlordiphenyltrichloräthan) und andere Schädlingsvernichter eingeführt hatten, waren auf ihre Leistung ebenso stolz, wie Thomas Midgley es auf seine FCKWs gewesen war.

In ihrem 1962 veröffentlichten Buch <Der stumme Frühling> erklärte Rachel Carson, daß die Insekten, gegen die das DDT gerichtet war, oft immun dagegen wurden, während Vögel, Bienen, Fische, Schafe, Rinder und Menschen vergiftet werden, wenn sich die Chemikalie über das ganze Ökosystem verteilt. Sie erwähnte die Millionen Tonnen von Pestiziden, die versprüht wurden, und die daraus resultierende Besorgnis. »Sollte man es für möglich halten, daß jemand glaubt, man könne eine derartige Giftbarrikade auf der Erdoberfläche errichten, ohne sie für alles Leben unbewohnbar zu machen?« fragte sie. »Sie sollten nicht >Insektizide< heißen, sondern >Biozide<.«

Der Arbeitstitel des Buchs hatte »Kontrolle der Natur«* gelautet, und als Biologin konzentrierte sich Rachel Carson zwar auf die Insektizide, behauptete aber darüber hinaus, daß die gewaltsamen Versuche unserer Spezies, die Natur zu kontrollieren, oft so übel wie das DDT zurückschlagen. Sie führte den Fallout nach Kernwaffentests im Freien und die Verseuchung von Flüssen und Seen mit Reinigungsmitteln als Beispiele für all die Dinge an, die zur »Vergiftung der Luft, des Erdbodens, der Flüsse und Meere« beitragen. (Die am meisten verbreitete Verseuchung erwähnte sie hingegen nicht. Das Kohlendioxid sollte nämlich erst später Aufmerksamkeit erregen.)

Für viele Leute war es 1962 ein Schock, sich vorzustellen, eine hochmoderne Technologie könnte zu Rückschlägen führen, eine in Teilen pro Million, Milliarde oder Billion gemessene Chemikalie ihre Gesundheit gefährden; der Mensch könnte die Frühlingswälder unwiderruflich zum Schweigen bringen. Der stumme Frühling trug zum Aufbruch der Umweltschutzbewegung der sechziger und siebziger Jahre bei.

Vor der Umweltschutzbewegung sahen sich die Forscher nicht veranlaßt, die Annahme, daß der Aufbau des Kohlendioxidgehalts begrüßenswert sei, zu revidieren. Immerhin ist dieses Gas das wichtigste Nebenprodukt des materiellen Fortschritts und somit der Menschen selbst, und Wissenschaftler neigten zu einem professionellen Stolz über die Zunahme der menschlichen Bevölkerung sowie ihres materiellen Wohlergehens.

* »Control of Nature«. Der Originaltitel von »Der stumme Frühling« lautet Silent Spring. (AdÜ)

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Callendar zum Beispiel, der Ingenieur war, bezeichnet sich in dem heute berühmten Aufsatz von 1938 als »Dampfingenieur bei der British Electrical and Allied Industries Research Association«. Er förderte die industrielle Nutzung der von Watt eingeführten Dampfmaschine. Für ihn war es selbstverständlich, den Aufbau von Kohlenstoff in der Luft als einen günstigen Nebeneffekt der Dampfmaschine zu bezeichnen. »Heute hält sie unsere Häuser warm, morgen die ganze Welt« — das war 1938 der Tenor seiner Einstellung.

Bald nachdem Rachel Carsons Buch erschienen war, begannen Wissenschaftler zu fürchten, das wichtigste Nebenprodukt des Fortschritts könne sich als negativ erweisen; sie gewöhnten sich an, Kohlendioxid als Verunreinigung anzusehen und mit demselben Schuldgefühl von ihm zu sprechen, das mit dem Wort Unreinheit im Alten Testament und dem Miasma der griechischen Tragödie verbunden war.

Es war mehr als ein Wandel der intellektuellen Mode. Die Auswirkungen der stürmischen Entwicklung der Weltindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg (deutlich sichtbar in den Aufzeichnungen am Mauna Loa sowie in den Eisdecken Grönlands und der Antarktis) wurden auf dem ganzen Planeten spürbar. In diesen beiden Jahrzehnten lernten die Menschen zahlreiche Nebenwirkungen der Kontrolle über die Natur kennen. Da waren nicht nur DDT und der Fallout, sondern auch Abfall, eutrophierte Seen, Blei in der Luft, die Minamatakrankheit*, Ölpest, Ozon, Aussterben von Arten, Überbevölkerung, Love Canal**, saurer Regen und der Reaktorunfall auf Three Miles Island.

Ein Jahrzehnt nach Erscheinen des Buchs Der stumme Frühling veröffentlichte der amerikanische Ökologe Barry Commoner Der Kreis schließt sich. Commoner formulierte als allgemeines Gesetz der Ökologie, »daß jede größere von Menschen verursachte Veränderung in einem natürlichen System wahrscheinlich eine Schädigung dieses Systems hervorruft«.

* Minamatakrankheit: erstmals in der Minamatabucht in Kiuschu aufgetretene chronische Quecksilbervergiftung. (Anm. d. Übers.)
** Der Love Canal wurde 1978 durch Präsident Carter aufgrund seiner langjährigen chemischen Verunreinigung zur »desaster area« erklärt und evakuiert. (AdÜ.)

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Stellen Sie sich vor, Sie öffnen den hinteren Deckel Ihrer Taschenuhr, schließen die Augen und stoßen auf gut Glück mit einem Bleistift in das freigelegte Uhrwerk. Das fast sichere Ergebnis wäre eine Beschädigung Ihrer Uhr... aber (dieses) Ergebnis ist nicht absolut sicher. Es besteht eine geringe Chance, daß die Uhr nicht richtig ging und dieser Fehler durch die zufällige Berührung mit dem Bleistift behoben wurde. Doch dieses Ergebnis ist äußerst unwahrscheinlich... Man könnte ein Uhrengesetz aufstellen, das besagt, daß »der Uhrmacher am besten darüber Bescheid weiß«.

In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren begannen einige Wissenschaftler, die sieben Sphären ebenso als eine Ganzheit zu betrachten, wie es die Ökologen schon bei der Biosphäre zu tun gewohnt waren. Sie erkannten, daß der Umgang der Menschen mit dem Kohlendioxid so war, als stochere man, in Anlehnung an das Bild mit der Uhr, mit einer Bleistiftspitze ausgerechnet im wichtigsten chemischen Zyklus der Natur herum.

 

Das Verständnis des Treibhauseffekts wird sich natürlich noch entwickeln. Aber wahrscheinlich wird nie mehr jemand so überschwenglich darüber schreiben wie Arrhenius 1906 in seinem Buch Das Werden der Welten. Im folgenden möchte ich Arrhenius' letzte Worte über den Treibhauseffekt ungekürzt zitierten:

Man hört oft Klagen darüber, daß die in der Erde angehäuften Kohlenschätze von der heutigen Menschheit ohne Gedanken an die Zukunft verbraucht werden; und man erschrickt bei den furchtbaren Verwüstungen an Leben und Eigentum, die den heftigen vulkanischen Ausbrüchen in unserer Zeit folgen. Doch kann es vielleicht zum Trost gereichen, daß es hier wie sooft keinen Schaden gibt, der nicht auch sein Gutes hat. Durch Einwirkung des erhöhten Kohlensäuregehaltes der Luft hoffen wir, uns allmählich Zeiten mit gleichmäßigeren und besseren klimatischen Verhältnissen zu nähern, besonders in den kälteren Teilen der Erde; Zeiten, da die Erde um das Vielfache erhöhte Ernten zu tragen vermag zum Nutzen des rasch anwachsenden Menschen­geschlechtes.*

Aber trotz Häufung der Beweise und Umweltschutzbewegung hält immer wieder eine Laune der Natur das »Heureka!« auf. 1938, als Callendar verkündete, die globalen Temperaturen stiegen an, hatte die Aufzeichnung der Temperaturen der Erde für die vergangenen fünfzig Jahre so ausgesehen:

* Svante Arrhenius, Das Werden der Welten, Leipzig 1921, S. 73 (AdÜ) 

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Aber nachdem die Arbeit Callendars erschienen war, begann die Durchschnittstemperatur zu fallen, und sie fiel ein Vierteljahrhundert lang.

Fast alles könnte dieses Absinken verursacht haben. Die Temperatur der Erde steigt und fällt immer im Verlauf von Jahrzehnten, und die Ursachen sind enorm vielfältig. Ein Rückgang der Sonneneinstrahlung in jenen Jahren könnte dafür verantwortlich sein. Die Lichtschwankung könnte durch Veränderungen in der Sonne selbst hervorgerufen worden sein, denn die Sonne ist ein leicht variabler Stern. Es besteht aber auch die Möglichkeit, daß der Lichtschwund durch Staub in der Atmosphäre verursacht worden ist, der wie ein schmutziges Dachfenster die Sonne trüb erscheinen ließ. Der Staub kann aus Vulkanen in die Luft geschleudert worden sein, oder aus Schornsteinen und Fabrikschloten, oder durch die Rodung neuen Ackerlandes. Da die Wissenschaftler damals die Erde noch nicht so genau beobachtet haben, sind alle diese Erklärungen möglich, und vielleicht erfahren wir die wahren Ursachen nie.

Für den bedauernswerten Callendar war es jedoch, als hätte sich unter seinem Schreibtisch eine Falltür aufgetan. Er fuhr bis zu seinem Tod damit fort, über die Macht des Treibhauseffekts zu sprechen; aber kaum jemand hörte ihm zu. »Solange die Welt von Jahr zu Jahr kühler wurde«, sagt Revelle heute mit sardonischem Lächeln, »war es sehr schwer, eine großartige Auswirkung des Treibhauseffekts zu erkennen.«

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Nachdem Keelings Beobachtungsnetz in den frühen sechziger Jahren den Anstieg des Kohlendioxidgehalts entdeckt hatte, begannen die Temperaturen der Welt sogar noch schneller zu fallen. 1975 war von einer bevorstehenden Eiszeit die Rede. Dieses Gerücht erhielt niemals allgemeine Zustimmung unter den Klimaexperten der Welt. Dennoch arbeitete die CIA einen alarmierenden Bericht darüber aus, in dem größere Störungen in der weltweiten Nahrungs­mittel­versorgung vorhergesagt wurden. Die Abkühlung sorgte dafür, daß der Treibhauseffekt nicht »in Mode« kam. Beweise aller Art stapelten sich, mit Ausnahme des einen, der die größte Rolle gespielt hätte. »Politisch gesehen«, beklagte sich ein Experte, »ist Kohlendioxid wie Kreideschrift auf einer weißen Wand — oder besser gesagt, wie ein bißchen mehr Dunkelheit in der Nacht.«

In den frühen achtziger Jahren überprüften Forscher an der Universität von East Anglia in England noch einmal alle Temperaturaufzeichnungen aus der ganzen Welt, derer sie habhaft werden konnten. Das Team unter Leitung von Thomas Wigley, Direktor der Abteilung für Klimaforschung, bekam Thermometermessungen, die von Wetterstationen an Land und auf dem Meer vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart vorgenommen worden waren. Wigleys Team gab Hunderte von Millionen Daten ein.

Bei der Analyse der Resultate sahen sie, daß sich die Temperatur der Erde gegenüber 1938 erhöht hatte. Der Globus war wärmer als in den letzten hundert Jahren. Von 1860 bis zu den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts hatte sich die Erde etwa um ein halbes Grad Celsius erwärmt.

Unabhängig davon führte ein Team unter der Leitung von James Hansen am NASA's Goddard Institute for Space Studies die gleiche Studie durch. (Hansen ist einer der Venus-Veteranen.) Das Goddard-Team begann mehr oder weniger bei Null, seine Mitglieder sammelten alle Daten über globale Temperaturen, die sie auftreiben konnten, und analysierten sie. Sie fanden annähernd den gleichen Aufwärtstrend für die nördliche wie die südliche Hemisphäre.

Beide Gruppen stellten fest, daß 1981 das bis zu diesem Zeitpunkt wärmste Jahr des letzten Jahrhunderts gewesen war — das heißt, seit es verläßliche Temperatur­aufzeichnungen gab. Das Jahr 1983 war wärmer als 1981. 1987 (das Jahr nach Veröffentlichung der ersten Studie Wigleys) sollte sogar noch wärmer als 1983 werden. Jedes dieser Jahre brach den vorherigen Rekord: drei Weltrekorde in sechs Jahren.

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Und dieser Trend selbst beschleunigte sich ebenfalls. Die Erwärmung vollzog sich in den achtziger Jahren schon weit schneller als durchschnittlich im 20. Jahrhundert. Tatsächlich kletterte die Temperatur in diesem Jahrzehnt um ebenso viele Grade wie zwischen 1861 und 1950. Niemand hatte einen solchen Sprung vorausgesagt, um niemand erwartete, daß der Anstieg noch lange anhalten würde. »Falls er doch anhält«, sagte der Klimaexperte J. Murray Mitchell »haben wir hier in zehn oder zwanzig, keinesfalls aber erst in hundert Jahren ein Treibhaus.«

Mitchell teilte mir diese Neuigkeit 1987 an einem sehr schwülen Septembernachmittag in seinem Haus außerhalb von Washington D.C, mit. Es herrschte die schlimmste Hitzewelle des Jahres, und da Jahr war das heißeste, das die Annalen verzeichneten. Mitchell hatt als anerkannter Ratgeber in Klimafragen einen Großteil seines Berufslebens in verschiedenen Washingtoner Verwaltungen zugebracht, so etwa in der Meteorologischen Weltorganisation und dem Umwelt-Programm der Vereinten Nationen; auch war er hin und wieder für den Kongreß und den Senat tätig. Überall in seinem Haus, auf den sich eine Dreißigmeterantenne befand, waren Wetterinstrumente von denen er einige selbst entworfen hatte. Während wir in seinen Arbeitszimmer saßen, klickten und klackten diese Instrumente an Wänden, in Regalen und auf Tischen unablässig vor sich hin um zeichneten Temperaturen, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeiten um Richtungen der Winde über dem Dach auf — alles Daten, die halfen den Zahlenpool der Computer in East Anglia und Manhattan zu füllen.

Mitchell war einer der ersten Studenten gewesen, die sich mit den globalen Temperaturtrend befaßten, und dies war auch das Thema seiner Doktorarbeit in den späten vierziger Jahren. Schon damals hatte er nicht daran gezweifelt, daß der wichtigste Trend des 20. Jahrhunderts die Erwärmung des Planeten war. Doch zu jener Zeit warei noch nicht viele Menschen am Treibhauseffekt interessiert. An einen Jahrhundert gemessen, scheint die kühle Periode kurz gedauert zu haben, aber im Berufsleben eines Mannes war es eine lange Zeit. Mitchell hatte sich mit anderen Dingen befaßt.

An jenem Nachmittag nahm Mitchell die Hitze mit derselben Gelassenheit hin, mit der er die Unsicherheiten hinsichtlich der Zukunft de Planeten und auch seiner eigenen Zukunft hinnahm (er war krank und hatte sich vorzeitig beurlauben lassen). Er breitete die Arbeiten Wigleys und Hansens aus und zeigte mir, wie die Temperatur des Planeten gestiegen, gefallen und wieder gestiegen war, indem er mit dem Stiel seiner Pfeife die Kurve entlangfuhr.

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Ein weltweiter Anstieg von rund einem halben Grad Celsius ist ungefähr das, was die Computermodelle für das Jahr 1986 angegeben hatten. In Anbetracht all der Treibhausgase, die wir Menschen in die Luft geblasen hatten, war es eine etwas geringere Erwärmung, als die Modelle vorausgesagt hatten. Aber es bewegte sich noch im Unsicherheitsbereich.

 

 

Mitchell erklärte mir, wie die Teams von Wigley und Hansen ihre Temperaturen aufbereitet hatten. Er erklärte mir die Mehrdeutigkeiten der Daten und den Grund, aus dem er annahm, daß der Trend im ganzen glaubhaft war. »Es sieht demnach so aus, als würde es wirklich geschehen«, sagte er. »Es wird wärmer und wärmer!«

In einigen wenigen Köpfen begannen die einzelnen Teile sich zusammenzufügen: Der Temperaturanstieg, die Zunahme der Treibhausgase, die in den Eiskernen aufgezeichnete Geschichte, die Geschichte des Mars und der Venus, die Bestätigungen in den Computermodellen.

Einigen Klimaexperten wurde langsam klar, daß der Trend fast mit Sicherheit aufwärts ging und unerfreulich würde.

Das Interesse der Wissenschaftler am Treibhauseffekt nahm schlagartig zu. 1986 gingen bei der amerikanischen Kohlendioxid-Informationsstelle zweitausend­zweihundert Anfragen ein — über hundertfünfzig Prozent mehr als im Vorjahr.

Wigleys und Hansens Berichte brachten eine Welle von Treibhaus-Storys in die Presse. Nach dem heißen Jahr 1987 sagte Wigley zu einem Reporter der <New York Times>, wenn die neunziger Jahre so warm wie die achtziger würden, »wäre es sehr schwierig, den Treibhauseffekt länger zu leugnen.« Er fügte hinzu: »Aber auch schon jetzt ist er sehr schwer zu leugnen.«

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Immer mehr Wissenschaftler erkannten, was Revelle bereits 1957 gesehen hatte: Dies ist ein großes geophysikalisches Experiment. Durch künstliche Steigerung des Treibhauseffekts auf der Erde hat unsere Spezies eine Welle von Veränderungen in den sieben Sphären verursacht. Spezialisten für die Atmosphäre, Hydrosphäre, Kryosphäre und Biosphäre suchten jetzt die Horizonte ihrer Forschungsgebiete nach Veränderungen ab, die der Treibhauseffekt bereits in ihren Sphären hervorgerufen haben mochte. Einige von ihnen hielten nach beginnenden Veränderungen in der Stratosphäre Ausschau. Die Hinzufügung von Treibhausgasen mußte unter anderem die Stratosphäre deutlich kälter gemacht haben.

Das ist eines der Paradoxa des Treibhauseffekts. Stellen Sie sich vor, Sie gingen in einem dünnen Hemd durch einen Schneesturm. Die Schneeflocken, die auf Ihre Schultern fielen, würden schmelzen. Doch angenommen, Sie zögen mehrere Kleidungsstücke an. Ihre Haut würde immer wärmer werden, aber die Wolle Ihres äußersten Pullovers würde so kalt werden, daß der auf ihn fallende Schnee in zunehmendem Maß liegenbliebe.

Die Erde wandert durch die Kälte des äußeren Weltraums, und die Atmosphäre ist ihre einzige Kleidung. Zusätzliche Treibhausgase in der Luft haben denselben Effekt wie die Kleidungsstücke in dem angeführten Beispiel. Wir, die wir hier unten sind, würden es bald immer wärmer haben; aber fünfundzwanzig oder dreißig Kilometer weiter oben, in der Stratosphäre, würde es so kalt werden, daß sich Eis bilden würde.

Mitte der achtziger Jahre sammelten und überprüften einige Forscherteams Tausende von Aufzeichnungen über die Temperaturen der Stratosphäre (die von Satelliten und Raketen aus gemacht worden waren). Dann überprüfte eine Gruppe unter der Leitung von Mark Schoeberl vom Goddard Spaceflight Center in Greenbelt, Maryland, nochmals einige der Aufzeichnungen. Schoeberls Gruppe stellte fest, daß die obere Stratosphäre zwischen 1979 und 1985 um eineinhalb bis zwei Grad Celsius kühler geworden war. Auch die untere Stratosphäre kühlt sich ab.

Das bewies nicht, daß die Abkühlung der Stratosphäre durch den Treibhauseffekt verursacht worden war. Es hätte auch ein Zufall sein können. Aber es paßte zu den Vorhersagen.

1986 gab es auch eine Veränderung in der Kryosphäre. Große Eisschollen begannen sich von der vereisten Küste der Antarktis zu lösen, ein Prozeß, den Glaziologen bildhaft als »kalben« bezeichnen. Urplötzlich fing der weiße Kontinent an, gigantische Kälber zu gebären. Das Larsen-Eisschelf kalbte einen Eisberg von mindestens achttausend Quadratkilometern Größe.

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Das ist mehr als das Doppelte der Größe des US-Bundesstaates Rhode Island und mehr Eis, als sonst in einem ganzen Jahr vom weißen Kontinent losbricht. Im selben Jahr kalbte die Nordkante des Filchner-Eisschelfs mehrere Eisberge, deren Gesamtfläche mindestens elftausendfünfhundert Quadratkilometer betrug. Im folgenden Jahr geschah erstmals seit mindestens fünfundsiebzig Jahren Grundlegendes am Ross-Eisschelf. Ein Eisberg von mehr als sechstausend Quadratkilometern Größe trieb durch die Bay of Whales. Die Karte der Antarktis mußte neu gezeichnet werden.

Damals war das Interesse am Treibhauseffekt schon so stark, daß nach der Geburt jedes dieser Eisberge die Telefone der Glaziologen nicht mehr zu klingeln aufhörten. Die Glaziologen sind gewöhnlich die gelassensten und konservativsten unter den Geowissenschaftlern. »Wenn die Erwärmung durch den Treibhauseffekt schon angefangen hat, steht das, was wir hier sehen, wahrscheinlich nicht in Zusammenhang damit«, sagte Stanley Jacobs vom Geologischen Lamont-Doherty-Observatorium in Palisades, New York, zu Reportern kleiner Zeitungen, Radio-Talkshowgästen und neugierigen Spezialisten anderer Wissenschaften. »Es ist ein natürlicher Prozeß, der vermutlich auf jeden Fall stattgefunden hätte.« Neuerliches Läuten. »Das ist nicht auf eine Entwicklung der letzten Jahre zurückzuführen.«

Mittlerweile gab es auch Veränderungen in der Biosphäre. Wie die erstmals in den späten siebziger Jahren durch Keeling entdeckten Veränderungen in der Atmung der Welt waren diese Entdeckungen unsichtbar und tauchten nicht in den Schlagzeilen auf. Aber sie hingen eindeutig mit dem Ansteigen des Kohlen­dioxid­gehalts zusammen.

1987 zum Beispiel nahm Ian Woodward, ein Botaniker an der Universität von Cambridge, die alten gepreßten Baumblätter und Pflanzen aus dem Herbarium der Hochschule genauer unter die Lupe. Woodward bemerkte, daß sich die meisten alten Blätter — diejenigen, die 1750 unmittelbar vor Beginn der industriellen Revolution gesammelt worden waren — anatomisch von zeitgenössischen Blättern derselben Arten unterscheiden. Die alten Blätter weisen mehr Poren auf.

Der Botaniker untersuchte Blätter von einem halben Dutzend Pflanzenarten Englands: einer Platane, einer Linde, zweier Eichenarten und einer Blaubeerpflanze. Einige dieser Gattungen hatten mehr Poren als andere, aber in allen Fällen besaßen diese Pflanzen seit Beginn der industriellen Revolution weniger und weniger Poren.

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Ein heutiges Eichenblatt hat im Durchschnitt vierzig Prozent weniger Poren — stomata — als seine Vorfahren unter der Regierung König Georgs III.

Ein Blatt stellt einen fein ausgewogenen Kompromiß dar. Es muß Kohlendioxid aufnehmen, also muß es sich der Luft öffnen. Aber je mehr Luft durch das Blatt zirkuliert, desto mehr Wasser verliert es durch Verdunstung. Also öffnen und schließen sich die um jede Pore gelegenen Zellen in einem faszinierenden Rhythmus und erreichen ein Optimum an Sonnenlicht, Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Kohlendioxid durch Strategien, die Botaniker zu studieren beginnen, als seien sie Bestandteile einer ausgeklügelten Spieltheorie.

Woodward hatte einen neuen Zug in dem Spiel, das die Bäume von Generation zu Generation fortführen, entdeckt. Wenn die Luft mehr Kohlendioxid enthält, brauchen die Blätter weniger Poren, um ausreichende Mengen davon aufzunehmen; und mit weniger Poren können die Bäume sparsamer mit ihrem Wasser haushalten und sind daher besser vor Austrocknung geschützt.

Der Botaniker züchtete einige dieser Pflanzen in kleinen Gewächshäusern. Sobald er der Luft Kohlendioxid zufügte, schlössen sich nicht weniger als zwei Drittel der Poren. Poren sind winzig, mikroskopisch, aber die Bäume auf der ganzen Welt passen sich offensichtlich in aller Stille mit ihrer Hilfe an die Veränderung der Luftzusammensetzung an. Während wir uns bei Hitze und stürmischem Wetter in unseren Häusern aufhalten, sind die heutigen Pflanzen besser als ihre Vorfahren vorbereitet. Die Bäume vor unseren Fenstern sind dabei, die Luftveränderung viel schneller zu bemerken und sich ihr anzupassen als wir.

Für sich allein genommen, sind das gute Nachrichten, zumindest für die Bäume; aber unglücklicherweise sind die neuesten Entdeckungen Woodwards nicht so ermutigend. Die Biologen unterscheiden zwischen zwei Arten von Anpassung. Phyletische Veränderungen sind Folgen der natürlichen Selektion — Überleben und Vermehrung der Tüchtigsten. Physiologische Veränderungen finden durch Anpassung des Individuums an seine Lebensumstände statt.

Die Veränderung der Pflanzen ist physiologisch. Eichenblätter passen sich an, während sie knospen, sich entfalten und der heutigen Atmosphäre aussetzen. Die Gene in Samen, Knospe und Blatt bleiben unverändert. »Das bedeutet«, sagt Woodward, »daß die Belastung noch nicht groß genug ist, um eine natürliche Selektion hervorzurufen. Aber wir gelangen an die Grenzen dieser physiologischen Möglichkeiten.« Blätter können sich nicht noch mehr an die sich verändernde Atmosphäre anpassen. 

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»Das wirft eine Reihe interessanter Fragen auf. Wird es demnächst eine den Veränderungen entsprechende Selektion geben? Was werden die Pflanzen tun, wenn sie einer solchen Veränderung nicht fähig sind? Was als nächstes geschehen wird, ist weit schwieriger zu verstehen als das bisher Geschehene«, erklärt Woodward.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre brannten viele Experten darauf, der Welt mitzuteilen, was ihrer Meinung nach bevorstand. Aber sie durften um ihrer Glaubwürdigkeit willen nicht zu beunruhigt klingen. Sie befanden sich in einer seltsamen Situation. Sie waren über die Veränderungen, die sie kommen sahen, und die Schwierigkeit, die Welt vom Bevorstehen dieser Veränderungen zu überzeugen, so besorgt, daß sie sich gelegentlich bei dem Wunsch ertappten, die Veränderungen träten schon ein. Tatsächlich wußten sie kaum, was sie eigentlich empfanden. An einem heißen Sommermittag stürzte Thomas Stone mit einem Vorabdruck des <US Geological Survey> in Richard Houghtons Büro in der Abteilung für Ökosysteme am Marine Biological Laboratory in Woods Hole, Massachusetts. 

Der Bericht besagte, daß Geophysiker kürzlich die Temperaturen in den Bohrlöchern von Ölquellen in Alaska gemessen hatten. Sie hatten festgestellt, daß sich der Permafrost Alaskas im Verlauf der letzten Jahrzehnte oder vielleicht des vergangenen Jahrhunderts um zwei bis vier Grad erwärmt hatte. Dies ließ die Geophysiker vermuten, daß sich die Luft der Arktis stark erwärmt hatte — ein Umstand, über den es kaum Daten gibt. Die Arktis gehört zu den Stellen der Erde, die sich am meisten erwärmen müßten, und das Ausbleiben aller Anzeichen für eine Erwärmung dort hatte schon die Experten für den Treibhauseffekt beunruhigt und verwirrt.

Die Ölquellen lagen verstreut zu Füßen der Berge und an den Seen des Küstenlandes Alaskas, zwischen der Brookskette und dem arktischen Meer. Stone und Houghton kannten diese Region Alaskas sehr gut, denn der größte Teil des Stabes ihrer Abteilung kampierte jeden Sommer in der Nähe der Brookskette und untersuchte die Ökologie der Tundra. Die Tundra birgt riesige Vorräte an Kohle, da sich in ihrem Boden die Überreste der Vegetation von Jahrmillionen befinden. Die Ökologen vermuteten, daß die Tundra beginnen könnte, etliche Milliarden Tonnen zusätzlichen Kohlenstoffs freizugeben, wenn die Erwärmung Alaska erreichen sollte. Ein weiterer mit dem Treibhauseffekt verbundener Alptraum: Wird dieser Kohlenstoff in die Luft zurückgelangen?

Zwei bis vier Grad Erwärmung bewegen sich innerhalb des vorausgesagten Bereichs. Stone stürzte also an jenem Vormittag freudestrahlend in Houghtons Büro.

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Aus kosmischer Sicht laufen die Vorgänge mit katastrophaler Geschwindigkeit ab. Aus geologischer Perspektive sieht das kollektive Ausatmen der menschlichen Industrie wie eine einzelne Eruption aus, ein scharfer Zacken in der Luft. Der Erdölgeologe M. King Hubbert war der erste, der die moderne Zeit auf diese Art darstellte, und der Zacken wird manchmal als der »Hubbert-Blip« bezeichnet.

 

 

Aber vom Standpunkt eines sterblichen Wissenschaftlers oder des Mannes und der Frau auf der Straße aus betrachtet, die irgendwo vor der ansteigenden Kurve des Hubbert-Blip stehen, scheint sich alles, was mit dem Treibhauseffekt zusammenhängt, extrem langsam abzuspielen. Dies könnte der eigentliche Grund dafür sein, daß wir so lange gebraucht haben, bis wir anfingen, uns Sorgen darüber zu machen. Sogar jene, die geglaubt haben, daß etwas geschah, dachten, es würde allmählich geschehen. Die Menschen lebten im Schatten dieser Vorgänge ebenso behaglich, wie sich die Bewohner der Stadt Hilo am Fuße des Vulkans Mauna Loa eingerichtet haben.

Wir reagieren nicht auf Vorgänge. Wir reagieren auf Vorfälle. Es bedarf eines Vulkanausbruchs oder Erdbebens, oder des seltsamen Gestanks, der von einem vergifteten See aufsteigt, oder des Auseinanderbrechens einer Eisscholle, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Ich habe einmal von einem Lehrer gelesen, der diese Tatsache vor seiner Klasse mit Hilfe eines Froschs illustrierte. Als erstes ließ er das Tier in einen Behälter mit heißem Wasser plumpsen. Es sprang sofort wieder hinaus. Dann ließ er den Frosch in einen Behälter mit kaltem Wasser fallen und zündete darunter einen Bunsenbrenner an. Der Frosch schwamm in dem Behälter umher, bis er zu Tode gekocht war.

Einhundert Jahre lang ging die Zunahme des Kohlendioxids und die Erwärmung der globalen Temperaturen zu langsam vonstatten, um unsere Aufmerk­samkeit zu erregen. Diese Gemächlichkeit beeinflußte sogar Keelings Entdeckung, das einzige wirkliche »Heureka!« des 20. Jahrhunderts. Unser Bild von der Art, in der wissenschaftliche Entdeckungen gemacht werden, stammt übrigens aus dem antiken Syrakus. Archimedes, der griechische Mathematiker, entdeckte das erste Gesetz der Hydrostatik in seiner Badewanne. Der Legende zufolge lief Archimedes nackt durch die Straßen und rief: »Heureka!« Ich hab's gefunden!

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Im viktorianischen England brachte ein Banknotengraveur namens George Smith Jahre damit zu, auf den Keilschrifttäfelchen im Britischen Museum Bestätigungen für die biblische Geschichte von Noah und seiner Arche zu suchen. Eines Tages zeigte man Smith ein frisch gesäubertes Täfelchen. Die Keilschrift war ein Fragment einer babylonischen Erzählung über eine Weltflut. »Er legte das Täfelchen auf den Tisch«, berichtet ein Kollege von Smiths, »sprang auf und lief heftig erregt im Raum umher, und dann begann er zum Erstaunen der Anwesenden, sich zu entkleiden!«

Archimedes' Echo.

Ich habe viele Leute, die in Keelings Nähe gewesen waren, als er mit seinem Projekt befaßt war, nach seinem Heureka-Augenblick gefragt. Ich sprach mit dem Schweizer Eisexperten Oeschger in Bern. Oeschger hatte am Scripps gearbeitet, als Keeling gerade anfing. »Ich habe Keeling 1958 gut gekannt«, sagte Oeschger. »Wir musizierten zusammen. Er spielt Piano und ich Violine. Ich glaube, es wurde ihm sehr früh klar, daß er einer wichtigen Sache auf der Spur war.« Obwohl die beiden ständig in Kontakt geblieben waren und Keeling ein Jahr in Oeschgers Labor verbrachte, konnte mir Oeschger von keinem Heureka-Augenblick Keelings berichten.

John Chin ist Techniker in Mauna-Loa-Observatorium. Er hat zusammen mit den übrigen Technikern auf dem Vulkan Keelings Gasanalysator bedient. Sie wechselten das Millimeterpapier aus und sandten die Aufzeichnungen einmal wöchentlich an Keeling. Manchmal benutzten die Techniker ein einfaches Lineal, um die Tabellen aufzustellen und einen Anstieg oder Abfall der Kurve zu bestimmen. »1960 haben wir die Zunahme schon gesehen«, sagt Chin. »... mag sein, daß Keeling sehr erregt war. Aber wir sind einfach gegangen. Hatten noch Arbeit. Wir mußten noch öfter messen.«

Ich fragte Revelle in seinem Büro an der University of California in San Diego nach dem Heureka-Augenblick.

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Es ist eine interessante Frage«, sagte Revelle. »Aber eigentlich glaube ich nicht, daß es eine plötzliche, blitzartige Erkenntnis war. Nur eine Häufung von Hinweisen. Das ist typisch für Aufzeichnungsprozesse. Sie müssen so lange aufzeichnen, bis Sie über den Erregungspunkt hinweg sind. Und hier lag der Erregungspunkt ziemlich hoch... Es war ohnehin kein Problem, über das viele Leute nachdachten...«

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Am Scripps, in einem Büro, das auf demselben Flur lag, auf dem er seinen ersten Gasanalysator zusammengebaut hatte, fragte ich Keeling, ob er sich an den Moment erinnere, in dem er zum erstenmal erkannt hatte, daß sein globales Kohlendioxidnetz eine Erhöhung der Konzentration gemeldet hatte. »Das kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Keeling voller Zuversicht, dann kramte er in seinen Aufzeichnungen herum. Ein langes Schweigen entstand. »Ich weiß nicht, wieso, aber es ist nicht da.« Endlich förderte er ein Papier zutage. »Tellus, Juni 1960«, sagte Keeling und las laut vor: »Wo die Daten über ein Jahr hinausgehen, sind die Mittelwerte für das zweite Jahr höher als die für das Vorjahr.«

»Aber wann wurde Ihnen die Bedeutung dessen klar?« fragte ich. »Wie war die Stimmung in diesem Labor, als Sie es erkannten?«

Keeling erinnerte sich an keinen besonderen Augenblick der Freude, des Erschreckens oder Grübelns. »Ich hatte keine Zeit. Ich war vollauf damit beschäftigt, dieses experimentelle Programm am Laufen zu halten. Das bedeutete jede Menge Logik, Kommunikation, Reparaturen... Es war eine enorme Arbeit, dieses Programm am Laufen zu halten. Ende 1963 hätte ich fast beschlossen, die Messungen aufzugeben.«

Ich besuchte Saul Price in seinem Büro im US-Wetterdienst in Honolulu. 

Im Gegensatz zu Chin ist Price ein wissenschaftlicher Meteorologe. Und anders als Keeling und Revelle verbrachte Price zu Beginn des Projekts viele Nächte auf dem Vulkan. Er sah den Gasanalysator die ersten Punkte dessen aufzeichnen, was später Keelings Kurve ergab. »Erdbeobachter rufen im allgemeinen nicht >Heureka<«, sagte Price. »Im allgemeinen läuft es so ab, daß jemand einen Aufsatz schreibt, sobald er es wagt, und erklärt, sehen Sie, so und so stehen die Dinge. Dann kann er >Heureka< rufen — aber nicht zu laut. Denn wie soll man sicher sein, daß sich die verdammte Sache nicht nach zwei oder drei oder vier Punkten wieder umkehrt? Was ergibt einen Trend? Sie können sagen, zwei Punkte, mindestens zwei Jahre lang. Erst nach ziemlich langer Zeit — vielleicht nach zehn Jahren — sind Sie sicher, daß Sie sich mit etwas Realem und Authentischem befassen. Trotz der enormen Schwankungen des auf der ganzen Welt, in der Atmosphäre, der Biosphäre und der Hydrosphäre gewonnenen Materials, zeigt sich der Gesamteffekt noch immer, Jahr um Jahr um Jahr. Schließlich sagen Sie: >Mein Gott!<«

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Die Straße zum Mauna-Loa-Observatorium steigt zwischen zwei Giganten empor, dem Mauna Loa und dem Mauna Kea, dem langen Berg und dem weißen Berg. Diese Vulkane sind so jung und ihre Hänge so sanft, daß die Sträflinge des Kulani-Gefängnisses, die die Saddle Road erbauten, nicht oft Serpentinen beschreiben mußten. Manche Leute wollen wissen, daß sie sich mit ihren Bulldozern durch das Geröll direkt zum Gipfel emporgearbeitet hätten, und als ihnen das Geld ausgegangen sei, hätten sie das Mauna-Loa-Observatorium gebaut. Weil der Berg so sanft ansteigt, muß man nicht einmal den Gang wechseln, um höher zu fahren, als mancher Gipfel in den Alpen ist. 

Der Steigungsgrad dieser Straße erinnert an den der globalen Erwärmung — Sie merken kaum, daß es aufwärts geht, bis Sie fast am Ziel sind. Plötzlich kommt es Ihnen so vor, als wären Sie nicht mehr auf Hawaii. Sie sind dreitausendvierhundert Meter über dem Meeresspiegel. Die Sonne brennt erbarmungslos herab. Die Luft ist dünn und kalt, der Himmel dunkel und unendlich blau, und der Ausblick zeigt endloses Ödland aus schwarzer, erstarrter Lava, das sich nach allen Seiten erstreckt, so weit das Auge reicht. (Weit unten können Sie die Regenwälder von Hilo und den Palmenstrand von Kona sehen.)

Einige Besucher des Mauna-Loa-Observatoriums brauchen Sauerstoff, viele empfinden Übelkeit. In solchen Momenten wird einem bewußt, wie dünn die Atmosphäre tatsächlich ist. Eine Fahrt von einer Stunde im Jeep trägt Sie halb durch sie hindurch. Mit einer Rakete können Sie sie in wenigen Minuten hinter sich lassen. Auf seinem ersten Flug in den Weltraum blickte ein deutscher Astronaut aus dem Fenster und sah zum erstenmal in seinem Leben die gekrümmte Linie des planetaren Horizonts. »Er war durch einen dünnen Saum dunkelblauen Lichts gekennzeichnet — unsere Atmosphäre«, schrieb Ulf Merbold nach dem Flug. »Das war offensichtlich nicht der Luftozean, von dem man mir so oft in meinem Leben erzählt hatte. Ich war erschüttert, daß er so dünn war.«

Die Straße zum Mauna-Loa-Observatorium endet am Hauptgebäude des Instituts, einem kleinen, glatten zylindrischen Klotz mit einem Dach aus Aluminiumwellblech. Um ihn herum sprießen weiße Plastikformen aus dem Basalt, Instrumente zur Messung des Ozons und zur Beobachtung der Sonne. Außerdem gibt es Nephelometer, Hygrometer und Maximum-Minimum-Thermometer. Instrumente zur Messung von Staubpartikeln, Wasserdampf und extremen Temperaturen. Die meisten der Forscher, die den Planeten mit diesen Roboterinstrumenten beobachten, leben viele tausend Kilometer entfernt und viele hundert Meter unterhalb dieses Orts. Die zum Personal des Observatoriums gehörenden Forscher und Techniker warten diesen Roboterpark tagaus, tagein.

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John Chin (der inzwischen ein Vierteljahrhundert auf dem Vulkan verbracht hat) führte mich bei meinem Besuch auf einem Steg aus rohen Holzplanken über das schwarze Geröll. Ich fragte ihn, ob er sich wegen des in Keelings Kurve sichtbaren Trends Sorgen mache. Er erwiderte, daß er nachts gut schlafen könne. »Manchmal schaue ich es mir an und sage mir: >So ist das.. .<« Es machte ihm sichtlich Spaß, mir die Aufgaben der neuen Monitoren um das Observatorium herum zu erklären — jeder von bester Qualität. In jedem Jahr kommt ein neues, gefährliches Gas hinzu, das beobachtet werden muß: Methan, Fluorchlorkohlenwasserstoff, Schwefeldioxyd und Kohlendioxid. Eine abschließende Examensfrage in der New York University lautete einst: »Führen Sie sechs unbekannte, die Ozonschicht schädigende Substanzen auf, die man noch finden wird.« Wenn diese sechs Substanzen entdeckt werden, wird man Sensoren für sie entwickeln, und Chin wird helfen, sie im schwarzen Geröll des Mauna Loa aufzustellen.

Auf einer flachen Plattform aus ungehobelten Holzplanken in der Nähe des Hauptgebäudes stehen Partikelmonitoren, die dem Atmosphärenchemiker William Zoller gehören. Dank der Erde, die dabei aufgewirbelt wird, weiß Zoller in jedem Jahr, wann die Chinesen mit dem Pflügen beginnen. In Japan wird sie als »Gelber Staub« bezeichnet. Zoller nennt sie »Gobistaub«.

Inmitten dieser Wunder an Wahrnehmungsintensität stehen ein Nebengebäude und ein grüner Tank. Der Tank enthält knapp viertausend Liter zusätzliches Wasser für die Techniker, die das Observatorium warten. »Wir trinken es nicht — wir wissen nicht, was auf dem Tankboden ist«, sagte Chin. »Wir benutzen es zum Händewachen.«

Und über alles ragt ein Turm. Er wurde von der National Oceanic and Atmospheric Administration errichtet und ist bei weitem das höchste Bauwerk auf dem Mauna Loa: eine offene vertikale Rahmenkonstruktion, um die sich ein Gewirr von Aluminiumrohren und Aluminiumtreppen rankt. Die reinste Luft der Welt wird durch ein Aluminiumrohr an der Spitze des Turms eingesogen, mehr als dreihundertsechzig Meter oberhalb des Observatoriums, und den unten im Hauptgebäude untergebrachten Kohlendioxiddetektoren zugeführt; unter ihnen befindet sich auch das mittelalterlich anmutende Aufzeichnungsgerät, das Keeling während des IGY baute und nie jemandem zu ersetzen erlaubt hat.

»Er ist ein sehr sorgfältiger Mann«, sagte Chin. »Ganz besonders in seiner Forschung. Es muß so und nicht anders sein. Nichts darf verändert werden — nicht einmal eine Einsaugleitung — ohne eine Menge Zwischenvergleiche.«

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Kürzlich waren ein Dutzend Telefonanrufe bezüglich des neuen Turms hereingekommen. Keeling wollte, daß Chin jede neue Einsaugleitung mit massenhaft frischer Luft durchblies, bevor er sie an seine Gasanalysatoren anschloß. »Ich blase sie Tag und Nacht durch — bis ich zum Telefon greife und sage: >Ist es o. k., wenn ich jetzt die Rohre auswechsle?< Ich glaube, man nennt ihn übervorsichtig. Er wurde so geboren.«

Keeling hatte Chin gerade erlaubt, eine neue Aluminiumleitung des Turms an seine Kohlendioxiddetektoren anzuschließen. Jetzt wollte er genau wissen, wie lange eine Luftprobe von ihrem Eintreten in die Klappen bis ins Hauptgebäude und zur Aufzeichnung ihrer Meßwerte auf das Papier des Computerdruckers brauchte.

Chin schlug ein Experiment vor.

Die Sonne begann bereits zu sinken, aber sie stach mir immer noch in den Nacken, als ich die Stufen zum Turm hinaufstieg. (Dem UV-Strahlenmesser zufolge ist das ultraviolette Licht auf dem Gipfel des Vulkans weit stärker als an seinem Fuß — oben wird es durch entschieden weniger Atmosphäre gefiltert.) Ich war zu schnell hinaufgestiegen, und schon in ungefähr dreißig Metern Höhe ging mir die Luft aus. Auf dem Nachbarvulkan, dem Mauna Kea, fahren die Astronomen oft für ein paar Nächte zum Observatorium hoch und machen im Teleskopraum schlapp. »Ich verliere hier oben zehn Prozent meiner mentalen Schaltkreise«, hatte mir ein Techniker gesagt, als wir die Saddle Road hinaufgefahren waren. »Sie werden sich wundern. Sie werden sich an kaum etwas von ihrem Besuche hier erinnern. Und Sie werden nicht fähig sein, Ihre Notizen zu lesen.«

Ich setzte mich für einen Augenblick auf die Treppe und kritzelte in mein Notizbuch, bis ich wieder zu Atem gekommen war. Jene Seite ist eine zufällige Impression in freien Versen:

Mühsam der Schritt —
   der Atem geht laut —
es pocht in meinen Ohren
   als war ich ein Taucher —
tiefes langsames Atmen —

Die erste Einlaßklappe war in knapp zehn Metern Höhe außerhalb des Geländers. Um sie zu erreichen, mußte ich die Füße unter das Aluminiumgitter stellen und mich hinauslehnen. Ich blies in die Klappe, als gälte es, ein Mikrophon zu überprüfen. Da der menschliche Atem im Durchschnitt Tausende von Teilen pro Million Kohlendioxid enthält, würde selbst ein mehr als eine Handbreit entfernter Atemzug unten im Hauptgebäude eine starke Spur in der Kurve hinterlassen. Nun stieg ich zu der Klappe in achtzehn Metern Höhe empor und blies hinein. Dann wiederholte ich den Versuch bei der Klappe in vierundzwanzig Metern Höhe.

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Oben auf dem Turm war die Luft so rein und gleichsam gläsern, daß das Observatorium zu meinen Füßen wie eine Spielzeugszenerie aussah — das Gelände einer Modelleisenbahn mit wenigen Gebäuden. Die Straße lief ganz deutlich sichtbar den Hang des Vulkans hinab. Das Auge eines Adlers hätte tausend Signalpfosten entlang der durch Halden erstarrter Lava führenden Saddle Road ausmachen können. Auf der gegenüberliegenden Talseite waren die weißen Kuppeln der astronomischen Dome auf dem Mauna Kea ins rosafarbene Licht des Alpenglühens getaucht. Von einer dieser weißen Kuppeln des Observatoriums aus hat ein Astronom kürzlich die am weitesten entfernte Galaxis im bekannten Universum gesehen.

»He!« schrie John Chin. »Sie müssen es noch mal machen.« — »O.k.! Wenn ich den Arm senke, hab' ich's getan!« — »O.k.!« Chin stand im Schatten des Aluminiumschuppens und behielt abwechselnd mich und seine Stoppuhr im Auge. Ich atmete in das Einzugsrohr aus und senkte den linken Arm. Chin eilte ins Hauptgebäude zurück.

Es war ein seltsames Gefühl, allein hier oben zu stehen. Rings um mich war fast nichts als Lithosphäre, schwarze, neugeborene Lithospähre, so weit das Auge reichte. Über mir das blaue Himmelszelt, und am Horizont stand weniger als die Hälfte der Sphäre des Feuers. Es war eine der abstraktesten Landschaften, die ich je gesehen hatte. Sie kam mir vor wie der Mars. Mehrere Sphären fehlten auf der Szene, und ich war in diesem Augenblick der einzige Vertreter meiner Spezies und der Biosphäre. In der Art eines schematischen Diagramms unserer Situation auf dem Planeten flogen in beständigem Strom Kohlendioxidmoleküle, die es nicht kümmerte, ob sie der Lithosphäre, der Atmosphäre, der Biosphäre oder der Menschensphäre entstammten, durch das Aluminiumrohr hinab; ob ich sie nun absichtlich freigab oder nicht. Ich kritzelte ein paar schnelle Notizen — »Ich bin Teil des Experiments« —, die ich zwar entziffern kann, aber nicht veröffentlichen werde.

Im Hauptgebäude drückte Chin auf seine Stoppuhr. Ein Atemzug hatte eine Minute und fünfzig Sekunden gebraucht, um rund neunzig Meter einer neuen Aluminiumröhre hinabzureisen und Keelings Gerät reagieren zu lassen. »Nicht schlecht — das ist gut!« rief Chin aus. Dann schrie er: »Dr. Keeling wird wütend werden! Dr. Keeling wird sagen, macht nicht zuviel Unsinn!« 

 

Künftige Generationen werden sich fragen, wie wir so lange auf einem Vulkan leben konnten, ohne etwas zu unternehmen. Tatsache ist: Wir wußten nicht, daß wir auf einem Vulkan lebten. Die Wissenschaftler haben sich viel Zeit gelassen, uns zu warnen, und wir ließen uns viel Zeit, ihre Warnungen zu hören.

Als ich auf jenen Turm stieg, hatte ich schon seit Jahren über geowissenschaftliche Themen geschrieben. Ich war seit einem Jahr dabei, Material für dieses Buch zu sammeln. Ich hatte eine Woche in Keelings Labors verbracht und viele Wochen in vielen anderen Labors. 

Es mag seltsam klingen, aber das Thema der globalen Veränderung war noch immer sehr vage für mich gewesen, bis ich auf diesen Turm stieg. In diesem Augenblick erst fügte sich in meinem Kopf alles zusammen: daß der Kohlendioxidgehalt zunimmt, und daß jeder einzelne von uns dafür verantwortlich ist. Erst da kam mir zu Bewußtsein, daß der Treibhauseffekt eine Realität darstellen könnte.

Einige Wochen später bekam ich einen Brief von Chin. Er enthielt einen Computerausdruck. Die Mauna-Loa-Aufzeichnung; hier ein Teil daraus: 

 

 

 

»Aloha!« schrieb Chin. »Ihr Atem — ungefähr 378 Teile pro Million CO2«  

Nach diesem Experiment fiel bei mir der Groschen. Bei den meisten Menschen fiel er irgendwann im Sommer 1988.

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The Next One Hundred Years / Die Klimakatastrophe