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Berichte aus Mexico City 1984

Von Hubert Weinzierl 1985 ( vgl auch Weinzierl-1991 )

167-180

Der mexikanische Präsident hat bei der Eröffnung der zweiten Weltbevölk­erungs­konferenz der Vereinten Nationen 1984 an die gemeinsame Verantwortung von Industrie- und Entwicklungsländern appelliert.

1984 in Mexiko-Stadt - wikipedia  Weltbevölkerungskonferenz 

An der Konferenz nehmen 156 der insgesamt 158 UN-Mitgliedstaaten teil.

Der Präsident forderte verstärkte Bemühungen zur Mobilisierung von Ressourcen, um die Entwicklung im Ernährungs-, Gesundheits-, Beschäftigungs- sowie Erziehungs­bereich zu beschleunigen und ein angemes­senes Bevölkerungs­wachstum zu erreichen.

Er verwies darauf, daß die Aussichten der Entwicklungs­länder in bezug auf Handel und inter­nationale Wirtschaftskooperation alles andere als ermutigend seien. Die Situation sei gekenn­zeichnet von Protektionismus, hohen Zinsen und Finanz­ierungs­schwierig­keiten. Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt drohe sich wegen des raschen Bevölk­erungs­wachstums, des langsam wachsenden Einkommens und des ungenüg­enden technischen Niveaus in den Entwicklungs­ländern weiter zu vertiefen, warnte der Generalsekretär der Konferenz.

Ziel der Konferenz sei es, die »Weltbevölkerung in möglichst kurzer Zeit, noch vor Ende des Jahrhunderts, zu stabilisieren«. Zu diesem Zweck müßten sich die Konferenzteilnehmer mit der Bevölkerung »als Ganzes« beschäftigen, »als Ressource, als Zwang, als Folgeerscheinung, als entscheidender Faktor sowie als voller Bestandteil des Lebens«. Wenn die Bevölkerung sich stabilisiere, werde es für die Entwicklungsländer weniger schwierig sein, ihren Lebens­standard zu erhöhen.

Die Königin von Jordanien warnte vor den Gefahren einer extremen Bevölkerungs­politik. Die Folgen des enormen Bevölkerungswachstums seien alarmierend. Die Notwendigkeit, dieses Wachstum zu bremsen, könne jedoch bestehende Probleme wie Kindermord, Abtreibung und unfreiwillige Sterilisierung noch verschärfen, sagte die Königin.

Die Welt gebe jährlich umgerechnet über 600 Milliarden Dollar für Waffen und nur zwei Milliarden Dollar für Bevölkerungsprogramme aus. Diese alarmierenden Verzerrungen von Prioritäten verewigten nur den Zyklus von Konflikt und Instabilität.

Der Leiter der bundesdeutschen Delegation sagte, für die Bundesrepublik sei die Bevölk­erungspolitik ein wichtiger Bestandteil der Entwicklungsstrategie. Die Bevölk­erungs­politik sei ein Bereich, der wie kaum ein anderer die Respektierung der nationalen Souveränität fordere. Deshalb sei eine internationale Organisation besonders geeignet, als unparteilicher Helfer auf diesem sensiblen Feld tätig zu werden. Die Bundesrepublik werde daher weiter vorrangig den UN-Bevölk­erungsfonds und die Internationale Familienplanungsföderation unter­stützen. Das globale Bevölkerungs­wachstum bleibe neben der Sicherung des Friedens eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit.

Die erste Weltbevölkerungskonferenz hatte 1974 in Bukarest stattgefunden.

Die Bevölkerung der Erde ist seither von knapp vier Milliarden auf derzeit 4,76 Milliarden gestiegen. Nach Schätzungen der UN wird die Welt­bevölkerung bis zum Jahr 2000 auf etwa 6,13 Milliarden anwachsen. Nach Ansicht vieler Experten könnte diese Entwicklung die Probleme Ernährung und Beschäftigung noch weiter verschärfen und außerdem erhebliche Konse­quenzen für die Umwelt nach sich ziehen. Dagegen sagte der US-Chefdelegierte James Buckley vor Beginn der Konferenz, die Bevölkerungsentwicklung müsse nicht notwendigerweise zu einer Weltkrise werden. Eine expandierende Wirtschaft könne auch mit einem größeren Bevölk­erungswachstum fertig werden.

   wikipedia  James_L._Buckley *1923 in NYC bis 2023 (100)

Der indische Gesundheitsminister verurteilte, daß der Rüstungswettlauf die not­wendigen Mittel verbrauche, die für die Entwicklung benötigt würden. Ab­rüst­ung und Entwicklung seien eindeutig miteinander verbunden. Er verneinte, daß in seinem Land jemals zwangsweise Sterilisationen vorgenommen worden seien.

Papst Johannes Paul II. verurteilte in einer Botschaft an die Konferenz alle Aktivitäten von Regierungen und öffentlichen Institutionen, die in irgendeiner Weise die Freiheit der Ehepaare beschneiden wollten.

Deshalb müsse jede Gewalt, die von ihnen zugunsten von Empfängnisverhütung und – schlimmer noch – Steril­isierung oder Abtreibung ausgeübt werde, verurteilt und entschieden zurück­gewiesen werden. Er äußerte sich besorgt über die negativen Auswirk­ungen der Empfängnis­verhüt­ungs­programme. Sie hätten die »sexuelle Freizügig­keit« erhöht und eine unver­antwortliche Lebensführung mit erheblichen Konsequenzen für die Erziehung der Jugend und die Würde der Frau mit sich gebracht.

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Der chinesische Delegierte wies auf das seit 1979 in seinem Land angelaufene Programm »ein Paar, ein Kind« hin. Dieses Motto heiße aber nicht, daß in jedem Fall nur ein Kind erlaubt sei. Die chinesische Politik sei darauf ausgerichtet, die Eigeninitiative der Menschen zu unterstützen. Sein Land habe sich zum Ziel gesetzt, am Ende dieses Jahrhunderts 1,2 Milliarden Einwohner zu haben. Die Zuwachsrate der Bevölkerung sei von 2,1 im Jahr 1973 auf 1,2 im vergangenen Jahr gesenkt und das Lebenshaltungsniveau verbessert worden.

Der Gesundheitsminister von Bangladesh meinte, die Erfahrungen vieler Ent­wick­lungs­länder zeigten, daß auf kurze Sicht gesehen die Familien­planungs­programme den größten Einfluß auf die Senkung der Geburten hätten. Die Bevölkerungskontrolle müsse auf längere Zeit höchste Priorität haben.

  wikipedia  Weltbank

Am zweiten Konferenztag der Weltbevölkerungskonferenz in Mexiko-Stadt haben die Delegierten aus rund 150 Nationen vom Weltbankpräsidenten die Versicherung erhalten, die Weltbank werde in den nächsten Jahren ihre Ausgaben für Bevölkerungs­planung und verwandte Gesundheitsprogramme mindestens verdoppeln.

Gemessen an der geringen Ausgabenbasis von nur 500 Millionen Dollar während der letzten vierzehn Jahre ist eine Verdoppelung auf eine Milliarde Dollar zwar nicht sehr viel; da aber die Gesamtausgaben für Bevölkerungs- und Familien­planung weltweit zur Zeit nicht mehr als zwei Milliarden Dollar jährlich ausmachen und nur zwei Prozent der Entwicklungshilfe oder 500 Millionen Dollar pro Jahr für Bevölkerungsprogramme ausgegeben werden, kommt der geplanten Mittelaufstockung der Weltbank doch eine erhebliche Bedeutung zu.

Sollten die westlichen Geberländer und andere Hilfsorganisationen sich dazu entschließen, die Mittel für Familienplanung und Gesundheitsprogramme bis zum Ende des Jahrhunderts zu vervierfachen und real auf zwei Milliarden Dollar jähr­lich aufzustocken, so könnte nach Ansicht der Weltbank ein rapider Rückgang der Fruchtbarkeit erzielt und die Bevölkerung der Entwicklungs­länder bis Mitte des nächsten Jahrhunderts [2050] auf 6,5 statt auf 7,6 Milliarden Menschen stabilisiert werden.

Ohne die Vereinigten Staaten und deren kontroverse und veraltete Wachstums­überzeugungen aufgreifende Konferenzposition beim Namen zu nennen, sagte er, daß die Hervorhebung der wirtschaftlichen Entwicklung und der freien Marktkräfte als wirksamste Bremse für die Bevölkerungsexplosion die Ent­wicklung der letzten zehn Jahre seit der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest übersehe und »falsche und völlig überholte Gegensätze« in die Diskussion bringe. »Eine rasche Verminderung des Bevölkerungswachstums und eine rasche Ver­besserung des Lebensstandards verlangen eine Kombination von wirt­schaft­licher und sozialer Entwicklung und Familien­planung.«

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Warnungen 1974

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Die Berichte von der Weltbevölkerungskonferenz rufen die Warnungen von damals in Erinnerung, als die Gruppe Ökologie viel kirchlichen Widerspruch für diese Feststellungen geerntet hat:

»Der Mensch ist ein Teil der Natur, von der er lebt. Der Mensch kann nicht gegen die Natur leben, er muß sich ihr anpassen, wie alle anderen Lebewesen auch. Der Mensch kann sich allerdings als einziges Lebewesen selber ausrotten – und zwar durch seine massenhafte Vermehrung. Die Schätze der Erde haben ihre Grenzen erreicht, der Tag ist abzusehen, an dem der Erdboden die Menschen nicht mehr ernähren kann, die Rohstoffe zu Ende gehen und die Fruchtbarkeit des Bodens nachläßt. Die Natur läßt sich nicht vergewaltigen.

Wer die Übervölkerung weiterhin fördert, bringt uns dem gemeinsamen Selbst­mord näher. Hunger, Elend, Haß und Gewalt sind die Folgen der Übervölkerung. Massen­vermehrung erzeugt Massenelend und oft genug Massenvernichtung! Fortschritt und Technologie sind nicht mächtig genug, dies abzuwenden. Wenn wir uns retten wollen, dann müssen wir die Natur für den Menschen vor dem Menschen schützen.

In Sorge um die allernächste Zukunft hält es die Gruppe Ökologie daher für nötig, daß überall auf der Welt Überlebens­strategien entwickelt werden, nach denen das Bevölk­erungs­wachstum rasch und weltweit eingedämmt wird. Auch der Ideologie, daß nur das wirtschaftliche Wachstum die Zukunft sichere, muß ein Ende bereitet werden. Die ökonomischen Ziele des Menschen müssen sich nach den Grenzen der Natur richten.«

 detopia-2023: Gruppe-Ökologie-Bayern-70er-Jahre : postwachstum.de/h-c-binswanger-und-sein-engagement-im-bund-20180305

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Warnungen 1964

 

Es ist gelegentlich gut, in alten Akten und Büchern zu kramen, um seine damaligen Sorgen kritisch am Zeitablauf zu messen. Manch einmal freilich überfällt dann Resignation den Leser, weil alles, alles längst gesagt und vorausgefürchtet war:

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»In der unmäßigen Bevölkerungsentwicklung liegt der Schlüssel des meisten Unheils dieser Erde: Krieg, Haß, Neid und Mißgunst der Völker, gründen sie nicht vielfach im Kampf um den unver-mehrbaren Lebens­raum, im Ringen nach der Existenzgrundlage?

Die Verkomplizierung aller Umweltbedingungen und der Lebens­verhältnisse, die zunehmende Verknappung oder Störung der natürlichen Hilfsquellen, wie wir sie aufgezeigt haben, warum sind sie eingetreten? Warum wußte man noch nichts von solchen Nöten, als wir noch weniger Mitmenschen hatten? Warum gibt es in dünnbesiedelten Ländern kaum Sorgen des Naturschutzes im weitesten Sinn?

Die Antwort ist klar: Unsere Art ist >ausgebrochen<; sie quillt über die Grenzen eines zumutbaren und gesunden Lebensraumes hinaus; das Individuum aber gerät in die Mühle der Massenvermehrung und geht unter.

Die Masse aber explodiert weiter und mit vielleicht schrecklicheren Folgen als die gefürchtete Kette von Wasserstoffbomben!

Das sieht in der Praxis ungefähr so aus:

Es leben 1965 auf dieser Erde etwa 3,3 Milliarden Menschen, die sich alljährlich um weitere 65 Millionen vermehren; in fünfzehn Jahren werden es 4,5 Milliarden sein, und um das Jahr 2000, also recht bald schon, wird sich diese Zahl verdoppelt haben, und es vegetieren dann über 6 Milliarden Individuen unserer Art auf dieser Erde; dabei ist aber sogar schon ein leichter Rückgang der Fruchtbarkeitsquote eingerechnet, sonst würden nämlich, gemessen an der heutigen Zunahme, etwa 7,5 Milliarden Menschen auf unserer Erde leben wollen.

Alle bisherigen Berechnungen dieser Art haben sich übrigens nicht nur erfüllt, sondern es zeichnet sich stets ein leider unerwartet schnelleres Wachstum ab!

Alle diese Milliarden von Menschen werden aber den verständlichen Wunsch haben, zu >leben<, sie wollen einen höheren Lebensstandard, den sie aber nicht erreichen können, weil die >Mutter Erde< dann längst zu Tode gequält und ausgebeutet sein wird.

Eine tragische Erkenntnis, der wir indes unerbittlich entgegensehen müssen!

Manche, die sich für besonders fortschrittlich halten, sagen: Wozu sollen wir uns Sorgen darüber machen, ob unsere Erde doppelt oder gar dreimal so viele Menschen ernähren könnte oder ob bis dahin noch mehr Menschen als heutzutage (das sind immerhin bereits die Hälfte!) Hunger leiden?

Die FAO sieht die Zukunft der Welternährung als äußerst beängstigend an und meint, daß Sattwerden und Hungern in der Welt so unteilbar wird wie der Friede. Man würde Mittel und Wege finden, und Wissenschaft und Forschung werden neue künstliche Nahrungsquellen erschließen, sie werden die Meere nutzbar machen und eines Tages die Wüsten bewässern.

Aber ... die Umwelt, die wird fürchterlich werden, und wir können uns das künstliche Leben der Zukunft gar nicht grauenhaft und häßlich genug vorstellen!

Tagtäglich fast 200.000 Menschen mehr auf dieser Erde! Das entspricht der Bevölkerung einer Großstadt, das sind dreihundertfünfundsechzig Großstädte alljährlich mehr, das sind in jeder Sekunde etwa 5 Menschen, die mehr hinzukommen, als sterben!

Sehen wir uns doch einmal im Bereich der übrigen Natur um: Ist es denn nicht so, daß irgendeine Art immer dann zum >Schädling< wird, wenn sie >ausbricht<, sich übervermehrt und ihre eigene Existenz­grundlage vernichtet? Müssen wir erst warten, bis dieser biologische Zusammenbruche bei unserer Art, dem homo sapiens, eintritt, oder muß er gewaltsam durch alles vernichtende Kriege heraufbeschworen werden?

Wir reden in der Naturwissenschaft heute viel von biologischer >Schädlings­bekämpfung< und setzen Parasiten zum Kampf gegen den sich überver­mehrenden Schädling ein. Beim homo sapiens sollte indes die ihm eigene Ratio zum rettenden Parasit dieser Art werden? Aber eigenartig – wenn es um das Produkt der Liebe geht, läßt die menschliche Vernunft offenbar vielfach aus!

So kann es aber nicht weitergehen, wir müssen endlich die Scheuklappen abwerfen und für eine weltweite Beschränkung der Zuwachsrate unserer Art Reklame machen! Das ist zunächst dort am nötigsten, wo in Unverstand und aus mangelnder Einsicht die Vermehrungslawine am stärksten rollt.

Scheint es nicht geradezu erforderlich, in jedes unterentwickelte Land vor der ersten Lieferung irgendeiner Entwicklungshilfe Aufklärungsaktionen über die ausweglose Bevölkerungs­situation und über die Gefahr der Überbevölkerung zu starten? Sonst hält die >Entwicklung< keineswegs mit der Vermehrung der sich Entwickelnden Schritt! Erst dann kann der >Wettlauf mit der Hunger-Lawine< gewonnen werden!«

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d-2017: Die Quelle des Textes 1964 ist vermutlich die 'Gruppe Ökologie'.
Nur die Veröffent­lich­ungsart ist mir unklar. Aber es gilt weiter von oben: "viel kirchlicher Widerspruch".

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Ein Briefwechsel 1984

 

Die Warnungen von 1964, 1974 – sie sind 1984 längst Wirklichkeit geworden: Der Wettlauf zwischen Menschenlawine, Baumsterben und Bodensiechtum ist in die Schlußphase geraten.

Und die Prioritäten sind klargelegt: auch wenn sechs Milliarden Ebenbilder Gottes den Planeten zertrampeln, hat jeder einzelne Vorrang vor dem letzten Nashorn, dem letzten Sonnenröschen und vor dem letzten Lied eines Rotkehlchens.

Und wenn gar die Bevölkerung unseres überdicht besiedelten Landes ein klein wenig rückläufig ist, kommt es zu solch einem Briefwechsel:


Seite 174 bis 178

Der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)

an den Bundes­familien­minister:

- wikipedia  Heiner_Geißler  1930-2017, BFM: 1982-1985 - Brief 1984 von Hubert Weinzierl an Heiner Geißler

 

»In Ihrer Eigenschaft als Bundesminister für Familienangelegenheiten haben Sie in letzter Zeit mehrmals auf die Ihrer Meinung nach zu niedrige Reprod­ukt­ions­rate der bundesdeutschen Bevölkerung hingewiesen.

Wie selbst­verständlich und richtig die Forderung nach mehr Kindern in deutschen Wiegen einem großen Teil unseres Volkes auch immer erscheinen mag, es gibt bisher wenig beachtete, dafür aber um so gewichtigere Aspekte der bundes­deutschen Bevölkerungsdynamik bezüglich des Umweltproblems, denen zufolge ein solches Verlangen nicht unwidersprochen bleiben darf.

In der Bundesrepublik Deutschland leben heute etwa 62 Millionen Menschen auf einer Fläche von knapp 250.000 Quadratkilometer. Im statistischen Mittel sind das 248 je Quadratkilometer. Vor Beginn der industriellen Revolution, um 1770 also, ehe wir lernten, unsere Arbeitskräfte mittels technischer Energie großmaßstäblich zu potenzieren, lag die Einwohnerdichte bei 40 je Quadratkilometer.

Diese Zahlen sind selbstverständlich hinreichend bekannt. Was jedoch kaum so recht erkannt oder gar anerkannt wird, ist, daß die heutige Bundesrepublik und mit ihr alle Industrienationen seitdem eine Bevölkerungs­explosion erlebt haben, welche alles in den Schatten stellt, worüber wir uns in diesen Tagen hinsichtlich der sogenannten Dritten Welt so erregen.

Diese Bevölkerungsexplosion blieb für uns vorerst scheinbar ohne nachteilige Folgen, da wir in wachsendem Umfang extraterritoriale Systeme zur Abdeckung unserer Bedarfsdefizite herangezogen haben. Man könnte, ohne zu dramatisieren, auch von Ausbeutung sprechen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist also de facto um vieles größer, als die Atlanten es ausweisen; wir sind exportabhängig, und diese gegenseitige Abhängigkeit impliziert eine aufwendige Technik für die zusätzliche industrielle Fertigung der nötigen (oft auch unnötigen) Tauschgüter mit allen ökologischen Folgelasten für das eigene Land und für die Drittländer, deren Ressourcen wir importieren.

Wir sind unser also zu viele geworden.

Wir müssen uns, um überhaupt existieren zu können, wie ein übergewichtiger Kranker auf andere, oft schwächere stützen. Das Produkt von Dichte, persönlichem Anspruch und ökologischen Folgen lastet schwer auf unserem Land.

Die Grenze der Dauertragfähigkeit der natürlichen oder wenigstens natur­nahen Systeme, der unabdingbaren Lebensgrundlagen eines Volkes, ist seit Jahrzehnten überschritten, deren zeitlich begrenzte Elastizität ausgeschöpft.

Die zehn- bis fünfzehnfache Überbeanspruchung unseres Lebens­raumes ist beweisbar bzw. artenspezifisch bereits hinter uns gelassen. Aber: Der Anspruch stagniert, die Zahl nimmt ab.

Die der deutschstämmigen Bevölkerung ist schon dramatisch, deren Geburtenzahl ist fast auf die Hälfte der Erhaltungsrate abgesunken. Ein Hoffnungsschimmer? Oder sterbendes Volk?

Sie, Herr Bundesminister sehen eher letzteres: <Die Deutschen sind nicht mehr kinderfreundlich> stellen Sie fest.

Und Ihr Kabinettskollege wirft gar die Frage auf: <Wer soll denn schlußendlich unsere Renten finanzieren?> Kinderliebe treibt oft seltsame Blüten.

<Die Jungen zahlen für die Alten die Rente!> Diese These ist zwar falsch und wird auch durch häufige Wiederholung nicht richtiger, aber irgendjemand hat das irgendwann einmal gesagt, und seitdem plappert es jeder nach. Tatsache ist dagegen, daß einer der wichtigsten Parameter für die Renten­sicherung durch das Verhältnis von arbeitsfähiger zu versorgungsabhängiger Bevölkerung wiedergegeben wird. Der Rest ist ein lösbares Organisations­problem.

Dem setzen die Apologeten des Renten-Babybooms angsterregende Tabellen entgegen, welche die wachsende Zahl der Rentenempfänger aufzeigen, die im Laufe der nächsten 50 Jahre jeweils 100 Erwerbstätigen gegenüberstehen werden – unterstützt durch Schaubilder von demagogischer Raffinesse.

Kein Zweifel – die Zahlen stimmen. Aber sie sind nur die Hälfte der Wahrheit. Die verschwiegene andere Hälfte ist, daß die Entlastung auf der >Kinder­seite< der Alterspyramide noch viel erheblicher zu Buche schlägt. Genauere Untersuchungen zeigen, wie auch ein weit unter die Erhaltungsrate reichendes Geburtendefizit die Renten auf Jahrzehnte hinaus wesentlich besser zu sichern vermag als ein Geburtenüberschuß. Der Rentenschreck entpuppt sich, zumindest bezüglich unserer derzeitigen Reproduktionsrate, als Papiertiger.

Bleibt noch das Verteidigungsargument:

Große Zahl = Stärke. Vor dem Hintergrund der notwendig differenzierten und gegen äußere Eingriffe empfindlichen Infrastruktur eines übervölkerten Industrielandes erscheint ein auf große Zahl bauendes Verteidigungskonzept ohnehin fragwürdig, vom zynisch-törichten Abwägen von >Menschenmassen< einmal abgesehen.

Die latente Gefahr politischer Kurzschlußhandlungen ist immer noch vergleichsweise klein, gemessen an den realen Folgen eines permanenten Bürgerkrieges gegen die Natur. Hier steht uns der Feind nicht frontal gegenüber, er ist hinter uns und um uns, kommt aus Kaminen und Kloaken, aus Abfalldeponien und Auspuffrohren.

Zurück zur Alternative, zum Hoffnungsschimmer: Zurück also zur sich mindernden Zahl als Voraussetzung zu größeren Freiräumen (für den einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes), als Befreiung von selbst­verschuldeten Sachzwängen, als Entlastung der verbliebenen, geschwächten Natur vom zermalmenden Druck einer viel zu dicht gepackten technischen Zivilisation.

Der wesentliche Aspekt der Ökologie ist und bleibt der biologische. Die lebendige Natur muß erhalten bleiben als unabdingbare Grundlage unserer eigenen Existenz. Wenn – von Menschen verursacht – biologische Arten ausfallen, haben wir etwas falsch gemacht. Weil die Sache immer wieder aufgewärmt wird: Ein Vergleich der anthropogenen Ausrottung von Arten mit dem natürlichen Absterben ist allein aufgrund des Umfangs wie auch des Zeitmaßstabes unzulässig. Jeder Bürger, ob jung oder alt, trägt gewollt oder ungewollt bei zur Belastung der natürlichen Umwelt, eingebunden – richtiger: eingeschnürt – in ein technisch-zivilisatorisches System, aus welchem es kein Entrinnen zu geben scheint. Diese Belastung wächst sogar überproportional zur Wohndichte, nachdem uns eine hochgezüchtete Technik ermöglicht hat, gegenüber wild lebenden Säugetieren vergleichbarer Größe eine etwa 100fache Biomasse zu akkumulieren. Der Verdrängungseffekt auf nichtmenschliche Arten wird potenziert durch die schiere Zahl.

Es ist eine Illusion zu glauben, den derzeitigen Lebens­standard allein durch technischen Umweltschutz und ein wenig Energie­sparen auch nur annähernd aufrechterhalten zu können, ohne die dritte Dimension der Umwelt­belastung, nämlich die Zahl der Menschen, zu berück­sichtigen. Dem Politiker, dem Ingenieur wie dem Ökonomen stellt sich somit folgende Frage: <Welcher gesellschaftspolitisch vorgegebene Lebensstandard (als statistischer Mittelwert!) kann in einem natürlichen System für welche Zahl bei jenen Minima an Energiefreisetzung, Materiedurchsatz und Entropie­zunahme realisiert werden, welche die Einhaltung der kritischen Belastungs­grenzen, d.h. die Vermeidung anthropogener Ausfälle von Arten und destruktiver Ressourcen­nutzung, garantieren?>

Nicht der Wille des Menschen ist hier maßgebend, sondern die natürlichen Rand­bedingungen des von ihm bewohnten Lebensraumes.

Der ökologische Kompromiß verlangt die Entscheidung zwischen höherer Dichte oder höherem Anspruch. Eines schließt das andere zwangsläufig aus.

Der mit Emotionen schwer befrachtete Komplex drängt aber nach einer möglichst raschen und gründlichen Lösung mit allen einem Rechtsstaat zu Gebote stehenden Mitteln.

Sie beklagen zu Recht die schwindende Bedeutung der Familie. Die ohnehin instabile Kleinfamilie wird durch äußere Einflüsse noch weiter gefährdet. Eine Wieder­belebung gewisser traditioneller Werte ist zweifellos ein politischer Ansatz, der volle Unterstützung verdient. Es erscheint uns allerdings fraglich, ob diese vielbeschworenen <alten> Qualitäten zwischen Hochhausblöcken, Autohalden, Diskotheken, Verkehrskreiseln und Startbahnen einen geeigneten Nährboden finden können.

Aber auch eine in 20 Millionen Kleingärten parzellierte, mit Hypothekenschlößchen bepflasterte Bundesrepublik dürfte hier kein geeigneter Lösungsweg sein.

Noch ein Wort zur Ausländerpolitik.

Die Bundesrepublik ist – allen Beschwörungsformeln zum Trotz – zumindest aus ökologischen Gründen als Einwanderungsland ungeeignet. Wenn man – aus welchen Motiven heraus immer – anderen Regierungen erlaubt, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ihrer Heimatländer nach Mitteleuropa zu exportieren oder sie gar dazu animiert, so müssen sich die betroffenen Bürger der Industrieländer wohl fragen, wohin sie selbst eines Tages ihre durch die leichtfertig vergrößerte Zahl noch höher angestauten ökologischen Probleme werden exportieren können.

Versuchen wir also den Menschen dort zu helfen, wo sie ihren Lebens­mittel­punkt haben; versuchen wir es – solange wir noch dazu in der Lage sind. Wir sind nicht reich, wir haben nur viel Geld und Industrieplunder – was nicht dasselbe ist.

Der Trend der Bevölkerungsentwicklung wäre somit durchaus in Ordnung. Zumindest für die nächsten vier bis fünf Generationen.

Begrüßen wir also die Entwicklung als Glücksfall; hätten wir sie nicht, könnte in nicht zu ferner Zukunft die politische Gangart härter werden, wären Bürgerrechte in Gefahr. Naturgesetze lassen sich nicht novellieren; hier endet der demokratische Sektor.

Dürfen wir Sie bitten, unsere Argumente zu beachten und mit uns zu diskutieren. Die heute noch 250 Einwohner pro Quadratkilometer sind kein auf Biegen oder Brechen zu erfüllendes Plansoll.

Zwischen dem Zimmern von Wiegen und der Zerstörung der Wälder besteht ein enger Zusammenhang!«

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Der Bundesfamilienminister an den Vorsitzenden des BUND

Antwortbrief 1984 von Heiner Geißler an Hubert Weinzierl

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»Grundsätzlich ist Ihnen zuzustimmen, daß dem Problem der Bevölkerungs­entwicklung größere Aufmerksamkeit geschenkt werden muß.

Das aber nicht deshalb, weil die ständig sinkende Geburtenrate uns vor äußerst schwierige Anpassungs­probleme stellt, ja sogar die Gefährdung der Tragfähigkeit bisheriger Aufgaben- und Lastenverteilung in unserer Gesell­schaft zu befürchten ist.

Nach dem ersten Teil des Berichts über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist mit einer sinkenden Bevölkerungszahl zu rechnen.

Es gibt auch keine Hinweise darauf, daß bei einer nicht wachsenden Bevölkerung Probleme der Ökologie und der Bevölkerungsdichte nicht bewältigt werden könnten.

Unser Land braucht nicht weniger Menschen, sondern mehr Initiative, Ideen und Mut, die sich für die Zukunft stellenden Aufgaben anzupacken.

Die sich im Bevölkerungsrückgang ausdrückende resignative bis pessimistische Grundstimmung ist ein Grund für die zu beobachtende Investitionsschwäche unserer Wirtschaft.

Es ist nachgewiesen, daß eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl auch wirt­schafts­politisch eine kontinuierliche Entwicklung erleichtert.

Auch wenn für die Sicherung unserer Renten noch andere Faktoren von Bedeutung sind, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß eine sinkende Zahl von Geburten dazu führt, daß in der nächsten Generation eine geringere Zahl von Erwerbstätigen für eine höhere Zahl von Rentnern die erforderlichen Mittel für ihre Alterssicherung erwirtschaften muß.

Generell geht die Bundesregierung davon aus, daß es in der Entscheidung von Vätern und Müttern liegt, wie viele Kinder sie haben wollen.

Die Entscheidungen der Eltern für oder gegen ein Kind oder weitere Kinder unterliegen aber auch gesellschaftlichen Einflüssen, zu denen insbesondere die Rahmenbedingungen für Kinder und Familien in unserem Land zu rechnen sind.

Da die statistisch erhobenen Zahlen nach den Kinderwünschen der Paare nach wie vor höher liegen als die Zahl der geborenen Kinder, ist davon auszugehen, daß eine Verbesserung der familienpolitischen Maß­nahmen auch zu einer besseren Verwirklichbarkeit vorhandener Kinder­wünsche führen kann.

Es geht also nicht darum, Menschen gegen ihren Willen zu beeinflussen, Kinder zu bekommen, sondern darum, Ehepaaren die Verwirklichung ihrer Kinderwünsche besser zu ermöglichen.

Schließlich ist die Entwicklung unserer Bevölkerung auch ein internationales Problem: Nur bei einer nicht sinkenden Bevölkerungszahl können wir unserer Verant­wortung für eine Entwicklung der Länder der Dritten Welt auch auf Zukunft gerecht werden.

Der Dritte Familienbericht der Bundesregierung von 1979 weist zudem darauf hin, daß die demographische Entwicklung Europas, die zur Bevölk­erungs­abnahme oder zur Stabilisierung der Bevölkerungszahl tendiert, wegen der damit verstärkt zu erwartenden Wanderungs­bewegungen europ­äische Lösungen notwendig macht.

Die Bundesregierung sieht sich bei den angesprochenen Problemen nicht zwang­haft wirkenden Naturgesetzen gegenüber, sondern begreift eine gleichmäßige Entwicklung der Bevölkerung als Chance und Aufgabe für die Zukunft.

Jeder Vater und jede Mutter, die den Wunsch haben, ein Kind zu bekommen, sollen auch in Zukunft durch die Politik daran nicht gehindert, sondern darin bestärkt werden

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Hubert Weinzierl - Passiert ist gar nichts - Eine deutsche Umweltbilanz - 1985