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Vorwort von Richard Kaufmann
Stuttgart 1970

(ähnlich  Reiwald-1950 zu Osborn-1948  +  Mehnert-1973 zu Commoner-1971  )

9-16

Daß der Mensch seine Umwelt gründlich zerstören und aus fruchtbaren Landschaften Wüsten machen kann, ist nicht neu. Die Ebene des Guadalquivir in Spanien gehörte einmal zu den Kornkammern des Römischen Reiches. Noch heute kann man in den Fluß eingebaut, römische Getreidemühlen entdecken; das Land selbst ist verwüstet.    wikipedia  Guadalquivir Andalusien, Südspanien

Der istrische Karst am Nordoststrand der Adria war in der Antike berühmt wegen seiner Eichen - doch der venezianische Flottenbau und die Glasöfen von Murano fraßen die Wälder, das Land »verkarstete«. Libysche Wüste, Lüneburger Heide, der französische Midi, weite Flächen Argentiniens, das Zweistromland - alle legen Zeugnis ab von einer spezifisch menschlichen Qualität: Aus der ausgewogenen Ökologie, dem natürlichen Haushalt von Baum, Strauch, Kräutern, großen und kleinen Tieren, die miteinander und voneinander leben, kann er vorübergehend »Kulturland« machen, das aber dann - weil die Bauern abziehen oder der Boden ausgeplündert wurde - in den Zustand eines trostlosen Scheindaseins versinkt, versteppt und, wenn sich die Natur nicht selbst hilft, schließlich zur Wüste wird.

Alle diese Landschaften fielen ihrem Schicksal nicht über Nacht anheim. Der Prozeß dauerte Jahrhunderte, oft ein halbes oder ganzes Jahrtausend. Fast unmerklich veränderten sich die äußeren Verhältnisse. Wasser wurde knapp, Brunnen mußten tiefer gegraben werden, Wiesen und Weinberge verdorrten, weil der Grundwasserspiegel sank. Ziegenherden vernichteten die Wälder, die letzten Bollwerke der Natur gegen die Austrocknung - doch die Ziegen waren schon das Produkt einer allgemeinen Verarmung, sie standen meist nicht am Anfang, sondern am Ende der Entwicklung.

Geschichten dieser Art hatten bis vor wenigen Jahrzehnten rein historischen Wert. Land war verwüstet und für immer unbrauchbar gemacht worden, doch es war aus Dummheit geschehen: Die Menschen, die daran schuld waren, hatten es nicht besser gewußt. Aber wir leben im Zeitalter der Wissenschaft, und wenn Wissenschaft überhaupt einen Sinn hat, dann doch wohl den, uns vor der Wiederholung solcher Dummheiten zu schützen. Wer einen Blick über die Entwicklung der letzten fünfundzwanzig Jahre wirft, wird diesen Optimismus nicht unbedingt teilen.

Niemand weiß, wann genau jener Punkt erreicht wurde, an dem sich die moderne Öffentlichkeit zum erstenmal bewußt wurde, daß unserer Umwelt eine neuartige Gefahr droht, ausgerechnet von der Anwendung jener Wissenschaften, auf die wir bisher so stolz waren.

Don Widener, der Verfasser dieses Buches, beginnt seinen Bericht mit der Geschichte des DDT, eines insektentötenden Pflanzen­schutzmittels, für das 1948 ein Nobelpreis verliehen wurde. Heute ist der Gebrauch von DDT in vielen westlichen Ländern ganz oder teilweise untersagt, doch es ist fraglich - Widener legt es an Beispielen dar -, ob damit die weltweite Gefahr, die von dem Mittel ausgeht, tatsächlich gebannt wurde. Als Exempel für die selbstzerstörerischen Kräfte der Wissenschaft steht DDT jedenfalls mit Recht am Anfang seines Buches.

Es wäre angenehm, könnte man berichten, daß nach dieser bitteren Erfahrung, wenn auch vielleicht erst in letzter Sekunde, der Vernunft eine Gasse geschlagen wurde; daß Politiker, Wissenschaftler, Industrielle und Verbraucher, diese vier Säulen der modernen Gesellschaft, gemeinsam in sich gingen und einen feierlichen Schwur taten, nie wieder eine solche Torheit zu begehen.

Es ist möglich, daß solche Schwüre abgelegt wurden von Menschen, die ernsthaft daran glaubten. Doch man muß an ihrer Wirksamkeit zweifeln. Denn was Widener in diesem Buch vorlegt, sind Beispiele aus der Praxis des modernen Lebens, die ihre eigene Sprache sprechen. Ganz gleich, ob er von Pflanzenschutzmitteln, Automobilabgasen, Smog, dem Untergang ganzer Tierarten, der Verunreinigung des Trinkwassers oder der Vernichtung von Naturschutzgebieten durch Grundstückhaie berichtet - in jedem Fall rührt er an jene neuartigen Tabus der Industriegesellschaft, die längst an die Stelle älterer Tabus getreten sind.

10/11

Wird die Verwendung von Herbiziden, Insektiziden, Pestiziden, Akariziden und Fungiziden, kurz Pflanzenschutzmittel genannt, in Frage gestellt, löst dies mit Sicherheit eine Lawine von Protesten aus: Geben wir die Mittel auf, dann bedeutet dies Rückkehr zu einer älteren Bauernkultur, mehr körperliche Arbeit, weniger Verdienst und weniger Spitzensorten, Verzicht auf die als notwendig erachtete Urbanisierung des Bauernstandes, auf die Angleichung des Lebens auf dem Land - oder auf dem Hof - an das Leben in der Stadt.

Man braucht keine besonders ausschweifende Phantasie zu haben, um sich zu sagen, daß kein Parlament der Welt einer derart rückläufigen Entwicklung zustimmen wird, kein Fachverband und auch keine der großen Industrien. Lediglich eine weltweite Katastrophe könnte einen solchen Umschwung herbeiführen. Doch dann käme er wahrscheinlich auch schon zu spät.

Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach der Notwendigkeit der Automobile und nach einer nüchternen Gewinn-Kostenrechnung, diese Fahrzeuge betreffend. Kein Zweifel, die älteren von uns können sich eine Zeit ohne Automobil - zumindest in Europa - noch lebhaft vorstellen; sie wissen auch, daß schon damals gelebt, möglicherweise sogar etwas ruhiger gelebt wurde als heute. Doch inzwischen haben sich die Automobile, wie es scheint, zu autonomen Geschöpfen entwickelt, die über eigene Lobbys und Lebensgesetze verfügen.

In mindestens fünf Ländern unserer Erde (Amerika, Japan, Deutschland, Italien und Frankreich, von Großbritannien ganz zu schweigen) hängen Staatseinnahmen und allgemeiner Wohlstand so eng mit dem Bau und Export dieser Vehikel zusammen, daß eine soziale Revolution erster Ordnung entstünde, wollte man die Produktivität der Werke nur auf den Stand von, sagen wir, 1950 zurückschneiden und dabei Autotypen den Vorzug geben, die mit einem Minimum von Benzin gerade noch ihrer eigentlichen Pflicht, Menschen zu transportieren, genügen.

11/12

Nicht einmal die Gewerkschaften würden diesen Eingriff in den Zustand der gegenwärtigen Wirtschaft dulden, so wenig wie die Facharbeiter, Ingenieure, Zulieferfirmen und die großen Bosse der weltbekannten Werke. Bleiben aber die gegenwärtigen Zuwachsraten bestehen, wird der Wettkampf mit immer größeren und stärkeren Modellen fortgeführt, dann ... doch dies lese man in Wideners Darstellung kalifornischer Verhältnisse. Er ist selbst Kalifornier, weiß also Bescheid.

Man kann solche Analysen fortführen. Das Müllproblem bietet sehr interessante Aspekte, vor allem wenn man an den wachsenden Anteil des unzerstörbaren Kunststoffmülls denkt und fragt, wie die Müllplätze eines kleinen Landes (Deutschland) 1980 oder gar 1990 aussehen werden, wenn immer mehr Kunststoff auf unzureichenden Plätzen deponiert wird. Ganz ähnliche Rechnungen lassen sich über die Zunahme des Ölverbrauchs aufstellen, über die damit verbundene Verschmutzung von Lufträumen und Ozeanen oder über die Frage, woher, bei steigenden Bevölkerungszahlen und Zunahme des Pro-Kopf-Verbrauchs, die notwendigen Reserven von Trinkwasser in zehn oder zwanzig Jahren genommen werden sollen. Dabei bedeutet Zunahme des Wasserverbrauchs automatisch Zunahme der industriellen und privaten Abwässer, die »irgendwohin« in die Natur entlassen werden; und das heißt wiederum Zunahme der Verschmutzung von Seen, Flüssen und Ozeanen. Die Tatsache, daß die USA zur Reinigung des Eriesees heute bereits 60 Milliarden Mark aufwenden müßten, klingt nicht ermutigend. Doch sie ist, aufs Ganze gesehen, nur ein Problem unter tausend anderen.

Einige Leser werden vielleicht fragen, was uns die Sorgen der Amerikaner - von den Ratten in Texarkana bis zu den Spatzen von Cape Sables - überhaupt angehen? Ob es nicht klüger wäre, eine derartige Rechnung über die ökologischen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland aufzumachen. Dies ist ein triftiger Einwand, der bedacht sein will.

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Es gibt darauf zwei Antworten: Erstens schildert der Autor Vorgänge, die nicht an spezifische Landschaften gebunden sind, sondern an »spezifische Entwicklungsphasen innerhalb hochtechnischer Zivilisationen« - was einschließt, daß zahlreiche Züge der amerikanischen Technikkultur bereits auf unsere Landschaft zutreffen. Zweitens wissen wir, daß von der Startautomatik und dem Starmix bis zur Studentenrevolution alle Errungen­schaften Nordamerikas mit einem Verzug von drei bis sieben Jahren bei uns einzutreffen pflegen, so sicher wie die jährliche Gasrechnung, um eine Metapher Don Wideners zu benutzen. Wir haben also den Höhepunkt der ökologischen Krise vielleicht noch nicht erreicht - doch wir werden ihn erleben, so wie ihn die Amerikaner im Eriebecken, in Kalifornien und Florida bereits jetzt erleben müssen.

Dies alles sollte uns zu denken geben. Wir haben vielleicht noch eine kurze Spanne Zeit, um uns auf das zu rüsten, was heute schon Millionen Kalifornier durchmachen. Wir scheinen uns, einer deutschen Tradition folgend, derart darauf zu rüsten, daß möglichst viele Ministerien gleichzeitig möglichst viele sich überschneidende Gesetze erlassen. Ein Fieber der ökologischen Rechtschaffenheit hat die Verantwortlichen gepackt, Professoren, die noch vor wenigen Jahren ganz anderer Meinung waren, predigen jetzt offen gegen den Mißbrauch — von was? Das ist die unbeantwortete Frage. Wollen wir ärmer werden, weniger schnelle und schöne Autos fahren, länger und härter arbeiten, bescheidener im Konsum werden, nicht mehr auf steigende Grundstückspreise spekulieren, keine Villenkolonien mehr ins offene Land setzen? Wollen wir, mit einem Wort, durch freiwillige, persönliche Opfer versuchen, wenigstens die ärgsten Schäden, die bei uns schon angerichtet wurden, abzuschaffen, oder gar verhindern, daß noch schlimmere Schäden geschehen?

Dies setzte eine private, von unten kommende Bereitschaft zum Konsumverzicht voraus, auf die auch die größten Optimisten nicht zu hoffen wagen - ganz abgesehen davon, daß zwanzigjähriges Training im Konsum unsere Wirtschaft so konditioniert hat, daß sie diesen Konsumverzicht gar nicht verkraften könnte, selbst wenn sie wollte. Doch es ist fraglich, ob sie will.

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Der Bodensee ist jetzt schon in einem eutrophen Zustand; die Ostsee, die ihr Wasser nur alle dreißig Jahre auswechselt, wurde längst zu einem Müllplatz für Granaten, Giftgase, Schrott aller Art und zu einer Kloake für mindestens sechs Industrieländer, die an sie grenzen. Der Rhein ist in einem solchen Maß entwest worden, daß man ihn unhöflich als Deutschlands Latrine bezeichnet, so auch die Elbe, der Unterlauf des Mains und zahlreiche andere Flüsse.

Die Industrieabgase wurden teilweise entgiftet, doch der Verlust an Schwefel-, Stickstoff- und Kohlenoxiden in der Luft wurde rasch wettgemacht durch den Einsatz privater Ölheizungen.

Ob der deutsche Ackerboden auf die Dauer dem Auslaugungsprozeß durch Monokulturen besser widersteht als der amerikanischer Staaten, wird sich zeigen müssen. Einige Probleme werden bei uns vorerst noch von interessierten Kreisen heruntergespielt. Doch sie werden eines Tages so sichtbar werden, daß man nicht mehr über sie hinwegreden kann. Schließlich betreffen alle Fragen, von denen in diesem Buch gesprochen wird, längst nicht mehr einzelne Länder. 

Selbst wenn es uns gelänge, im Einverständnis mit der DDR, Polen, der Tschechoslowakei und den Beneluxländern im Herzen Europas eine Oase zu schaffen, in der die Luft rein, das Wasser sauber und die Erde voll natürlichem Humus ist — das Problem selbst wäre längst über unsere Bemühungen hinausgewachsen. Es hat globale Ausmaße angenommen.

Schon jetzt darf angenommen werden, daß die relativ dünn besiedelten USA nicht mehr über genügend Sauerstoff verfügen, vielmehr auf die Zufuhr des lebenswichtigen Stoffs aus anderen Regionen angewiesen sind. Schon jetzt darf man, mindestens seit Cousteaus Rückkehr von seiner dreiein­halbjährigen Forschungsreise mit dem Schiff Calypso, den Verdacht hegen, daß die Ökologie der großen Ozeane bereits nachhaltig gestört wurde.

Wenn eines Tages der SST-Luftverkehr einsetzt, mit hochfliegenden Maschinen, die mit doppelter Schallgeschwindigkeit durch die Himmel schießen, wird die Vergiftung der höheren Atmosphäre Ausmaße annehmen, die weltweit wirken: Ganz gleich, ob ein Land dann in der Lage ist, Maschinen dieser Art zu kaufen oder sie auch nur landen zu lassen, es wird seinen Teil von dieser neuartigen Betriebsamkeit der Luftreedereien abbekommen. Das kann sich in unerwünschten Niederschlägen äußern, in sonnenlosen Perioden, Kälteeinbrüchen, Klimaverschiebungen, niemand weiß das vorerst ganz genau. Sicher ist nur, daß etwas Derartiges eintreten wird, wenn der SST-Verkehr kommt. Und er kommt...

Don Widener hat an seinem Manuskript jahrelang gearbeitet: Anfangs für eine Fernseh-Sendung (The Slow Guillotine), die ihm eine stattliche Zahl Preise einbrachte, später für dieses Buch. Man wird ihm sicher den Vorwurf machen, daß er vorzugsweise Leute interviewte, die von negativen Dingen berichten. Doch in einer Welt, in der solche Probleme meist mit einem ängstlichen Blick auf ein paar mächtige Interessenten diskutiert werden, scheint es nicht ungerecht, daß auch einmal die Gegner landläufiger Meinungen zu Worte kommen. Und jedenfalls zitiert er so nachhaltig aus Berichten der amerikanischen Regierung, daß von dieser Seite her wenig einzuwenden ist.

So oder so, der Leser wird sich seine eigenen Gedanken machen. Ihm zu der Lektüre Vergnügen zu wünschen, wäre zynisch. Es ist kein angenehmes, doch es ist ein erregendes Buch, weil es etwas betrifft, das nicht nur unsere kurzlebige, kurzsichtige Generation angeht, sondern auch unsere Nachkommen, denen wir einmal diese Erde als Erbteil überlassen werden.

Einer Erkenntnis wird sich dabei niemand entziehen können: Jener Prozeß, der vorzeiten im Laufe von Jahrhunderten aus natürlichen Wald- und Savannenland­schaften Wüsten machte, und der sich durch die Geschichte der Menschheit wie ein roter Faden hindurchzieht, kann neuerdings abgekürzt werden. Der Mensch der Gegenwart ist imstande, schneller zu verwüsten, globaler zu verwüsten und - wenn uns nicht alles täuscht - seine zerstörerische Qualität auch auf Ozeane und die höheren Luftschichten auszudehnen, die dem Zugriff vergangener Generationen gnädig entzogen waren.

Der Mensch der Gegenwart kann die Erde innerhalb weniger Generationen zu einem Platz machen, auf dem vielleicht noch Mikroben, aber nicht mehr Menschen leben können. Aus dieser Einsicht Schlüsse zu ziehen, ist Sache des Lesers.

15-16

Stuttgart im Dezember 1970
Richard Kaufmann

detopia-2020: Ich hätte gerne biografische Angaben zu Richard Kaufmann. Auf dem üblichem Wege ist nichts zu finden.

 

 

 

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Don Widener  -  Kein Platz für Menschen  - 1970