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Die Zeit bei der "Asche" "Aschebücher" als Quelle der Historie
Öffentlicher
Habilitationsvortrag am 23.01.2008 vor
"Hallische
Beiträge zur Zeitgeschichte" 2008/1 (Heft 18) S. 63-79 |
2008
detopia: Martin Sabrow 2007 |
(d-2009) Der Vortrag klingt interessant. Man müßte mehr wissen über diese Doktorarbeit.
PD Dr. phil. Holger Zaunstöck
Erinnerungen von NVA-Soldaten als Gegenstand und konzeptionelle Herausforderung der zeitgeschichtlichen Forschung
1. DDR-Müdigkeit und Perspektivenöffnung 02 03 04 (Wolter)
Die Geschichte der DDR hat seit 1990 einen Forschungsboom erlebt, der heute den Eindruck erweckt, dass nahezu alle Aspekte der Geschichte dieses deutschen Staates zwischen 1949 und 1989 thematisiert, interpretiert und in größere Deutungszusammenhänge eingeordnet sind. Diesem Gefühl folgte zwangsläufig eine um sich greifende DDR-Müdigkeit — man konnte und wollte zunehmend weniger hören über die SED und ihren Staat.
Es sei dahin gestellt, in wie weit dieses Gefühl nach wie vor anhält, und in wie weit es berechtigt sein mag. Immerhin aber ist bemerkenswert, dass mittlerweile von außen die Befürchtung geäußert wird, so etwa jüngst von Fritz Stern auf der Frankfurter Buchmesse,2) die Geschichte der DDR könne im Strom einer die politischen Systeme übergreifenden deutschen Geschichte in den Hintergrund treten, verschwinden. Die Gefahr einer "deutschen <Erfolgsgeschichte> ohne die DDR" scheint realer als man denken mag.3)
In diesem Sinn hat sich auch jüngst die Expertenkommission zum "Geschichtsverbund Aufarbeitung der SED-Diktatur" geäußert.4) Die zeithistorische Forschung ist dieser eintretenden Geschichtsmüdigkeit mit einer Diskussion begegnet, die neue Perspektiven öffnet.
1) Leicht überarbeitete, mit den nötigen Anmerkungen versehene Fassung meines öffentlichen Habilitationsvortrages vom 23. Januar 2008 vor der Philosophischen Fakultät I — Sozialwissenschaften und historische Kulturwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
2) Im Zuge der Präsentation seiner Erinnerungen (Fünf Deutschland und ein Leben — Erinnerungen. München 2007).
3) Andreas Wirsching: Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Nr. 3, 15.1.2007 (Beilage zu Das Parlament Nr. 3, 15.1.2007), S. 1318, hier S.13. Dieser wie auch die nachfolgend genannten Beiträge aus dieser Beilage sind im Internet abrufbar unter: das-parlament.de/2007/03/index.html (Zugriff am 15. Mai 2008).
4) Martin Sabrow, Rainer Eckert, Minika Flacke, Klaus-Dietmar Henke, Roland Jahn, Freya Klier, Tina Krone, Peter Maser, Ulrike Poppe, Hermann Rudolph (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Bearbeitet von Irmgard Zündorf, Sebastian Richter und Kai Gregor, Göttingen 2007.
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Ausgangspunkt dieser Debatte war die Wahrnehmung, dass sich die Geschichtsschreibung zur DDR auf dem Weg der Isolierung befinde, sich zu einem selbstreferenziellen Arbeitsbereich entwickele, der seinen Gegenstand gleichzeitig überhöht habe — das dazugehörige, mittlerweile weithin bekannte Schlagwort ist jenes von der "Verinselung". Daraus hat sich eine produktive Diskussion darüber entwickelt, in welcher Weise DDR-Geschichte künftig in größere Kontexte einzubinden sei. Der Weg dorthin wird in einer <integrierten deutschen>, "asymmetrisch verflochtenen" (Christoph Kleßmann), und zugleich <ent-teleogisierten> Nachkriegsgeschichte gesehen, die grundlegende Unterschiede nicht verwischen, aber systemübergreifende Entwicklungslinien beschreiben soll.5)
In wie weit solch eine Geschichtsschreibung gelingen kann, und was dabei zwischen DDR und Bundesrepublik sinnvoll vergleichbar ist und was nicht, darüber herrscht allerdings keine Einigkeit. Gleichwohl zeichnet sich ab, dass die Blockpolitik der DDR und der BRD und die Innenpolitik beider Staaten eher schwer in eine solche Perspektive einzupassen sind. Demgegenüber scheinen aber insbesondere alltags- und mentalitätsgeschichtliche Forschungsansätze sehr wohl dazu geeignet, den "gemeinsamen Erfahrungsraum" zu vermessen.6)
Als ein konzeptionelles Ergebnis dieser Debatte lässt sich der Vorschlag der Expertenkommission zur Zukunft der "Aufarbeitung der SED-Diktatur" lesen, das Feld in drei große Arbeitssegmente zu unterteilen, die die künftige Forschung strukturieren und anschlussfähig machen sollen: "Überwachung und Verfolgung", "Teilung und Grenze" sowie "Herrschaft — Gesellschaft — Widerstand".7)
Insbesondere der dritte Großkomplex, der sich mit den Alltagserfahrungen und Mentalitäten beschäftigen soll, kann sich zu einem verbindenden Ansatz zwischen DDR-Geschichtsschreibung einerseits und gesamtdeutschen integrativen Fragestellungen (für die Jahrzehnte der Teilung und auch danach) andererseits entwickeln. Die Fragen des Alltags umgreifen dabei eine Reihe von Themenbereichen.
Ein in diesem Zusammenhang immer wieder betontes Desiderat — so zuletzt von Martin Sabrow im Januar 20078) — stellt das Verhältnis von Armee und Gesellschaft, stellt die Militarisierung der DDR-Gesellschaft jenseits normativer Vorgaben wie jener der sozialistischen Soldatenpersönlichkeit oder jener der permanenten Verteidigungsbereitschaft in ihrem tatsächlichen Wirkungsgrad dar.
5) Vgl. Wirsching, Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, S. 15.
6) Siehe dazu zusammenfassend und perspektivisch die Beiträge in APuZ 3/2007, hier insbes. die Texte von Wirsching (Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, hier auch das Zitat S.15), Horst Möller (Demokratie und Diktatur, S. 3-7), sowie Martin Sabrow (Historisierung der Zweistaatlichkeit, S. 19-24).
7) "Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes 'Aufarbeitung der SED-Diktatur'", in: Wohin treibt die DDR-Erinnerung?, S. 17-46, hier S. 23.
8) Martin Sabrow: Der Stellenwert der NVA-Geschichte für die DDR-Geschichte, Vortrag, gehalten im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam (MGFA) am 30.1.2007. Im Internet abrufbar unter: zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/Documents/Sabrow/sabrow_nva.pdf Zugriff am 15. Mai 2008. ( Olf, 2009: zzf-pdm.de Google sabrow )
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Diese Perspektive steht zugleich im Kern einer modernen Militärgeschichte, die sich seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend an kulturgeschichtlichen Fragestellungen orientiert, um ihre Separierung als eine mit Vorurteilen beladene Spezialdisziplin zu überwinden.
Diese Zusammenhänge sind der Ausgangspunkt zur Thematisierung eines bislang kaum in den Blick gekommenen, geschweige denn erforschten Themas der jüngeren deutschen Zeitgeschichte: die Erinnerungen von NVA-Soldaten. Dabei soll im Folgenden vor allem der systemübergreifende Brückenschlag zwischen der DDR-Zeit und der wiedervereinigten Bundesrepublik im Blickpunkt stehen. Daneben (und ausblickend) werden auch einige Ansatzpunkte für vergleichende Fragestellungen zwischen der DDR und der BRD für die Zeit vor 1989 zumindest benannt.
2. Soldatenzeit und Erinnerungskultur 03 04
Quellen für einen solchen Forschungszugang bilden insbesondere Autobiografien, Memoiren und Selbstzeugnisse. Besonders die Germanistik hat sich dem Gegenstandsbereich Kriegserinnerung am Beispiel der Erinnerungsliteratur von Wehrmachtssoldaten genähert — zuletzt etwa mit den Monografien von Hans Joachim Schröder, Andreas Hettiger und Rolf Düsterberg, die die aktiv betriebene Konstruktion von rechtfertigenden und individuell tragbaren Lebensbildern der "Kriegserinnerungsschreiber" (Düsterberg) nachzeichnen, die moralisch und erinnerungspolitisch gezielt in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft wirken sollten.9)
Und jüngst hat sich auch die kulturgeschichtlich orientierte Militärgeschichte dem Komplex Militärische Erinnerungskultur epochenübergreifend und systematisch — unter thematischer Ausklammerung der NVA — zugewandt.10)
9) Rolf Düsterberg: Soldat und Kriegserlebnis. Deutsche militärische Erinnerungsliteratur (1945-1961) zum Zweiten Weltkrieg. Motive, Begriffe, Wertungen (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 78), Tübingen 2000, S. 153. Vgl. auch Hans Joachim Schröder: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 37), Tübingen 1992; Andreas Hettiger: Erinnerung als Ritual. Rhetorische Verfahren zur Konstruktion einer Kriegsveteranenkultur (= Rhetorik-Forschungen 16), Tübingen 2005.
10) Michael Epkenhans, Stig Förster, Karen Hagemann (Hg.): Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen (= Krieg in der Geschichte 29), Paderborn u.a 2006.
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An dieser Stelle sollen und können in diesem Zusammenhang die konzeptionellen und methodologischen Fragen zur Bedeutung und Funktion von <Erinnerung> nicht noch einmal ausgebreitet werden. Was aber hervorgehoben werden soll ist, dass es mittlerweile ganz selbstverständlich ist, autobiografische Darstellungen und Erinnerungsschriften mit einem "Anfangsverdacht" zu versehen.11)
Dabei geht es zunehmend weniger darum zu prüfen, was vom dem Gesagten <wahr> ist, d.h. in vergleichenden Verfahren mit anderen Quellen abgeprüft werden kann. Vielmehr ist von Interesse, dass die Erinnerung an sich Verformungsmechanismen unterliegt, die zudem und besonders durch die soziale und mentale Verfassung des Schreibenden in der Phase der Erinnerungswiedergabe strukturiert wird.
Diese Beobachtung leitet über zum zentralen Erkenntnisinteresse des Historikers im Feld der Erinnerung — zu der Frage, welche Geschichtsbilder warum mit dem Akt der Erinnerung generiert werden. Dabei meint hier das 'Geschichtsbild' keine abwegige oder abstruse Variante irgendeiner 'offiziellen' Darstellung, sondern begreift die Erzählungen als eigene, sinngebende und so ernst zu nehmende Deutungen des Vergangenen.
Alexander von Plato und Ulrike Jureit haben im Zuge der Konzeptionalisierung der Oral History eindringlich darauf verwiesen, dass individuell und subjektiv erzählte Geschichte nicht nur dazu dienen sollte, die 'harte' Geschichtsschreibung gleichsam mit Farbtupfern zu versehen, sondern dass es sich hier um Konstruktionen ("Verarbeitung") der Vergangenheit handelt, die für den Verständnis- und Wirkungsprozess von Geschichte insgesamt zentral sind.12) Denn auch das eigene, subjektive Verhältnis zu den Fakten ist ein Faktum.
Oder, wie es — extrem zugespitzt — in der Einleitung zu den Tagebuchaufzeichnungen eines NVA-Soldaten heißt: "Nicht die Fakten und Geschehnisse sind wichtig, sondern nur das eigene Verhältnis dazu".13) Dieses Zitat verweist zurück auf den spezifischen Untersuchungsgegenstand: die Erinnerungsliteratur von NVA-Soldaten.
11) Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004, S. 368.
12) Alexander von Plato: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft — ein Problemaufriss, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 13. Jg., 1/2000, S. 5-29 (Zitat S. 9); ders.: Erfahrungsgeschichte — von der Etablierung der Oral History, in: Gerd Jüttemann, Hans Thomae (Hg.): Biographische Methoden in den Humanwissenschaften, Weinheim 1998, S. 60-74; Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Hamburg 1999 (Forum Zeitgeschichte Band 8); außerdem: Babett Bauer: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971-1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 30), Göttingen 2006.
13) Wulf Bender (Hg.): 542 Tage. Die Aufzeichnungen eines ostdeutschen Wehrpflichtigen, Kiel 1999, hier das Vorwort des Herausgebers, S. 6.
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Bereits kurz nach der Wende setzte eine lebhafte publizistische Erinnerungstätigkeit ein. Zunächst gingen die politischen Träger des Systems daran, ihre Sicht der Dinge darzustellen und damit nachhaltig verfügbar zu machen. Christian Jung hat diese Tendenz- und Rechtfertigungsliteratur jüngst mit einer Fokussierung auf Erich Honecker untersucht.14) Den Vertretern des politischen Herrschaftssystems schlossen sich jene des geheimdienstlichen und militärischen Apparates an: Mittlerweile liegen eine Reihe Memoiren und autobiografische Schriften hoher Staatssicherheits- und Armeeoffiziere der NVA vor, seit 1990/91 und bis heute andauernd.15)
Nahezu allen diesen Schriften ist gemeinsam, dass es ihnen darum geht, das Vergangene nicht nur zu rechtfertigen, sondern der <Geschichtsschreibung der Sieger> ein Gegenbild entgegen zu setzen. Selbstrechtfertigung und Geschichtskonstruktivismus gehen hier Hand in Hand. Dabei geht es nicht nur oder vielleicht sogar nur zweitrangig um das persönliche Motiv einer therapeutischen Wirkung aktiver Erinnerung und Lebensbildkonstruktion. Eher geht es um Geschichtspolitik, darum, eine Interpretation zu hinterlassen, die Wirkung im intendierten Sinn im kollektiven Gedächtnis entfalten kann.
In diesem Erinnerungsfeld fällt auf, dass <einfache> — d.h. dem militärischen Rang, nicht der Bildungs- bzw. Sozialschicht nach — ehemalige NVA-Soldaten, Gefreite und Unteroffiziere auf Zeit lange kaum aktiv geworden sind und ihre persönliche Zeit bei der Asche (wie die Armee im Slang der Soldaten genannt wurde) nur selten publizistisch dargestellt haben. Der Begriff der Asche war in der DDR jedermann geläufig, seine konkrete Herkunft scheint jedoch einigermaßen unklar zu sein.16)
Noch heute dient der Begriff als Fixpunkt, um Authentizität von Texten und/oder Quellen anzuzeigen oder zu suggerieren. Er findet sich deshalb regelmäßig in der Erinnerungsliteratur von NVA-Soldaten, die gehäuft allerdings erst in den letzten Jahren zu verzeichnen ist.
14) Christian Jung: Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mitgliedern der SED nach 1989 (= Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte N.F. 16), Heidelberg 2007.
15) Exemplarisch seien genannt Volker Koop: Ausgegrenzt. Der Fall der DDR-Grenztruppen, Berlin 1993; Erich Hasemann: Als Soldat in der DDR. Erinnerungen aus über dreißigjähriger Dienstzeit in den bewaffneten Organen der DDR, Berlin 1997; Horst Jüttner: Grenzalarm. Erinnerungen ehemaliger Grenzsoldaten, Berlin 2007; siehe zu diesem Komplex Karl Wilhelm Fricke: Memoiren aus dem Stasi-Milieu. Eingeständnisse, Legenden, Selbstverklärung, in: APuZ 30-31/2001, S. 6-13.
16) Soweit zu sehen ist, fehlt eine begriffsgeschichtliche Studie. Auch im Wörterbuch der DDR-Soldatensprache wird <Asche> nicht näher erklärt (siehe Anm. 17).
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Dies korrespondiert auch mit der Beobachtung, dass sich die Forschung zu einfachen DDR-Soldaten noch in der Auftaktphase befindet.
Erste Arbeiten liegen vor zur Soldatensprache,17) zum Alltag18) und zur Bewegung der Entlassungskandidaten (die so genannte "EK-Bewegung")19 mit ihren spezifischen Symbolen und z.T. zynischen und sadistischen Praktiken, durch die ein innersoldatisches Hierarchie- und Dienstsystem neben und unabhängig von der offiziellen Disziplinarstruktur errichtet wurde, zu den (u.a. in Prora auf Rügen dienenden) Bausoldaten der NVA, also jenen jungen Männern, die den aktiven Dienst an der Waffe verweigerten — ca. 12.000 insgesamt —,20) sowie in Ansätzen auch zum innermilitärischen Strafvollzug (Militärvollzugsanstalt in Schwedt) und zum widerständigen Verhalten während der Dienstzeit in der NVA.21)
Diese Studien stehen im Kontext des ergiebigen Forschungsfeldes zum oppositionellen Verhalten in der DDR22) — und sie schlagen zugleich einen Bogen zur Alltagsgeschichte des einfachen Soldaten.
Soldaten wurden junge Männer in der DDR durch die bestehende Wehrpflicht. Nach ihrer Einführung 1962 mussten alle wehrfähigen Männer in der Regel im Alter um die 20 (zwischen 18 und 26), in jedem Fall aber vor einem avisierten Studium, einen Wehrdienst von 18monatiger Dauer ableisten. Insgesamt haben in der DDR ca. 2,5 Millionen Männer diesen Dienst absolviert bzw. wurden 25 Geburtsjahrgänge "in der DDR-NVA sozialisiert".23)
17) Klaus-Peter Möller: Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache, Berlin 2000.
18) Chr. Th. Müller: Tausend Tage bei der Asche. Unteroffiziere in der NVA. Untersuchungen zu Alltag und Binnenstruktur einer "sozialistischen" Armee (= Militärgeschichte der DDR 6), 2003.
19) Siehe dazu exemplarisch mit einer Vielzahl textlicher und bildlicher Quellen Ralf Gehler, Dirk Keil: Die andere Realität. Alltagserfahrung Wehrdienstleistender in den Kasernen der DDR, in: Wolfgang Kaschuba, Ute Mohrmann (Hg.), Blick-Wechsel Ost-West. Beobachtungen zur Alltagskultur in Ost- und Westdeutschland. Tübingen 1992, S. 326-338; Ralf Gehler: "EK, EK, EK — bald bist du nicht mehr da!" Soldatenkultur in der Nationalen Volksarmee. Hagenow 1998 (= Schriftenreihe des Museums der Stadt Hagenow, Heft 5); Rüdiger Wenzke: Zwischen Bestenabzeichen und Armeeknast. Wahrnehmungen und Forschungen zum Innenleben der DDR-Volksarmee, in: Hans Ehlers, Matthias Rogg (Hg.): Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Berlin 2004, S. 497-529, hier S. 504ff.
20) Siehe dazu als Orientierung Sebastian Kranich: Erst auf Christus hören, dann auf die Genossen. Bausoldatenbriefe: Merseburg, Wolfen, Welzow 1988/89, Halle 2006, S. 462 und 470f. (Nachwort/Literaturverzeichnis); Andreas Pausch: Waffendienstverweigerung in der DDR. "… das einzig mögliche und vor dem Volk noch vertretbare Zugeständnis". Begleitpublikation zur Ausstellung "Graben für den Frieden? — Die Bausoldaten der DDR". Hrsg. v. Uwe Schwabe und Rainer Eckert, Norderstedt 2004.
21) Siehe z.B. Rüdiger Wenzke (Hg.): Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA, Berlin 2005.
22) Siehe etwa Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 3), Köln u.a. 1999.
23) Sabrow, Der Stellenwert der NVA-Geschichte, S. 5; siehe in diesem Kontext auch Ilko-Sascha Kowalczuk: Von der Volkserhebung zum Mauerbau. Reaktionen von Hochschulangehörigen auf die Ereignisse in der DDR in den Jahren 1953, 1956 und 1961, in: APuZ 3031/ 2001, S. 22-30, hier S. 29.
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Der Wehrdienst war ein fester Bestandteil der im SED-Staat vorgezeichneten, einem Baukastensystem gleichenden Biografie.24) Kindheit und Jugend mit Kindergarten, Schule, Abitur oder Lehre führten unausweichlich auf dieses Lebenssegment zu. Der Wehrdienst teilte die Biografien der jungen Männer in Jugend und Erwachsenensein: Die Jugend hatte ein konkretes Ende und das Erwachsensein einen entsprechenden Anfang — die Übergangspassage bildete der Dienst in der NVA.25)
Der Tag der Einberufung wurde von den Vertretern des Systems bestimmt und konnte bis zum 36. Lebensjahr verschoben werden; junge Männer, die am Beginn ihrer Lebensplanung standen, konnten mit diesem Mechanismus unter Druck gesetzt werden, machte doch eine (zu) späte Einberufung Familienplanungen schwieriger oder das Studieren unmöglich. Der genaue Zeitpunkt der Einberufung innerhalb der vorstrukturierten Biografien war deshalb zugleich ein Instrument in den Händen der (lokalen) Machtträger in der alltäglichen Herrschaftspraxis.
So konnten Parteibeitritte, Dienstzeitverlängerungen und auch Bereitschaftserklärungen zur Mitarbeit bei der Staatssicherheit mit dem Hinweis erpresst werden, dass man erst studieren könne, wenn man seinen Wehrdienst abgeleistet habe (wofür zudem in der Regel die Einwilligung zu einer Dienstzeit als Unteroffizier auf Zeit für 36 Monate verlangt wurde). Nichts weniger als das Gelingen des individuellen Lebensentwurfs stand bei diesen Fragen auf dem Spiel.
Waren sie einmal einberufen, durchliefen die Soldaten ein rituelles System (das mit der "EK-Bewegung" schon angesprochen worden ist), das die 18 Monate Dienstzeit in drei Zeitabschnitte einteilte, jeweils Pflichten und Rechte zuordnete und als Gradsystem organisiert war: der so genannte "Glatte" oder "Sprutz" im ersten Diensthalbjahr, das "Zwischenschwein" im zweiten und der "EK", der Entlassungskandidat, im dritten Diensthalbjahr. Bei den dreijährigen Unteroffizieren auf Zeit verlief die Einteilung adäquat über sechs Halbjahre.26)
Am Anfang der Dienstzeit standen erhebliche physische und psychische Belastungen, die dieses innersoldatische Ordnungssystem mit sich brachte und die zum eigentlichen Soldatenalltag, der durch Drill, Demütigung und Sinnlosigkeit geprägt war, hinzukamen. Je näher man aber dem Entlassungstag kam, desto mehr erweiterten sich die — ungeschriebenen — soldatischen Rechte.
Dieses System wurde von der NVA Führung offiziell bekämpft, zugleich aber oft stillschweigend toleriert, weil es im Blick auf die angestrebte Ordnung und Disziplin stabilisierende Effekte erzeugte.
24) Zur DDR-Biografieforschung siehe etwa Hans-Jürgen von Wensierski: Mit uns zieht die alte Zeit. Biographie und Lebenswelt junger DDR-Bürger im gesellschaftlichen Umbruch (= Biographie und Gesellschaft 21), Opladen 1994.
25) Siehe dazu auch Gehler/Keil, Die andere Realität, S. 327; Gehler, "EK, EK, EK…", S. 14;
Müller, Tausend Tage, S. 375 ("Über die Stellung des Militärdienstes im Leben liegen aus der Biographieforschung bislang weder im allgemeinen noch hinsichtlich der NVA systematische Untersuchungen vor."), S. 382 und 388 .
26) Vgl. Müller, Tausend Tage, S. 243f.
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Dieses Erfahrungsfeld ist der Referenzraum für die soldatische Erinnerungskultur, die bislang kaum erforscht ist. Nun ist die Tatsache, dass etwas noch nicht erforscht ist, an und für sich nur bedingt ein überzeugendes Argument, dieses auch tatsächlich zu tun. Deshalb gilt es nach Begründungszusammenhängen für eine Erforschung der Erinnerungskultur von NVA-Soldaten zu fragen. Dafür lassen sich m. E. drei Argumente in Anschlag bringen: Zum einen ist schlicht das quantitative Phänomen in Betracht zu ziehen — theoretisch erinnern sich heute 2,5 Millionen Männer an die individuelle, prägende Zeit bei der Asche.27) Zum zweiten lässt sich mit den Erinnerungen eine alltags- und mentalitätsgeschichtliche Dimension erfassen, die auch die Möglichkeit bietet, Militär- und Gesellschaftsgeschichte miteinander zu vernetzen.28)
Diese Überlegungen bieten zudem Ansätze für "transformationsgeschichtliche Fragestellungen"29) im Hinblick auf die Zeit sowohl vor als auch nach 1989. Zum dritten schließlich ist nach den Determinanten des größeren Erinnerungsfeldes zu fragen: In welchem Kontext stehen Erinnerungen von NVA-Soldaten heute? Oder anders gefragt: Warum treten uns gerade in den letzten Jahren deutlich mehr publizierte Soldatenerinnerungen als zuvor entgegen?
3. Figurationen der NVA-Soldatenerinnerung 04
Nehmen wir bei der Beantwortung dieser Frage zunächst das Quellenkorpus in den Blick. Die Suche nach den Soldatenerinnerungen begann an zwei einschlägigen Orten: Im Militärarchiv in Freiburg und im Militärhistorischen Museum in Dresden, wo gerade eine neue Dauerausstellung im Entstehen ist. Die Rechercheergebnisse waren ernüchternd. Weder im Militärarchiv noch in den Sammlungsbeständen des zentralen Dresdner Museums finden sich entsprechende Aufzeichnungen einfacher Soldaten. Auch sind in keiner der beiden Institutionen, die die deutsche Militärgeschichte dokumentieren und für die Wissenschaft und Öffentlichkeit zugänglich machen sollen, entsprechende Sammlungs- und Forschungsprojekte angedacht.
27) Siehe dazu Christoph Kleßmann: Der schwierige gesamtdeutsche Umgang mit der DDR- Geschichte, in: APuZ 30-31/2001, S. 3-5, hier S. 3: "Dennoch bestimmen die Nachwirkungen der SED-Diktatur mental und politisch in erheblichem Ausmaß die Gegenwart."
28) Siehe in diesem Kontext Ehlers / Rogg: Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR in historischer Rückblende, in: dies. (Hg.): Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR, S. 1-25.
29) Im Kontext der NVA-Geschichte siehe: Sabrow, Der Stellenwert der NVA-Geschichte, S. 8 f.
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Dies sei ausdrücklich nicht den beiden Institutionen zum Vorwurf gemacht. Vielmehr zeigt diese Sammlungs- und Dokumentationspraxis, dass es kein Bewusstsein für das Thema im offiziellen Raum der deutschen Geschichtskultur gibt.30) Insofern bestätigt hier die Geschichtspraxis die Ergebnisse der eingangs beschriebenen Bestandsaufnahme und konzeptionellen Diskussion zum Stand der DDR-Geschichte sowie zur Neuausrichtung der Militärgeschichte.
In dieses Bild fügt sich der Hinweis des Regimekritikers und Literaten Lutz Rathenow im Zuge der Reflexion seiner eigenen NVA-Zeit ein, dass es heute "eine Tatsache [ist], dass die Armee in der Literatur eine relativ geringe Rolle spielt", es gleichwohl aber diesbezügliche Manuskripte geben würde, die es zu sammeln und aufzubewahren gelte und die oftmals keine Verlage finden würden.31) Diese Quellen aber sind ohne Insiderkontakte zunächst nicht unmittelbar abrufbar bzw. erfordern einen systematischen Rechercheansatz.
Deshalb können diesem Text, der das Forschungsfeld erstmals aufschließt, nur die gedruckten, d.h. über einen Verlag publizierten Erinnerungsschriften zugrunde liegen. Dieses Korpus sei kurz beschreibend skizziert.32)
30) Mein Dank für Auskünfte und Recherchen gilt Sonja Wetzig, der Sammlungsleiterin 'Schriftgut' im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, sowie Frau M. Dokter vom Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau.
31) Lutz Rathenow: Vom DDR-Grenzsoldaten zum Bürgerrechtler. Vortrag am 29.1.2001 im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam (= WIFIS-Aktuell 26), Bremen 2002, hier S. 11 und 23 ("Olaf Klein findet keinen Verlag für seinen Roman über die NVA. Es gibt Manuskripte, Texte, die sehr interessant sind, die diese Erfahrungen bearbeiten.")
32) Das Folgende basiert auf diesen Büchern:
Jürgen Fuchs: Fassonschnitt, Reinbeck bei Hamburg 1984; Michael Wüstefeld: Nackt hinter der Schutzmaske: Erinnerungen, Berlin 1990 (über die Reservistenzeit des Autors); Stefan Wachtel: Delikt 220. Bestimmungsort Schwedt Gefängnistagebuch, Rudolstadt 1991; Christoph D. Brumme: Tausend Tage. Köln 1997 (als Fischer Taschenbuch 2000); Bender, 542 Tage; Frank Schütze: Ich bin Bolle — Geschichte eines Kämpfers. Tagebuch der Jahre 1959-1989. Bd. 3: Haß, Zützen 1999; Harri Engelmann: Japanischer Garten. Reminiszenzen an meine Verteidigungsbereitschaft, Rostock 2000; Hans-Joachim Grünitz: Eingezogen. Ein Wehrpflichtiger der NVA erinnert sich, Kiel 3. unveränderte Auflage 2006 (1. Auflage 2000/2001); Viktor Kalinke (Hg.): Asche. Die Antworten des Tronje Wagenbrant, Leipzig 2001; Matthias Steinbach: Eineinhalbjährig — unfreiwillig. Ein Soldatentagebuch (1986-1988). Mit Illustrationen von Jaroslav Uhel, Jena u.a. 2001; Rainer Awiszus: Genosse Soldat! Kommen Sie mal zurück! Erlebnisse eines DDR-Soldaten, Norderstedt 2002; Lutz Rathenow: Vom DDR-Grenzsoldaten zum Bürgerrechtler, Bremen 2002; Peter Tannhoff: Sprutz. In den Fängen der NVA, Kiel 2003 [siehe auch die Website des Autors: peter-tannhoff.de . Zugriff am 15. Mai 2008]; Uwe Heit: Der brave Soldat Dösbaddel, Halle 2004; Stefan Wolter: Hinterm Horizont allein — Der "Prinz" von Prora. Erfahrungen eines NVA- Bausoldaten, Halle 1. und 2. Aufl. 2005; Kurt W. Flemming: Ein Schwejk in der NVA, Leipzig 2005; Kranich, Erst auf Christus hören (Halle 2006); Joerg Waehner: Einstrich — Keinstrich. NVA-Tagebuch, Köln 2006; Frank Günther: Der Tanz des Schützen Faber, Halle 2007.
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Am Anfang stand der bereits vor der Wende 1984 bei Rowohlt erschienene, recht bekannte und auf Erinnerungen bzw. autobiografischen Notizen beruhende Roman Fassonschnitt des 1977 aus der DDR ausgewiesenen Regimekritikers Jürgen Fuchs.33) 1991 erschien Stefan Wachtels NVA-Gefängnistagebuch unter dem Titel Delikt 220. Bestimmungsort Schwedt, und 1997 veröffentlichte Christoph D. Brumme die Erinnerungen an seine Dienstzeit als dreijähriger Unteroffizier (Tausend Tage) bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, die 2000 als Fischer Taschenbuch noch einmal aufgelegt wurden. Auch diese beiden Bücher sind breit rezipiert worden. Dass Brummes Buch ein zweites Mal verlegt wurde, scheint kein Zufall zu sein. Denn seit Ende der 1990er Jahre ist ein kleiner Boom an NVA-Soldatenerinnerungen in Buchform, erschienen zumeist in kleineren Verlagen, zu verzeichnen; aktiv sind hierbei etwa der Ludwig Verlag in Kiel und der Projekte-Verlag in Halle.34)
Die gewählten Präsentationsformen für die Erinnerungen sind ganz verschieden. Manches ist als dokumentarische Tagebuchwiedergabe, manches als Erzählung auf der Basis von Notizen, manches als Briefdokumentation, manches in Romanform und schließlich manches als Collage aus Erzählpassagen, Tagebuchauszügen, Briefen und Dokumenten erschienen. Nahezu alle Texte beschwören in Vorbemerkungen die Authentizität des Dargestellten.35)
Die Mehrzahl der Erinnerungen bezieht sich auf die 1980er Jahre, einige auf die 1970er, wenige auf die 1960er Jahre. Fast alle Autoren lassen sich dem akademischen bzw. im weiteren Sinn intellektuellen Bereich zuordnen. Die Texte beinhalten z.T. intimste Darstellungen der Lebens-, Gedanken- und Gefühlswelten der Protagonisten.
33) Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die künftige Forschung zur Erinnerungskultur von NVA-Soldaten ebenfalls das weitgreifende, (auto)biografisch motivierte bzw. strukturierte Romansegment zur DDR auf entsprechende Implikationen sowie spezifische NVA-Romane (z.B.: Jürgen Ritschel: Harte Jahre, Berlin 1990; Michael Dullau: Grenzland, Mammendorf 2005; Lutz Dettmann: Tiefenkontrolle. Ein NVA-Roman, Schwerin 2006) systematisch in den Blick nehmen muss.
34) Siehe dazu die Website asche-fahne-nva.de (Zugriff am 15. Mai 2008). Anmerk OD 2010: jetzt hier bei asche-fahne.de
35) Vgl. exemplarisch Grünitz: Eingezogen, hier das Vorwort von Matthias Firdemann, S. 5f.: "Doch getreulich folgt er [Grünitz] seinem Ziel, nur das Selbsterlebte zu schildern, detailgenau und minutiös"; "authentisch" (S. 5; siehe außerdem ebd., S. 7 und 131).
36) Dazu jetzt: Udo Grashoff: "In einem Anfall von Depression…" Selbsttötungen in der DDR (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin 2006, hier S. 77-100 über Suizide in der NVA.
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In ihnen kehren, in unterschiedlicher Intensität und spezifischer Ausprägung, eine Reihe von Themenfeldern und Figurationen immer wieder:
Die Wahrnehmung des Armeealltags als schikanös und sinnentleert; Obrigkeitsrituale und Politunterricht werden als wirkungslos und hülsenhaft erlebt.
Die Abkopplung von der zivilen Welt und den Abläufen der vertrauten Lebenswelt <draußen>, die Lebensmechanismen des Armeealltags und die belastende Widersprüchlichkeit des Wunsches, dass die eigene Lebenszeit vergehen möge.
Der Wunsch nach Freiraum und Freiheit jenseits des Kasernenalltags, wobei zumeist die Gesellschaft der DDR als der Raum verstanden wird, in den diese Freiheitssehnsüchte projiziert werden — darüber hinaus finden sich aber auch konkrete Republikfluchtüberlegungen. — Die überaus hohe Bedeutung der familiären und freundschaftlichen sowie Liebesbeziehungen, wobei auch die schwierig zu lebende Sexualität ein zentrales Thema ist.
Literarische und popkulturelle Implikationen als identitätsstiftende Muster — in vielen Erinnerungen finden sich ganz konkrete Verweise auf Autoren und Bücher (z.B. Rainer Maria Rilke, Sigmund Freud, Franz Kafka, Stefan Zweig, Erich Maria Remarque, Albert Camus, Ulrich Plenzdorf, Adolf Muschg, Inge von Wangenheim, Emile Zola, Jurek Becker, Thomas Wolfe), sowie auf Bands, Platten und Trends, auf bestimmte Songs und Musikstile, die gleichsam den Sound, den Referenzraum zum eigenen Leben bildeten (Pink Floyd, Bob Dylan, Peter Gabriel, The Clash, Punk, Neue Deutsche Welle, deutschsprachige Liedermacher, u. a.).
Die in den Texten gezeichneten Bilder des Erlebten und Erinnerten sind im Grundmuster ähnlich. Unterschiede und Nuancen treten eher in Details bzw. in spezifischen biografischen oder lokalen Konstellationen sowie in der erlebten Intensität auf. Auf der Ebene der lebensgeschichtlichen Metaerzählung, der Deutung zwischen den Zeilen, aber lassen sich auch Differenzen ausmachen. Hierbei geht es um das Einfügen der NVA-Zeit in die jeweilige Gesamtbiografie.
Es sind Unterschiede zwischen einzelnen Erinnerungsschriften zu konstatieren, wie das Erlebte beschrieben und interpretiert wird. Einerseits lassen sich eindeutig Leidensgeschichten identifizieren. Hier beherrschen die Erfahrung von Gängelung, Demütigung und Verzweiflung, sowie das sichere Gefühl und die damit verbundene Angst, dass sich das Erlebte auf das anschließende Leben in der Zivilgesellschaft auswirken wird, die Szenerie.
Ein bestimmendes Motiv für die Veröffentlichung ist deshalb eine therapeutische Verarbeitung des Erfahrenen. Andererseits finden sich Darstellungen, die all dies nicht aussparen, uns aber dennoch in einer Form, in einem Duktus entgegentreten, der vermittelt, dass der Schreibende bzw. sich Erinnernde trotz (oder auch wegen) der schwierigen Zeit eine positive Lebensentwicklung genommen hat. Laut solchen Darstellungen war die Zeit bei der Asche auch wild und abenteuerlich, man selbst mehr oder weniger im Widerstand — das Armeesystem fungiert hier in der autobiografischen Perspektive im Prinzip als Entfaltungsfolie für den eigenen, starken Charakter.
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Insgesamt haben wir also einen divergenten Befund. Einerseits werten mehr oder weniger alle ermittelten Erinnerungen den Alltag in der "totalen Institution" (Erving Goffman)37 NVA eindeutig negativ, und üben sich davon ausgehend in Systemkritik — in den Quellen aus der Zeit selbst und ebenso ex post. Dabei waren die Wege zu dieser Systemkritik keineswegs immer vorgezeichnet: Mancher hatte sich bereits vor der Armee vom DDR-Staat abgewandt und plante seine Flucht bzw. Ausreise, mancher aber wurde erst durch die Armeeerfahrungen zum DDR-Gegner.
Auf der Basis dieses Grundnarrativs unterscheiden sich dann andererseits die individuellen Positionierungen und Gewichtungen voneinander. Die publizierten Erinnerungen bewegen sich in einem Spannungsfeld von Dokumentation und autobiografischer Erzählung — wobei es um die Erfahrungen geht, die die Identität des Einzelnen in der historischen Zeit prägen: Das Damals prägt das Heute ebenso wie das Heute die Erinnerung an das Damals prägt. Von hier aus eröffnet sich ein weitreichender Fragehorizont. In wie weit und auf welche Weise sind für die Biografien von 2,5 Millionen (!) heute lebender Männer die Armeeerfahrungen ein Referenzpunkt zur Identitätsmodulation im beginnenden 21. Jahrhundert?
4. Der Kampf um die Deutungshoheit und die Geschichtskultur des Internets — als Herausforderung für die Zeitgeschichte
Dass die Armee einen solchen Referenzpunkt bildet, lässt sich durch eine weitere Beobachtung belegen. Immer wieder begegnet man kritischen Einwänden, manches bleibt nicht unwidersprochen. Mit hoher Belegkraft wird die damit angedeutete Auseinandersetzung um die Erinnerungen von NVA-Soldaten und damit indirekt auch ihr weit reichender Wirkradius am Beispiel von Stefan Wolter erkennbar.
Der in Berlin, in Prenzlauer Berg, wohnende Autor, der Geschichte und Theologie studiert und promoviert hat, hat 2005 im hallischen Projekte-Verlag seine Erinnerungen aus der Zeit und an die Zeit als Bausoldat unter dem Titel Hinterm Horizont allein — der Prinz von Prora veröffentlicht; das Buch hat noch im selben Jahr eine zweite Auflage erlebt. Auf seine Erinnerungen gab es eine solche Fülle an bestätigenden und aufmunternden (u.a. auch durch das von Wolter angesprochene Problem von Armeedienst und Homosexualität), aber auch kritischen und relativierenden Äußerungen, dass Wolter im vergangenen Jahr ein ganzes Buch veröffentlicht hat, dass diesen Diskurs dokumentiert und dazu Stellung bezieht.38)
37) Dazu: Bernhard R. Kroener: Einführung: Die Nationale Volksarmee — eine "totale Institution"? Versuche zu einer Innensicht der militärischen Gesellschaft der DDR, in: Ehlers/Rogg, Militär, Staat und Gesellschaft, S. 491-495; Müller, Tausend Tage, S. 155.
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Dies ist bislang ein singulärer Fall. Eine ausgiebige Diskussion um die Deutung der NVA-Zeit aber gibt es dennoch auch jenseits des literarischen Feuilletons.39) Der Ort dafür ist das Internet. Hier findet sich eine Reihe einschlägiger Sites und Foren. Und hier gibt es eine Fülle von Beiträgen, die sich mit der Erinnerung an die NVA-Zeit beschäftigen — auf der Plattform nvaforum.de beispielsweise existieren zwei entsprechende Unterseiten mit zuletzt zusammen ca. 150 thematischen Einträgen und ca. 5.500 Reaktionen darauf, Tendenz steigend.40)
Damit wird zugleich auch die Intellektuellen-Szene in Richtung einer sozial breiten Partizipation überschritten. Hier und an zahlreichen anderen Stellen im Netz werden vergleichsweise offen Einschätzungen verhandelt, wobei die Skala von Zustimmung über Relativierung bis hin zu Ablehnung reicht. Daneben wächst diese Netzszene auch individuell weiter.41)
Vor kurzem ist beispielsweise eine Seite unter dem Titel ek891.gmxhome.de online gegangen ("Meine Zeit bei der Asche"); hier lässt sich für Eingeweihte der Inhalt direkt ablesen: ek891 bedeutet "Entlassungskandidat Frühjahr 1989". Die Seite, auf der Briefe, Bilder und Kalender ausgestellt werden, haben in kurzer Zeit über 1.100 Nutzer besucht.42) Daneben finden sich auch spezifische Einträge auf den Seiten von amazon.de , wo die Erinnerungsbücher von ebenfalls sich Erinnernden, die aber nicht darüber publizieren, (auch kritisch) bewertet werden; so etwa auf der Internetseite zum Buch von Peter Tannhoff mit dem Titel #Sprutz#In den Fängen der NVA#, wo sich Zeitzeugen äußern. Hier wird etwa in Bezug auf eine sadistische EK-Szene, bei der laut Schilderung im Buch nur fünf Soldaten beteiligt waren, das Dargestellte von einem (angeblich) dabei Anwesenden als Lüge bezeichnet.43)
38) Stefan Wolter: Der "Prinz von Prora" im Spiegel der Kritik. Das Trauma NVA und WIR, Halle 2007.
39) Siehe dazu etwa die Texte von Christoph Dieckmann in der Zeit Online. z.B. zu Engelmann, Japanischer Garten: zeit.de/2000/47/Umnieten (Zugriff am 15. Mai 2008).
40) Siehe auch die Einträge im Gästebuch unter: http://www.peter-tannhoff.de. Für die o.g. sowie für diese Seite Zugriff am 15. Mai 2008.
41) Siehe etwa die Erinnerungen von Volker Langner an seinen Grundwehrdienst veröffentlicht unter: http://www.nva-fahrzeuge.de/nva-gesch2.htm. [Dezember 1999] (Zugriff am 15. Mai 2008).
42) http://ek891.gmxhome.de/html/dokumente.html . Siehe auch grenzsoldat.de (Zugriffe am 27. Mai 2008). Es handelt sich um ein Erinnerungsbuch eines Grenzsoldaten (gedruckt: Richard Hebstreit: Grenzsoldat, Zella- Mehlis 2007) — hier gibt es auch Meinungen und Stellungnahmen auf der Unterseite 'Rezensionen'. Siehe außerdem den Beitrag von Lisa Erdmann, "Wir waren doch keine schießwütigen Killer" in Spiegel-Online spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,500141,00.html . Zugriff am 15. Mai 2008.
43) Amazon-neg-Rezension Zugriff am 15. Mai 2008.
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In wie weit es sich bei diesen Internetaktivitäten um reines Anekdoteninteresse und um Koordinationsforen für einen nostalgischen "Geschichtstourismus"44) handelt, kann im Moment nicht gesagt werden. Über diese spezifische NVA-Netzwelt hinausgehend kann man aber ganz generell beobachten, dass das Verhandeln von Geschichte zunehmend in den virtuellen Raum des Internets verlagert wird. Hier wachsen Projekte, die eine ganz andere Form von Geschichte realisieren: Persönliche Erlebnisse von vielen, die diese freiwillig und ganz subjektiv ins Netz stellen, werden mit hard facts der Zeitgeschichte verknüpft ("Zeitmaschine")45, wobei das große englische Projekt miomi ("User Generated History") prototypisch wirkt.46)
Auf diese Weise entstehen Geschichtskonstrukte, die mit dem universitär-akademischen Bild nur noch wenig gemein haben. Eben darin, in dieser vordergründigen Freiheit der Artikulation und Selbstdarstellung, liegt ein hohes Maß an Attraktivität für die im Netz Geschichte Schreibenden, die etwa auf Seiten wie einestages ("Hier können Sie Geschichte sehen, Geschichte lesen — und Geschichte schreiben. Denn einestages macht Sie, die Leser zu Partnern in einem neuen und einmaligen Projekt: dem Aufbau eines kollektiven Gedächtnisses unserer Geschichte.") von Spiegel Online47 oder den Zeitzeugenseiten des MDR unter dem Titel damals-in-der-ddr/ihre-geschichte kultiviert werden.
Dabei hat das NVA-Thema auch hier in Ansätzen Eingang gefunden und wird ebenfalls von Beteiligten im Netz in Bezug auf den Wahrheitsgehalt kontrovers diskutiert, etwa in Bezug auf das Buch und die dazugehörige Onlinepräsentation zu Ein Schwejk in der NVA von Kurt W. Flemming.48)
44) Sabrow: Der Stellenwert der NVA-Geschichte, S. 1.
45) Siehe Anm. 47.
46) Ein startup ( http://beta.miomi.com ) mit einem Erstkapital (Preisgeld) von 100 Millionen $ und 100.000 Vorregistrierungen; siehe dazu Karolin Schaps: Magische Momente im globalen Dorf, in: http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,490928,00.html (Zugriff jeweils am 15. Mai 2008).
47) http://einestages.spiegel.de/page/aboutEinesTages.html (Zugriff am 15. Mai 2008).
48) mdr.de/damals-in-der-ddr/ihre-geschichte/2087103.html sowie mdr.de/damals-in-der-ddr/ihre-geschichte/1531449.html (Zugriff jeweils am 15. Mai 2008).
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Diese Beobachtungen lassen ein Resümee des Gesagten in zwei Schritten zu. Versuchen wir zunächst das Feld der NVA-Erinnerung in einen Deutungszusammenhang zu bringen. Dabei ist festzuhalten, dass die Autoren der publizierten Erinnerungen zwar in einer grundlegenden Ablehnung des Systems NVA übereinstimmen, dass sich davon ausgehend jedoch graduell differente Wahrnehmungsmuster ergeben und dass der Umgang mit dem Thema im Sinngebungsprozess der eigenen Biografie unterschiedlich ausfallen kann. Jenseits dessen gibt es ehemalige NVA-Soldaten, die an Sentimentalität, Freundschaftskontakten, mithin an stabilisierenden Brücken in die eigene Vergangenheit interessiert sind.
Andere üben sich in der Verklärung der NVA-Zeit, kultivieren Devotionaliensammlungen und pflegen Kameradschaftsnetze. Dieses in sich differente soldatische Erinnerungsfeld steht dauerhaft von außen unter Druck. Denn diejenigen, die in der DDR für das politische und militärische Instrumentarium verantwortlich waren, generieren ihre eigene Erinnerungswelt — hohe Offiziere und Generäle beschreiben eine andere Armeewirklichkeit, stellen ganz andere Deutungsvarianten zur Verfügung.
Deshalb ist allen Soldatenautoren eine Grundmotivation gemein: Es geht ihnen darum, das von ihnen Erlebte und Erinnerte ebenso zu dokumentieren, zu bewahren, dauerhaft verfügbar zu machen. Mit anderen Worten: Es hat sich ein "Kampf um die Erinnerung" (Aleida Assmann)49 entwickelt, bei dem beide Seiten versuchen, ihr jeweiliges Bild über die Zeit bei der Asche als deutungsrelevant in die Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschland zu implementieren. Von dieser Deutung der Dynamiken und Motivationen im Erinnerungsfeld zur NVA ausgehend, lassen sich weitere Implikationen und Bezugsebenen aufzeigen.
Das Erschließen der Erinnerungskultur zur NVA-Zeit wird Ergebnisse zu einer Alltagskultur und Mentalitätsgeschichte der DDR 'von unten' im Spannungsverhältnis zwischen Zivil- und Armeegesellschaft erbringen, und wird so außerdem im Sinn der eingangs vorgestellten Forschungspostulate sowohl eine moderne Militärgeschichte als auch eine DDR-Geschichte im Kontext einer integralen gesamtdeutschen Geschichte (weiter) entwickeln helfen.50)
Zusätzlich werden konkrete Vergleichsebenen zur Geschichte der Bundeswehr eröffnet: Soweit ich sehe, gibt es auch hier kaum Forschung zur Erinnerungskultur der einfachen Soldaten und Unteroffiziere. Erste Beobachtungen lassen darauf schließen, dass sich viele Erfahrungen in der Alltagswelt der Soldaten zwischen NVA und Bundeswehr gleichen oder zumindest ähneln (innersoldatische Hierarchie, Sinnentleerung).51)
49) Niemand lebt im Augenblick. Ein Gespräch mit den Kulturwissenschaftlern Aleida und Jan Assmann über deutsche Geschichte, deutsches Gedenken und den Streit um Martin Walser, in: Die Zeit, 50/1998; http://hermes.zeit.de/pdf/archiv/1998/50/ 199850.assmann_xml.pdf (Zugriff am 15. Mai 2008).
50) Siehe dazu Günther Heydemann: Integrale deutsche Nachkriegsgeschichte, in: APuZ 3/2007, S. 8-12. 51 Dazu auch Müller, Tausend Tage, S. 388; Sabrow: Der Stellenwert der NVA-Geschichte, S. 7.
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Und über die individuellen Prägungen und Lebensgeschichten werden Brücken zu relativ neuen Themenfeldern geschlagen — wie etwa die grenzüberschreitenden Implikationen der Popkultur zwischen Ost und West und ihre Adaptions- und Wirkungsprozesse in der DDR.52) Über die Zäsur von 1989 hinaus kommen schließlich Identitätsbildungsprozesse in den Blick, die die aktuellen Befindlichkeiten einer sehr großen Kohorte deutscher Männer berühren; hier finden sich konzeptionelle Schnittstellen etwa zur Generationenforschung.53)
Damit sind zugleich Anknüpfungspunkte zu anderen Fächern, wie etwa zur Politikwissenschaft, gegeben — ganz konkret zu denken ist beispielsweise an den Sachsen-Anhalt-Monitor, der nachgewiesen hat, dass das "Vergangenheitsbild der heutigen Ostdeutschen" über 35 "noch ganz überwiegend durch eigenes Erleben bestimmt" ist. Und ganz generell haben die Politologen ermittelt, dass sich mit der "Beendigung des 34. Lebensjahres" eine klar "erkennbare Generationenscheide" festmachen lässt.54)
Schließlich lassen Forschungsergebnisse zur Erinnerungskultur von NVA-Soldaten auch vergleichende Studien zu anderen Armeen in Ost und West, europäisch und transatlantisch, zu. Ebenso wird künftig daran zu denken sein, gezielt den Erinnerungshaushalt von Frauen in der Armee — von Soldatinnen und zivil angestellten Frauen — sowie von Ehefrauen und Lebenspartnerinnen von Soldaten und Offizieren vergleichend zu untersuchen, um so Rückschlüsse auf Lebensentwürfe und Lebenswelten von Frauen im Umfeld der Armeen in Ost und West zu gewinnen.55)
Schließlich ist das hier verhandelte Thema ein Beispiel, das auf eine grundlegende Herausforderung für die zeithistorische Zunft insgesamt verweist: Das Internet als Dokumentationsforum und Medium einer außeruniversitären Geschichtsschreibung. Dabei zeichnen sich gleich mehrere Aufgaben ab:
Es gilt eine Lösung zu finden, wie die Geschichtswissenschaft mit im Netz privat, außerakademisch publizierten Quellen (Erinnerungstexte u.a.) systematisch umgeht, und wie, wo und von wem diese zu ordnen, zu sammeln und zu analysieren sind. Diese Frage verweist auf das Problem des konzeptionellen Umgangs mit Quellen wie etwa NVA-Themenforen im Netz, privaten Geschichtsnetzseiten, publizierten Meinungsbildern im virtuellen Raum und dort veröffentlichten Mailkorrespondenzen.
Stehen diese Quellen gleichberechtigt neben archivalischem Schriftgut? Außerdem zu thematisieren ist die sich im Netz entfaltende Geschichtskultur, die jenseits der universitären Forschungslinien verläuft und die sich gezielt über diese Abgrenzung definiert; sie entwirft ganz eigene Geschichtsbilder, die auf große Resonanz stoßen und Verbreitung finden.56)
Alles in allem ist die Arbeit an der Soldatenerinnerungskultur (nicht nur) zur NVA ein lohnendes Sujet, das an der Schnittstelle verschiedener thematischer Fragestellungen positioniert ist, das zugleich das Formulieren und Erproben methodisch-konzeptioneller Überlegungen erlaubt und die universitäre, akademische Forschung auf ein noch unvermessenes Geschichtsterrain im Netz führt und somit herausfordert.
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52) Siehe jetzt: Peter Wurschi: Rennsteigbeat. Jugendliche Subkulturen im Thüringer Raum 1952-1989 (= Europäische Diktaturen und ihre Überwindung 11), Köln u.a. 2007.
53) Siehe Ulrike Jureit, Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005 (hier insbesondere der einleitende Aufsatz der Herausgeber unter dem Titel "Generationen", S. 7-26); Annegret Schüle, Thomas Ahbe, Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006.
54) Fürnberg, Holtmann, Jaeck: Sachsen-Anhalt-Monitor 2007. Politische Einstellungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Halle 2007, S. 61f. sachsen-anhalt.de/LPSA/fileadmin/Elementbibliothek/Bibliothek_Politik_und_Verwaltung/Bibliothek_StK/Dokumente/Sachsen-Anhalt-Monitor.pdf . Zugriff am 27. Mai 2008.
55) Dazu auch Ehlers/Rogg, Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR, S. 12; allgemein im Kontext der DDR-Forschung Wirsching, Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, S. 17.
56) Siehe in diesem Kontext auch von Plato, Zeitzeugen und die historische Zunft, S. 16f., der hier auf die Herausforderung durch das "Infotainment" verweist:
"Was bedeutet es, wenn heute und in Zukunft weitaus stärker nicht mehr nur ein Millionenpublikum etwas in Ausstellungen sieht, sondern insgesamt ein Verhältnis zum Gedenken und zur Wissenschaft über jeweilige Unterhaltungswerte, über ein 'Infotainment' oder 'Edutainment' bekommt, das sich seine alten, medial erfassten Zeitzeugen jeweils verlebendigt, neu geschnitten präsentieren kann, in jeweils 'moderne' Zusammenhänge stellt und neu strukturiert?
Die Geschichtswissenschaft wird sich diesem Problem 'als Horrorvision' nähern, aber nicht verschließen können, sondern Methoden entwickeln müssen, um diese neuen Bezüge zur Geschichte und ihren Quellen in dieser neuen medialen Wirksamkeit zu erfassen."
Ende
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Impressum des Heftes:
Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, Herausgegeben von: Daniel Bohse, Stefanie Middendorf und Jana Wüstenhagen
Die "Hallischen Beiträge zur Zeitgeschichte" erscheinen mindestens einmal jährlich in loser Folge. Sie wurden 1996 von Hermann-J. Rupieper (†) begründet, um eine Plattform für NachwuchswissenschaftlerInnen und herausragende studentische Arbeiten zu schaffen. Aufgenommen werden vorrangig Beiträge in deutscher und englischer Sprache, denen Quellen zugrunde liegen, die zuvor noch nicht publiziert wurden. Vorschläge für Veröffentlichungen nimmt die Redaktion entgegen. Manuskripte können postalisch oder per E-Mail eingesandt werden. Ein Recht auf Veröffentlichung besteht nicht. In die Reihe aufgenommene Beiträge werden auch im Internet veröffentlicht. Jeder — auch auszugsweise — Nachdruck und die Verbreitung über andere Medien bedürfen der Genehmigung der HerausgeberInnen.
Redaktion: Daniel Bohse (v. i. S. d. P.), Thomas Pruschwitz, Tom Gärtig www.geschichte.uni-halle.de/halbz/halbz # Gestaltung: Annett Sonntag, Halle (Saale) # Druck: Druckerei der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Hoher Weg 4, 06120 Halle (Saale) Kontakt: Redaktion Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Geschichte 06099 Halle (Saale) Germany Tel.: + 49 345 5524294 Fax: + 49 345 5527042 E-Mail: redaktion.halbz@geschichte.uni-halle.de ISSN: 1433-7886
Vorwort des Heftes:
Halle (Saale) im Juli 2008, Jana Wüstenhagen und Daniel Bohse
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, Ihnen ein weiteres Heft der "Hallischen Beiträge zur Zeitgeschichte" vorlegen zu können. Es ist uns besonders angenehm, Ihnen eine neue Mitherausgeberin der Reihe vorstellen zu dürfen. Stefanie Middendorf studierte Geschichte, Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte an den Universitäten Freiburg, Basel und Jerusalem. Seit Oktober 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Zeitgeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Im gleichen Jahr schloss sie eine Doktorarbeit zur Wahrnehmungsgeschichte der Massenkultur in Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert ab. Ihr Forschungsprofil entspricht dem Bestreben der Herausgeber, die "Hallischen Beiträge für Zeitgeschichte" zunehmend international zu vernetzen.Auch in diesem Heft finden sich Arbeiten, die bislang vernachlässigte Forschungsfelder in den Blickpunkt rücken, innovative Fragestellungen erproben und neue Quellenbestände erschließen. Eine besondere Bedeutung nimmt dabei die Verknüpfung globaler, regionaler und lokaler Zugriffe in der Zeitgeschichte ein.
Patrick Wagner zeigt in seinem Beitrag am Beispiel der indischen Bevölkerungspolitik Perspektiven einer globalen Zeitgeschichtsschreibung auf. Anhand der Analyse von Eingaben der DDR-Bevölkerung zur Wohnungspolitik in den 1970er Jahren fragt Stefan Schmidt, inwieweit auf diesem Wege Einfluss auf politische Entscheidungen genommen werden konnte.
Holger Zaunstöck stellt methodisch-konzeptionelle Überlegungen zur Diskussion, welche die v.a. im Internet vorliegenden Erinnerungen ehemaliger NVA-Soldaten als Quellen für eine integrierte Nachkriegsgeschichte Ost- und Westdeutschlands entdecken.
In einem zweiten Teil — der 'Werkstatt' — konzentriert sich dieses Heft auf die methodischen Herausforderungen und empirischen Erweiterungen der Forschung durch die oral history. Im Beitrag von Christian Grobler wird ein umfassender Bestand verschriftlichter Erinnerungsberichte zur Analyse von Repressionsmechanismen der sowjetischen Besatzungsherrschaft in einer ostdeutschen Mittelstadt herangezogen. Das Interview von Thomas Pruschwitz mit Otto Freiherr Grote, nach der deutschen Wiedervereinigung Chef des Verbindungskommandos der Bundeswehr, blickt auf die Strategien, Probleme und Effekte des Abzugs der Westgruppe der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR.
Ob für die gedruckte Version oder für die als PDF-Dateien auf unseren Internetseiten ( geschichte.uni-halle.de ) zur Verfügung stehenden Beiträge dieses Heftes wünschen die HerausgeberInnen wie immer eine anregende Lektüre. #
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