Johannes Agnoli  

Die Transformation
der Demokratie

und andere Schriften
zur Kritik der Politik

 

1967 im Voltaire-Verlag-Berlin

194 Seiten

dnb Buch (10)

wikipe Autor  *1925 in
Nordostitalien bis 2003 (78)

dnb Autor

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detopia:

A.htm    Umweltbuch

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Peter Brückner    C. W. Mills

    

2017
50 Jahre Die Transformation der Demokratie 
120 min  Video-Youtube

 

2022
planlos-leipzig.org/events/
johannes-agnoli-transformation-der-demokratie

 

http://adi-leipzig.net/transformation-der-demokratie

 

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Vier Thesen zur Transformation der Demokratie  (1967)

Gemessen an den wirklichen Machtverhältnissen des Staates und an den wirklichen Herrschaftsverhältnissen der Gesellschaft stellt der geläufige Ausdruck für den modernen bürgerlichen Staat: "parlamentarische Demokratie", eine Paradoxie dar.

William Borm fragte vor einiger Zeit den Vorstand des RC, ob der Club noch auf dem Boden der "klassischen parlamentarischen Demokratie" stünde. Der Vorstand des Clubs konnte darauf nur eine undeutlich-unsichere, wenngleich politisch kluge Antwort ("wir schon, aber die Parlamentsparteien nicht mehr") geben. 

   wikipedia  William_Borm *1895 bis 1987, FDP       RC: wikipedia  Republikanischer_Club   *1967 in Westberlin

Denn die klassische parlamentarische Demokratie gibt es schon längst nicht mehr.

Nicht nur entsprachen ihre soziale Funktion und ihre institutionelle Struktur einer vergangenen Periode der Geschichte. Der liberale Staat war die öffentlich-rechtliche Organisationsform der Herrschaft in einer Gesellschaft, die zwar kapitalistisch produzierte (und daher sind einige seiner Institute noch vorhanden), jedoch mit der Kraft der Dampfmaschine arbeitete. Mit einem solchen Staat kann unsere Gesellschaft, die Atomkraft produziert und mit Atomkraft produzieren wird, sehr wenig anfangen.

Überdies aber: die klassische parlamentarische Qualität des früheren bürgerlichen Staates: die Vormacht des Parlaments, seine Souveränität und seine politische wie legislative Entscheidungs­kompetenz, ist selbst verfassungsrechtlich überwunden. Das Grundgesetz postuliert die Vormacht der Exekutive gegenüber der Legislative, sei es in der Frage der Richtlinienkompetenz, sei es in der Frage der Kontrolle der Regierung über das Parlament.

Sehr viel kann indessen unsere Gesellschaft immer noch mit den Konventionalformen und -instituten des parlamentarischen Regierungssystems anfangen.

Pareto hatte 1922 Mussolini den Rat erteilt, um der Stabilisierung der Macht willen das Parlament in gewandelter Form weiter am Leben zu lassen: Massen, die demokratischen Gefühlen zuneigen, seien am besten durch ein Organ neutralisierbar, das ihnen die Illusion einer Beteiligung an der staatlichen Macht vermittelt. Nicht die gänzliche Abschaffung des Parlaments mache den Neuen Staat stark, sondern die Verlegung der Entscheidungs­befugnisse vom Parlament in den engeren Kreis nicht öffentlich tagender "Eliten".

Darin lag nach Pareto auch der historische Sinn und der bürgerliche Klassenauftrag der faschistischen Transformation des Staates.

 

  #1# 

Nach der Niederlage des Faschismus stand die Restauration des parlamentarischen Regierungssystems in den westeuropäischen Ländern im Zeichen des gleichen Problems, das der historische Faschismus nicht hatte erfolg­reich lösen können: die ohnehin in Bewegung geratenen Massen der Abhängigen im Zustand der Abhängigkeit zu halten, ihre Emanzipation zu verhindern, die als Umwälzung der Produktionsverhältnisse beginnen sollte.

Die Schwierigkeit lag - und liegt - in dem ambivalenten Charakter, den das Parlament unter Umständen annehmen kann. In einer dynamisch gewordenen bürgerlichen Gesellschaft, die ebenso durch den Antagonismus der Produktion gekennzeichnet ist wie durch die Interessenpluralität der Distribution, können sich Vertretungskörperschaften als Instrumente bieten, den Antagonismus staatlich zum Ausdruck zu bringen und so den (gesellschaftlichen) Klassenkampf zum politischen Herrschaftskonflikt zu potenzieren.

So gesehen, kann das parlamentarische Regierungssystem nur dann die bürgerliche Herrschaft garantieren und den Kapitalismus schützen, wenn es gelingt, seine Ambivalenz zurückzudrängen. Es muß als Mechanismus funktionieren, der antagonistische Konflikte so weit wie möglich politisch "irrelevant" macht und plurale Interessenkonflikte staatlich kontrolliert und befriedet.

Die von Friedrich Engels entwickelte Perspektive kehrt sich derart um: die "bürgerliche Republik", nach Engels die beste Form für die offene, unter Umständen sogar friedliche Austragung des Klassenkampfes und des Herrschaftskonflikts, versucht bürgerlich zu bleiben und transformiert sich zur besten Form, die abhängige Klasse in das kapitalistische System der Produktion und in das bürgerliche System der Herrschaft zu integrieren. Das "Volk" wird zur bloßen Manövriermasse im Konkurrenzstreit politischer Führungsgruppen degradiert. Beispielhaft, durchaus vorbildlich für andere "parlamentarisch" regierte Länder vollzog sich diese Transformation in der Bundesrepublik.

#2#

Zu den wichtigsten Aspekten dieses Versuchs, den Kapitalismus stabil zu machen und politisch zu sichern, gehören:

a) die Auflösung der Klasse der Abhängigen in einem pluralen System von Berufskategorien. Sie erwies sich schon in der faschistischen Fassung als geeignet, der objektiven Polarisierung der Gesellschaft von der subjektiven, organisatorischen und bewußtseinsmanipulativen Seite her entgegenzutreten. Dem organisierten Kapitalismus stehen hier wirksamere Mittel zur Verfügung als dem früheren Konkurrenzkapitalismus. Und aus den Fehlern des faschistischen Pluralismus hat der demokratisch genannte schließlich auch gelernt.

b) In der staatlichen Reproduktion der Gesellschaft schlägt dies um in die Formalisierung der Parteienpluralität. Gemeint ist, daß zwar mehrere, den Herrschaftstendenzen nach allerdings am besten zwei Parteien um den Machtanteil konkurrieren, die einzelnen Parteien dabei aber weitgehend sich angleichen. Sie verzichten darauf, konkrete gruppen- oder klassengebundene Interessen zu vertreten, werden zur allgemeinen Ausgleichsstelle und stehen in einem nach außen hin unterschiedslosen Austauschverhältnis mit allen realen Gruppen und allen idealen Positionen ausgenommen die an Strukturveränderungen interessierten Gruppen und die revolutionären Ideen. Solche Parteien trennen sich von der eigenen gesellschaftlichen Basis und werden zu staatspolitischen Vereinigungen: zu den Amtsträgern des staatlichen Ausgleichs.

c) Die verstaatlichten Parteien entwickeln eine neuartige gesellschaftliche Qualität, die mit ihrer eigenen materiellen Interessenlage verbunden ist: sie sind an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse interessiert, die ihre eigene Verstaatlichung und feste Etablierung an der Macht ermöglichen. Dadurch koppeln sie sich - ganz gleich, ob sie Massenparteien sind oder nicht - mit den Interessen derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, denen es ebenso an der Konservation der gegebenen Strukturen gelegen ist.

Insofern ist die alte Frage müßig, ob die politisch herrschenden Gruppen Handlanger der herrschenden Klasse sind oder ob sie eine selbständige gesellschaftliche Klasse (die politische Klasse) darstellen. Sie sind selbst ein Teil, nämlich der politische, der herrschenden Klasse. Genauer: sie sind deren staatliche Funktion. Auf diese Weise wird der gesellschaftliche Antagonismus im Parteiensystem nicht mehr widerspiegelt. Im staatlichen Herrschaftsapparat findet nur die Reproduktion des einen Pols der Gesellschaft statt, der sonst antagonistisch in Frage gestellt wäre. Das heißt: die Trennung der Parteien von der gesellschaftlichen Basis trifft nicht alle Klassen und Gruppen gleich, da von der Vertretung auf der Ebene der staatlichen Macht nur die Gruppen ausgeschlossen werden, die potentiell die Verhältnisse ändern wollen: die Abhängigen. Sie finden bei politischen Grundsatzentscheidungen kein Sprachrohr, so sehr sie auch in Marginalproblemen der politischen Pragmatik mit der einen oder der anderen Partei besser fahren mögen.

d) Ideologisch bezeichnen sich gerade solche Parteien, die sich den breiten Massen entfremdet haben, selbst als Volksparteien. Die Volksparteien entwickeln einen neuartigen, durch die Zusammenarbeit der eigenen Führungsstäbe bedingten Herrschaftsmechanismus, in dem verdinglichte, obrigkeitliche Machtzentren in sich zirkulierend ein Konkurrenzverhältnis eingehen. 

Nur ist dieses Konkurrenzverhältnis oligokratisch organisiert und hat mit dem Prinzip der freien Konkurrenz ebenso wenig zu tun wie die organisierte Marktaufteilung des modernen Oligopolkapitalismus mit dem freien Wettbewerb. Die offene Konkurrenzzirkulation politischer Führungsgruppen, die sich gegenseitig bekämpfen und ausschließen, wird abgelöst von einer assimilativen Zirkulation, die in letzter Konsequenz zur Selbstauflösung treibt: zur durchgängigen Assimilation der (schein)konkurrierenden Parteien und ihrer gemeinsamen Beteiligung an der Staatsgewalt - sei es im Zusammenspiel und im Wechselrnechanismus von Mehrheits- und Minderheitsfraktion, sei es in der Form der Großen Koalition. So kämpfen die Parteien untereinander um die Regierungsmacht und bilden dennoch eine symbiotische Einheit, in deren Kreis ein abstrakter Führungskonflikt ausgefochten werden kann. Sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei.

   #3# 

Die Transformation im Parteiensystem hängt mit den Veränderungen zusammen, die das Parlament selbst im Laufe der letzten Jahrzehnte funktional und strukturell erfahren hat. Bei diesen Veränderungen darf allerdings eines nicht vergessen werden, sonst läuft man Gefahr, den "Funktionsverlust" des Parlaments gegenüber früheren Formen des Parlamentarismus zu mystifizieren: als gesellschaftlicher Machtfaktor stellte das Parlament geschichtlich vom Anfang an in der Absicht der bürgerlichen Gesellschaft die Fiktion der durch Volksvertretung verwirklichten Volksfreiheit dar. "Von allen... die Idee der Freiheit und sohin der Demokratie einschränkenden Elementen ist der Parlarnentarismus der Bedeutsamste... (Es ging um den Schein), als ob im Parlamentarismus die Idee der demokratischen Freiheit... ungebrochen zum Ausdruck käme. Diesem Zweck diente die Fiktion der Repräsentation" (Keisen).

Tatsächlich erweist sich das parlamentarische Repräsentationsprinzip (freies Mandat - frei von dem Willen der Wähler, versteht sich, nicht von den Anordnungen und Aufträgen der Führungsstäbe -, Nicht-Abberufbarkeit während der Legislaturperiode usw.) als wirksames Mittel, die Massen von den Machtzentren des Staates und - durch die staatlich-rechtliche Vermittlung - von den Entscheidungszentren der Gesellschaft fernzuhalten. 

Gewiß erwächst dem einzelnen Abgeordneten, sofern er nicht zum engeren Führungskreis gehört, aus dem Repräsentationsprinzip keine eigene Macht. Zur parlamentarischen Fiktion gehört auch die Leibholzsche Ideologisierung, der Abgeordnete sei der Herr, und nicht der Diener des Volkes. Sofern aber - und darin ist Pareto zuzustimmen - teils auch durch das politische Monopol der Parlamentsparteien die Bevölkerung sich an der parlamentarischen Politik und am Zusammenspiel Regierung-Parlament einerseits, an der parlamentarisch veröffentlichten Auseinandersetzung Regierung-Opposition andrerseits orientiert, wird aus dieser Fiktion eine sehr reale Herrschaftskomponente. 

Der Bundestag ist weder Herr des Volkes noch volksvertretender Gesetzgeber. Er betätigt sich aber als verfassungsmäßig unumgängliches Instrument der Veröffentlichung von Beschlüssen, die durch das Zusammenwirken von Staatsapparat und gesellschaftlichen Machtgruppen zustandegekommen sind. Er fungiert also als Transmissionsriemen der Entscheidungen oligarchischer Gruppen. Diese (die Führungsgruppen der Produktionssphäre - Oligopole -, aber auch der kulturellen Sphäre - die Kirchen z. B. ) finden sich im Parlament durchaus konkret vertreten; insofern fungiert und funktioniert das Parlament als Repräsentation der Herrschaft. Nur als solche ist es für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft interessant und annehmbar. Dort, wo es sich dem Einbruch emanzipatorischer Gegenmacht bietet, weil die Transformation nicht gelingen will, greift die herrschende Klasse zu härteren Mitteln der Eigenrepräsentation. Beispiel Griechenland.

   #4# 

Das bedeutet: die Perspektive einer "systemimmanenten" Evolution des Parlamentarismus scheitert an seiner eigenen, systembedingten, d.h. durch seine Herrschaftsfunktion bedingten Involutionstendenz. 

wikipedia  Involution  Rückbildung der Gebärmutter nach der Entbindung

Wie diese Involutionstendenz langfristig stärker durchschlägt als die Möglichkeit, das Parlament vertretungsfunktional auszunutzen, zeigt die Entwicklung in noch desintegrierten Gesellschaften. Die fundamental-oppositionellen Parteien, die sich auf das parlamentarische Spiel einlassen und den außerparlamentarischen Kampf nicht mehr als das wesentliche Mittel des Herrschaftskonflikts praktizieren, drohen ihre emanzipatorische Qualität zu verlieren und sich in bürokratische Integrationsapparate zu verwandeln. Anders gesagt: der politische und (warum denn nicht) auch moralische Niedergang der Sozialdemokratie (ein historischer Verrat an der Befreiung der Menschen) ist ein Warnzeichen für die sozialistischen und kommunistischen Parteien in den kapitalistischen Ländern.

Jede Parlamentsreform, die in involutiv gerichteten Staaten verwirklicht wird, dient nicht dazu, die Möglichkeit der Beteiligung der Massen an den Entscheidungen­sprozessen auszuweiten, sondern dazu, sie durch Steigerung der Herrschaftsfunktionalität des Parlaments einzudämmen.

Wo eine politisch artikulierte freie Öffentlichkeit besteht, findet sie im Parlament kein Werkzeug, praktisch zu werden.

Das trifft nicht nur für die antagonistische Öffentlichkeit zu, sondern zuweilen selbst für die kritische. Beide müssen ihre politische Vermittlung in außer-, im weiteren Verlauf der Umfunktionalisierung des Parlaments in antiparlamentarischen Organisationen und Organisationsformen suchen.

Es kann diskutiert werden darüber, ob die Transformation der Demokratie rückgängig zu machen, ob z.B. die grundgesetzliche Ausgangsposition wieder herstellbar ist. In dieser Richtung bewegen sich heute die meisten Gruppen der außerparlamentarischen Opposition.

Zweierlei muß jedoch dabei beachtet werden:

1. eine eingehende Analyse des Grundgesetzes müßte zunächst klären, ob und in welchem Ausmaß die Entdemokratisierung der Bundesrepublik schon grundgesetzlich intendiert wurde;

2. Nicht der Machtwille der Politiker und deren Korrumpierbarkeit, noch die Entpolitisierung der Massen sind die Ursachen der Transformation. Diese ist vielmehr notwendig für einen Kapitalismus, der sich zum Versuch eigener Rettung staatlich organisiert. 

Die Rückkehr zur Reinheit des Grundgesetzes wäre Rückkehr zu den Anfangsbedingungen der Transformation selbst. Es mag sein, daß die Wiederherstellung oder die Verteidigung der Grundrechte eine wesentliche Voraussetzung für den Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung bildet. 

Grundrechte emanzipieren aber die Massen nicht, solange wir eine bürgerliche Gesellschaft und eine kapitalistische Produktionsweise haben, deren Staat genau für den nicht emanzipatorischen Gebrauch der Grundrechte sorgt.

In den staatlich befriedeten und integrierten Zustand des organisierten Kapitalismus ist vielmehr die politische Wiederherstellung des Antagonismus, und das ist die Aktualisierung des Klassenkampfes und die Desintegration der Gesellschaft, der erste Schritt für die Verwirklichung von Demokratie.

Aus: "KONTUREN" Nr. 31, Zeitschrift für Berliner Studenten

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    aus wikipedia-2023  

Die Transformation der Demokratie ist eine politikwissenschaftliche Monografie von Johannes Agnoli. Er vertritt darin die These, das Parlament habe sich zu vor- oder antidemokratischen Formen zurückgebildet (Involution). Statt den Volkswillen zu repräsentieren, transformieren die zum Teil des Staates gewordenen Parteien die Direktiven des von einer Wirtschaftsoligarchie dominierten Staatsapparats in öffentliche Meinung. Mithilfe der Kulisse eines Volkswillens werden vor allem die Interessengegensätze von Kapital und Arbeit harmonisiert und befriedet und damit die Herrschaftsordnung stabilisiert.

Der Essay erschien 1967 zusammen mit dem Essay Die Transformation des demokratischen Bewusstseins von Peter Brückner erstmals beim Voltaire-Verlag im Druck, die Gesamtpublikation trug den Titel von Agnolis Aufsatz. Einfluss und Anerkennung der Schrift, die als Agnolis erstes Hauptwerk gilt, gingen schon zur Zeit des Erscheinens über den Kreis der außerparlamentarischen Opposition hinaus.[1][2] Das Buch und speziell Agnolis Essay wurde mehrfach missverständlich als "Bibel der APO" bezeichnet.[3] Die Transformation der Demokratie Agnolis gilt als die bedeutendste parlamentarismuskritische Grundlagenschrift der Nachkriegszeit.[4] Agnoli publizierte den Essay erneut 1990 mit einer "Vorbemerkung".

Er wurde später zusammen mit den Aufsätzen Von der kritischen Politologie zur Kritik der Politik, Wahlkampf und sozialer Konflikt, Auf dem Weg zur unmittelbaren Demokratie? und Zwanzig Jahre danach. Kommemorativ-Abhandlung zur "Transformation der Demokratie" veröffentlicht.

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Mit seinem 80-seitigen Essay unternimmt Agnoli den Versuch, moderne Techniken der Herrschaft und Machterhaltung in westlichen Demokratien zu analysieren, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland zu Zeiten einer aufgeheizten Diskussion um die Notstandsgesetze.

Im ersten Kapitel Ursachen und Bedingungen skizziert er die Entwicklung des Verfassungsstaates:

Hatte der altliberale Staat in den Anfängen der kapitalistischen Expansion den Widerspruch der Gesellschaft einfach geleugnet, indem er die sich schon zu Wort meldenden Massen ignorierte; hatte der faschistische Staat die große Mehrheit der Bevölkerung aus dem Entscheidungsprozeß mit terroristischen Mitteln ausschließen und den Widerspruch gewaltsam lösen wollen; so muss sich heute die parlamentarische Demokratie in ihrer Struktur und Funktion so weit wandeln, dass sie den Widerspruch erfolgreich glätten und durch staatliche Regelung sozial ausgleichen kann. Anders gesagt: sie muss in der Lage sein, disziplinierend in den Widerspruch einzugreifen (S. 9f.)

Der Faschismus leistete nach Agnoli einen Beitrag zur Modernisierung, insofern er zeigte, "wie eine soziale Manipulation mit Erfolg vorgenommen werden kann, etwa durch Ideologisierung der Verhältnisse".

Der Kapitalismus gab sich einen sozialen Anstrich, hat dabei aber vor allem "die alte Idee der Privatinitiative und der freien Konkurrenz über Bord geworfen": Die Absicherung des Profits und der gesellschaftlichen Privilegien haben Vorrang bekommen. Die Abhängigen sollen sich dabei mit der "Idee der wirtschaftlichen Konsumfreiheit und der gesellschaftlichen Partnerschaft" zufriedengeben. Gegengruppen und Oppositionsparteien würden zurückgedrängt und isoliert.

Im zweiten Kapitel analysiert Agnoli Programm und Technik des sozialen Friedens. Die Volksparteien stellen eine scheinbare Pluralität dar, so dass das demokratische Spiel fortgesetzt werden kann, obwohl auch beim Wechsel der Regierungsparteien keine wesentlichen Änderungen eintreten. Es handelt sich bei den unterschiedlichen Parteien eigentlich um eine Einheitspartei im äußeren Gewand eines pluralen Parteiensystems:

"...so wird das wirkliche Gesicht der Volksparteien des modernen Verfassungsstaates offenbar: sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei - plural in der Methode des Herrschens, einheitlich als Träger der staatlichen Herrschaft gegenüber der Bevölkerung, einheitlich vor allem in der Funktion, die die Volksparteien innerhalb der westlichen Gesellschaft übernehmen." (S. 25)

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Analyse
Basis seiner Analyse ist die Annahme vom Vorhandensein einer Klassengesellschaft, in der ein Antagonismus von Kapital und Arbeit, von Herrschenden und Beherrschten besteht. Die Möglichkeiten der parlamentarischen Demokratie sind dabei ambivalent. Durch die parlamentarische Vertretung der Forderungen der Beherrschten könnte der Antagonismus staatlich zum Ausdruck gebracht werden, womit der gesellschaftliche Klassenkampf zum politischen Herrschaftskonflikt würde.

Die Parlamentarische Demokratie, so Agnoli, biete aber auch Möglichkeiten, den gesellschaftlichen Konflikt zu befrieden und zurückzudrängen, was ungestörte kapitalistische Herrschaft garantiere. Zu einem solchen Befriedungs-Mechanismus habe sich besonders das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zurückentwickelt. Diesen Prozess bezeichnet Agnoli im Gegensatz zur Evolution als Involution, als Rückbildung zu vor- oder antidemokratische Formen, wie etwa im Feudalismus oder in autoritären Regierungsformen. Bei dieser Funktionsveränderung des parlamentarischen Betriebs spielen das Repräsentationsprinzip und die politischen Parteien die Hauptrolle:

Das parlamentarische Repräsentationsprinzip, der Kern des Parlamentarismus, wurde als „Verfassungsnorm erdacht, gewollt und verwirklicht mit einer genauen repressiven Aufgabe, die schon von Anfang an einen Befriedungscharakter trug. Es galt, friedlich aber wirksam die Mehrheit der Bevölkerung von den Machtzentren des Staates fernzuhalten.“[5] Dabei sei auch die Macht der Parlamentarier nur Fiktion, der Deutsche Bundestag betätigt sich eher als Instrument der Veröffentlichung von Beschlüssen, die im Zusammenwirken von Staatsapparat und gesellschaftlichen Machtgruppen zustande kamen. Er fungiert damit als Transmissionsriemen der Entscheidungen oligarchischer Gruppen.

Im Laufe des Transformationsprozesses verzichten die parlamentarischen Parteien darauf, konkrete gruppen- oder klassengebundene Interessen zu vertreten, werden zur allgemeinen Ausgleichsstelle und sind quasi verstaatlicht. Sie sind an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse interessiert, die ihre eigene Verstaatlichung und feste Etablierung an der Macht ermöglichen. Darum ist die Domestizierung der Linken durch Parlamentarisierung systemnotwendig. Agnoli schließt daraus: „Nur Fundamentalopposition ist daran interessiert, politische und gesellschaftliche Missstände schonungslos aufzudecken.“[6]

Hauptkriterium der Transformation ist die Verstaatlichung der im Parlament vertretenen Parteien. "Die Führungen der Parlamentsfraktionen bewegen sich eigentlich schon auf der Regierungsebene. Da sie sich untereinander näher stehen als den jeweiligen »Hinterbänklern«, gilt das tatsächlich auch für die Oppositionsparteien."[7]

Vorbemerkung von 1990
In seiner Vorbemerkung grenzt Agnoli sich von utopischen Orientierungen ab, lehnt aber auch jede Verklärung der Gegenwart ab. Er will "einen Beitrag zum erneuten Durchbruch der Vernunft" leisten, "der Denkrationalität in einer Zeit, deren 'Geist' sich in Liebe, Gefühl, Betroffenheit, Erbauung ergießt." Zum Prinzip Vernunft gehöre, so Agnoli, die dem Prinzip der Aufklärung verpflichtete Fähigkeit, die "lügenhafte Publizität" (Kant) aller Verfassungen aufzudecken und sich ihres Herrschaftscharakters bewusst zu werden. Agnoli stellt fest, die Sprachentwicklung seit 1967 habe die Begriffe seiner Analyse unverständlich werden lassen, obwohl der Inhalt der Begriffe, die die Funktionsweise des Kapitalismus darstellen, weiterhin bestehe. In der Sache habe sich mit der Emanzipation der Frau und dem Bewusstsein der Verantwortung für die Umwelt aber auch eine zusätzliche Veränderung vollzogen. Rossana Rossandas Zuordnung der "Geschlechtsfrage" zur Klassenfrage findet er daher bedenkenswert. Den Vorwurf, er vertrete eine "Verschwörungstheorie" weist er zurück.

 

Kritischer Rückgriff auf italienische Theoretiker
Agnoli bezieht sich in seiner Analyse auf Arbeiten der italienischen Theoretiker Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca und Robert Michels. Er erläutert ihre geschichtliche Bedeutung:

„Wissenschaftlich auffallend ist bei der Reflexion über die Erfahrung der unmittelbaren Vergangenheit und über die Möglichkeiten, ihre ‚Lehre‘ bei der Reform des Staates anzuwenden, dass sie Kategorien, Schemata und Vorschläge reproduziert, die schon einmal an der Schwelle zwischen dem alten liberalen und dem faschistischen Staat von antidemokratischen Soziologen und Philosophen vorgebracht wurden. Das gilt jedenfalls für die Politik- und Sozialwissenschaftler, die sich in den Dienst des Verfassungsstaates gestellt haben und von denen sich viele gewiß nicht zufällig an Paretos Analysen und Thesen orientieren. Freilich scheint ihnen unbekannt zu sein, dass es Pareto (dem ‚Marx der Bourgeoisie‘, Anmerkung WP) auf ein streng elitär-autoritäres System ankam, das "mit der Ornamentik parlamentarisch-demokratischer Einrichtungen und Gepflogenheiten nur ausstaffiert bleiben sollte.“

Wolfgang Durner arbeitet heraus, dass Agnolis Grundposition schon bei Marx, in dessen Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte und in besonders deutlicher Form auch bei Helmut Wagner/Rudolf Sprenger zu finden sei.[11]

Auch der marxistische Historiker Arthur Rosenberg hatte die Demokratie der Weimarer Republik in ähnlicher Weise analysiert.

 

Unterschied zum Faschismus  

Gemessen am Faschismus, so Agnoli, liege der von ihm dargestellten Transformation der Demokratie zu einem rechtsstaatlichen Sicherungssystem des Kapitalismus „der humanitäre Gedanke zugrunde, durch eine Auflösung der Ambivalenz der Vertretungsorgane und der Vertretungsparteien die Notwendigkeit des offenen Terrors in Krisenzeiten zu umgehen.“[13] Ob der Faschismus dadurch gänzlich überflüssig gemacht werden kann, ist ihm allerdings fraglich.[14]

Im Zusammenhang mit den Notstandsgesetzen äußert Agnoli: „Da die Hochkonjunktur der Regel nach eine Vertrauensbasis für die regierende Gruppe schafft, kann diese unangefochten die nötigen rechtlichen und ideologischen Vorkehrungen für die Krise treffen. Hier zeigt sich am stärksten die politische Fähigkeit, die Gunst des Augenblicks und die Chance der Manipulation zu erkennen.“[15]

 

Position in der linkssozialistischen Staats-Diskussion
Theoriegeschichtlich markiert das Erscheinen der Agnoli-Studie einen Wendepunkt im bundesrepublikanischen Linkssozialismus. Viele Jahre war Wolfgang Abendroth als einziger Marxist auf einem politikwissenschaftlichen Lehrstuhl der Mentor für Linke in der Arbeiterbewegung gewesen. Er hatte die Beratungen des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates analysiert und war zum Ergebnis gekommen, dass dem Grundgesetz ein historischer Klassenkompromiss zugrunde lag und in ihm eine liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht festgeschrieben sei. Die zukünftige Gestaltung der Wirtschaftsordnung bliebe damit einer späteren Entscheidung des Souveräns vorbehalten. Nach Abendroths Auffassung ermögliche die grundgesetzlich fixierte Kombination des demokratischen und sozialen Rechtsstaates eine friedliche Durchsetzung des Sozialismus.[16] Eine solche Demokratie gab es laut Agnoli längst nicht mehr. War Abendroth der Vordenker einer traditionalistisch-gewerkschaftlichen Linken gewesen, wurde Agnoli nun zum Stichwortgeber der Außerparlamentarischen Opposition (APO).

 

Rezeption
In einer der ersten Rezensionen nannte Sebastian Haffner den Agnoli-Text ein „kleines Meisterwerk“ und befand: „Die Sache der Demokratie ist heute bereits wieder, kaum weniger als 1848 und 1918, eine revolutionäre Sache.“ Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten sei nicht geringer als etwa im Kaiserreich: "Nominell leben wir in einer Demokratie, das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen." "Das entmachtete Volk hat seine Entmachtung nicht nur hingenommen, sondern geradezu lieb gewonnen."[17]

Dieter Senghaas lobte: „Selten wurde kritische, auf politische Emanzipation hinwirkende Theorie der Demokratie in den vergangenen Jahren in vergleichbarer Differenziertheit vorgetragen.“

Von den Theoretikern der APO wurde die Studie als „die Begründung außerparlamentarischer Opposition schlechthin rezipiert und in gewisser Weise kanonisiert.“[19] Klaus Bittermann bezeichnete sie als „Bibel der APO“.

Jahre später wurde sie von manchen früheren Vertretern der APO hart kritisiert,[21] Wolfgang Kraushaar schrieb, der Parlamentarismuskritik Agnolis „seien eine Illiberalität und ein Antipluralismus inhärent, die mit dazu beigetragen haben, eine außerparlamentarische Bewegung und viele der aus ihr hervorgegangenen Gruppen in die Irre zu führen.“[22] Dass Kraushaar jedoch die Transformation der Demokratie, wie mehrfach in der Literatur kolportiert[23], eine „linksfaschistische Parlamentarismuskritik“ genannt habe, wird von diesem dementiert.[24]

Joachim Hirsch nannte die Transformation der Demokratie 1990 einen „theoretischen Meilenstein“, diagnostiziert aber ihre weitgehende Wirkungslosigkeit: „Angesichts dessen, was aus dieser neuen Linken geworden ist, war dieser Kritik keine allzugroße Wirkung beschieden. Ironischerweise erscheint die politische Entwicklung seit der 68er Protestbewegung wie eine fulminante Bestätigung für das, was Agnoli als die institutionellen ‚Spielregeln‘ parlamentarischer und parteiförmiger Politik so glänzend herausgearbeitet hat. Der Prophet hatte recht, weil er nicht gehört wurde.“[25]

Die letzte Auflage der Schrift erschien im Jahr 2004. 50 Jahre nach Ersterscheinung erschienen in linken Publikationen einige Rückblicke auf die Schrift, worin ihre bleibende Aktualität betont wurde.

 

Involution

Agnolis Definition von Involution (Rückentwicklung), dem vielleicht bekanntesten Begriffs seiner Analyse,[30] lautet:

Involution bildet den korrekten Gegenbegriff zu Evolution. Der Terminus hat sich in der politischen Sprache der romanischen Länder eingebürgert und bezeichnet sehr genau den komplexen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozess der Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder antidemokratische Formen. (S. 16)

Agnoli meint damit den Rückbau und die Auflösung der Institutionen, aber auch die Disziplinierung von politischen Gruppen und die Stärkung der Sicherheitsmaßnahmen des Staates, die die Freiheit, scheinbar zum Schutz der Menschen, immer weiter einschränken.[31] Darüber hinaus werden aber auch Institutionen beibehalten und umstrukturiert oder umdefiniert. In den parlamentarisch regierten Ländern, so Götz Eisenbart, sei die Involution dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht gegen die alten Verfassungsnormen und -formen durchsetzen will, sondern tendenziell sich ihrer zu bedienen versucht. "Um die Demokratie zu transformieren, wird die Funktion der traditionellen Institutionen verändert und werden die Gewichte innerhalb der traditionellen Struktur verlagert."[32]

Unterschied zu Colin Crouch
Anders als Colin Crouchs Konzept der Postdemokratie glaubt Agnoli nicht an eine Regenerationsfähigkeit der Demokratie. Beide sind sich in der Diagnose der Verfallssymptome und der inneren Mechanik der Macht einig. Agnoli glaubt aber, das Parlament per se sei nichts anderes als eine Stütze der Macht, weil es lediglich den Schein der Repräsentation vermittle. Er plädiert daher für ein Rätesystem.

Zitate
„Es dient keinem Herrschaftssystem, wenn die Techniken des Herrschens den Beherrschten zum Bewusstsein gebracht werden.“
„Massen, die demokratischen Gefühlen zuneigen, (sind) am besten durch ein Organ neutralisierbar, das ihnen die Illusion einer Beteiligung an der staatlichen Macht vermittelt. Nicht die gänzliche Abschaffung des Parlaments (macht) den neuen Staat stark, sondern die Verlegung der Entscheidungsbefugnisse vom Parlament in den engeren Kreis nicht öffentlich tagender Eliten.“

 

 

 

 

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Johannes Agnoli  1967 Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik