Kurt Andersen

 Fantasyland

500 Jahre Realitätsverlust

Die Geschichte Amerikas neu erzählt

Fantasyland.
How America Went Haywire.
A 500-Year History

 

 

2017 bei Penguin Random House, New York

2018 bei Goldmann, deutsche Erstveröffentlichung

Kurt Andersen Fantasyland 500 Jahre Realitätsverlust

2017  735 Seiten

DNB person *1954

DNB Buch 

Bing Buch     Goog.Buch

qwant Buch

detopia:

Ökobuch   A.htm 

Amerikabuch

Neil Postman 

Lewis Mumford 

Theo Roszak

Das Buch  

 

Widmung  Für die Menschen, die mir das Denken beibrachten -
Jean und Bob Andersen und die Lehrer des Schulbezirks 66 in Omaha

 

Lesen beim Verlag bis Seite 39: 
randomhouse  Fantasyland 

Inhalt.pdf (DNB)

Aus dem Amerikanischen von
Kristin Lohmann, Claudia Amor und Johanna Ott

KurtAndersen.com/fantasyland  Home, en

en.wikipedia Autor  

en.wikipedia Buch 

google books  Fantasyland

 


 

Angaben   aus der Verlagsmeldung

»Das postfaktische Zeitalter ist kein unerklärliches und verrücktes neues Phänomen. Im Gegenteil: Was wir jetzt sehen, ist nur die Spitze des Eisberges«, schreibt Kurt Andersen in seinem aufsehenerregenden Buch Fantasyland.

Der Hang zum Magischen und Fantastischen, so der preisgekrönte Kulturjournalist, ist tief in die kollektive DNA der Amerikaner eingeschrieben. Er entstand, als europäische Siedler erstmals den Boden der »Neuen Welt« betraten, im Gepäck vor allem eins: ausgeprägten Individualismus und Lebensträume und Fantasien von epischem Ausmaß.

Mitreißend und eloquent erzählt Andersen vom großen amerikanischen Experiment – und warum es so spektakulär scheiterte.

Wer verstehen will, wie die Grenze zwischen Realität und Illusion derart verrutschen und ein Mann wie Donald Trump es ins Weiße Haus schaffen konnte, muss dieses Buch lesen.

 


Dämonen, Kreationisten und der Antichrist: Die USA sind auf dem Irrweg. Das zumindest behauptet Kurt Anderson, der in seinem neuen Buch <Fantasyland> einen gefährlichen Hang zum Post-Faktischen in der amerikanischen Bevölkerung ausmacht und historisch belegt, dass alles schon vor 500 Jahren begann. Ein „Fantasyland“ – in das haben sich die USA verwandelt, kopflos und verrückt. So zumindest sieht es Kurt Andersen. Zwei Drittel der Amerikaner glauben, dass Engel und Dämonen über ihr Leben bestimmen. Ebenfalls zwei Drittel halten die Genesis der Bibel für einen Faktenbericht über die Entstehung der Welt. Und der Antichrist steht auch hoch im Kurs, ob in Gestalt von Barack Obama oder in der Hillary Clintons. Eine Nation, die an ewig unaufhaltbaren Fortschritt, an Demokratie, Freiheit und Toleranz glaubte, ist auf dem Irrweg und gerät immer tiefer in den Tunnel von Post-Wahrheiten und Fantasie. Kurt Andersen führt die Gründe dafür 500 Jahre weit zurück in die amerikanische Geschichte.

 

Inhalt   


Teil I  Wie Amerika heraufbeschworen wurde: 1517-1789 

  • 2 - Ich glaube, also bin ich im Recht: Die Protestanten  (31)

  • 3 - Alles, was glänzt: Die Goldsucher  (36)

  • 4 - Wir bauen uns den Himmel auf Erden: Die Puritaner  (46)

  • 5 - Das gottgegebene Recht, an Gott zu glauben  (58)

  • 6 - Imaginäre Freunde und Feinde: Die frühe satanische Angst  (65)

  • 7 - Das erste Ich-Jahrhundert: Religion auf Amerikanisch  (75)

  • 8 - Was unterdessen in der realitätsnahen Gesellschaft geschah  (85)


Teil II - Die Vereinigten Staaten des Staunens: Das 19. Jahrhundert 

  • 9 - Das Erste Große Delirium  (93)

  • 10 - Die typisch amerikanische Fan-Fiction von Joseph Smith, dem Propheten (111)

  • 11 - Moderne Magie: Die Nation der Quacksalber  (119)

  • 12 - Fantastische Geschäfte: Der Goldrausch als Wendepunkt  (132)

  • 13 - Auf der Suche nach gegnerischen Monstern: Der Einzug der Verschwörungstheorien  (140)

  • 14 - Zwei Weltanschauungen im Krieg  (146)

  • 15 - Zehn Millionen kleine Farmen  (155)

  • 16 - Die Industrialisierung der Fantasie  (164)


Teil III - Der beschwerliche Weg zur Vernunft: 1900-1960 

  • 17 - Fortschritt und Rückschläge  (181)

  • 18 - Der größte Rückschlag: Alte Religion im neuen Glanz  (189)

  • 19 - Amerikas Geschäft mit dem Showbusiness  (209)

  • 20 - Amerikas Schlaraffenland: Die Utopie der Vorstadtidylle  (219)

  • 21 - Die Schein-Normalität der 1950er  (231)


Teil IV - Der Urknall: Die 1960er und 70er   -  Einleitung (265) 

  • 22 - Der Urknall: Die Hippies   (270)

  • 23 - Der Urknall: Die Intellektuellen (291)

  • 24 - Der Urknall: Die Christen (305)

  • 25 - Der Urknall: Die Politik, die Regierung und all die Verschwörungen  (323)

  • 26 - Der Urknall: Ein Leben im Land des Entertainments  (343)


Teil V - Fantasyland in seiner ganzen Vielfalt: Von den 1980ern bis zur Jahrhundertwende

Einleitung (369)

  • 27 - Wie man Scheinwelten realistischer gestaltet und die Realität unwirklich erscheinen lässt  (372)

  • 28 - Auf ewig jung: Das Kids-’R’-Us-Syndrom   (385)

  • 29 - Die Reagan-Regierung und der Beginn des digitalen Zeitalters  (395)

  • 30 - Die Religion im Amerika der Jahrtausendwende (416)

  • 31 - Die ungestümen Formen unseres Christentums: Überzeugungen und Bräuche (427)

  • 32 - Amerika gegen den gottlosen Rest der zivilisierten Welt: Warum sind wir nur so außergewöhnlich? (450)

  • 33 - Übernatürlich, aber nicht notwendigerweise christlich; spirituell, aber nicht religiös   (461)

  • 34 - Hexendoktoren der Spitzenklasse: Die Wiederverzauberung der Medizin  (472)

  • 35 - Wie der Mainstream Fantasyland zum Aufstieg verhalf: Weicheier, Zyniker und echte Fans  (482)

  • 36 - Alles ist möglich — solange es mich nichts kostet und mir nicht wehtut  (500)


Teil VI -  Fantasyland macht Probleme: Von den 1980ern bis in die Gegenwart und darüber hinaus

  • 37 - Die Irren haben die Zügel in der Hand - und sie sehen Monster überall  (513)

  • 38 - Real ist nur die Verschwörung: Amerikas Akte X  (543)

  • 39 - Wutbürger: Die neu erstarkte Stimme des Volkes  (568)

  • 40 - Als die Grand Old Party allmählich aus den Fugen geriet  (578)

  • 41 - Liberale Wissenschaftsverweigerer  (602)

  • 42 - Durchgeknallte Waffennarren  (609)

  • 43 - Der ultimative illusorisch-industrielle Komplex  (624)

  • 44 - Unsere inneren Kinder? Amüsieren sich in Disney World!  (643)

  • 45 - Traumhafte Zeiten für die Wirtschaft (657)

  • 46 - Fantasyland gibt den Kurs der Nation vor (663)


  • Danksagung 712  

  • Personenregister 714 

  • Sachregister 723

 

 

Nana Brink 2018

Amerikaner liebten Fake News schon immer

 deutschlandfunkkultur  kurt-andersen-fantasyland-amerikaner-liebten-fake-news 

Traumfabriken und Wunderwelten entsprechen der amerikanischen Mentalität eher als Zahlen und harte Fakten. Dieser These folgt Kurt Andersen in dem Sachbuch „Fantasyland“ und findet Belege schon in den Gründerjahren der Vereinigten Staaten.

Nicht nur Millionen Europäer sind bis heute verwirrt, wie es dazu kommen konnte, dass die USA von einem Mann namens Donald Trump regiert werden. Millionen Amerikaner sind es auch. Bei ihrer Suche nach einer Antwort könnte ihnen das neue Buch des renommierten Kulturjournalisten Kurt Andersen helfen: „Fantasyland – 500 Jahre Realitätsverlust“ ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Andersen, Mitbegründer des legendären Spy-Magazins und Moderator der in Amerika sehr populären Radiosendung „Studio 360“, hält sein Land für „übergeschnappt“. Und das nicht erst seit der Wahl von Trump.

Zwar scheinen gerade jetzt die Grenzen zwischen Illusion und Realität in gefährlicher Weise verrutscht. Das Land, das an den unentwegten Fortschritt glaubte, an Demokratie und Freiheit, sei jetzt kurz davor, in einem Strudel von Fake News und Post-Wahrheiten zu versinken. Aber der Glaube an „alternative Fakten“ sei kein neues Phänomen, sondern Teil der amerikanischen DNA.

Amerikaner glauben an Engel und Dämonen

Um das zu belegen, geht Andersen weit zurück zu den Anfängen der amerikanischen Geschichte. Schon die ersten Siedler kamen Anfang des 17. Jahrhunderts, weil sie auf ein Wunder hofften, nämlich in Virginia Gold zu finden, was es dort allerdings nur in geringen Mengen gab. Was sie schufen, war ihre „Neue Welt“, befördert von puritanischem Durchhaltewillen und einer sehr amerikanischen Vorstellung von Freiheit:

„Millionen von Menschen beschlossen, dass jeder das Recht habe, für sich zu entscheiden, was wahr oder falsch war, egal was irgendwelche hochtrabenden Experten dazu sagten. Und obendrein waren sie davon überzeugt, dass ein leidenschaftlicher, für Wunder offener Glaube der Schlüssel zu allem sei. Der Grundstein für Fantasyland war gelegt.“

Selbst die amerikanische Verfassung – die älteste demokratische überhaupt – fügt sich nach Andersen in dieses Muster. Der erste Zusatzartikel verbietet eine Staatsreligion und garantiert Religionsfreiheit:

„All das bedeutete tatsächlich großen Fortschritt. Auch Unglaube wurde, zumindest von rechtlicher Seite, schließlich erlaubt.“

Die Dominanz des Religiösen hält freilich bis heute an. Zwei Drittel der Amerikaner glauben, dass Engel und Dämonen über ihr Leben bestimmen. Ebenfalls zwei Drittel halten die Bibel für einen Faktenbericht über die Entstehung der Welt, weshalb bis heute in einigen Schulen die Evolutionstheorie als Teufelswerk bezeichnet wird. Dass Barack Obama ein „Antichrist“ sei, war eine beliebte These rechter Talkradio-Moderatoren.

Eine der genialsten Erfindungen im „Fantasyland“ Amerika ist die Traumfabrik Hollywood Anfang des 20. Jahrhunderts. Eine ganze Stadt, die sich nur um eines dreht: Traumwelten zu erschaffen. Natürlich ist die Filmindustrie kein ausschließlich amerikanisches Geschäft, aber Hollywood entwickelt sich zu ihrem Hauptstandort. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden 90 Prozent aller Filme in Amerika produziert.

Anekdoten halten den Leser bei Laune

Wer bei Hollywood angekommen ist, hat gerade mal ein Drittel des Buches geschafft – in kurzer Zeit, denn Andersen schafft es, seine Leser mit vielen Anekdoten bei Laune zu halten, die sich immer wieder zu der These fügen:

„Wir Amerikaner glauben – und ich meine wirklich glauben – in größerem Maße als alle anderen ein oder zwei Milliarden Menschen der reichen Welt an das Übernatürliche und Rätselhafte. (...) Wir glauben, dass die Regierung und ihre Mitverschwörer alle möglichen entsetzlichen Wahrheiten vor uns geheim halten – etwa was Mordanschläge betrifft.“

Gerade da hat das 20. Jahrhundert laut Andersen viel zu bieten: die Ermordung Kennedys und die Entstehung von abenteuerlichen Verschwörungstheorien, die New-Age-Apostel um Timothy Leary, die sich jeder Rationalität verweigern, der Aufstieg von Scientology – bis zum „ultimativen Phantasie-Industrie-Komplex“ aus Film, Fernsehen, Werbung, Glücks- und Computerspielen. Insofern ist der „Trump Moment“ für Andersen nur ein „logischer Ausdruck“ dessen, „zu was unsere Phantasie fähig ist“.

Aber Kurt Andersen wäre nicht Amerikaner, wenn sein Abgesang nicht auch optimistisch enden würde. Er sieht ein „realitätsbasiertes Amerika“, eine Art neue Bürgerbewegung:

„Wir müssen entschlossener werden, weniger Weichei sein. Der Versuch, Amerika wieder tatsachenbasiert hinzubekommen, wird allerdings definitiv anstrengend.“

 


 

Michael Watzka 2018

deutschlandfunk.de/kurt-andersen-fantasyland-500-jahre-realitaetsverlust-die-100.html

Kurt Andersen ist kein Prophet, aber eine leise Vorahnung hatte er schon länger. Als die Republikaner Donald Trump im Sommer 2016 zu ihrem Kandidaten kürten, da legte der damals 61-jährige Autor gerade letzte Hand an sein neues Buch. Nachgehen wollte er darin einer Methode, derer sich der Präsident in spe auf seinem Weg ins Weiße Haus geradezu systematisch bediente: da Grenzen zu verwischen, wo mit Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion die Definition von Realität selbst auf dem Spiel steht.

„… alternative facts … it's somebody's version of the truth, not the truth … I want you all to know, that we are fighting the fake news, it's fake, phony, fake …“

Alternative Fakten? Für Andersen war das beileibe kein neues Phänomen: In Fantasyland, seinem 2017 erschienen Buch, seziert er in penibler Kleinarbeit das seit jeher eher kritische Verhältnis seiner Landsleute zur Wahrheit – integraler Bestandteil der „nationalen DNA“, wie er schreibt. Diese Erkenntnis dekliniert er dann durch fünf Jahrhunderte US-Geschichte oder, so heißt es im Untertitel seines Buchs, „500 Jahre Realitätsverlust“.

Erst die Puritaner, dann Trump

Von den ersten Siedlern über den psychedelischen Wahn der 1960er Jahre bis in die virtuellen Räume des Internets hinein: Auf dem Weg nach Fantasyland geraten die USA immer weiter aus der Spur. Das Phänomen Trump? Für Andersen nur ein vorläufiger Höhepunkt des amerikanischen Experiments:

„Ich würde es vielleicht nicht prophetisch nennen – aber dass da plötzlich dieser Typ war, der jeden einzelnen Faden meines Arguments verkörperte und dann sowohl zur Überraschung als auch zum Schreck aller zum Präsidenten gewählt wurde … Was ich sagen möchte: Wäre er nicht gewählt worden, dann wäre alles, was ich in diesem Buch behaupte, immer noch wahr, genauso wie es weiterhin wahr sein wird, sobald er aus dem Amt scheidet. So sehr ich diesen Tag herbeisehne, es wird dann sicher nicht heißen ‚oh, super, jetzt wird alles gut‘, denn auf dem Weg, der uns bis hierher geführt hat, auf dem befinden wir uns schon sehr sehr lange.“

Den Anfang genommen habe alles in den englischen Kolonien des 17. Jahrhunderts. Die protestantischen Auswanderer, Puritaner, die sich vom klerikalen Europa lossagten, folgten dem utopischen Versprechen, hier, am anderen Ende der Welt, das Land Gottes zu gründen. Über diverse Erweckungsbewegungen, den Goldrausch, Buffalo Bill, Scientology und die Traumfabrik Hollywood, bis hin zu den Impfgegnern und UFO-Sichtungen der Carter-Ära – Andersen wartet mit einer solchen Fülle an Beispielen auf, dass einem mitunter Angst und Bange um das Land wird. Wie tief dabei der Hang zur ‚Fantasy‘ in der amerikanischen Gesellschaft wurzelt, das zeigt mit mehr als 700 Seiten allein der Umfang dieser Kulturgeschichte.

  Was ich glaube ist wahr 

Stein des Anstoßes, so Andersen, war dabei wie so oft die Aufklärung. Fantasy?, fragt er gleich zu Beginn des Buchs – ein Nebenprodukt der neuen Freiheit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Aus dem Recht zum Zweifel habe sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten jedoch rasch das Gegenteil entwickelt. Pseudowissenschaftliche Erkenntnisse und extreme Skepsis gegenüber jeglicher Form von Elite, so es ging laut Andersen mit Anlauf in das große Delirium. Das neue Motto: „Solange ich es nur glaube, ist es auch wahr“:

"Die Art, wie gerade wir Amerikaner immer alles zu einer Form von Unterhaltung und Show-Business gemacht haben, das ist ein Teil der Geschichte, wie wir hier angelangt sind. Diese Idee, dass es, wenn es nur unterhaltsam ist, doch ganz egal ist, ob es stimmt oder nicht."

Außer Kontrolle geraten sei das Ganze dann im Laufe des 20. Jahrhunderts. Den Urknall verortet Andersen dabei im Anything Goes, also dem Motto der liberalen 70er Jahre – oder genauer: in der Säkularisierung des extremen religiösen Glaubens, ganz gleich, ob es sich dabei nun um Engel, Homöopathie oder die Ideen der Antipsychiatrie handelte.

Die Kernschmelze Internet habe dann spätestens seit den Nullerjahren jeder noch so absurden Idee und Verschwörungstheorie einen Raum verschafft, das Maximum an Freiheit, so Andersen, führte so zu einem Minimum an geteilter Realität.

„Mein Punkt ist, dass Donald Trump nicht die Ursache, sondern ein Symptom ist für das alles. In seiner gewitzten, rattenhaften-instinktiven Art hatte registriert, dass wir in diesem Land ein sehr zweifelhaftes Verhältnis zu Fakten und Realität entwickelt hatten – und diese Tatsache dann schamlos ausgenutzt.“

Wissen statt fühlen, Fakten statt Meinung

Im akademischen Diskurs macht Andersen dabei den extremen Relativismus der 80er Jahre verantwortlich – verantwortlich für ein Weltbild, in dem Thesen wie „Konsensrealität“ oder „Realität als soziales Konstrukt“ gesellschaftlich bedenklichen Entwicklungen Vorschub geleistet hätten.

Theoretiker wie Michel Foucault oder Jean Baudrillard sieht er dabei als die postmodernen Erben der 70er-Jahre-Gegenkultur.

Zusammen mit der Anti-Establishment-Haltung vieler Amerikaner und deren notorischem Hang zum Superlativ hätte das in einem Land, in dem mehr als ein Drittel der Bevölkerung nicht an den Klimawandel glaubt, zur Spaltung geführt.

Politisch nimmt er hierbei sowohl die Rechte als auch die liberale Linke in die Pflicht.

Doch wo ist der Ausweg? Für Andersen, einen Empiriker der alten Schule, ist die Lösung klar: „Ich zögere etwas, von ‚Objektivität‘ zu sprechen, aber vielleicht eine empirische Realität oder Wahrheit, die nicht Gegenstand politischer Meinung ist.“

Wissen statt Fühlen also, Fakten statt Meinungen; auf in ein „realitätsbasiertes Amerika“ – auch gegen eine Art „kulturelles Weicheiertum“ will Andersen so zu Felde ziehen. Genau hier aber stößt seine Diagnose vom Realitätsverlusts an ihre Grenzen. Denn dass Gefühle und Emotionen neben Rationalität und Wissenschaft nicht nur valide Instrumente des täglichen Weltzugangs sind, sondern eben auch für interessante und neue Perspektiven sorgen, davon zeugt momentan ein gesellschaftlicher Diskurs, der Vielfalt und Pluralismus als Antipoden zu der einen dominanten Sichtweise aufbaut. Als Mittel der Bereicherung können alternative Erzählweisen so auch von einem Mehr an Demokratie zeugen – und eben nicht immer nur ausschließlich von ihrer Gefährdung. Bewegungen wie jüngst #MeeToo wurden ja erst durch die Möglichkeiten des virtuellen Raumes in die Lage versetzt, marginalisierten Stimmen ein Gehör zu verschaffen.

  Ein unvermeidlicher Superlativ 

Literatur im Zeitalter der Kognitionswissenschaften, Affekttheorie, World Building oder Storytelling – auch im akademischen Raum ist für mehr Platz als nur für Empirie und Vernunft. Und ohnehin: Stehen Falschheiten und Täuschungen, Magisches Denken oder Wahnwitz nicht auch für eine lange Tradition literarischen Spekulierens? Narrativ ist alles und alles ist Narrativ – auch Andersens Supertheorie könnte man letztlich als ein – wenn auch sehr aufwendig – konstruiertes Gefäß verstehen, in das er sorgsam sein historisches Material einpasst. Zu dieser Feststellung gelangt nach mehr als 700 Seiten auch der Autor selbst und schlägt vor, zu unterscheiden: zwischen handelsüblicher Fantasy, die als wohl dosierte Utopie die Geister beflügelt, und solcher, die großen Schaden anrichtet. Nur ein Rezept, wie eines vom anderen zu trennen wäre, das hat auch Andersen nicht.

Dennoch: Immer da, wo Fantasy die Realität nicht komplexer macht, sondern mit simplen Antworten vereinfacht, wird es, wie Andersen zeigt, brenzlig. Mit Blick auf den Brexit, grassierende Übel wie Islamfeindlichkeit, Ausländerhass oder die Mär von der Lügenpresse ist Andersens Buch auch durchaus für europäische LeserInnen relevant:

„Was Europa anbelangt und den Rest der Welt: Ich glaube, dass es dort, wie auch immer man das finden mag, im Vergleich zu den USA etwas robustere Institutionen gibt, ein robusteres Establishment, zentrale Regierungen, Universitäten, und so weiter. Und ich glaube, dass unser stark dezentralisiertes Föderalsystem hier in den USA eines der Dinge ist, die das, wovon ich in Fantasyland spreche, erst ermöglicht haben“

Denn obwohl Andersen in seinem Buch ein dezidiert amerikanisches Phänomen beschrieben haben will, sind die USA hier am Ende wieder mal – wie so oft – vielleicht nur der Ausschlag ins Extrem, der unvermeidliche Superlativ, der, so weiß man spätestens seit der Lektüre dieses Buchs, eben in der nationalen DNA steckt. Auch deswegen ist Fantasyland, das jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, unbedingt lesenswert.

 


 

 

USA leiden unter Realitätsverlust

Kurt Andersen im Gespräch mit Gabriele Riedle 2018 in New York

deutschlandfunk.de/kurt-andersen-fantasyland-usa-leiden-unter-realitaetsverlust-100.html  

Die Welt, wie sie gefällt - Amerikaner liebten Fake News schon immer

Riedle: "Haywired“ (übergeschnappt), so bringt das Buch von Kurt Andersen die Lage der Vereinigten Staaten auf den Punkt. Eine Polemik von ätzender analytischer Schärfe, die die Verwerfungen der Gegenwart miteinander verbindet und bis zu ihren historischen Ursprüngen verfolgt. Was war der Ausgangspunkt für das Nachdenken über das amerikanische Fantasyland?

Andersen: Ein Teil meines Antriebs war das Ausmaß, in dem die Rechte in diesem Land den Klimawandel verleugnet und absurden Verschwörungstheorien anhängt, die jahrzehntelang nur ein Randphänomen waren. Der New Age-Glaube in unwissenschaftliche medizinische Behandlungen. Die Missachtung von bewiesenen Fakten und empirisch belegbaren Wahrheiten. Pfingstkirchen, in Zungen sprechen, das Übernatürliche jeden Sonntag im Hier und Jetzt erleben und mein Kind von Dämonen befreien. Die Verrücktheit nach Waffen. Die Leute, die mit ihren halbautomatischen Waffen Rollen spielen und sich als Pioniere, als Cowboys, als Soldaten fantasieren. Ich habe all diese Dinge zunächst für getrennte Phänomene gehalten, aber sie gehören alle zu diesem zutiefst amerikanischen Willen, einfach das zu glauben, was das Gefühl für richtig hält. Dieses Verschwimmen von Realität und Fiktion gibt es auch anderswo, aber wir gehen darin völlig auf.  -  Es gibt bei uns diesen illusorisch-industriellen Komplex, der viel mehr als das Show-Business, Filme, Fernsehen, Video-Spiele und Unterhaltung umfasst.

 

Riedle: Der illusorisch-industrielle Komplex beziehungsweise der „fantasy-industrial complex“, wie es im Englischen heißt. Eine sarkastische begriffliche Neuschöpfung, die auf den sogenannten militärisch-industriellen Komplex anspielt, mit dem die enge Zusammenarbeit von Politik, Militär und Rüstungsindustrie beschrieben wird. Dabei ist die Politik, neben der Unterhaltungsindustrie, jedoch auch Teil des illusorisch-industriellen Komplexes. Seit wann ist das so?

Andersen: Ich habe diesen Wandel der Republikanischen Partei, der politischen Rechten, miterlebt: von einer vernünftigen, konservativen Partei zu einer Partei, die in ihrem Innersten dem Fantastischen und dem Unwahren anhängt, während Fakten keine Rolle mehr spielen. Und Donald Trump verkörpert dies im Extremen. Er hat es geschafft, diesen bereits bestehenden Zustand, in dem jeder selbst bestimmt, was wahr oder unwahr ist, für sich auszubeuten. Aber das Problem bestand vor ihm und wird auch nach ihm bestehen.

 

Riedle: Gerade für den Aufstieg Donald Trumps haben viele ökonomische Erklärungen gefunden. Es seien die Verlierer der Globalisierung, die ihn gewählt hätten. Allerdings dienen Trumps Angriff auf ihre Krankenversicherung und seine Steuersenkung für Reiche ganz und gar nicht deren Interessen. Das Buch erklärt Trumps Wahl deshalb lieber mit der langen Geschichte der Vermischung von Realität und Fiktion im Fantasyland Amerika. Und fast erscheint Trump dann als deren neueste und fast schon unvermeidliche Fortsetzung. Doch wann begann diese Geschichte?

Andersen: Gehen wir zurück zu den ersten Anfängen im frühen 17. Jahrhundert. Da gab es im Norden in New England diese Sekten von religiösen Eiferern, die extremsten der extremen Puritaner aus England, die hierher kamen, um auf die Wiederkehr Christi zu warten, ihr neues Jerusalem und ihren Gottesstaat zu gründen. Im Süden, in Virginia, war die weniger bekannte Gruppe von europäischen Gründern gleichzeitig entschlossen, Gold, Silber und Juwelen zu finden, auch wenn es dort nichts dergleichen gab. Aber immer Neue kamen und starben, suchten nach Gold, auch wenn keines da war. Weil sie unbedingt glauben wollten, dass sie über Nacht reich werden konnten.

Die erste Generation weißer Amerikaner waren Fanatiker, die an das Fantastische und Großartige glaubten. Es gab also schon von Anfang an diesen Hang zum aufregend Unwahren. Dieses Land wurde aus dem Nichts erfunden und wie ein Stück Fiktion zusammengedichtet. Alle diese religiösen Leute kamen hierher, bastelten neue Religionen, wie es sie noch nirgendwo gab, was Größe und Einfluss betrifft. Ob es die Mormonen mit zig Millionen weltweit sind, oder später die Pfingstler mit hunderten Millionen weltweit, die Christlichen Wissenschafter, Scientology. Das ist Teil von dem, was wir sind.

 

Riedle: Amerika: eine Projektionsfläche für Wunschvorstellungen aller Art. Aber auch ein Territorium zur Verwirklichung von kühnen und durchaus produktiven Neuanfängen, von neuen Ideen, von religiösen und intellektuellen Freiheiten, von Abenteuern mit offenem Ausgang.

Andersen: Zur amerikanischen Idee gehört von Anfang an: Du kannst aus Europa hierher kommen und Dich neu erfinden. Du gründest neue Siedlungen, gehst nach Westen, findest Gold oder auch nicht – es ging immer um Märchen, die wahr wurden, egal ob religiös oder finanziell. Und dieser endlose Raum ermöglichte großartige Abenteuer.

 

Riedle: Auch wenn die ersten weißen Amerikaner selbstverständlich extrem gottesfürchtige Leute waren, tauchten schon bald die ersten Show-Männer auf. Die Geburt der Unterhaltungsindustrie ausgerechnet aus dem Geist des Puritanismus?

Andersen: Seit Anfang des 18. Jahrhunderts hatten Prediger Erfolg als Entertainer, indem sie Religion zu einer Art von Unterhaltung machten, die es sonst nirgendwo gab – eine sehr amerikanische Erfindung. Damals kam George Whitefield, ein britischer Prediger hierher. Wanderprediger waren neu, Kerle, die umher gingen und christliche Unterhaltung lieferten. Er spielte den Teufel, Jesus, Maria Magdalena, die Apostel und Sünder in der Hölle und veranstaltete großartige Shows.  wikipedia  George_Whitefield  1714-1770

 

Riedle: Im 19. Jahrhundert kamen dann die ersten Zeitungen auf den Markt. Sie setzten vor allem auf spannende Geschichten, egal, ob diese wahr waren oder nicht. Gehört das, was wir heute Fake News nennen, sozusagen zur amerikanischen DNA?

Andersen: In New York City gab es nun diese sehr billige werbefinanzierte Presse, die zuvor nicht existierte, und die sehr locker mit Wahrheit und Fiktion umging. Eine Zeitung sprach eine ganze Woche über eine neu entdeckte Zivilisation auf dem Mond: Die erste große Fake News-Geschichte. Mit Zeichnungen von fliegenden Bewohnern und ihren Häusern. Jeder glaubte das. Das war von Anfang an Teil unserer Kultur.

 

Riedle: Der erste Reality Show-Star war Buffalo Bill, geboren 1846, Bisonjäger, Reiter für den berühmten Pony Express, der Post in hoher Geschwindigkeit quer durch Amerika schaffte. Vor allem jedoch war Buffalo Bill Scout für die US-Army im Kampf gegen die Indianer.     wikipedia  Buffalo_Bill   1846-1917

Andersen: Er verkörperte die frühe Besiedelung des Westens. Irgendwann in den 1870er-Jahren wurde er von Journalisten von der Ostküste entdeckt, die ihn berühmt machten: Dieser junge Mann hat gerade die Ehrenmedaille gewonnen, dieser außergewöhnliche Soldat, der Indianer bekämpft und den Westen besiedelt! Ihm wird klar: Wow, ich kann noch eine ganz andere Karriere machen, wenn ich mich einfach selbst spiele. Einige Jahre stand er auf der Bühne, in Chicago, in New York und dann überall im Land und spielte Buffalo Bill, um dann zurück in die Plains zu gehen und gegen Indianer zu kämpfen.

War er also wirklich Buffalo Bill oder spielte er ihn nur? Er war beides. Und dann beschloss er: Okay, ich erfinde „Buffalo Bill‘s Wild West“ – mit hunderten Schauspielern, Kulissen, Indianern, die Indianer spielten, und schließlich zogen sie um die Welt. Um die Jahrhundertwende war er einer der berühmtesten Menschen der Erde.

Die Tatsache, dass er diese reale Person war und sich dann selbst spielte, ist für mich eine großartige Figur in dem, was ich Fantasyland nenne. Dieses Ganze: Ist es real? ist es Fiktion? – es ist eine Kombination von beidem – wird zu dem, wie immer mehr Amerikaner die Wirklichkeit betrachten. Und in unserem gegenwärtigen Präsidenten haben wir die lächerliche Wiederkehr dieser alten Geschichte: Ja, er war eine Weile Geschäftsmann, spielte dann 15 Jahre den Geschäftsmann im Fernsehen und jetzt spielt er den Vorstandsvorsitzenden von Amerika.

 

Riedle: Eines der problematischsten Phänomene unserer Gegenwart ist mittlerweise die Omnipräsenz von Verschwörungstheorien. Sicher gab es solche Theorien schon immer. Aber in den 1950er Jahren bekam die politische Paranoia in Amerika einen ungeheuren Schub. Es war die Zeit des Kalten Krieges und die Bedrohung der USA durch die Sowjetunion war real. Doch mit Senator Joseph McCarthy und seinem Komitee für unamerikanische Umtriebe, das überall Kommunisten sah, bekam die Angst hysterische Züge. Und in der John Birch Society, gegründet 1958 und bis heute existent, fand die Hysterie ihre offizielle Organisationsform.

Andersen: Die John Birch Society war eine rechtsradikale, sehr erfolgreiche Organisation, die die Vorstellung propagierte, dass Präsident Eisenhower heimlich Kommunist war, die gesamte Regierung von Kommunisten gesteuert wurde und ähnliche bizarre Dinge. Es begann mit den Illuminaten, eine immer verrücktere gigantische Verschwörung von Insidern gegen uns, die sich aus wildem Anti-Kommunismus entwickelte. Die Organisation wurde von Industriellen und Geschäftsleuten gegründet, hatte aber Tausende Anhänger. Dennoch blieb sie stets außerhalb des republikanischen Mainstream. So fanatisch und zahlreich diese Leute waren, wurden sie doch als Verrückte betrachtet. Bis deren Nachfolger es in den 1990er-Jahren doch geschafft haben. Jetzt wurde diese rechtsradikale neue Weltordnung, samt Verschwörungstheorien und Illuminaten-Wahn, Teil des Mainstreams.

 wikipedia  John_Birch_Society  

Riedle: Und dann wurde 1963 auch noch John F. Kennedy ermordet. Seither gibt es praktisch kein einschneidendes Ereignis mehr, zu dessen Hintergründen es nicht unzählige konkurrierende Vermutungen gibt. Das FBI ermittelte damals Lee Harvey Oswald als Einzeltäter. Aber bis heute glaubt noch mindestens ein Drittel der Amerikaner an eine Verschwörung für die die unterschiedlichsten Mächte in Frage kommen. Von der Mafia über die CIA und die Kubaner bis zum Mossad und der Sowjetunion.

Andersen: Damals hat sich die Vorstellung festgesetzt, dass alles Schlechte, was geschieht, immer das Ergebnis einer unglaublich mächtigen Verschwörung ist. Und mehr und mehr wurde das zu unserer Art, die Welt zu verstehen.

 

Riedle: Insgesamt ist seit den 1960er Jahren in den USA nichts mehr wie zuvor. Da waren ja nicht nur die Morde an John F. Kennedy und später an seinem Bruder Robert. Da waren auch der Mord an Martin Luther King und vor allem der Krieg in Vietnam, in dem Hunderttausende starben und gegen den zu Hause Unzählige auf die Straße gingen.

Andersen: Beim Nachdenken über die 1960er-Jahre wurde mir klar, dass das eine große Zeit für die Durchsetzung von Menschenrechten, Anti-Establishment-Gefühlen, für die Beendigung des Vietnamkriegs, für Feminismus und Umwelt­schutz war. Aber damals geschah noch etwas anderes, was zu all dem, worüber ich spreche, führte. Die atomare Rüstung und der Vietnamkrieg waren das Werk von Hyperrationalisten: Bitte, hier die Kalkulation: Natürlich werden wir diesen Krieg gewinnen und natürlich überleben wir das nukleare Armageddon. Das gab der Idee von Wissenschaft und Rationalismus selbst einen schlechten Geschmack, zumal ihnen durch den Rationalismus des Dritten Reiches ohnehin schon ein schlechter Geschmack anhaftete.

 

Riedle: Die Folge war schließlich nichts weniger als eine Kulturrevolution, in der die linke Protest- und Gegenkultur schließlich so etwas wie ihre eigene Neue Welt mit eigenen neuen Werten und neuen Glaubenssätzen erschuf.

Andersen: Dieses „Glaube, was du willst, ohne Rücksicht auf Vernunft oder empirisches Verständnis“ bekam in den 1960er-Jahren einen heftigen Schub. Da gab es diese Bohemiens, die sagten: „Mann, glaube einfach, was du willst“. Gleichzeitig gab es psychedelische und asiatische Strömungen. Und im akademischen Bereich die post-moderne Vorstellung, dass alle Fakten soziale Konstrukte sind und die Wissenschaft auch nichts Besseres zur Erklärung der Welt beizutragen hat als Religionen und Märchen. Und dann diese Anti-Establishment-Haltung, die immer zu Amerika gehört: Wir verlassen die Church of England, die alten Tyrannen und Europa!

Das ermächtigte in den 1960ern sowohl christliche Kreationisten als auch New-Age-Anhänger, die auf die Kraft der Kristalle vertrauten, zu glauben, was immer sie wollten, und Gegenargumente wurden immer schwieriger. Denn es ging eben um übermächtig gewordenen Glauben, egal worauf der basierte, auf Gefühl, auf Überzeugung, auf, was man gelernt hat, oder auf das, was man glauben wollte. Dieser Unterschied zwischen der amerikanischen Kultur und der des Rests der entwickelten Welt begann vor 50 Jahren extremer zu werden.

 

Riedle: Das Buch macht überdies eine überraschende Beobachtung: Die 1960er-Jahre hätten nämlich nicht nur den Relativismus der linken Gegenkultur hervorgebracht, sondern auch den Realitätsverlust der religiösen Rechten bestärkt.

Andersen: Die kulturelle Linke dachte immer, dass die 1960er-Jahre einfach nur großartig waren, während die Rechten sagen: Damals ging alles in die Grütze. Der Witz jedoch ist, dass dieses „Mach dein eigenes Ding“ und das postmoderne Verhältnis zur Wahrheit mehr als alles andere die religiöse Rechte bestärkt hat. Es ist also genau das Gegenteil von dem, wie Linke und Rechte die 1960er-Jahre bis heute dargestellt haben. Und da stehen wir heute. Wenn Leute das Recht haben, den Klimawandel oder das Impfen oder welche wissenschaftlich beweisbaren Positionen auch immer, verleugnen zu dürfen, wenn sie politisch und moralisch lästig sind, weil das nun einmal ihr Glaube ist. Es ist Teil der amerikanischen Kultur, dass alles, was im Entferntesten mit Glaube oder Religion zu tun hat, auf keinen Fall angezweifelt werden darf.

 

Riedle: Eigentlich würde man meinen, dass die überbordende Religiosität Amerikas ein Überbleibsel aus vergangenen, vormodernen Zeiten ist. Aber gerade seit den 1960er-Jahren wurden Pfingstler, christliche Fundamentalisten und Kreationisten so stark wie nie zuvor. Wie kommt das?

Andersen: Den meisten ist nicht klar, dass das eine neue Entwicklung ist. Für mehr als ein Jahrhundert gab es diese „Ich glaube, dass Gott in mir ist“-Tradition und die wurde durch die Pfingstkirchen wiederbelebt. Als Gegenreaktion gegen die Moderne, aber auch, weil es - anders als überall in Europa - in Amerika nie eine Staatskirche gab, die solche Bewegungen unterdrücken konnte. Jederzeit konnten neue Bekenntnisse, neue Kirchen, neue Sekten, neue Religionen und Sub-Religionen des Protestantismus entstehen und sich entwickeln wie nirgendwo sonst. Amerika gibt ihnen die Freiheit dazu und sie entsprechen unseren tief verwurzelten Neigungen. Überdies entspricht es unserem Unternehmergeist, Standard Oil oder General Motors zu gründen, aber wir erfinden auch Pfingstkirchen oder Billy Graham, den Fernsehprediger. Die Religiösen waren ebenso erfinderisch wie sie unternehmerisch dachten.

 

Riedle: Wo Religion ein Markt wie jeder andere ist, setzen sich, fast wie im Filmgeschäft, die durch, die die schönsten Illusionen zu bieten haben, die moderne Welt am angenehmsten verzaubern und es zudem schaffen, möglichst unterhaltsam zu sein.

Andersen: Pfingstkirchen waren vor allem ein Phänomen der Unterklasse. In Zungen zu sprechen wie die Apostel, Leute, die sonntags in der Kirche diese direkt vom Himmel gefallenen verrückten unverständlichen Laute von sich gaben – das ist extrem unterhaltsam. Wirklich populär wurden Pfingstkirchen 1906 in Los Angeles, als die Stadt sich zum Zentrum des weltweiten Show-Business entwickelte. Als Reaktion auf die Moderne wurde zur gleichen Zeit auch der Fundamentalismus erfunden, ein Begriff, der damals in Amerika geprägt wurde zur Bekämpfung des zeitgemäßeren Christentums. Beim Fundamentalismus ging es weniger um: „Oh, ich fühle den Heiligen Geist“ – sondern mehr um die wörtliche Auslegung der Schriften.

 

Riedle: In den 1970er-Jahren kommt die Religion schließlich auch im Weißen Haus an: mit dem Demokraten Jimmy Carter. Ein so genannter „wiedergeborener Christ“, genau wie später der Republikaner George W. Bush und der gegenwärtige Vizepräsident Mike Pence.

Andersen: Irgendwie haben wir den netten liberalen Jimmy Carter aus dieser Geschichte verdrängt. Zehn Jahre vor ihm hätte einer, der erklärt hätte, er sei ein wiedergeborener Christ und Dinge wie er über das Christentum gesagt hätte, nicht zum Präsidenten gewählt werden können: Das wäre zu verrückt gewesen. Als relativ liberalem Demokraten half ihm seine tief empfundene Religiosität, im Süden gewählt zu werden. Seit damals sind evangelikale Christen synonym mit der Rechten und Ultrarechten, aber der erste von ihnen, der Präsident wurde, war ein Linker. Als er kandidierte, erzählte er sogar, dass er eine fliegende Untertasse von Nahem gesehen hatte – die UFO-Manie war ebenfalls ein Phänomen der 1960er. Ein wiedergeborener Christ, der ein UFO gesehen hatte, als Präsident – das wäre zehn Jahre früher nicht passiert.

 

Riedle: Carters Nachfolger Ronald Reagan kämpfte dann vor allem gegen das Reich des Bösen, das er in der Sowjetunion ausmachte. Für das Reich des Guten zu Hause in Amerika setzte er einen neuen allein seligmachenden Glaubenssatz durch: Steuersenkungen kurbelten die Wirtschaft an und machten durch den “Tricle down effect“ auch die Armen reich. Einigen, etwa Donald Trump, gilt das bis heute als allerletzte Wahrheit. Andere halten den Glauben an die positiven Effekte von Steuersenkungen für eine pure Illusion aus dem Fantasyland, zu dem inzwischen auch die Ökonomie geworden ist. Also was ist dran an Steuersenkungen?

Andersen: Ein wenig Wahrheit ist schon darin, dass hohe Steuern Investitionen bremsen. Aber eine kleine ökonomische Wahrheit wurde schließlich zu einem religiösen Glaubenssatz, wie Ronald Reagans Vizepräsident George Bush es nannte: „Voodoo Economics“. Dieses umstrittene Stück ökonomische Theorie über die Beziehung von Steuersätzen und Wirtschaftswachstum wurde, trotz schwindender Evidenz, für die nächsten 35 Jahre die einzige Basis einer Ideologie der Steuersenkung. Und damit wurde eine halbwissenschaftliche Vorstellung eine Sache religiösen Glaubens.

 

Riedle: Aber was ist mit denen, die schnell erkennen, dass ihnen Steuersenkungen doch nichts nutzen? Warum wenden nicht wenigstens sie sich gegen eine solche Politik?

Andersen: Unsere Ökonomie ist zum Kasinokapitalismus verkommen und es ist kein Zufall, dass Zocken in den letzten 30 Jahren allgegenwärtig geworden ist. Offenbar denken auch die 80 Prozent der Amerikaner, die zu den Verlierern gehören: „Okay, ich kann immer noch gewinnen und dann möchte ich keine hohen Steuern bezahlen“. Das gehört zum magischen Denken im Kasino: „Ich kann jederzeit noch gewinnen.“ Es gibt durchaus auch gute Seiten bei diesem Denken: „Ich kann immer wieder von vorne anfangen und eine neue Seite aufschlagen.“ Aber wenn man das zu weit treibt, wird es lächerlich.

 

Riedle: Und wie kommt man jetzt aus dem Fantasyland, zu dem Amerika offensichtlich in praktisch allen Bereichen geworden ist, zurück zur Realität?

Andersen: Jeder von uns muss darauf bestehen, dass wir weiter an Aufklärung, an Vernunft, Tatsachenbeweise, Logik und Debatte glauben. Es gibt tatsächliche Verschwörungen auf der Welt – aber bei dem ganzen Verschwörungswahn sehen wir sie nicht mehr. Nehmen wir die Verschwörung zwischen Putin und dem Wahlkampfteam von Donald Trump – vielleicht gab es sie, vielleicht nicht. Aber als sich die ersten möglichen Beweise zeigten, sagten viele, die zur legitimen Presse wie etwa der <New York Times> gehörten: „Nö, ist nicht wahr.“ Denn es gibt so viele Verschwörungstheorien. Andere sagen, dass Putin genau das will.
Hannah Arendt
hat darüber gesprochen: Es gehört zum totalitären Masterplan, alles gleichermaßen wahr und unwahr erscheinen zu lassen und zu sagen: "Ach, ist doch egal, was wahr und was falsch ist, Hauptsache unser Mann ist der cleverere.“

 

Riedle: Wenn alles subjektiv und es vielen egal ist, was wahr und was falsch ist, dann wird es jedoch schwierig, sich nicht nur über die Vergangenheit, sondern vor allem auch über die Zukunft miteinander zu verständigen, oder?

Andersen: Für mich besteht das fundamentale Problem darin, dass wir uns über elementare Fakten nicht mehr einigen können. So kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Wenn wir Fakten nicht als Fakten anerkennen, können wir nicht überlegen, wie wir etwa mit der Globalisierung, der Automatisierung oder stagnierendem Wachstum umgehen. Über die Interpretation von Fakten können wir uns streiten. Wie sollen wir etwa mit der Klimaerwärmung umgehen: Sollen wir einfach nichts tun und auf neue Technologien warten? Sollen wir anfangen, Leute umzusiedeln? Es gibt viele Möglichkeiten, solange wir die Fakten als real akzeptieren.

Wir müssen aggressiver auf die Anerkennung von Fakten bestehen. So lange wir in diesem Fantasyland leben, wo ich bestimmen kann, was wahr ist, aus Bequemlichkeit, Zynismus, durch übernatürliche Eingebung oder was auch immer, sind wir als Gesellschaft gelähmt. Wir sind erledigt.

#

 

 

 

 

(Ordner)    www.detopia.de     ^^^^ 

Kurt Andersen (2017) Fantasyland - 500 Jahre Realitätsverlust - Die Geschichte Amerikas neu erzählt