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2.6 - Eine offene Auseinandersetzung in der BRD hat noch nicht stattgefunden

  7 Gruppe      8 Begegnung     9 Esalen      10 Esalen  

 

 

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In der Bundesrepublik hat die humanistische Psychologie von akademischer Seite eine sehr ambivalente Aufnahme erfahren. Es wird auch wohl noch einige Zeit vergehen, bis die Elfenbeintürme abgebaut sind. 

Bis Anfang der siebziger Jahre war an den Universitäten so gut wie nichts über die humanistische psychologische Bewegung bekannt. Doziert wurde über die amerikanische Kleingruppenforschung, wenn es hoch kam, wurde Sensitivitytraining nachsichtig lächelnd erwähnt. Bezeichnend für die Rezeption amerikanischer Strömungen ist, daß als erste die Industrie Gruppendynamik und Sensitivitytraining in ihr Ausbildungsprogramm für Manager aufnahm. 

<Industriegemäß> entwickelten sich auch die Preise für solche Ausbildungsprogramme. Kein Wunder, daß Gruppendynamik schlechthin und mit ihr die Encounterbewegung, damals noch größtenteils Bestandteil der amerikanischen >Counterculture< sehr schnell in den Ruf einer >modisch um sich greifenden Seelenmassage< geriet, die als >Gebot der kapitalistischen Selbsterhaltung< und >höheren Schule der Anpassung< disqualifiziert wurde. 

Auch in Deutschland hat es an Versuchen nicht gefehlt, Gruppendynamik in die politische Schulung bis hin zum politischen Kampf miteinzubeziehen. Bei allem was uns bisher an ideologiekritischer Auseinandersetzung bekannt ist,49) sieht man die typisch amerikanischen Bedingungen, die nicht so parallel laufen mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, wie es dargestellt wird. 

Wir vermissen einfach Ortskenntnisse. 

In der BRD versteht sich ein Teil der Linksintellektuellen als Systemgegner, vorsichtig ausgedrückt als Systemüberwinder. Die Opposition in den USA, abgesehen von kleinen radikalen Randgruppen, versteht sich nicht so, sondern die oppositionellen Gruppierungen berufen sich auf die Konstitutionsväter von 1776. 

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Es geht ihnen um die Erneuerung dieses <Pioniergeistes>, mehr Menschlichkeit, mehr Anteil der unteren Schichten an der Produktion, Kampf gegen Umwelt­verschmutzung, Integrierung der Rassen, doch die kapitalistischen Grundverhältnisse werden nicht in Frage gestellt. 

Darin liegt ein wesentlicher Unterschied.

Wir stoßen uns nicht an der Tendenz, Gruppendynamik, Encounter und ihre Ableger ideologiekritisch zu betrachten, sondern uns stört die unzureichende Differenzierung.49) Auch wenn die Kritik aus der linken psychoanalytischen Ecke kommt, ruft das auf amerikanischer Seite bittere Erinnerungen hervor: wir sind der Mittelpunkt der Welt, die Gralshüter der Therapie, was ihr dort treibt, ist schlichtweg barbarisch. 

Aus unserer Sicht trägt jene elitäre Haltung mit dazu bei, daß in der BRD >das Elend mit der Psyche<49a) noch weiter verelendet, weil das bestehende Therapie­monopol, das von patriarchalisch, sprich kapitalistisch verwalteten Gesellschaften krampfhaft gehütet wird, mit zur weiteren Kapitalisierung und Vermarktung des >Psychobooms< beiträgt.

Bei unseren Veranstaltungen in USA und Deutschland haben wir unter teilnehmenden Analytikern viele getroffen, die offen zugeben, daß sie das Konzept einer jahrelangen Analyse angesichts der veränderten Problemlage der Betroffenen nicht für ausreichend halten. 

Über ähnliche Erfahrungen berichtet der Münchener Kommunikationstherapeut Karl Mandel

»Wir haben Gespräche mit sehr vielen Psychoanalytikern geführt, die uns mehr oder weniger sagen, wenn auch nicht im Klartext: >Wir brauchen einfach noch andere Ansätze, um unsere Patienten innerhalb eines vernünftigen Zeitraums effizient behandeln zu können. Wir machen inoffiziell mal Rollenspiel, wir machen Gestalttherapie ...< — Das klang auch auf dem Psycho­analytiker­kongreß hier in München Mitte Oktober 1974 an. 

Ich war in der Arbeitsgruppe über neue Techniken, die von Fürstenau und Frau Heigl-Evers geleitet wurde, und in der auch Richter anwesend war. Es war sehr eindrucksvoll zu sehen, wie nun hier eine entsprechende Entwicklung <unter Ausschluß der Öffentlichkeit> bereits stattgefunden hat, die offiziell von den Ausbildungsinstituten ignoriert oder gar bekämpft wird. 

Dieser Kampf spiegelt sich dann in der Angst des einzelnen Analytikers wider, vielleicht sogar aus dem Berufsverband ausgeschlossen zu werden, wenn publik würde, daß er Rollenspiele macht, daß er Examensvorbereitungshilfe leistet, daß er gestalttherapeutische Stunden einflicht. Nun versuchen die Analytiker dem Problem dadurch Herr zu werden, daß sie sagen: <Der Denkhintergrund ist entscheidend.> So hat z.B. Richter votiert.«50)

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7  Wandel in der Einstellung zur Gruppe    

 

Die praktische Tätigkeit der Psychologen, Therapeuten, Trainer und <Paraprofessionellen> der <dritten und vierten Kraft> gründet generell auf Selbst­erfahrung in der Gruppe. Ziele sind bessere Eigen- und Fremd­wahrnehmung durch Rückkoppelung (Feedback) anderer Gruppenteilnehmer. Viele benutzen Übungen und Techniken, um diesen Prozeß zu fördern. 

Wie die einzelnen Richtungen damit arbeiten, wieweit sie Perspektiven methodisch verfolgen, Prozesse strukturieren und die Wirkung der Gruppenarbeit empirisch überprüfen — darin unterscheiden sie sich voneinander und splittern sich in vielfache, gegensätzliche oder sich ergänzende Gruppierungen auf. Diese sind nicht so sehr von Schulmeinungen als vielmehr von einzelnen Persönlichkeiten abhängig. 

In Deutschland laufen diese Gruppierungen (s.u.) unter den Namen: Gruppendynamik, Sensitivity Training, Encounter, Erlebnistherapie, Gestalttherapie, Marathon, Streittraining, Urschrei, Selbsterfahrung, Nackt- und Körpertherapie u.a., ohne daß die Abgrenzungen genügend deutlich dargestellt werden.

Auch entspricht die publizistische Verbreitung und Aufnahme dieser Richtungen in Deutschland in keiner Weise der tatsächlichen Bedeutung und Einschätzung der amerikanischen Szene. Zumindest muß man die Ost- und Westküste — die Gegenpole New York und Kalifornien — in Arbeitsweise und Wirkung voneinander getrennt sehen. Erfahrungen werden zwar ausgetauscht, aber einzelne Therapeuten der Ost-Küste (wie etwa der bei uns so hoch­gespielte, aber keineswegs originelle Daniel Casriel) sind an der Westküste unbedeutend, ja unbekannt, und umgekehrt. 

Selbst an der Westküste ist die Szene aufgesplittert, und ihr Repräsentant ist keineswegs Arthur Janov, wie es hier scheint. Tatsächlich ist er inzwischen völlig isoliert und wird von ehemaligen Schülern heftig bekämpft. Die Verbreitung seiner Bücher steht in umgekehrtem Verhältnis zu seiner therapeutischen Bedeutung.51) 

* (d-2011:) Janov, Arthur: Seite  50, 134, 155, 166, 170  —  detopia: D.Casriel : A.Janov :

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Heute wird in der sich ausweitenden »Gruppenbewegung« leider oft übertrieben einseitig das Ausagieren und Ausdrücken von Gefühlen betont (vgl. Casriel). Für uns steht diese Entwicklung als Kehrseite dafür, wie unterdrückt und selten echte Gefühle in unserer Gesellschaft sind. Gefühle können offensichtlich nur noch wenige ausdrücken. Unser Kulturbetrieb schickt sich an, einen ganz neuen Berufsstand zu entwickeln: den Geburtshelfer für Gefühle. Er wird dafür bezahlt, daß er Räume bereitstellt und Möglichkeiten schafft, Gefühle auszudrücken, auszuschreien und auszuleben.

Das, was innerhalb der humanistisch orientierten Szene angeboten wird — das ist eine wichtige Differenzierung —, erhebt nicht immer den Anspruch, eine Therapie zu sein, die kranke Menschen heilt. Wenn auch die humanistische Psychologie programmatisch vom gesunden Menschen ausgeht, so können doch die praktizierenden Kliniker nicht ohne Beschreiben und Definieren von krankem Verhalten und ungesunden, persönliche Weiterentwicklung verhindernden Zuständen auskommen. So spricht z.B. die auch in Deutschland vertretene klinische Richtung der Gestalttherapie52) von Patienten und neurotischem Verhalten. 

Die Behandlungsmethode beginnt damit, was an gesundem Verhalten da ist, was der Patient kann, und was er selbst regulieren und lösen kann. Gesundheit und Krankheit werden in einer dialektischen Beziehung gesehen. Nach dem Figur-Hintergrund-Prinzip steht beim kranken Menschen neurotisches Verhalten, im Vordergrund, beim gesunden Menschen verhält es sich umgekehrt. Für die Praxis bedeutet das, was grob gesprochen unter Selbsterfahrung läuft ist im Grunde für Menschen gedacht, die noch autonom und gefestigt genug sind, ihre Probleme in den Griff zu bekommen, aber das ständig erfahrbare >existenzielle Vakuum< (Frankl)53 durch Suche nach Sinn im Leben ausgestalten und mit reicheren persönlichen Inhalten füllen wollen. Kranke, neurotische Menschen brauchen Therapie, die von geschulten Psychotherapeuten ausgeführt wird.

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In den letzten 15 Jahren hat sich so etwas wie eine <Therapie für Normale>54 herauskristallisiert, die vorbeugend arbeiten will: in den sog. Workshops (Werkstatt­seminaren) des <Human Potentialities Movement> können die Menschen durch Selbsterfahrung oder Kreativitätstraining lernen, ihre verborgenen und brachliegenden Fähigkeiten zu aktivieren, um die neuen Erkenntnisse oder Daten über sich selbst für ihre spezifische Problemlösung anzuwenden.

Die Plastizität des Menschen, seine potentielle Produktivität wurden bisher von der klinischen Psychologie stark unterschätzt. Die Anthropologin Margret Mead glaubt, daß <die normale gesunde und produktive> Persönlichkeit nur 6% ihrer tatsächlichen Kapazität im Alltagsleben einsetzt.55

Diese Entwicklung hat mit dazu beigetragen, die Einstellung gegenüber der Therapie zu verändern. Früher galt es als höchst verdächtig, in therapeutischer Behandlung zu sein, und wurde daher als strenges Geheimnis selbst vor den engsten Freunden gehütet. Auch heute noch kann psychiatrisch-psychologische Behandlung zu einem persönlichen Makel werden. Die psychisch Kranken in den >Klapsmühlen<, mit Sedativen vollgestopft und ruhig gestellt, müssen immer wieder diese bittere Erfahrung machen, vorausgesetzt, sie werden überhaupt aus der >chemischen Zwangsjacke< entlassen.

Bob, ein Klient unseres Institutes in Los Angeles, der aus einer italienischen Immigrantenfamilie stammt, in der In-Therapie-Sein und Verrücktsein so ziemlich das gleiche waren, berichtet über seine persönliche Entwicklung:

»Der Gedanke, in Therapie zu gehen, war etwas Fürchterliches, ich dachte, dann müßte ich wirklich nicht mehr richtig ticken. Aus diesem Widerstand heraus gab ich mir selbst die Antwort: wenn es soweit kommt, dann bist du wirklich verrückt, noch kann ich mit meinen Problemen allein fertig werden. Es dauerte lange, bis ich für mich akzeptieren konnte, daß Therapie keine Bedrohung, sondern eine Erleichterung, keine Beleidigung meiner Unabhängigkeit und meines Selbstimages waren. Heute kommt es mir komisch vor, weil mir die Therapie jetzt ungeheure Freude macht, und ich sehe, daß ich vorwärtskomme.« 56

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Paradoxerweise hat die Bewegung hin zu Encounter zwar Therapie populärer gemacht, andererseits hat sie aber auch mit dazu beigetragen, durch ihre Irrwege Gruppentherapie erneut ins Zwielicht zu bringen. Auch heute wird die Gruppentherapie von den Vertretern klassischer Einzeltherapie stiefmütterlich bis offen feindlich behandelt.

 

Eigentliche Verbreitung und Anwendung hat die Gruppentherapie erst nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Jakob Moreno begann 1923/24 in New York in der Carnegie Hall damit, eine Art <living newspaper> durchzuspielen, wo Tagesereignisse dramatisch inszeniert, Morde, Banküberfälle und anderes im Spiel wiederholt wurden. Ein Mann beispielsweise, der im Streit mit seiner Frau lag, konnte das ins Spiel einfließen lassen und es ausagieren.

Damals wurde Morenos Arbeit nicht unterdrückt oder bekämpft, das, was er tat, war weit außerhalb des damaligen analytisch-therapeutischen Bereiches. Niemand war darauf eingestellt, sich damit auseinanderzusetzen. Die Psychoanalytiker schenkten Moreno fast keine Beachtung. Nach dem Zweiten Weltkrieg sah die Sache schon anders aus. Dank der Arbeit Morenos und anderer hatte sich die Einstellung zur Arbeit in der Gruppe verändert. Es begann auch im wissenschaftlichen Bereich die Auseinandersetzung Einzeltherapie gegen Gruppentherapie. 

Yablonski - selbst Schüler Morenos - berichtete im Gespräch mit uns:

»Ich beziehe mich auf ein Erlebnis, das als Metapher dienen kann für das, was damals geschah. Ich begleitete Moreno zu einer Vorlesung, die er vor einer Gruppe von Psychoanalytikern in New York hielt. Wir kamen an, Moreno ging zum Podium und wurde ruhig empfangen. Der einzige Punkt, auf den er hinwies, war, wie bedeutend die Gruppe ist, und daß man selbst, wenn man Einzeltherapie betreibt, die Familien­beziehungen verstehen oder ein Konzept davon haben muß. Er ging dann so weit, daß es manchmal fast unmöglich sei, nur mit dem Individuum zu arbeiten. Aber auch selbst in der Einzeltherapie habe man es immer mit einer Gruppe zu tun. — Die Leute wurden ungeheuer ärgerlich, ich saß da und hörte Bemerkungen wie: der ist bekloppt, total verrückt, der spinnt, und ähnliche. 57) 

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Der Einfluß Morenos wird heute oft unterschätzt. Innovatoren wie George Bach, Ken Benne, Lee Bradford, Ronald Lippitt, Fritz Perls u.a. haben Anregungen Morenos auf gegriffen und in eigener Bearbeitung in ihr therapeutisches Handeln integriert. Mit zur Öffnung für die Gruppentherapie trug auch die rasche Ausbreitung der <National Training Laboratories> (NTL) bei, die ihren Ursprung in den von Kurt Lewin 1947 als Prototyp organisierten T-groups haben, die man später Sensivitätsgruppen oder -trainings nannte. Der Schwerpunkt in diesen Gruppen lag in Gruppendynamik und Gruppenprozeß, nicht so sehr auf persönlicher Weiterentwicklung und individuellem Wachstum wie in den späteren Encountergruppen. 

 

Den Umschwung in diese Richtung kann man in die Zeit von 1961 an datieren, als Mitglieder der kalifornischen Sektion von NTL (National Training Laboratories) ihre Ideen in Bethel, Maine, dem NTL-Hauptquartier einbrachten. 

Ein Ergebnis dieses Austausches war ein Werkstattseminar für Fortgeschrittene 1963 unter der Leitung von Charles Seashore, Herbert Shepard, William Schutz und Tannenbaum. Ihr Einfluß bewirkte eine graduelle Drehung in Richtung auf persönliches Wachstum.58) 

In der Folgezeit setzten sich besonders Carl Rogers und William Schutz für Encountergruppen ein. George Bach entwickelte zusammen mit seinem Kollegen Fritz Stoller das Marathon-Encounter, eine intensive Langzeiterfahrung über 24 bis 36 Stunden.

Encounter (Begegnung, Kommunikation) und das darin verwandte Hier-und-Jetzt-Prinzip sind beides Begriffe und Methoden, mit denen schon Moreno, der Vater des Psychodramas, des Spontaneitätstheaters und der Soziometrie, arbeitete. T-groups und die späteren Sensitivity-Trainings haben Ziele, die heute — wenn auch in abgewandelter Form — zumindest teilweise zum Selbstverständnis von Encountergruppen gehören. Die Gründer, Lewin und Nachfolger, sahen in ihren gruppendynamischen Seminaren eine wirksame Methode, Lehrinhalte zu vermitteln und soziale Konflikte kognitiv und realitätsorientiert zu bewältigen. Sie haben einen festen Platz an den amerikanischen Schulen, Universitäten, in sozialen Verbänden und in der Industrie gefunden.

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Die Schüler Kurt Lewins glaubten, daß die T-groups zu einem pädagogischen Instrument werden könnten, das mit dazu beitragen würde, die Erziehung, öffentliche Verwaltung und Industrie zu demokratisieren und das Verständnis der Rassen untereinander zu fördern. Nach der jüngsten amerikanischen politischen Entwicklung muß man nüchtern eingestehen, daß diese großen Ziele nicht verwirklicht wurden. Teilerfolge in Schulen, Gemeinden, Kirchen und sozialen Organisationen können nicht darüber hinwegtäuschen. Auch die in Europa so hochgelobte >confluent education<,59) die sich an den Zielen der humanistischen Psychologie orientiert und ihre Erfolge mit soliden empirischen Daten belegen kann (Forschungsprogramm Universität St. Barbara, Kalifornien,) wirkt angesichts der amerikanischen Schulmisere wie ein Tropfen auf den heißen Stein. 

In den größten Städten Amerikas kontrollieren und terrorisieren jugendliche Gangs die Schulen, die zu <Zitadellen der Furcht> geworden sind. Nach einer Studie, die unter Supervision des Harvardprofessors Walter Miller durchgeführt wurde, existieren 48.000 solcher Schulbanden. Miller sagte auf der Konferenz über Jugendgerichtsbarkeit an der Universität Los Angeles, Kalifornien, im November 1975: 

»Das Ausmaß, in dem Schulen als Zentren der Gewalt benutzt werden, hat es bisher in den USA noch nicht gegeben. Mitglieder der Gangs tragen hochkalibrige Waffen, die jederzeit tödliche Folgen hervorrufen können. Sie beanspruchen die Kontrolle der Schulen. Sie fordern von Schülern Geld, die in die Schule oder auf die Toilette wollen. Schüler müssen sich von ihnen das Recht erkaufen, nicht niedergeschlagen und verprügelt zu werden.«60

Solche Entwicklungen sind nur ein Indiz unter vielen anderen für die Tatsache, daß Gruppendynamik und Verfahren der humanistischen Psychologie bisher leider nur zum <Besitzgut> der Mittel- und Oberschicht wurden. Die Vermarktung der Psychologie und Psychotherapie hat mit dazu beigetragen, daß diese in den Augen der unteren Einkommensklassen als unbezahlbarer Luxus gelten und tatsächlich sind.  

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   8  Begegnung und Auseinandersetzung   

 

 

In dem Wort Encounter steckt die Bedeutung Begegnung, aber auch auf Widerstand stoßen, sich mit Schwierigkeiten auseinandersetzen. Wie Encounter­gruppen ablaufen, hängt ab vom Konzept des Leiters, seinem theoretischen Standort und seiner tatsächlichen Fähigkeit, mit Gruppen umzugehen und der Bereitschaft und Zusammensetzung der Gruppenteilnehmer. Encountergruppen ereignen sich auf einer Skala von stark strukturierter, programmierter und leiterorientierter Basis bis hin zu Vorstellungen, daß jeder in der Gruppe Leiter sein kann. Nach unserer Erfahrung dient letzteres Encounterleitern dazu, ihre eigene Konzeptlosigkeit zu vertuschen. Ein Versuch, die beiden Extreme miteinander zu verbinden, ist die von Ruth Cohn entwickelte themenzentrierte Interaktion (TZI). Durch Hilfsregeln der Interaktion und Intervention und die beiden Prinzipien >Sei Dein eigener Chairman, der Chairman Deiner selbst< und >Störungen haben Vorrang< soll sich der entwickelnde Gruppenprozeß einregulieren.61)

Je nach Phantasie, Einfühlungsgabe, Spontaneität, Kreativität und gegenseitiger Verantwortung der Leiter und Gruppenteilnehmer ist in Encountergruppen buchstäblich alles möglich. In der Encounterbewegung vermischen sich Einflüsse aus vergangenen und noch bestehenden Kulturen der Erde, ob es sich dabei um Fruchtbarkeitsrituale afrikanischer Stämme, hinduistische Wiedergeburtsszenen, Meditationstechniken aus Ost und West, ekstatisch erotische Tänze bis hin zum Gruppenbeischlaf oder Körperübungen (Rolfing, Bioenergetic u.a.) handelt. Leider hat die Geschichte der Encounterbewegung auch eine Menge haarsträubenden Unsinns produziert. Was schlimmer ist, einige selbsternannte Encountergurus haben mit fadenscheinigen Ausreden <du bist für dich selbst verantwortlich> Teilnehmer in Situationen und Handlungen getrieben, die sie seelisch nicht verkraftet haben. Mit den dadurch verursachten Problemen wurden sie dann allein gelassen.

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Wie gefährlich solche Spiele werden können, zeigt der Tod eines Einunddreißigjährigen im <Haus der fliegenden Eulen>, einer Gruppe von angeblichen Therapeuten, Psychologen und Studenten in Berlin. Ihr Ziel sind <soziokulturelle Transformationen> Der Tod des Teilnehmers ereignete sich in einer <Wiedergeburts-Szene>. Der Tagesspiegel vom 1.8.1975 berichtet über die näheren Umstände: 

»Nach Angaben des Anwalts wurde er (der junge Mann) in eine Decke gerollt und sollte nun unter starkem psychischen und physischen Druck der anderen Teilnehmer sich erbrechen, um <sein Inneres für ein neues Leben freizumachen>. Er erbrach sich auch, bekam aber einen Erstickungsanfall. Die Teilnehmer versuchten Mund-zu-Mund-Beatmung, die herbeigerufene Feuerwehr brachte den Mann ins Krankenhaus, wo sein Tod festgestellt wurde. Die Polizei nahm den Vorfall auf, wie auch der Veranstalter bestätigte. 

Das <Haus der fliegenden Eulen> führt auf Anfrage den Tod darauf zurück, daß der Mann rausch­gift­süchtig gewesen sei. Das aber habe man vorher nicht gewußt, da er das nicht in dem Anmeldeformular angegeben habe. Der Anwalt dagegen erklärte gestern, daß der Mann, seit längerem in der Landes­nervenklinik zur Behandlung, nicht unerhebliche Mengen von Psychopharmaka zu sich genommen habe, aber kein Rauschgift. Bei der ersten Obduktion seien auch nur Tablettenreste im Magen des Verstorbenen festgestellt worden. Möglicherweise habe er sich auf die gruppen­dynamische Behandlung mit besonders vielen Medikamenten vorbereitet, um dem erheblichen Streß vorzubeugen.«

 

Was können nun Encountergruppen leisten? Wie stehen ihre Chancen vor allem im prophylaktischen und erzieherischen Bereich? 

Akute psychische Störungen müssen therapeutisch, in Einzel- oder Gruppentherapie, behandelt werden. In Encountergruppen kann man neue Wege persönlichen Wachstums lernen und einüben und dadurch Alternativen verfügbar machen, die aus der Einspurigkeit der Alltagsroutine herausführen. Zur Orientierung gehen wir kurz auf die wichtigsten Prinzipien und Lernschritte ein.

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Ehrlichkeit und Offenheit. Das erfordert, daß man weder sich selbst, noch anderen etwas vormacht. Einübungsmöglichkeiten in der Gruppe gibt es dafür genügend. Wenn einem z. B. eine bestimmte Verhaltensweise eines Gruppenmitgliedes auf den Wecker geht, kann man das offen und ohne versteckte Anspielungen vor der Gruppe mitteilen: »Mir gefällt nicht, daß du dem Gruppenleiter nach dem Mund redest.« Auch Störungen und Langeweile gehören vor das Forum der Gruppe. »Ich kann mich im Moment nicht mehr konzentrieren, ich fühle mich ziemlich gelangweilt.«

Selbstbewußtheit (self-awareness).  

Das kann man einüben, indem man sich mit Hilfe des Gruppen­feed­backs den Ablauf und die Konsequenzen seines Verhaltens und anderer Gruppen­mitglieder bewußt macht. Dazu sind erst einmal >Rohdaten< notwendig, die wir durch die Sinne erhalten können: Was sieht, hört, riecht, schmeckt und tastet man? Wie denken wir oder andere darüber, welche Schlußfolgerungen werden daraus gezogen. Was sind unsere Gefühle dazu, welche Reaktionen (z.B. Verspannungen) zeigt der Körper. Welche Absichten verfolgt man dabei, was sind die tatsächlichen Motive. Wie sieht das Verhalten und Handeln aus, welche neuen Handlungsschritte zur Veränderung können schon in der Gruppe eingeleitet werden. 

Größtmögliche Selbstbewußtheit erreicht man dann, wenn man diese verschiedenen Dimensionen möglichst gut integriert, d.h. miteinander in Beziehung setzt, anstatt alles und jedes nur durch den Verstand zu filtrieren, zu rationalisieren oder nur von der Gefühlsebene her anzugehen. Wir machen in unseren Gruppen immer wieder die Erfahrung, daß viele verlernt haben, Gefühle zu äußern, da Gefühle stark männlichen oder weiblichen Stereotypen zugeordnet werden. Ein Mann weint nicht, eine Frau ist ängstlich. Mit Hilfe von nonverbalen und extraverbalen Übungen, wie sich gegenseitig berühren, sich tätscheln und streicheln, schreien, stöhnen, miteinander kämpfen u.v.a., bieten Encountergruppen die Möglichkeit, mit verschütteten oder verdrängten Gefühlen in Kontakt zu kommen. Inzwischen wurde dafür ein ganzes Arsenal von Übungen entwickelt.62)

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Eigenverantwortlichkeit und freie Entscheidung    

Das bedeutet, man übernimmt die Verantwortung für sein Verhalten, auch das Verhalten in der Gruppe. Die wichtigste Voraussetzung dazu ist, daß man wirklich freiwillig zur Gruppe kommt. Hier liegt ein kritischer Punkt, denn viele, die in Encountergruppen gehen, sind erst auf dem Wege zu Selbstverantwortung und freier Entscheidung. Es ist Aufgabe des Trainers, vorher herauszufinden, ob der jeweilige Teilnehmer dazu in der Lage ist. Psychisch stark Labile brauchen zunächst eine andere Behandlung. 

Zur Eigenverantwortlichkeit gehört das Mitmachen im Gruppenprozeß. Wir werfen heimliche Beobachter, die sich in keiner Weise selbst einbringen wollen, aus den Gruppen hinaus. Auch von professionellen Kollegen verlangen wir, daß sie an dem Gruppengeschehen teilnehmen und nicht eine künstliche Glaswand zwischen sich und der Gruppe aufrichten oder mit unsichtbarem weißen Kittel dasitzen. Danach sind wir gerne bereit, auch in theoretische Diskussionen einzutreten. Die Fähigkeit zu persönlicher Veränderung steht in direkter Beziehung zu der Bereitschaft, die persönliche Verantwortung für seine eigene Entwicklung und Selbstentfaltung zu übernehmen, anstatt sie auf Eltern, Gesellschaft usw. abzuwälzen. Wir sind uns jedoch bewußt, daß eine totale persönliche Autonomie psychologisch ungesund ist und letztlich nicht den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht. Aber im privaten und erweiterten Lebensbereich machen es sich viele zu leicht, sie haben für alles Entschuldigungen, sie sind ständig auf der Suche nach Sündenböcken.

Aber gerade dadurch — das ist eine unvermeidliche Paradoxie — machen sie es sich schwer. 

Für uns hat das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit deutliche und klare Grenzen. Wir stimmen nicht mit Bill Schutz in der Ausschließlichkeit seiner Formulierungen überein, daß »Begriffe wie Gruppendruck, Manipulation, Ausnutzung und Gehirnwäsche Ausreden dafür sind, andere für das verantwortlich zu machen, wofür man sich selbst entschieden hat«.63 Der Gruppenleiter hat die Verantwortung dafür, daß bestimmte Regeln eingehalten werden. Wir halten es für naiv, gestützt auf das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit, die Gesetzlichkeiten der Gruppendynamik zu leugnen.

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Jeder erfahrene Trainer muß wissen, daß eine Gruppe oder einzelne Teilnehmer in Zeiten der Unsicherheit oder Euphorie sehr leicht manipuliert werden können. Gruppendruck kann unter der Leitung eines geschulten Trainers positiv genutzt werden, um seelische Barrieren oder Blöcke zu durchbrechen. Gruppendruck kann aber auch dazu dienen, Teilnehmer zu Verhaltensweisen zu treiben, wo die Bedingungen einer freien Entscheidung nicht mehr zutreffen. Das gilt besonders für Teilnehmer mit einem Defizit an Eigenverantwortlichkeit. 

Im frühen Gruppenprozeß sind sie meist noch nicht fähig, Manipulationsmechanismen des Leiters oder der Gruppe zu erkennen und sich dagegen zur Wehr zu setzen. Eine Gruppe kann dann allzu leicht zum Instrument der Omnipotenzphantasien des Leiters werden. Ein Trainer muß seine eigenen Beschränkungen und Versuchungen kennen. Als Leiter ist seine Rolle im Gruppenprozeß synergetisch und paradox. Er ist nicht Gruppenmitglied wie alle anderen. Er muß sowohl demokratisch als auch autokratisch handeln können, wenn das Geschehen nicht in einem Kaffeeklatsch, Machtkampf, Gefühlschaos oder einer >Musterschule< enden soll. Er darf nicht als >Encountertechniker< eine Übung nach der anderen abziehen oder die Gruppe als Exerzierfeld seiner geheimen Wünsche benutzen. Ein guter Trainer hat die Fähigkeit und das Gespür, durch seine Interventionen die Beziehungen der Teilnehmer untereinander so offen wie möglich werden zu lassen.

 

Hier-und-Jetzt.

Dieses Prinzip (von Moreno schon 1918 in seiner <Rede über den Augenblick> erwähnt)59 bildet auch den Eckpfeiler einiger neuerer therapeutischer Richtungen wie Psychodrama, Gestalttherapie und andere Erlebnistherapien. 

Nach unserem Verständnis beinhaltet Hier-und-Jetzt weder Geschichts- noch Zukunftslosigkeit. In jedem Augenblick unseres Lebens tragen wir Vergangenheit mit uns herum; diese Vergangenheit kommt immer wieder zum Tragen, wenn unerledigte, nicht verarbeitete Situationen und Konflikte (unfinished business) zum Problem werden. Die Zukunft wird dann relevant, wenn es darum geht, vom Hier-und-Jetzt aus Handlungstrategien zu entwickeln, Veränderungen einzuleiten oder Ängste zu bearbeiten.

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In Encountergruppen im Hier-und-Jetzt arbeiten bedeutet, von dem auszugehen, was innerhalb der Gruppe passiert, was und wie die Teilnehmer erleben, sich verhalten, agieren und ihre Spielchen treiben. Ärger, Rivalität, Zuneigung, Attraktion und Ängste werden hier und jetzt thematisiert. Ein Beispiel: wenn ich sage, »mich ärgert dein unverschämtes Grinsen, jedesmal, wenn ich auch nur den Mund aufmache«, bedeutet das: ich bin jetzt (in diesem Augenblick) über dich ärgerlich, nicht für alle Ewigkeiten. Du hast die Information, was mich ärgert, wenn dir etwas an mir liegt, kannst du dich ändern. Aus dieser Situation könnte sich dann die Bearbeitung dieses Konfliktes ergeben.

Wenn Probleme von früher anstehen, werden sie auf die gegenwärtige Situation bezogen: welche Bedeutung hat der Streitfall mit deiner Mutter jetzt, hier in der Gruppe. Die Teilnehmer reden nicht über Personen, sondern miteinander. Im Falle des Mutterkonfliktes aus der Vergangenheit kann der Teilnehmer im psycho-dramatischen Rollenspiel oder im inneren Dialog (er spielt selbst die Mutter) das Problem ein Stück weit bearbeiten: »Mama, es hat mich tief verletzt, daß du mir damals die Schuld gegeben hast und Maria, meine Schwester, ohne Strafe davongekommen ist.« Mutter: »Heute sehe ich das auch anders, damals blieb mir nichts anderes übrig ...« 

Im Hier-und-Jetzt bleiben heißt auch, sowenig wie möglich andere zu interpretieren, als Amateuranalytiker psychologische Archäologie zu treiben oder in wilden Seelensafaris die Geheimnisse des Unbewußten zu entschleiern. 

Um die beschriebenen Lernschritte zu fördern und das Grundkonzept einzuhalten, haben sich einige Regeln bewährt.65)

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  1. Sie sind für Ihr Erleben, Tun und Handeln in der Gruppe verantwortlich. Die Teilnahme ist Ihre persönliche Entscheidung.

  2. Übernehmen Sie auch die Verantwortung für Ihre Gefühle, auch die sog. negativen. Versuchen Sie, diese direkt auszusprechen, anstatt sie hinter Fragen, Vermutungen und Verallgemeinerungen zu verstecken.

  3. Sprechen Sie für sich selbst, nicht für andere. Vermeiden Sie Ausdrücke wie »man tut dies oder das (nicht), wir sind alle hier der Meinung, oder es war schon immer so«.

  4. Vermeiden Sie, andere auszufragen. Hinter Ihren Fragen stehen meistens Vermutungen oder Hypothesen. Sprechen Sie diese direkt aus. Fragen, besonders Warum-Fragen, drängen in Verteidigungshaltung.

  5. Reden Sie nicht über Teilnehmer, sondern sprechen Sie diese direkt an.

  6. Vermeiden Sie Klatsch über Abwesende.

  7. Wenn Sie die Worte »ich kann nicht« als Entschuldigung gebrauchen, weil Sie eine Übung nicht mitmachen wollen, überlegen Sie, ob »ich will nicht oder mir paßt das nicht« eine aufrichtigere Antwort ist.

  8. Störungen haben absoluten Vorrang.

  9. Rauchen Sie nicht, trinken Sie keinen Alkohol, nehmen Sie keine Tabletten oder Drogen. Narkotika setzen die Spannung herab und berauben Sie der Chance, aufkommende Angst oder Schmerzen in der Gruppe zu bearbeiten.

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9 Die Hoffnung Esalen    

 

Das Esalen-Institute in Big Sur, <das amerikanische Ashram>, hat für die ganze Bewegung symbolische Bedeutung gewonnen. Von den Kritikern wurde es als Psychozirkus beargwöhnt, von den Fans der Bewegung wie ein Wallfahrtsort verehrt. Michael Murphy, ein Schüler Alan Watts', hatte das Chait's Hot Springs Hotel, eine Art Kurhotel mit heißen Schwefelbädern, geerbt. Zusammen mit seinem ehemaligen Klassenkameraden Dick Price gestaltete er das Kurhotel zu einem offenen Treffpunkt, zu einer Begegnungsstätte für östliche und westliche Ideen der Philosophie und Psychologie. 

Anfangs fanden dort in loser Reihenfolge Workshops in Yoga, Meditation, Sensory awareness, Encounter (Begegnungsgruppen), Massage, Religion, Nackt­therapie, Gestalttherapie u.v.a. statt. George Bach führte dort ein- oder zweimal jährlich Marathons und Aggressionslaboratorien durch. Die Veranstaltungen reichen auch heute noch von Tages- bis zu Monatsprogrammen. Die Teilnehmer wohnen dann in Esalen und nehmen am Gemeinschaftsleben des Esalenstaffs teil.

Besondere Attraktion sind auch heute noch die heißen Schwefelquellen. Zu meinen unvergeßlichen Erlebnissen in Esalen, Januar 1973, gehören die heißen Schwefelbäder mit Massagen zwischen und nach den Gruppensitzungen. Das Bad ist ungefähr 60-80 m über dem Stillen Ozean in die Felsen hineingebaut. Die heiß dampfenden und erdig riechenden Quellen sind in 4x5 m große Sitzbecken eingefaßt und überdacht. Der Blick zum Meer ist offen. Steinerne Massagetische stehen, nur durch ein Holzgeländer von dem Abgrund geschützt, zum Ozean hin. Damals sonnten sich unten auf den Klippen Seelöwen, und an der Küste zogen Wale in Herden fontänenspritzend vorbei. 

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Mitte der sechziger Jahre siedelten sich um Big Sur, California, Vietnamgegner, von der Gesellschaft Enttäuschte und <psychedelische Ranger> an. Sie lebten in Kommunen und Wohngemeinschaften, trieben Acker- und Gartenbau und träumten von der amerikanischen Gesellschaft und arbeiten dafür. Für diese <Counterculture>, die <Encounter> (grob übersetzt mit Begegnung, Kommunikation) mit oder statt Drogen als Mittel der Bewußtseins- und Gesellschafts­veränderung einsetzen wollten, diente das Esalen-Institut als eine Art Umschlagplatz und Austauschmöglichkeit mit den dort lebenden oder vorüber­gehend arbeitenden Therapeuten, Trainern, Yogis und Seminarteilnehmern.

 

Auf therapeutischem Sektor bot das Institut so etwas wie institutionalisierte Freiheit, die es Leuten wie Bach (Marathon und Aggressionslaboratorien), Günther (Massage), Keleman (Bioenergetic), Perls, Price u.a. (Gestalttherapie), Rolf (Rolfing), Satir (Familientherapie), Schutz (Encountergruppen), Watts (Koordinator und Promotor für östliche Ideen und Techniken) u.a. erlaubte, neue therapeutische oder pädagogische, die persönliche und gemeinschaftliche Entwicklung und Kreativität fördernde Wege zu beschreiten. 

Im Gegensatz zur Gruppendynamik, wie sie in T-groups und Sensitivity Trainings praktiziert wurde, und die ja von der Universität aus auf Institutionen, Industrie und Kirchen übergriff und schon sehr früh in einem Dachverband (NTL, Bethel, Maine) organisiert war, mußte das <Esalen-Encounter> zunächst ein Außenseiterdasein fristen, skeptisch und mißtrauisch von der akademischen Fachwelt beargwöhnt und von der professionell etablierten Seite größtenteils abgelehnt. Die Gruppendynamik besaß durch die Kleingruppenforschung empirisches Hinterland; die Leute, die in Esalen arbeiteten, verband eigentlich nur, daß sie mit herkömmlichen Methoden und Praktiken unzufrieden waren und voneinander lernen wollten, um brauchbare Alternativen zu finden. Das Wie des Andersmachens weist ein vielfältiges und breites Spektrum auf. 

Von der alten Mannschaft wohnen heute nur noch Murphy, Price und Schutz in Esalen. Für viele wurde Esalen ein Hoffnungsknotenpunkt, ein Symbol für Menschlichkeit. Junge und alte Leute besuchten die Workshops (Werkstattseminare). Andere wählten sich in Esalen ihren Guru und lebten dort für einen Monat bis zu mehreren Jahren.

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Michael Kramer, heute in einer Schlüsselposition bei Arica, hatte sich Fritz Perls als Guru gewählt. Er wurde so etwas wie sein Assistent und lebte in seinem Haus, bis Perls ihn rausschmiß. Er erzählte uns von der Atmosphäre, die Mitte der sechziger Jahre in Esalen herrschte:

»Ich hatte Schwierigkeiten mit den Kameradschaftsbeziehungen. Die Leute, die dort lebten, arbeiteten wirklich an sich selbst. Sie waren dort das ganze Jahr über wie <Seminaristen>. Es war schwierig auszuleben, was diese Leute dort lehren. — Es war 'ne harte Arbeit für mich, eine Beziehung zu diesen Leuten aufzubauen. Zuerst dachte ich, die sind komisch, bedrohlich, beängstigend. Sie waren zu echt, zu direkt, zu spontan, taktlos. Sie zeigten sich, wie sie waren, wenn sie ärgerlich waren, waren sie ärgerlich. Ich fühlte mich beschissen. Mein Problem war, ich konnte mich nicht richtig selbst ausdrücken, vor allem meine Gefühle, ich konnte meine Gefühle nicht ausdrücken. Das setzte ich mir dann als Ziel.

Ich kam als <Seminarist>, dann wurde ich einer, der dort lebte und arbeitete. Und ich sah diese Leute, die dort lebten, ich meine nicht nur die in Esalen selbst, sondern auch in und um Big Sur herum, das waren die Leute, die mich am meisten interessierten. Sie machten außergewöhnliche Dinge und hatten wirklich ihr Denken und Bewußtsein in verschiedene Richtungen erweitert. Diese Leute zogen mich an, sie hatten den <Raum> (space) auf verschiedene Weise erforscht, sie nahmen alle möglichen Drogen.« 65a)

Die <Innovationsphase> scheint in Esalen heute endgültig vorbei zu sein. In den letzten Jahren wurden zumindest in Kalifornien viele fruchtbare Ansätze, die in Esalen praktiziert wurden, in den professionell therapeutischen Bereich einverleibt. Einige Universitäten richteten eine Abteilung für humanistische Psychologie ein. UCLA (die Universität von Los Angeles) veranstaltete zum 10. Geburtstag von Esalen ein Sonderprogramm. Selbst zwischen den strikt objektiv, behavioristisch und den humanistisch orientierten Psychologen findet immer mehr Zusammenarbeit statt. Der Verhaltenstherapeut Z. Wanderer fordert z.B. einen <experimentellen Humanismus> oder das systematische Studium menschlich charakteristischer Verhaltensweisen, um ein verständliches Bild menschlichen Verhaltens zu erhalten, anstatt sich zu streiten, wer die bessere Psychologie besitze.66)

In Esalen selbst dreht sich das Psychokarussell — ganz im Zeitgeist — um Mythologie, Astrologie, Futurologie und alle möglichen esoterischen Bewegungen. Weiterhin werden Werkstattseminare in Gestalt, Rolfing, Massage und Encounter angeboten. 

Bill Schutz hat diese Entwicklung am radikalsten mitvollzogen. Der ehemalige Sozialwissenschaftler und Professor für Sozialpsychologie geht heute soweit, daß er Prinzip der Verantwortlichkeit (ich bin für mich selbst total verantwortlich) bis auf die Gene und Vorfahren ausgedehnt hat.

Blickt man heute in den Veranstaltungskatalog von Esalen, wird man mit einem Wirrwar von Seminaren konfrontiert. Die Seminarleiter sind oft <Paraprof­essionelle>, die vielleicht mal in Esalen gelebt haben. Zu der Vita der Leiter kann man z.B. lesen: »X. Y., Schreibmaschinenmechaniker, Koch, Angestellter, Schuhverkäufer und Boxer. Er ist ein Mann im Umbruch, ein Humanist, Lehrer für Gestalt, Encounter und Energie-Fluß.«

Wir haben in Deutschland viele getroffen, die davon schwärmen, einmal längere Zeit in Esalen zu verbringen. Leider können wir das Institut nur noch als einen ausgezeichneten Massageplatz empfehlen.

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10  Die Enttäuschung um Esalen     

 

 

In den USA bestehen heute über 300 <Growthcenters>. Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland (vgl. Anhang) ziehen so langsam nach. Alte Bauernhöfe, Mühlen, Schlösser und Burgen werden in <therapeutische> Zentren umgewandelt. 

Viele der Gründer haben sich ihre Inspiration und Ideen in den USA, besonders in Kalifornien geholt. Inzwischen kann man von einem stetigen Wallfahrts­strom deutscher Psychologen nach den USA sprechen. Umgekehrt veranstalten (oder lassen veranstalten) führende amerikanische Köpfe der <dritten Kraft> Workshops und Seminare in Deutschland, die immer größeres Interesse unter den Professionellen und psychologisch Interessierten finden. 

Bei unseren Marathonveranstaltungen im deutschsprachigen Raum machten wir sogar die Erfahrung, daß sich Psychoanalytiker von anfangs verschämt passiven Beobachtern zu aktiv engagierten Mitgliedern entpuppten. Leute, die von ihrem therapeutischen Grundkonzept her in asymmetrischen Beziehungen zu ihren Patienten stehen, sind plötzlich bereit, Gruppenmitglieder zu werden, das Berührungstabu zumindest für den Augenblick zu vergessen und sich in Gruppenumarmungen einknäueln zu lassen oder sich wie ein Baby auf den Händen der Gruppenmitglieder unter dem sanften Summen eines Schlafliedes schaukeln zu lassen.

Jene unnahbaren Vaterfiguren werfen ihre professionelle Steifheit und fast peinliche Korrektheit ab, freuen sich wie kleine Kinder, necken, flirten und fluchen und schreien wenn nötig. Viele <Growthcenters> haben versucht, den Stil und die kreative Atmosphäre Esalens nachzuahmen. Keines hat eine solche Bedeutung erlangt, wie sie Esalen für die humanistische Psychologie der sechziger Jahre hatte. 

Heute befinden sich viele dieser Zentren in finanziellen und programm­gestalterischen Schwierigkeiten. Die meisten der heute angesehenen humanistisch orientierten Psychologen arbeiten nicht mehr oder nur noch sporadisch dort.

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Unserer Ansicht nach erfüllten diese Begegnungsstätten mit ihrem Angebot einer Art <weltlicher> Exerzitien eine wichtige Katalysatorfunktion für die Ausbreitung humanistisch psychologischer Gedanken und Verfahrensweisen. 

Einige naive Schwärmer sahen in ihnen schon eine ähnliche Bedeutung, wie sie die Klöster des Mittelalters (etwa Cluny), als Orte der Erneuerung und schöpferischer Einkehr gespielt haben. 

Diese Position überschätzt bei weitem ihre Ausstrahlung, der humanistische <Kreuzzug> ist ausgeblieben, und der Psychoboom frißt seine Kinder.

Nehmen wir wieder Esalen als Beispiel. 

Den Esalen-Bewohnern und -Mitarbeitern ist es bisher nicht gelungen, eine homogene Gemeinschaft zu formen, wie das einige mittelalterliche Klöster schafften, wo einzelne <Mitbrüder> auf den Gebieten der Philosophie, Theologie, Literatur und Naturwissenschaften Hervorragendes leisteten, aber ihre Arbeit immer in den Dienst der Gemeinschaft stellten. 

Wenn wir Esalens Entwicklung nüchtern betrachten, müssen wir feststellen, daß seine Versprechungen nicht erfüllt wurden. Die Esalenphilosophie ventilierte einen freieren Lebensstil und Befreiung von der Entfremdung durch Ichfindung, Offenheit, Sensibilisierung und Ausleben der Gefühle. Diese Einstellung konnte innerhalb der Gemeinschaft Intrigen, Mißgunst und das kindische Spielchen, wer ist der Berühmteste von uns, nicht verhindern. 

Hier liegt auch - nach Shepard - einer der Gründe, warum Fritz Perls schließlich Esalen verließ und sein eigenes Gestaltkibbuzz in Cowichan, Kanada, gründete. Shepard bemerkt dazu: 

»Je populärer Bill (Schutz) und Bernie (Günther) wurden, um so mehr wies sie Fritz zurück. Was für eine kosmische Ungerechtigkeit, daß diese Leute, dreißig Jahre jünger als Fritz, soviel Anerkennung für ihre Arbeit fanden, die doch so oberflächlich und banal im Vergleich zu seinem Werk war, daß sie ihn in der Stunde seines Triumphes von der Bühne verdrängten.« 67)

Ein weiterer Grund für die beschränkte Ausstrahlungskraft liegt darin, daß die Teilnahme an den Werkstatt­seminaren oder ein längerer Aufenthalt soviel Geld kostet, daß die niederen Einkommensklassen nicht in den Genuß der Angebote kommen. Für die Leute, die Geld haben, ist mittlerweile der prickelnde Reiz des Neuen vorbei. Die Zentren sind im wesentlichen auf einen treuen Kundenstamm angewiesen. 

Die rapide Vermehrung der <Growthcenters> führte zu einem Konkurrenzkampf untereinander. Die Kritik kommt vor allem von den Befreiungsbewegungen (Women's Lib, Gay's Lib und neuerdings Men's Lib), die auf therapeutischer Seite durch die Vertreter der Radikaltherapie unterstützt werden. Sie halten diese Art humanistischer Psychologie für Einschläferungstaktik.

Die humanistische Psychologie hat — wie schon gesagt — auf einer breiteren Basis Wurzeln gefaßt. Kirchen, Universitäten und Gemeinden bieten in sehr preisgünstigen Programmen einem weitgestreuten Publikum Möglichkeiten, »Esalen« in die eigenen vier Wände zu holen.

Auch in Deutschland gewinnen die humanistische Psychologie und ihre Verfahrensweisen neben den Growthzentren über Volkshochschulen, Kirchen und Verbände der freien Wohlfahrt Einfluß und Ausbreitungs­möglichkeiten. Besonders die Kirchen sehen darin offenbar eine Chance, in Jugendarbeit, Ehe- und Familien­beratung und -therapie verlorenen Boden wieder zurückzugewinnen.

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