2.4 - Europäische Kosmologie
Das ungezügelte Ich der Weißen
Homo conquistador
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Doch auch das losgelassene Kapital ist nicht die Endursache des Exterminismus. Es ist eine Erfindung, die zuerst die alten Griechen gemacht haben und dann, nicht der Kontinuität von ein bißchen Warenproduktion zuliebe, sondern wegen tiefgehender Verwandtschaft der Stammesdisposition, erneut die neuzeitlichen Europäer. Die Renaissance hat nur so intensiv "anknüpfen" können, weil das Abendland — nicht aufgrund der römischen Tradition, die spielte nur mit, sondern vor allem autochthon — an dieselbe Schwelle gelangt war. wikipe Autochthon
Die Geschichte hat ja später — indem sich ihr Epizentrum immer mehr zu den romfernsten, nordwestlichsten Europäern verschob — ganz deutlich gemacht, daß ein ganz bestimmter völkischer Impuls in dem industriellen Durchbruch steckt: nicht eine besondere technische und wissenschaftliche Begabung, sondern ein besonderer Typus von psychischer Energetik und von entsprechendem geistigem Zugriff auf die Welt.
Die Logik der Selbstausrottung wird in der üblichen kapitalismuskritischen Analyse vor allem der Linken meistens falsch herum gesehen. Gewiß hat der voll entfaltete Kapitalismus den asozialen, egoistischen Individualismus forciert, mit dem unsere Zivilisation wie keine andere glänzt. Aber das ist ein Sekundäreffekt: Hier wird nur ein Ergebnis verstärkend auf die Ursache zurückgekoppelt. Am Ende ist die Diskussion um Henne und Ei immer nur begrenzt interessant, aber hier geht es darum, zu begreifen, wieso denn ausgerechnet die Europäer diese äußerst expansionistische, kapitalistische Produktionsweise hervorgebracht haben.
Marx war - im Anschluß an Hegel - so "aufhebungsbesessen", daß er den Vorstufen "reifer" Verhältnisse nicht genügend eigene Substanz ließ: Im Kapitalismus schien ihm einfach alles Vorgängige rückstandslos aufgehoben, aufgegangen. Kapitalismus erklärt — alles erklärt. Da Europa sowieso das Maß aller Dinge war, fiel sein Besonderes nicht als solches auf. Es ist aber für eine Korrektur gerade die wichtigste Frage, wie und wodurch sich Geld und Reichtum zum Kapital emanzipieren konnten und warum es zur uneingeschränkten Zentralmacht werden konnte.
Johan Galtung hat (ich besitze es nur im Manuskript) die "Kosmologien" der heute dominierenden Zivilisationen strukturalistisch verglichen, indem er sie nach sechs verschiedenen Dimensionen abfragte: Raum, Zeit, Wissen, Mensch-Natur, Mensch-Mensch, Mensch-Gott. Gemeint ist mit Kosmologie die jeweilige kollektive Tiefenpsychologie, die wenigstens ursprünglich unbewußte Grundeinstellung zur Welt, die sich in den kulturellen Verhaltensmustern verwirklicht.
Der westliche Mensch - homo occidentalis - bekommt dann die folgende Charakteristik:
Er setzt sich selbst als zentral, die anderen als Peripherie, wobei die Initiative natürlich vom Zentrum ausgeht und sich expansiv auf die fernsten Grenzen des sozialen und natürlichen Kosmos bezieht. Der Raum wird also scharf perspektivisch vom Interesse des eigenwilligen Subjekts aus geordnet.
Die Zeit verläuft in eine Richtung, Entwicklung ist Fortschritt vom Niederen zum Höheren, und der Ablauf ist dramatisch (vom Paradies über den Sündenfall bis zur Erlösung oder Verdammnis).
Das Wissen ergreift die Welt, indem es einige wenige möglichst mächtige Parameter abfragt, um möglichst alles auf ein einziges Axiom, irgendeine "einheitliche Feldtheorie" zurückzuführen. Wir konstruieren binär (die Computer mußten kommen!) und deduktiv. Wir lieben den theoretischen Pyramidenbau von einem einzigen Punkt aus, etwa die Ware als Tauschwert in der Politischen Ökonomie. Galtung meint, das letztere sei besonders teutonisch, findet übrigens, der "homo teutonicus" sei ein homo occidentalis in extremis, der Nazi wiederum ein homo teutonicus in extremis.
Der Mensch steht über der Natur als ihr Beherrscher.
Die Sozialstruktur (Mensch zu Mensch) ist vertikal und individualistisch, so daß "wölfische" Konkurrenz um den Rang die Norm ist.
Im transpersonalen Bezug ist Gott autokratisch, eifersüchtig und dualistisch über der Welt und dem Menschen — als Über-Ego unser großer Spiegel, vor dem wir zwischen Allmacht- und Ohnmachtempfinden schwanken.
Der homo occidentalis ist Welteroberer par excellence, ist homo conquistador. Das ist europäische Volkspsychologie. Etwa in Spanien sind die Familien jahrhundertelang davon ausgegangen, daß Söhne hinausziehen werden. Die außereuropäische Welt galt als leer, als zivilisatorisch unser bedürftig. Unsere gotischen Kathedralen und unsere Musik haben denselben himmelstürmenden und zupackenden Impetus.
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Romain Rolland sagt von dem Beethoven der Sinfonien bis zur VIII.:
Er stammt aus der Zeit, da ein Christoph Columbus nach dem anderen in die Nacht hinaustreibt und auf dem bewegten Meer der Revolution sein Ich entdeckt, das er alsbald mit Feuereifer zu erobern trachtet. Die Eroberer überspannen den Bogen, gierig wollen sie die ganze Welt an sich raffen. Jedes einzelne freigewordene Ich will Führer sein. Wem es im Leben nicht gelingt, der versucht es in der Kunst. Das All ist sein Kampfgelände, und kühn entfaltet er seine inneren Streitkräfte, sein Sehnen, Klagen, Toben, seinen Weltschmerz. Das Volk hat ihm stillzuhalten, nach der Revolution das Kaiserreich. (76)
Woher stammt diese psychoenergetische Grundlage, die in unserem Gebrauch von Wissenschaft-Technik-Kapital sich den explosiven Ausdruck schuf?
Griechen, Römer, die Hethiter, die in Kleinasien, die Arya, die in Indien einrückten, nicht zuletzt die Germanen hatten ihren Stammescharakter aus dem Nomadenleben in den eurasischen Steppen. Auch die Juden und später die Araber fallen ja ursprünglich unter diese psychologische Disposition von Steppen- oder Wüstenwandervölkern. Unsere Kosmologie ist jüdisch-griechisch-römisch-christlich, und zeitweilig hat sie auch Einflüsse vom arabischen Gegner und Partner aufgenommen.
In allen Fällen handelt es sich um Assimilationen, Anverwandlungen zunächst fremder Überlieferung, gerade auch im Christlichen des Abendlandes, das ja dann mit Paulus über die Griechenstädte und Rom zu uns kam. Aber von nördlich der Alpen her gesehen sind all das Überformungen einer autochthonen Grundlage, die die germanischen Stämme aus ihrer eigenen formativen Periode mitgebracht haben. Rom war ja niedergebrochen, es war nicht einfach eine Fortsetzung, es war wirklich ein neuer Anlauf, in dem im Westen die Germanen, im Osten die Slawen die Rolle der "frischen Barbaren" spielten.
Die ursprüngliche germanische Kosmologie ist viel kriegerischer als die slawische gewesen. Die Slawen waren schon, die Germanen wurden erst seßhafte Bauern. Für die germanischen Stammesaristokratien waren Krieg und Eroberung, raumgreifende Bewegung entscheidendes Moment der "Produktionsweise", wie es in exemplarischer Einseitigkeit räuberische Staatsgründer wie die Vandalen und dann im Aufschwung zum hohen Mittelalter die normannischen Gefolgschaften zeigten.
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Wenn das Leben abenteuerliche und kriegerische Expedition ist, wird der heimisch gewordene Flecken Erde zugleich immer eine Art "Basislager" sein. Und wenn die Expansion räumlich zum Stehen kommt, werden sich die Bewegungsenergien einen anderen Ausdruck suchen. Die Aufbruchsbereitschaft, die Unruhe, der Pionier- und Gründergeist warten weiter auf Gelegenheiten, seien es Kreuzzüge, Entdeckungen, Kolonisierungen, Industrien, Forschungen, Kosmosflüge.
Solche Initiative gehört zum Menschen, nicht unbedingt aber ihre aggressive und herrschaftliche Form, ihre Dominanz über alle anderen Verhaltensmodi, ihre Überwertigkeit und Rücksichtslosigkeit in der Selbstdurchsetzung, ihr Fanatismus des einen Prinzips. Es ist eine extravertierte Kosmologie: Die Initiative bewährt sich einseitig in der Veränderung und Erkenntnis der Außenwelt. Das macht ihren grundlegenden Materialismus aus; noch unsere Mystiker sind Aktivisten.
Meister Eckharts Vita contemplativa mündete immer wieder in ein ekstatisches Predigertum. Implizit muß das Reich Gottes den Erdkreis umfassen: Wir kommen normalerweise nie auf den Gedanken, daß es das vielleicht schon immer tut und daß es gerade unsere unausgesetzte Anstrengung ist, die den Sturm erzeugt, der uns vom Paradiese abtreibt.**
Unser spirituelles Erbe - jedenfalls hier in dem nichtromanischen Land - hat den Wanderer-Wotan in sich, und es ist deshalb, daß ich daran glaube: Wie das untergehende Rom damals diese vielen fremden, nahöstlichen, nahasiatischen Impulse brauchte, um sich zu transformieren, brauchen wir heute die fernöstlichen, fernasiatischen. Das Benediktinertum, das die Neugeburt Italiens und die Geburt des Abendlandes symbolisiert, war römisch und unrömisch, nämlich christlich, zugleich!
Was war denn vorgegangen? Da hatte, so wie heute Reagan für US-Amerika steht, für die Römer der republikanischen Zeit jener Cato gestanden, der jede Rede im Senat abschloß: "Im übrigen bin ich der Meinung, daß Karthago zerstört werden muß." Das war der herrschende Geist in Rom, über alle Klassenunterschiede hinweg, es war der Akzent des allgemeinen Bewußtseins. 700 Jahre später trug das allgemeine Bewußtsein den Akzent des Benedikt, seiner Regel, die um das "Ora et labora" kreiste.
wikipedia Vita_contemplativa mönchisches Leben ** (d-2015:) Anspielung auf W.Benjamin/P.Klee wikipedia Benedikt_von_Nursia *480 wikipedia Regula_Benedicti
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Arbeiten, das vorher Sklavensache und des freien Römers kaum würdig gewesen war, als Losung einer neuen kulturschöpferischen Elite. Aber es stand an zweiter, nicht wie bei uns neurömischen Republikanern an erster Stelle. Wir sollten nicht "Schätze sammeln auf Erden", sondern uns den Unterhalt schaffen, um menschenwürdig leben zu können. Und menschenwürdig war, das ewige Heil, die geistige Erhebung zum Göttlichen als Existenzzweck, als Lebenssinn zu erfahren. Darum das Beten zuerst, das nicht als Formelnaufsagen gemeint war, sondern als verbale Meditation. (Wir Deutschen müssen Meister Eckhart lesen, wenn wir wieder wissen wollen, was das war und sein kann und wie sehr es über den Bekenntnisfloskeln steht.)
Sie haben sich die innere Freiheit erbetet, die Gestalt, die Perspektive der Zivilisation neu zu finden. Das Benediktinertum war schon die erste Frucht. In den Jahrhunderten dazwischen haben sich von Generation zu Generation immer mehr Menschen diese Frage "Quo vadis?", "Wohin gehst Du?" gestellt, weil der alte Weg zu Ende, jene catonische Selbstverständlichkeit römischen Soseins vergangen war. So hat sich die Subjektivität einer ganzen Gesellschaft geändert.
Das Italien von damals ist das hoffnungsvollste weltgeschichtliche Beispiel dafür, daß eine Tiefentransformation, eine Strukturrevolution in der Volksseele möglich ist, daß also nicht neue Völker kommen müssen (wo sollten sie heute auch her sein?!). Und für heute ausschlaggebend an diesem Beispiel: Wohl hat sich diese Klosterkultur nach der Regel des Benedikt ausgebreitet, aber das Modell blieb kontraktiv.
Lewis Mumford hat den Beitrag des Benediktinertums zu unserer modernen Arbeitskultur und -disziplin hervorgehoben. Der ist aber durch die spätere Aufnahme in einem anderen strukturellen Muster bedingt. Die parallele Mönchskultur in Ost-Rom blieb kontraktiv, bewirkte keine Arbeits-, keine Wirtschaftsgesellschaft. Zu der Leistung Benedikts hatte der Germanensturm bloß einen äußeren Anstoß beigetragen. Benedikt ist als Kreuzritter undenkbar.
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Wir im Norden kommen von einem ganz anderen, von dem geistlichen burgundischen Ritter Bernhard von Clairvaux, der wieder 600 Jahre später ökonomisch, politisch, militärisch eine expansionistische Erneuerung der Klosterkultur zuwege brachte, für die die Christianisierung der germanischen Völker die Grundlage geschaffen hatte. Das war eine andere Subjektivität, die nun allerdings auch Italien wieder mitriß, es einspannte in die Kreuzzüge, als ihre Absprungbasis, nicht als ihren Herd. Bernhard war Mystiker von hohem Charisma, Klosterreformator und Kreuzzugsorganisator in einem. Hier in Deutschland wurden die von ihm angestoßenen Zisterzienser die Vorreiter der Ostkolonisation mit Kreuz und Schwert.
Die Affinität zum Kapitalismus, die bei Bernhard noch nicht hervortritt, inkarnierte sich im Verlauf der Kreuzzüge in dem Orden der Templer, die das Kaufmännische, die Geldwirtschaft, das Bankierswesen in ihr spirituelles Konzept integrierten. Das Kapital war in ihrem geistigen Ansatz formell noch untergeordnet, aber "Krieg, Handel und Piraterie" als Lebenspraxis mußten das Kreuz nicht nur einmal mehr pervertieren, sondern zuletzt ganz überwinden. Gewiß nicht zufällig kamen in der Templer-Spiritualität satanistische, machtmagische Züge hoch, die Rom dann zur Vernichtung jenes Ordens benutzte, dem zu früh das mittelalterliche Weltbild zersprungen war.
Wie schon die Griechen und Römer hatten auch die Germanen eine spezifische "kosmologische" Disposition aus ihren Wanderzeiten mitgebracht, die dem Kapitalismus zugute kam, ja gewissermaßen zu ihm führen mußte. Häufig ist die pluralistische Machtstruktur solcher Stämme und Völker hervorgehoben worden, deren deutlicher Unterschied zum orientalischen Despotismus. Bis hinunter in den letzten Volksrang gab es Rechte, gab es einen Artikulations- und Initiativespielraum. Die Lebensweise hatte keine kollektivistischen Theokratien, sondern Kriegskönigtümer gefördert. Kleinkönige machten einen aus ihrer Reihe zum primus inter pares, wie in der Ilias die Achäer den Agamemnon.
Als vertikal und individualistisch hat Galtung die entsprechende Sozialpsychologie charakterisiert.
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Die "Unternehmerinitiative" konnten tendenziell Menschen aller Ränge ergreifen, lange ehe dies Muster zu seiner modernen Bedeutung kam. Konkurrenz um den Rang innerhalb des gleichen Standes gehört zu jeder solchen Kriegerkultur. Erobert sie ein fremdes Land und Volk, kann sich im Grenzfall der ganze Verband in eine Lehens-Aristokratie verwandeln. Wo heute Deutschland ist aber gab es keine Unterworfenen, daher diese reine feudale Differenzierung innerhalb der germanischen Stämme, aber eben mit Volksfreiheiten, die noch auf den Fahnen des deutschen Bauernkrieges standen.
Es war also von weither diese individualistische Möglichkeit enthalten. Die Kosmologie appellierte unterschwellig an jeden, sein eigener Herr werden zu wollen, die Schranken von Geburt und Stand nicht absolut gelten zu lassen. Geldwirtschaft und Kapitalismus waren geeignet, die Chancen anzugleichen. Mit Geld im Sack konnte jedes Ich adlig und unwiderstehlich werden, eine Welt oder wenigstens einen Markt erobern und ein Reich gestalten, wie es in der Utopie am Schluß des "Faust" als großbürgerliches Ideal aufleuchtet.
Das läßt sich aber zurückverfolgen bis in die olympische Konkurrenz der Griechen und noch weiter bis zu dem von Homer überlieferten Motto, (im Kampfe) "immer der Erste zu sein und vorzustreben den andern", um welches Gebiet, um welchen Gegenstand der Konkurrenz es sich auch handle.
Im Kapitalismus wird dieses Prinzip zuletzt so völlig defizient, weil der konkrete Gegenstand mehr und mehr zurücktritt, bis die Konkurrenz nur noch um die Höhe des Jahreseinkommens in Dollar geht. Als So-und-so-viel-Dollar-Mann kann das Individuum nie genug haben, nie im Sein ankommen. Persönliches Wachstum, das die Menschen natürlich nach wie vor suchen, wird einem auf Sucht — und Wucherung im Seelenhaushalt — hinwirkenden Muster untergeordnet.
Aber diese Entartung ist in dem wettbewerbsorientierten Individualismus vor-angelegt. Von daher haben wir diese ökonomische Formation, die um das Geld rotiert, geschaffen. Doch indem er sich so vordrängt, verbirgt der Kapitalismus uns auch leicht die Tatsache, daß wir wenig Aussicht haben, diese objektive Struktur loszuwerden, solange wir ihre subjektive Disposition bloß als Folge betrachten.
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Das westliche Ich — als der Träger dieser europäischen Kosmologie und des daraus geschaffenen Weißen Imperiums rund um die Welt — hat einen fundamentaleren Stellenwert in der Logik der Selbstausrottung als das kapitalistische Werkzeug. Vom schöpferischen Herrn zum subalternen Knecht der Megamaschine geworden, bleibt es doch deren eigentliches Subjekt.
Individualistisch aber bleibt es vor allem auch an sie verloren. Das alte, traditionelle Ich der Gruppenzugehörigkeit hatte sich die Normen, die die Kultur in den natürlichen Gang der Dinge eingeordnet halten, in Gestalt anschaulicher objektiver Mächte (Götter) gegenübergestellt, die die individuelle Hybris teils gar nicht erst aufkommen ließen, teils kurz genug hielten. Je mehr dies Ich unter dem Kirchendach hervortrat, desto mehr hätte es die stabilisierenden Institutionen durch eine verantwortliche innere Instanz ersetzen müssen.
Das hat der Protestantismus auch als Prinzip proklamiert. Kant hat die Idee im kategorischen Imperativ vollendet, Fichte sie (noch national beschränkt) populär zugespitzt:
Und handeln sollst Du so, als hinge
Von Dir und Deinem Tun allein
Das Schicksal ab der deutschen Dinge
Und die Verantwortung wär Dein.Geld, Kapital hätte nur das Mittel einer persönlichen Intelligenz sein sollen, die ganz auf der Höhe der Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung handelt. Dorthin hätte die freie Individualität zugleich aufgehoben und vollendet werden müssen. Sind alle darin gleich und frei und gar auch noch brüderlich, gehen sie womöglich — Lessing gab im "Nathan" diese höchste Losung einer spirituellen Reinigung aus — stets nur ihrer "von Vorurteilen freien Liebe nach", so wird am Ende selbst die famose Unsichtbare Hand, die am Markte alles zum besten regelt, kaum noch — wenn, dann ja doch immer durch Ausfall ihrer Dienste! — an sich erinnern.
Alle sind sich darüber einig, daß Nathans Spruch ein frommer Wunsch bleiben muß, eine "Sonntagsrede" in einer Gesellschaft, die kaum noch weiß, was Sonntag überhaupt meint. Dabei gibt es nur diese einzige Perspektive, unsere Individualität zu retten und nicht daran kaputtzugehen. Was wir hier nicht aus eigener Kraft zuwege bringen, wird — ob es dann noch hilft oder nicht — durch ökodiktatorische Maßnahmen ersetzt werden müssen.
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Mir ist einmal, in einer Art rationaler Vision, Bernhard von Clairvaux erschienen: Wenn wir doch die Energien, die er mobilisierte für die abendländische Expansion, wo sie schließlich zu Geld und Kilowatt geworden sind, mobilisieren könnten für den Rückzug aus der Sackgasse des vorwiegend materiellen Fortschritts, für die Umkehr! Denn wir haben diese Kräfte in uns, und es wird sogar noch ein Unternehmen, die Sackgasse zu verlassen, das Monstrum abzurüsten, eine Kultur der überschaubaren Lebenskreise aufzubauen.
Bernhard selbst hatte mit einem Geist und Herz erhebenden Klosteraufbau begonnen — als einer Keimzelle für das Reich Gottes, und dann ging der Dämon des Machtwillens und der Eroberung der äußeren Welt mit ihm durch.* Die geistliche Kraft wurde zum Vehikel dieses elementareren Antriebsgeschehens. Mit den Templern war es dasselbe. Es reicht im Grunde bis zu Adolf Hitler.
*detopia-2022: Kreuzzugprediger
Jetzt, wo das Imperium des Weißen Mannes unter seiner eigenen Last zu ersticken droht, wo es nirgendswohin mehr lockt, muß Europa unter freilich noch ganz anderen Umständen versuchen, was damals Italien von Cato zu Benedikt gelang. Den Cato bloß erst auf dem alten Kontinent kaum hinter uns, läßt uns das Verderben weniger Zeit. Aber das unwiderstehliche Ich der Weißen ist uns hier und jetzt in die Hand gegeben, jedem seines. Wir sind bei diesem Thema dichter an der Macht, die uns tötet, als bei der Kapitaldynamik, beim Industriesystem und bei der Umweltkatastrophe.
Wer die psychophysiologische Verankerung dieser Struktur, ihre Verflechtung mit dem Selbstideal des Wissenschaftlers im weitesten Sinne, des Durchschnittspriesters der Megamaschine, noch verdeutlicht wünscht, der lese Friedrich Heers Buch <Das Wagnis der schöpferischen Vernunft>.
Auf den ersten zehn Seiten seines Kapitels <Vom Wahnsinn der reinen Vernunft und der reinen Wissenschaft> porträtiert er Rene Descartes, der die moderne wissenschaftliche Methode begründete. Das Beispiel dieses Menschen spricht gerade auf der Ebene der Psychographie Bände über die große Selbstveränderung, der wir uns überlassen müssen, wenn eine naturverträgliche Wissenschaft herauskommen soll.
Ausgehend von dem <Ulmer Traum>, in dem Descartes die Ansprüche seiner "Unterwelt" abwehrte, schreibt Heer u.a.:
Für die neuen Mönche, die reinen Wissenschaftler, wird die Wissenschaft zu einer für andere, "unreine Geister", für "unwissenschaftliche" Freibeuter unberührbare Göttin, die vor dem "Obszönen", vor den nicht der "Disziplin" gehorsamen "Zuchtlosen" zu verteidigen ist. Auch durch Scheiterhaufen, auf jeden Fall durch Exkommunikation durch die "neue Kirche" des Protestantismus, die Universität (Hegel: "Unsere Kirche ist die Universität.")
"Vorbildlich" für das schizophrene Leben des "reinen Wissenschaftlers" des 20. Jahrhunderts, der "seelenruhig" mit Menschen und Atomen experimentiert, führt Descartes ein Doppelleben. Er hat jeweils zwei Räume: einen salon de reception und dahinter ein unzugängliches Laboratorium, worin er Tiersektionen (so auch Vivisektionen an Kaninchen), das Schleifen von Teleskoplinsen und andere naturwissenschaftliche Arbeiten vornimmt.
Der teuerste Preis, der für die "Unterjochung" der Natur, der "Triebe", der "Lüge" (hier werden alle Poesie, alle Produktionen der schöpferischen Einbildungskraft mit verdammt, wo sie sich nicht instrumental verwenden ließen im Dienste der "reinen Theologie" und der "reinen Wahrheit" der "reinen Wissenschaft"), für die Unterjochung des Geschlechts, der Frau, der Kindhaftigkeit des Menschen bezahlt werden mußte (und heute noch in der Zivilisation des weißen Mannes bezahlt wird), ist die Neue Furcht.
Diese Neue Furcht gilt dem gesamten leibseelischen Untergrund der Person, der Weltgeschichte, der Menschengeschichte, die als ein "Chaos", als ein "Werk des Teufels", der "Dämonen", als "Irrsinn", "Wahnsinn", "Verbrechen" abgetan wird.
Während ihn, im Traum, der unheimliche Wind herumwirbelt, wird er ständig von der Furcht gequält, zu fallen — die Erde, das heißt die, Wirklichkeit, das Weiblich-Mütterliche (den Schoß aller Poesie, aller Einung der schöpferischen Kräfte des Menschen) zu berühren.
Descartes baut seinen Mythos der Wissenschaft... in der Überwindung dieser als teuflisch erfahrenen "Anfechtung", "Versuchung" durch die bösen Geister aus seiner Tiefe auf. Er erfährt, weiterträumend, sein Pfingsterlebnis: sein Ergriffenwerden durch den reinen Geist, durch den heiligen Geist der Wissenschaft. "Die universale Wissenschaft erhebt unsre Natur zu ihrem höchsten Perfektionsgrad." In diesem seinem Pfingsten der Vernunft... erlebt er in heiliger Ergriffenheit: diese reine Wissenschaft (seine Wissenschaft) ist die Wissenschaft Gottes und der Engel.
Descartes: "Ich werde annehmen, daß Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und das Gesamt alles Äußeren nichts anderes sei als ein Gaukelspiel der Träume, durch das er meiner Leichtgläubigkeit hinterlistig Fallen stellt; ich will mich selbst so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, nicht irgendwelche Sinne, sondern meinte bloß fälschlich, dies alles zu haben."
Das ist ganz exakt — als Selbstporträt wie als Beschreibung seiner wissenschaftlichen Methode — jene Ich-Festung, aus der heraus wir Männer in unserer Eigenschaft als Wissenschaftler unser Degen- und Mantel-Stück* aufführen. Dieses Ich des Cartesius, der unser aller kopfgebürtiges und kopfstehendes "Cogito ergo sum" gesprochen hat, wonach wir nur aus der Selbstgewißheit unseres Denkens unseres Seins versichert sind — dieses Ich, um das herum wir mehr oder weniger unsere gesamte Existenz aufgebaut haben, müssen wir willentlich loslassen, wenn wir leben und leben lassen wollen.
Es ist das Problem der bisher tonangebenden abendländischen Eliten, die die Megamaschine gemacht haben. Die bioenergetischen Methoden, die Therapien der humanistischen Psychologie, die Praktiken der Meditation, woher auch immer sie kommen mögen — sie sind für niemanden wichtiger als für den homo occidentalis scientificus.
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wikipedia Geschichte_des_Theaters : 1. Mantel- und Degenstück, Comedia en capa y espada, Hauptgattung des spanischen Theaters im 17. Jahrhundert, Variante des europäischen Sittenstücks, benannt nach der Alltagskleidung der Hauptfiguren (u.a. Kavalier, vornehmer Bürger, Dame oder Mädchen von Stand). Typisch ist die kunstvoll entwickelte ...
2. Mantel-und-Degen-Stück, Lehnübersetzung zum spanischen Comedia en capa y espada für eine besonders im 17. Jahrhundert verbreitete Form der Komödie innerhalb der spanischen Literatur. Die Bezeichnung bezieht sich auf die Kleidung der Hauptfiguren, bei denen es sich um Caballeros ....
Rudolf Bahro 1987 Logik der Rettung