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     Projektion      

 

Bahro-1987

Anthropo-    Egozen-

186-190-192-197

Der erste evolutionär grundlegende Faktor, der tief in die vormenschliche Geschichte der erkennenden Widerspiegelung zurück­reicht, ist der projektive Charakter des Bewußtseins überhaupt. Daran sieht man, wie groß und neu die Anforderung an die Bewußtseinsveränderung ist, ihr Rang als eine anthro­pologische Revolution. Normalerweise macht sich das Bewußtsein, in seiner Eigenschaft als nach außen gerichteter Spiegel, "Abbilder" von der Außenwelt. 

Es ist ein ungeheurer Erkenntnisfortschritt, der zum abgetrennten Ich führt, das zuletzt sogar noch das eigene Gedächtnis von sich selbst unterscheidet. Zu Anfang ist das (archaische) Ich noch gar nicht unabhängig da, stellt sich der Welt nicht als Subjekt dem Objekt gegenüber und — daran erkennt man den komischen Begriff — "projiziert" noch nicht, sagt nämlich noch nicht "Das und das bin nicht ich, das ist von mir unterschiedene Natur".

Dann macht es sich, z.B. auf magische Weise "Mächte" als "Partner" aus der Natur herausgreifend, erste Objekte und zugehörige Begriffe, natürlich auch über die menschliche Gemeinschaft. Später wird ihm der eigene Körper zum Objekt, zuletzt die eigene Psyche, z.B. der sogenannte "Schatten", d.h. die Summe oder das Integral der Eigenheiten, die es nicht an sich liebt, die es abgedrängt hat — und die ihm daher manchmal in anderen Personen gegenübertreten, nun wirklich projiziert: "als wär's kein Stück von mir".

Das ist der horrende Begriff der Projektion: 

Wir haben das alles sukzessiv von uns ausgegrenzt und identifizieren uns sekundär damit, während wir es in Wirklichkeit von vornherein selber sind. Worum es sich da handelt, hat Ken Wilber in seinem Buch "Wege zum Selbst" besonders sinnfällig geschildert.88 Er übertreibt dann allerdings mit dem Wörtchen "nur", wenn er definiert: 

"Aber all diese ›Objekte da draußen‹ (vom Stern bis zum innerseelischen Schatten —R.B.) sind einfach nur Projektionen des eigenen Seins eines Menschen, und sie können alle als Aspekte des eigenen Selbst wiederentdeckt werden."

Und doch: Wo etwa Brentano dichtet    wikipedia  Clemens_Brentano  *1778

O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit

da hat er das auch gemeint: Ich bin es alles selbst. 

Das moderne Ich wurde schon im Augenblick seines Heraufdämmerns in dem Jahrtausend vor Christus aufgefordert, die - wie Gehlen es ausdrückt - Verteilung seiner Antriebe an die Welttatsachen hin(89; Gehlen-1940) wieder umzukehren:

Erkenne Dich selbst (in allem)! Alles bist Du selbst. Und das, während die Notwendigkeit, nach außen zu handeln, jedenfalls ursprünglich weiter reicht als die Objekt-Erkenntnis.90

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In Wirklichkeit sind dann - trotz der Losung am delphischen Orakel - nicht wir Westlichen, sondern die Orientalen (jedenfalls in viel höherem Maße) den Weg der Selbsterkenntnis, den Weg nach innen gegangen. Das Abendland hat einen völlig außen­gerichteten, selbst noch die soziale Kommunikation weitgehend ausblendenden Begriff von Praxis gebildet, weil es — bis auf den esoterischen Zweig unserer Mönchskultur und einzelne Menschen, die intuitiv zu beten verstanden — ganz auf Außenwelt­veränderung setzte.91     wikipedia  Orakel_von_Delphi 

Unerhörterweise (nämlich vom Standpunkt älterer Bewußtseinszustände und noch immer der meisten Menschen) verlangt die moderne Psychoanalyse (verstanden nicht als jene Freudsche Spezialstrecke, sondern als system­atische Selbstaufklärung, Selbsterkenntnis schlechthin) in ihrer Eigenschaft als Furie der cartesianischen Wissenschaft, als peinliche Befragung des ja noch nicht so sehr gesicherten Ichs, daß der Mensch die normale Außen­richtung seines Erkenntnis­apparats umdreht und "objektiver Beobachter" seiner selbst wird.

Noch macht sich dabei in der Regel ein herrschaftlich-rationalistisches Subjekt, ein Mensch, der in dieser Eigenschaft "helfend" auftritt, ein anderes auf dieser Skala weniger bewußtes Subjekt zum Objekt. Es gibt kaum ein Fach, in dem Unterdrückung und Emanzipation unentwirrbarer miteinander verquickt sind als Psychoanalyse. Und doch ist nichts wichtiger als diese Selbstaufklärung nach innen, und wer den hilfreichen Seelendompteuren nicht ausgeliefert sein will, muß sich nur selbst ins Labyrinth hineinwagen und möglichst wenig selbstmitleidig die Verantwortung für seine Risiken und Abenteuer übernehmen.

Politisch-psychologisch macht der Projektionsbegriff vor allem darauf aufmerksam, wie sehr wir durch die ursprüngliche Außen­orientierung des Erkenntnis­apparates und dadurch, daß uns die innere Natur (solange wir noch nicht cartesianisch-schizoid mit ihr umgingen) unbewußt gegeben war, gewohnt sind, von uns selbst als Ursache fortzusehen. Vor allem pflegen wir das Werk unserer Köpfe und Hände für genau so "objektiv" zu halten wie die wirkliche Natur. Wir erkennen uns ungern als Täter, lieber als Opfer unserer eigenen machtvollen Praxis. Und wenn wir zum Teil tatsächlich Opfer sind, so sind wir es deswegen! 

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Wir müssen Weltveränderung und Selbstveränderung als Einheit sehen lernen (wie übrigens in seinen Feuerbach-Thesen auch Marx verlangt hatte). In dieser Einheit aber geht heute Selbstveränderung, geht Selbsterkenntnis, geht Selbstfindung im analytischen wie im integralen (spirituellen) Sinne vor. Die Logik der Selbstausrottung sitzt hauptsächlich in unserer eigenen Bewußtseinsverfassung. Diese Einsicht und Erfahrung müssen wir uns abverlangen, um in den Vorhof einer Umkehrinitiation zu gelangen.

Was wir tun, wird sich danach richten, wie wir uns die Herausforderung definieren. Daß wir die Gefahr jetzt an den Symptomen wahrnehmen, heißt noch nicht, wir hätten sie auch verstanden. Hätten wir die Atombombe nicht bloß wahrgenommen, sondern verstanden, würden wir uns die Genmanipulation nicht erlauben. Denn noch viel weniger als unsere kognitive Präferenz (fürs Projizieren) ist unsere psychosoziale Verfassung — wir dürfen hinzufügen: bisher — darauf eingerichtet, die Weltenuhr zu regulieren, dem alten Meister ins Handwerk zu pfuschen, damit wir es bequemer bekommen mit dem Wassertragen. Der alte Faust hat wenigstens eine Ahnung gehabt: "Könnt ich Magie von meinem Pfad verbannen, stünd ich, Natur, vor Dir, ein Mann allein..."

Doch geht es ja nicht zuletzt um die Machtmagie der Institutionen, um den allem Honig echter regulativer Erfordernisse beigemengten Tropfen Teer, weswegen meist mehr Finsternis als Licht durch die institutionellen Adern fließt. Wer dient schon? Wer ist wirklich minister anstatt herrschen zu wollen? Ganz offenbar befinden wir uns sozialanthropologisch nicht in der Reifeverfassung, in der noch so wahre Grundlagenerkenntnisse göttlich anstatt satanisch funktionieren würden. Selbst der Wahrheitswille und die Menschenliebe eines Einstein vermochten für nichts zu bürgen. Die Motive der Genforscher etc. sind einfach kein adäquates Argument, und wenn sie das nicht selber sehen, sind sie schon allein dadurch disqualifiziert.

Warum hören wir es uns ruhig an, von den Möchtegern-Nobelpreisträgern, daß sie bei ihrer Drachensaat* vorsorglich Kraut und Unkraut auseinanderhalten werden, als machte diese Unterscheidung irgendeinen Sinn. Jetzt lassen wir uns beschwatzen über "Forschungs­folgenabschätzung", um durch eine "Positivliste" die "humanistisch erwünschten" Untersuchungen zu legitimieren, die erlaubt werden sollen. 

duden.de  Drachensaat  Gedankengut, das Zwietracht sät oder anderen Schaden anrichtet  

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Allmählich wird es voll bewußte Lüge. Es wird bewiesen werden, was erwünscht ist. Die Vorent­scheidung fürs Weitermachen ist schon automatisch gefallen, so daß jetzt nur noch um die Lizenz gebuhlt wird, die das schlechte Gewissen beruhigt und das Volk beschwichtigt, und um den Vorrang bei der Mittelzuteilung für das eigene hochlöbliche Untersuchungs­programm. Individuell kann der moderne Wissenschaftler keinen Tag im Labor mehr verantworten, schon gar nicht in der sogenannten Grundlagenforschung.

Aber die Psychologie des Wissenschaftlers, der seinen Erfolg haben will — mag auch die Welt darüber zugrunde gehen —, ist nur ein, freilich besonders signifikanter, Spezialfall. Bislang gehen wir generell derart mit der ökologischen Krise um. Wenn etwas schiefgeht, liegt es an irgendwelchen wissenschafts­externen Ursachen. Wir reden von unerwünschten Nebenfolgen, als ließen die keineswegs auf den Täter zurück­schließen und als wären sie vermeidbar, wenn wir nur ein bißchen besser aufpaßten und einige allzu skrupellose Sünder bei den Haaren nähmen. 

"Menschliches Versagen" haben wir inzwischen an der Spitze dieser "objektiven Ursachen" angesiedelt. Als läge die Crux nicht etwa schon darin, daß der Mensch nicht mehr versagen darf, daß ihn sein eigener durch­gegangener Verstand als gottgleich verlangt. Nach der mechanistischen Methode von Versuch und Irrtum lesen wir punktuell an der "Umwelt" ab, daß unsere Handlungen fehlerhaft sind und verbessern anhand dieser Rückkopplung unsere Methoden — um uns immer tiefer in die gleiche Richtung hineinzu­bohren.

So kommen wir von der Verstrahlung auf atomstaatliche Sicherheitsvorkehrungen, von unseren Krankheiten und von unserer summa summarum unberechenbaren Chemieproduktion auf noch mehr Tierversuche und gentechnische Menschenbastelei etc. Nur ja nicht von den Effekten zurück­schließen auf die Methoden! Nur ja nicht von den Methoden auf deren Prinzipien und Motive! Nur ja nicht von den Methoden und Prinzipien auf die Zivilisation, die sie hat. Nur ja nicht von dieser Zivilisation auf den Menschen, der sie trägt! Ja nicht mit der Rückmeldung hindurchgehen durch das Subjekt des Exterminismus! "An ihren Früchten sollt ihr sie nicht erkennen" — das ist die inständige Bitte all der Zauberlehrlinge.

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    Anthropozentrik    

 

Zweitens macht uns unser Gehirn zu Wesen, die mit Beethoven von sich sagen können: "Wir Endliche mit dem unendlichen Geiste". Wir müssen darunter leiden, daß jeder individuelle Mikrokosmos das Ganze nur potentiell und intuitiv, nie wirklich umfaßt, und daß wir sehr beschränkt sind: "Leiden ist beschränktes Handeln" (Spinoza). Ein Bewußtsein dieser Potenz, mit soviel unausgenützter Überkapazität, mußte dahin gelangen, sich als vereinzelte Monade all den "zehntausend Wesen", schließlich dem All schlechthin gegen­über­zustellen, dieses unverwechselbare Subjekt allem Objekt, dieses Ich allem Nicht-Ich.

Naturwüchsig, unreflektiert konnte es gar nicht anders, als mit der Zeit ein anthropozentrisches Weltbild zu schaffen und alles aus der Perspektive des eigenen Interesses, des eigenen Nutzens zu sehen, und dies kurzfristig-kurzschlüssig. Wir sind auf diese Weise nicht etwa vernünftig, sondern idiotisch selbstidentifiziert, nicht mit unserem wohlverstandenen Interesse sondern wie ein Wassertropfen, der sich verewigen möchte, ohne an das Meer zu denken.

Auf dieser Grundlage muß sich die materielle Praxis um so mehr als Hybris erweisen, je umfangreicher, tiefer und weiter wirkend sie eingreift: Wir setzen dabei die göttliche Allwissenheit, die wir so gerne hätten, indirekt als gegeben voraus und verfälschen unseren auf Unwissenheit beruhenden Störeinfluß zu einem "Restrisiko". Wie groß das ist, erfahren wir um so schwerer, um so später, je mehr wir die Warnsignale aus den älteren Hirnpartien auch schon ohne Drogen automatisch abschalten, indem wir fast alle unsere Energien von den Sinnen abziehen und uns einseitig auf rationales Funktionieren beschränken.

Ja, der Verstand beansprucht auch noch in der menschlichen Existenz selbst die zentrale Position, gegen Körper und Seele, so daß wir dann, etwa mit Franziskus, den Körper — in diesem Falle liebevoll, mitleidvoll — unseren "Bruder Esel" nennen können. Auch diese Perspektive unseres Sonderinteresses, aus dem wir auf alles andere Existierende, insbesondere auf alles andere Leben reagieren, erweist sich als todverbündet. 

 wikipedia  Baruch_de_Spinoza *1632   Franz von Assisi auf detopia       Rachel Carson auf detopia 

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Sägte der subjektive Geist nicht so fühlbar den Ast ab, auf dem er biologisch sitzt, könnte er sich schlicht über den "stummen Frühling" hinweg­setzen. Er kann von Buchstaben und Signalen in der von ihm geschaffenen künstlichen Weltraumkapsel leben — die Deprivation erreicht ihn nur indirekt, über den doch noch nicht ganz auf "Trägermasse" reduzierten "Bruder Esel" eben, der vergessen werden kann, solange er das Minimum bekommt, um nicht durch Ausfall zu stören.

Zum Abschluß reproduziert sich der entfesselte Logos auch noch den inneren Antrieb selbst: Das einseitig auf abstraktes Erkennen konzentrierte Interesse kann sich — weil eben die menschlichen Energien nicht instinktiv festgelegt, sondern verfügbar sind — die nötigen Energien nachholen. Der Kopf-Mensch ist möglich, wie wir an Descartes im Prinzip, aber längst noch nicht im Extrem gesehen haben. Die "göttliche Neugier" nährt sich selbst, hat sich die entsprechende soziale Position gesichert. Auf der Basis dieser Selbstidentifikation als homo scientificus reduzieren wir unseren Erkenntnisapparat auf das Korrelat unserer toten Kunstwelt, anstatt unsere gesamte Physis, die tatsächlich allerkennend zumindest veranlagt ist, als Erkenntnisorgan zu: nutzen und zu qualifizieren, wie es Erleuchtete immer wieder lehrten.

 

    Egozentrik    

 

Drittens ist diese anthropozentrische Position zugleich im weitesten Sinne egozentrisch. Dies meint nicht, wir seien alle gleichermaßen "egoistisch" im landläufigen Sinne, und es meint auch nicht das "Persönchen", den vorder­gründig ich-orientierten, narzißtischen Charakter, den wir manchmal mit diesem Wort bezeichnen. Sondern die conditio humana als solche bedeutet Ich-Entwicklung, in der die mitgeborene Individualität heraus­gearbeitet wird (auch da schon, wo es noch keine Ich-Bewußtheit gibt) und kulturell auf das selbstbewußte, reflektierte Ich zusteuert, das gar nicht anders kann als die Welt auf sich bezogen zu erleben und eine Trennungslinie zwischen Sich und dem Nicht-Ich zu ziehen.

Es ist eines, die anthropozentrische Denkweise rational aufzugeben. Dann bleibt sie immer noch in unserer noch viel gründlicheren Egozentrik verankert. 

192/193

Nicht einfach der Mensch steht im Mittelpunkt, sondern milliardenfach das menschliche Ich, "einzig in seinem Eigentume".    Max Stirner bei detopia 

Gerade darin hat es Europa in seinem Individualismus am weitesten gebracht. Wiederum im umfassendsten und nicht von vornherein kritischen Sinne ist hier jede(r) sich selbst die oder der Nächste und Wichtigste und kann dabei durchaus auch altruistisch motiviert sein. Wir neigen dazu, noch die wesentlichsten allgemeinen Interessen, etwa auch die ökologischen Erfordernisse, zu psychologischen Pfründen zu machen und sie im Kampf um Selbstdarstellung gegen andere auszuspielen. Moralisch kann jemand, der in Sachen Tschernobyl schon seit Jahren recht gehabt hat, durchaus hinter jemand anderem zurückstehen, der jetzt erst anfängt, über Ausstieg nachzudenken. Aber mir geht es hier gar nicht um solche Differenzierungen, sondern um das Prinzip.

In der Regel will der Mensch nicht nur nicht bloß überleben, er will auch nicht nur leben. Wir richten unser Verhalten weniger nach der Angst vor dem physischen Tod als nach der Angst vor der subjektiven Sinn- bzw. Bedeutungs­losigkeit unserer individuellen Existenz. Unbedeutsamkeit ist zumindest des (seine Naturproduktivität weniger erlebenden) Mannes eigentliche Todesfurcht. Hierin berühren sich individuelle und gesellschaftliche Selbstmordneigung. Und haben wir nicht als Kinder schon mitunter gewünscht, es möge, wegen irgendeiner narzißtischen Kränkung, die uns die Erwachsenen zufügten, die Welt untergehen? 

Und später mag es ja gehen, das Projekt der "Pyramide für mich" aufzugeben, nachdem man sich "einen Namen gemacht" und jene faustische Spur gezogen hat, die "nicht in Äonen untergehn" soll. Und jene Milliarden Egos, die dazu etwas mehr Material verbrauchen, werden sicherlich nicht aufgeben, solange die avancierteren, mehr innerlichen Pyramidenbauer weitermachen.

Mit ein wenig Übertreibung läßt sich sagen, daß eigentlich jeder Mensch die ganze Erde für sich allein brauchte, um sie dem lieben Nächsten als seine vorzeigen zu können, und das zu Wenige, das noch der Reichste hat, muß mit Verlustängsten besetzt und mit Verteidigungsanlagen umgeben sein. Der konkrete Gegenstand unserer Selbstsucht wäre demnach stets ein Ersatzobjekt mit dem wir unsere existentielle Blöße zuzudecken suchen. 

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Wir möchten zuerst eine kleine Welt um uns sammeln, möglichst zu geschlossenem Kreis, in der wir uns als vollständig anschauen können, und dann erweist sich eben zuletzt die Erde als zu klein: Es müssen auch noch Mond und Sterne unser sein. So bewegen wir uns unablässig fort von der Stelle, wo wir doch in uns selber, mit einiger meditativen Kultur, der Gottheit, dem Eins und Alles begegnen könnten. 

Ich ahnte diesen Zusammenhang erst, als ich damals in meiner <Alternative> von der "Reise nach innen" sprach und in einer Zusammenfassung der Resultate hinzufügte, unsere Zivilisation sei an jene Grenze der Ausdehnung gelangt, wo die innere Freiheit des Individuums als Bedingung des Überlebens erscheint. Sie sei einfach die Voraussetzung für den einsichtigen kollektiven Verzicht auf die so verhängnisvolle wie subjektiv zwecklose Fortsetzung der materiellen Expansion.92

Aus dem Mangel an dieser "inneren Souveränität" (die durch die schönste "innere Souveränität" von Staat und Recht immer nur gewaltsam substituiert werden könnte) sammeln die Menschen Macht, Sicherheit, Bequemlichkeit, Rüstung gegeneinander an, und Expansionsdynamik ist das unvermeidliche Ergebnis. 

Da es ganz unmöglich und wegen vielfacher Darstellung in den Weisheitsbüchern der Menschheit auch überflüssig ist, das hier noch einmal ausgedehnt darzustellen, will ich nur an die jüngste systematische Übersicht der Ich-Problematik in den Werken Ken Wilbers erinnern. Sie sind auch hilfreich, um sich in dem zeitgenössischen Psychodschungel zu orientieren, dort ein wenig die Spreu vom Weizen zu trennen.93

Ehe ich dem Amerikaner das Wort gebe, um diesen Abschnitt abzurunden, will ich noch wenigstens andeutend zeigen, wie sich derselbe Stoff bei Meister Eckhart und bei dem altchinesischen Laudse liest. Es soll sichtbar werden, wir haben es tatsächlich mit einem "ewigen", genauer gesagt, mit einem sehr langfristig wirksamen Thema zu tun, das aber jetzt an den Punkt heranrückt, an dem seine Matrix aufbricht.

Was die älteren Lehrer der Menschheit immer erneut zur Verzweiflung brachte, war ja die Frage: Warum fällt es uns so schwer, von dem Subjektivismus, von dem Eigenwillen, von der privaten Selbstsucht, die uns zur kämpferischen Billardkugel in der sozialen Mechanik machen, abzulassen? 

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Auch Eckhart lehrte, wir müssen uns der Uridentität mit dem All-Einen vergewissern, denn wir brauchen so viel, weil uns in unserer üblichen sozialisierten Verfassung praktisch Alles fehlt, was wir nicht haben und nicht sind. 

So sagte er: "Es ist eine Frage, was in der Hölle brenne? Die Meister sagen gewöhnlich: Das tut der Eigenwille. Aber ich sage wahrlich: das Nichts brennt in der Hölle." Das Kohlenfeuer, erläutert er, würde unsere Hand nicht brennen, hätte sie selbst auch Feuernatur — die ihr eben abgeht, die eine der Qualitäten ist, die sie nicht hat. "So viel Nichts dir anhaftet, so sehr bist du unvollkommen."  

Aber da sei eine Stelle in unserer Seele, in die das uns sonst fehlende Ganze hineinragt, oder wo unsere Eigenheit eine Öffnung hat zum Ganzen hin. "Darum heißt ein Wörtlein: <Gott hat seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt> ... ihr sollt es für die innere Welt verstehn." An dieser Stelle, wo er ihn in uns gebären will "in des Geistes Innigstem": "Hier ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Hier lebe ich außer meinem Eigenen, wie Gott außer seinem Eigenen lebt."94) All und Ich sind hier also sozusagen aufeinander zu entäußert und über­lagern sich.

Wer sich dieser Kreuzung des Ganzen und des endlichen Wesens an dieser Stelle, dieser "Stadt der Seele", diesem "inneren Jerusalem" erlebensbewußt würde, der wäre, sagt Eckhart, was der Mensch sein soll, nämlich "wie ein Morgenstern, stets in der Gegenwart Gottes". Wir hätten uns von dort aus eine andere alltägliche Lebenswelt geschaffen, denn:

Wer nur einen Augenblick in diesen Grund geblickt hat,
dem Menschen sind tausend Pfund rotes geschlagenes Gold 
nicht mehr als ein falscher Heller. 95 

Des Thukydides antagonistisch um Herrschaft und um Freiheit kämpfende "menschliche Natur" wäre übersprungen.

Ebenso wie Eckhart hält Chinas Laudse, ein grundpolitischer Heiliger, den Menschen des Thukydides, den er auch in seinem Land zur Genüge gesehen hatte, schon für aus der natürlichen Ordnung und Gnade heraus­gefallen. Er nennt sein Verhalten "erbärmliches Großtun von Räubern" und macht die Mächtigeren auch stärker verantwortlich für die Störung der Weltharmonie. 

195/196

Er lehrt vor allem die für das Gemeinwesen Verant­wortlichen, das Herz leer zu machen von Eigensucht. Dann werde es Ruhe finden, müsse nicht mehr nach den Dingen greifen, sondern könne ihre Rückkehr an den rechten Platz in der Großen Ordnung erschauen. Denn nun, heißt es im 16. Spruche des Daudedsching

von allen dingen in ihrer vielfalt
findet ein jedes zurück zur wurzel
wurzelwiederfinden heißt stille —
was man nennen mag: rückkehr zum wesen

rückkehr zum wesen heißt ewigdauern
ewigdauerndes kennen heißt klarheit
wer ewigdauerndes nicht kennt
wirkt blindlings zum unheil.

Wer dagegen "ewigdauerndes kennt", braucht nicht andauernd, muß nicht so vorsorglich haben, wird nicht die Flucht nach vorn antreten in die Pseudo­unsterblichkeit, denn er "umfaßt alles" und

wer alles umfaßt, gehört allen
wer allen gehört ist königlich
königliches gleicht dem himmel
der himmel gleicht dem Dau
das Dau gleicht der ewigkeit
wer dauert im Dau
taucht in die tiefe gefahrlos.

Was für eine Königsdefinition — als Bedingung fürs Überdauern formuliert! Ganz anders steht der egozentrisch befangene Mensch in der Welt. Und Wilber meint:

Die Menschheit wird diese Art mörderischer Aggression, von Krieg, Unterdrückung und Verdrängung, Anhaftung und Ausbeutung, nie — ich wiederhole, nie — aufgeben, ehe sie nicht den Besitz aufgibt, den man Persönlichkeit nennt — das heißt, ehe sie nicht zur Transzendenz erwacht. Bis dieser Zeitpunkt gekommen ist, werden Schuld, Mord, Eigentum und Person stets Synonyme bleiben.96

Das Gattungsdilemma ist also:  

Das Gehirn als Distanzorgan macht uns zur mächtigsten besonderen Ursache im Maßstab der ganzen Erdoberfläche und ihrer Atmosphäre. Diese Macht aber wird eben nicht von den allgemeinen Interessen der irdischen Evolution und des Erhalts ihrer Ergebnisse geleitet, sondern von unseren unmittelbaren, kurzfristigen Interessen und Willens­zielen.

Diese anthropozentrische, egozentrische Ausrichtung ist normal gerade unter dem Gesichtspunkt, daß sie sich genau entlang dieses unmittelbaren Zwecks entwickelt hat, uns als Selbst­behauptungs­instrument zu dienen. Aber in dieser Machtposition — die Sophokles schon aussprach, als wir noch keinen Bruchteil unserer heutigen Reichweite und Störkapazität besaßen, wo wir um unserer menschlichen Interessen willen eine planetarische Praxis entwickelt haben — kann es nicht gutgehen, wenn sie aus dem Parallelogramm der Ich-Kräfte heraus gesteuert wird.

Das Ich erweist sich dann nicht nur spirituell als Gefängnis, sondern materiell als eine Rüstung, die den Helden in die Tiefe zieht.

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 Ken Wilber bei detopia    

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