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     Rohrmoser erzieht den "Fürsten dieser Welt"    

 

 

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Da die Hemmung, wirklich so weit zu gehen, wie es eigentlich in der Intention angelegt ist, mit einer Verwerfung im Fundament der konservativen Welt­anschauung zu tun hat, will ich sie da aufsuchen, indem ich von Kurt Biedenkopf auf Günter Rohrmoser verschiebe, einen Philosophen, der gewöhnlich dem rechten Flügel der CDU/CSU zugeordnet wird, weil er die Position, um die es ihm geht, halt sozusagen fundamentalistisch vertritt. 

Ich ignoriere also dieses untaugliche Links-Rechts-Schema einmal mehr. Insofern Rohrmoser wirklich fundamentalistisch ist (er hält es leider nicht durch!), finde ich ihn mir geistig sogar noch näher als Biedenkopf — für eine Disputation Auge in Auge.

Denn während es zwischen Biedenkopf und mir noch eine Grauzone in der Beschreibung des Weltzustandes gibt — ob er denn wirklich apokalyptisch ist?! —: zwischen Rohrmoser und mir ist dieser Punkt völlig klar. Das geht nicht nur aus seinem Buch (von 1983) hervor, sondern wir konnten uns auch darüber austauschen. 

Auch er sieht den ganzheitlichen, fundamentalen Charakter der Krise und artikuliert das auch politisch so, daß keine Halbheit mehr durchgehen dürfte. Wieso er dann Ökonomie (indem er unter diesem Allgemeinbegriff automatisch unsere bestimmte Art des Wirtschaftens mitschwimmen läßt) und Ökologie noch für versöhnbar hält, kann ich in seinem Denken nicht begründet finden. Es wäre wirklich ein fauler Trick, die Blöße der kapitalgetriebenen Megamaschine mit dem Gemeinplatz zu bedecken, daß sich Ökonomie tatsächlich zu allen Zeiten ökologisch einfügen muß und mehr oder weniger eingefügt hat. Schließlich haben ganze Kulturen ihr Ambiente verwüstet — als das noch lokale Unfälle waren. 

Auch daß er sich seinerzeit für die "Nachrüstung" mit den neuen Raketen aussprach, kann er nicht geistig rechtfertigen. Denn da die selbstlaufende Macht­logik des Wettrüstens evident ist, müßte aus seiner Einsicht, daß die Katastrophe aus der Machtlogik der Vernunft, aus ihrem eingeborenen Bemächtigungs­willen hervorgeht, unzweideutig folgen, "einer muß anfangen, aufzuhören" (Franz Alt), und zwar bedingungslos. 

Der Totalitarismus des "Gegners", der so sehr mit unseren eigenen Kulturgrundlagen zu tun hat und weithin auch deren — objektive — Projektion darstellt, ist ein erbarmungswürdiges Argument, wenn man ihn mit dem Szenario der drohenden Totalkatastrophe vergleicht. Wie kann man aus einer Aversion auf abgeleiteter, sekundärer Ebene auf der primären blockieren? Wäre es nicht an der Zeit, philosophisch dies Bedrohtheitsdenken aufzugeben?

Günter Rohrmoser schützt sich gegen solche Zumutung, indem er vorsorglich Zeit für sein Umdenken verlangt: Wir müßten, meint er, die Maxime von Marxens Feuerbachthese umkehren. "Es kommt darauf an, ehe wir die Welt verändern, sie zunächst zu interpretieren. Solange wir die neue Situation, in der sich die Welt befindet, nicht begriffen haben, sollten wir sie vor jeder Veränderung mit totalem Anspruch und totaler Zielsetzung verschonen." 149

Einverstanden mit dem Interpretieren, dem Neubegreifen. Nur wenn die Reflexion extra Zeit beanspruchen soll, anstatt "mitzulaufen", müssen wir uns erinnern: Die Welt wird indessen verändert, genauer gesagt vernichtet. In ihrer megamaschinellen Gefangenschaft sind Wissen und Werkzeuge unausgesetzt gegen die "Erhaltungsimperative der menschlichen Gattung" (Rohrmoser) wirksam. Wäre der Versuch, diese Todesspirale für ein unbefristetes Moratorium zu stoppen, bis das Begreifen nachkommt, nun so unerlaubt "total(itär)"? Sollte so eine Generalpause nicht wenigstens erst mal gedanklich riskiert, als ein philosophischer Wille konstituiert werden?

Der (Zeitverlust-)Preis der Inkonsequenz wird offenbar, wo Rohrmoser unkritisch an die alten, der Selbstausrottungslogik verhafteten Institutionen appelliert. Sie sollen ihm einen Auftrag erfüllen, der offensichtlich in ihnen gestorben ist. Und an solchen Stellen verrät sich das Wissen des Philosophen um die Unzulänglichkeit seiner Intervention jedesmal in dem Tonfall pastoraler Besorgnis, mit dem er sich an die schlechten Hirten wendet. Wie sollen wir zu einer neuen Konfiguration kommen, wenn wir keinen Bruch — unter anderem auch mit Freunden, die weitermachen wollen wie bisher — und keinen Durchgang durch Momente bzw. Sektoren von Chaos riskieren wollen?

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Die ganze Nachkriegsrestauration in Westdeutschland hat nicht wahrhaben wollen, daß der Niederbruch von 1914-1945 schon endgültig war. Jetzt ist dadurch verhüllt, und zwar für "rechts" wie "links", daß die Nazibewegung u.a. auch bereits eine erste Lesung der Ökologiebewegung war, ein von allzuviel Ressentiment und Aggression überlagerter fundamentalistischer Aufruhr gegen Wissenschaft-Technik-Kapital, gegen das exterministische Industriesystem, dem sie zugleich noch wieder anheimfiel.

Rohrmoser bringt sehr richtig die Zwei-Reiche-Lehre von Civitas Dei und Civitas Terrena in Erinnerung — aber so, als könnten Kirche und Staat, wie sie nach diesem ganzen europäischen Durchlauf gegeben sind, d.h. als genetisch auch für den Exterminismus letztverantwortliche Institutionen, noch eine geistige Autorität aufbieten, um jetzt die menschliche Substanz zu retten. Er ist gewiß wohlvertraut mit dem Gedanken, daß der mörderische Machtkampf von Päpsten und Kaisern, in den die ganze Elite des Abendlandes verstrickt war, jedem späteren Gottesgnadentum schon vorab die letzte Quadratmeile unverseuchten Bodens entzogen hatte. Anders — nämlich bei einer geistlich ungebrochenen theokratischen Instanz — wären Wissenschaft-Technik-Kapital niemals freigekommen für ihren hemmungslosen Beuteritt.

Die Konservativen machen alle denselben Fehler: Sie erwarten von den ausgebrannten Hüllen, die an dem bisherigen Weg der Menschheit liegengeblieben sind, daß sie noch einmal auferstehen und ihren ursprünglichen Gehalt weitertransportieren. Sollte ich eine Kirche von Assisi heraufkommen sehen, würde ich mich belehren lassen. Aber gerade dafür wäre es besser, auf eine Neugeburt aus dem lebendigen Geiste zu setzen, denn dergleichen kann nichts werden ohne neue Fränze*, die in puncto institutionellen Bruch noch den letzten Schritt gehen, zu dem sich jener Franz von Assisi noch nicht gezwungen sah.

Rohrmoser appelliert an Machthaber, ohne hinzuzufügen, daß sie politisch resignieren sollen, wenn sie die Mahnung bloß als Sonntagspredigt verbuchen. Er spricht vor Managern des Rüstungskonzerns MBB in München, ohne ihnen nahezubringen, daß sie aufhören sollten, was immer dann privat passieren mag. Der Terrorist, der den Rüstungsmanager Zimmermann ermordete, bleibt trotz der barbarischen Form seines Aktes ein Waisenknabe gegen den Rüstungs­manager selbst, dessen Tätigkeit am laufenden Bande Tod erzeugt. 

*  (d-2010:) "Fränze":  wohl Mehrzahl von "Franz" von Assisi  - typische Bahro-Sprache

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Und gerade ein Mensch wie Rohrmoser hätte den Rüstungsleuten das nahebringen können. Indessen verhält er sich wie weiland ein später Römer, der hoch in der letzten Aufstiegszeit des Christentums an den alten Cäsarentyp und die römischen Götter appelliert, um die Pax Romana aus der Zeit des Augustus oder der Antonine wiederzuholen. Nein, wir dürfen uns nicht auf Ordnungselemente berufen, die sub specii aeternitatis gelten, um den Status quo mit Erwartungen auszustatten, die von vornherein in ihm betrogen sind.

Wie mit dem Staat und zuvor schon mit der Ökonomie redet Rohrmoser auch mit den Kirchen, als wären sie noch befugt und könnten uns für das Ausschöpfen der Gnadenfrist dienen, die sie genauso folgenlos besorgt wie Rohrmoser selbst von Zeit zu Zeit ausrufen. Der bloße Appell an die Kirchen und den Staat ist so praktiziert schon indirekte Apologie. Gerade aus einer Erwägung dieser Art habe ich aufgehört, an die vergleichsweise harmlosen Grünen zu appellieren, seit mir zutage liegt, daß sie auch zu der Großen Unordnung dazugehören.

Die Idee des Gemeinwohls und erst recht die Idee der Civitas Dei können nur bewahrt werden, wenn der von Grund auf korrupt konstruierte Parteienstaat und die realexistierenden Kirchen prinzipiell dahingegeben werden. Immerhin hatte Augustinus für die Civitas Dei den Bruch mit dem Imperium Romanum zur Bedingung erklärt. Was spricht eigentlich dafür, daß wir nicht in einer Situation wären, die mindestens so zwingend verlangt, uns von der modernen Metropolis abzulösen?

Die Kirchenfrage ist noch wichtiger als die Staatsfrage, weil es um den religiösen Grundkonsens des Abendlandes geht: Der steht in Frage. Deshalb ist es auch richtiger, erst einmal theologisch zu diskutieren anstatt sogleich politisch. Man wird sich leichter über die Civitas Terrena einig, wenn man sich zuvor über die Civitas Dei verständigt hat: ob wir mit der letzteren bei Null neu beginnen müssen oder nicht?! Wenn die Gottheit, wenn die sittliche Idee wiedergewonnen ist, wird sich auch der Staatsgedanke "richtig" wieder fügen. Andernfalls ihn zu beschwören heißt dagegen, den unerziehbaren "Fürsten dieser Welt" (den Satan des Lutherliedes) zu bestärken.

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Natürlich kann man auch heute im Kirchenraum, da er wenigstens einen Schritt abseits ist, der Gottheit begegnen. Aber das Dogma und die Hierarchie lenken von dem lebendigen Christus ab, den Johannes lehrte, den Eckhart lehrte, und eine lebendige Maria, in der der Gegensatz von himmlischer und irdischer Liebe entfallen wäre, kann sich noch schwerer da entfalten. Was würde denn gegenwärtig das in die Bergpredigt hineinführende Christuswort bedeuten: "Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen"? Was würde es bedeuten, konkordant mit der anderen Intention Christi, den Tempel einzureißen und ihn neu zu bauen?

In einem beliebigen Kreis, wo sich Menschen der Existenz von etwas namenlosem Heiligem gewärtig sind, ist immer der Tendenz nach alles da, was sich in unserer Kultur um die Gestalt des Christus geordnet hat, und fehlt momentan dies oder jenes Bestandsstück — nichts, was anthropologisch notwendig ist, kann auf Dauer verloren sein, wo Menschen ernstlich versuchen, "dem Dau zu folgen". Christus ist längst nicht mehr auf die Weitergabe des Wortes durch die ihn verwaltenden Institutionen angewiesen. Worin er etwas Besonderes ist, gerade das sollte keiner Apologie, keines Schutzes gegenüber anderen Wegen bedürfen. Unsere unausgefüllten Kathedralen müßten ihren Innenraum für das Treffen aller Wege zur Gottheit, aller geeigneten Praktiken öffnen. Aber wie unsere Kirchen sind, kann man nicht mehr von ihnen erwarten, als daß sie wenigstens nicht stören, was ökumenisch zusammenkommen will.

Beruft man sich, ohne die Lage radikal zu charakterisieren, darauf, daß Politik in Zeiten tiefer Krise von Religion geleitet sein muß — gemeint: von christlicher —, so ist man Pharisäer und Schriftgelehrter gegen den Neuen Bund heute. Die kirchenchristlichen Werte haben selbst zu der Zeit, von der Rilke seinen Minderbruder ausrufen ließ "Wie war Gott groß im Mittelalter!", nicht aus dem von Thukydides benannten Dilemma des Kampfes "um Herrschaft und um Freiheit" herausgeführt. In Wirklichkeit plädiert Rohrmoser, ohne es direkt zu wollen, aber weil er nicht bis zu Ende fundamental denkt, für eine besser legitimierte Machtpolitik alten Typs.

Zuletzt kann er sich so auf seine Anfangsprämisse zurückziehen, die neue Situation sei noch nicht begriffen. Auf der intellektuellen Ebene nehme ich ihm das gar nicht ab.

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Oder bilde, umgekehrt, ich mir nur ein, sie begriffen zu haben (denn unsere Kategorien für die Wahrnehmung der Wirklichkeit sind ja weitgehend deckungsgleich)?  Der einzige Realunterschied liegt vielleicht in der energetischen Ladung des Logosbegriffs. Rohrmoser nimmt ihn als eher kontemplatives Konzept, das bereits in die dadurch gerechtfertigte Wirklichkeitsstruktur eingegangen ist: so wird in jeder empirischen Institution deren transzendentales Prinzip geheiligt.

Ja, er hat den Terroristen richtig vorgerechnet, sie verwechselten ihr empirisches mit dem transzendentalen Ich, träten so auf, als könnten sie mit ihrer besonderen Existenz tatsächlich den kategorischen Imperativ fürs Ganze exekutieren. Doch er selber behandelt den Staat so, wie die Terroristen das Ich behandeln. Bei ihm agiert der Logos nicht als lebendiger Geist, nicht als Feuersäule, sondern ist toter Geist, in den Strukturen geronnener Geist. An die Funktionäre geht dann nur die Mahnung, subjektiv nichts zu verderben. Das "Siehe, ich mache alles neu" gilt so fürs Aktuelle nicht. In der laufenden Geschichte soll der Geist nicht wehen, wie er will, es ist schon in der Vergangenheit über ihn entschieden. Es kann nicht jederzeit auch Urzeit, Schöpfungszeit sein.

Was ich von dem gegenwärtigen Weltzustand verstanden und "exoterisch" auf den Exterminismusbegriff gebracht habe, läuft darauf hinaus, daß wir nicht nur mit dem abstrakten Verstand, sondern auch mit der rationalistischen Mystik der objektivierten, entäußerten dialektischen Vernunft Hegelscher Provenienz erst mal am Ende sind. Rohrmoser bestätigt diesen Befund sogar, indem er Heidegger und Adorno zitiert, dann aber will er der gottverlassenen Wirklichkeit dennoch die Hegelschen Einsichten als Stützen einziehen

Wir brauchen den Geist jetzt aber gerade flüssig, wenn wir das "Projekt der Moderne" zum Stehen bringen wollen. Mit dem konservativen System-Hegel aber haben wir nicht einmal gegen die megamaschinellen Tatsachen recht, die die Kehrseite der von ihm bejahten bürgerlichen Emanzipation sind. Wie man mit Tatsachen umgeht, deren Logik exterministisch ist, diesem Problem hatte sich Hegel halt noch nicht stellen müssen.

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Für die ökologische Wende kommt es am meisten auf den richtigen Konservatismus an. Da eine Rettungs­bewegung eben retten, d.h. auch die gewachsene Substanz, eben die entfaltete europäische Individualität, Subjektivität bewahren soll, während sie alles verwandelt, kann sie nur aus der Tiefe des inneren historischen Raumes kommen. Dann wird eine Rettungspolitik die Seele des Volkes für sich haben. Ist aber das gewährleistet, kann ich mir, in verhältnismäßig wenigen Jahren erreichbar, eine überwältigende Akzeptanz für die nötigen Eingriffe vorstellen, so daß die Widerstände, so mächtig sie sein mögen — ähnlich wie bei der sowjetischen Reform heute —, auf passive Resistenz zurückgedrängt sein werden. Warum sollten nicht in jeder großen Bank eines Tages einige Vorstandsmitglieder entdecken, daß es Dringlicheres als Finanzen gibt und daß es gar nicht menschenwürdig ist, in erster Linie Funktionär von Geldströmen zu sein?

Die Werte, um die es geht, sind nur zu retten, wenn wir uns zur revolutionären Erneuerung des institutionellen Systems entschließen und dabei an die stärksten politisch-psychologischen Dispositionen unseres Volkes anknüpfen. Wie Weimar keine Antwort fand auf die soziale, so findet heute Bonn keine Antwort auf die ökologische Krise — und die Deutschen haben sich trotz aller schlechten Erfahrungen ein Gefühl dafür bewahrt, daß es eine Instanz des Gemeinwohls geben muß, allerdings eine würdige, eine von echter Autorität, wie sie ein Parlament, dessen Mitglieder allem Möglichen, nur nicht ihrem mit dem Kantschen kategorischen Imperativ korrespondierenden Gewissen verpflichtet sind, einfach nicht aufbringen kann. Lassen wir es diesmal bestehen, damit die Sonderinteressen, die ja einmal da sind, weiterhin ausgehandelt werden können, aber schaffen wir uns zusätzlich eine Instanz fürs Allgemeine, eine Art wirklich übergreifender Präsidentschaft (nachher noch konkreter, das ist erst einmal die Idee als solche)!

Ohne eine mächtigere, überwölbende Instanz ist die bürgerliche Demokratie keineswegs — wie oft fälschlich vermeint wird — der Garant, sie ist vielmehr der Auspuff der individuellen Autonomie. Sie ist vor allem die mit der Weltregierung durch das Geld von vornherein liierte, adäquate Verfassung für die wettläufige, schrankenlose Kapitalakkumulation.

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Um Meinungsfreiheit, gar Mitbestimmung über die allgemeinen Angelegenheiten zu sichern, gibt es Alternativen, die vor allem in der Richtung einer neuen, diesmal reflektierten "Stammesverfassung" für die ganze Mensch­heit wie für alle ihre "Stämme" liegen und eng damit zusammenhängen, daß ohnehin "nur Stämme überleben" werden, d.h. soziale Organismen mit überschaubaren Rückkopplungen zueinander und zur Natur.

Die neue Lösung muß erst einmal von einer berufenen Gestalt regulär verfochten werden; nur personifiziert wird sie der Allgemeinheit kenntlich. Da die Struktur, an deren Spitze diese Gestalt erscheinen könnte, hier gar nicht gegeben ist (Kanzlerschaft will unter den gegebenen Umständen nicht viel besagen, die sogenannte Richtlinienkompetenz ist unter der des Königs Johann ohne Land angesichts der Magna Carta Libertatum), muß sich der Anspruch erst einmal in einer bewegungs­getragenen Kandidatur für einen anderen Staatszustand ausdrücken.

Die charismatische Darstellung darf nicht vor dem vorhersehbaren Haßausbruch aller strukturkonservativen Kräfte zurückscheuen. Die Prophetie muß öffentlich riskiert werden. Vielleicht gibt es auch die Doppel­kandidatur eines inspirierten, aber noch mit dem Realismus der demokratischen Struktur korrespondierenden Politikers und eines politischen Propheten. Beide müßten von konservativem Persönlichkeitszuschnitt, aber nichtautoritärer Charakterhaltung sein. 150

Stünden wir nicht immer noch unter dem Trauma unseres verbrecherischen Ausbruchs, so daß wir an der Bewegung auf 1933 hin nur das moralisch und humanitär katastrophale Scheitern sehen können — wir hätten es in Deutschland, wo die westliche Demokratie nach wie vor nicht verwurzelt ist, leichter als in jedem anderen "entwickelten" Land (mit Ausnahme Japans), die neue Lösung zu finden. Trotz aller schlechten Erfahrungen sind die Deutschen ansprechbarer als andere Völker für charismatische Führung geblieben.* Sie werden wieder lernen, daß Charisma zunächst eine Kraft jenseits von Gut und Böse ist und uns herausfordert, auf Reinigung zu denken, individuell wie kollektiv, anstatt die Ansprache zu verwerfen, die die Herzen erhebt.

* (d-2009:) Ich glaub' nicht daran. Heute sind sie es jedenfalls nicht mehr. Bahro begründet das hier auch nicht, woraus er seine Einsicht schöpft.

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Es war schließlich ein und dasselbe Volk, da war auch Kontinuität in so verschiedenen Situationen: ein und dasselbe Volk, das seine Herzöge und nachher seine Könige auf den Schild hob; das sich im Aufschwung zum Hohen Mittelalter in eine Millenniumsbewegung warf; das von seinen Kaisern nicht nur Land-, sondern auch Gottesfrieden wollte; das nachher unter Thomas Müntzer aufstand, um von der Reformation mehr als bloß eine neue Obrigkeitskirche zu gewinnen; das sich 1813 gegen Napoleon erhob; 1848 <Halten zu Gnaden!> dann gegen die Fürsten, weil sie gar nichts Kaiserliches mehr an sich hatten, so daß eine Republik her sollte, würdiger als Gottesgnadentum; das 1870/71 aufbrauste für die Illusion eines neuen Kaisertums; und auf 1933 zu noch einmal für die Reichsidee.

In Rußland zeigt sich jetzt, daß der Stalinismus das Larvenstadium eines neuen großen Anfangs war. Wir Deutschen sind gründlicher gescheitert, unsere Gestalt muß politisch gänzlich neu geboren werden. Dennoch gibt es eine mindestens bis in den jugendbewegten Anfang dieses Jahrhunderts, bis auf den Hohenmeißner zurückreichende Kontinuität der jetzigen grünen, ökologischen Bewegung als einer Reaktion auf den monetären Industrialismus, und diese Geschichte hat etwas mit der Polarität von Grün und Braun zu tun, die für die deutsche (und nicht nur für die deutsche) soziale Bewegung im XX. Jahr­hundert kennzeichnend ist.

In dem feigen Antifaschismus, den wir zur Strafe lernen mußten und der bis heute nicht wirklich losgekommen ist von dem, was er bloß negativ bekämpft, haben wir es verweigert, nach der Kraft zu fragen, die hinter der braunen Bewegung stand, und die selbst nicht braun, natürlich auch nicht grün, sondern einfach die Vitalität selbst war, freilich konkret-historisch bereits disponiert, kanalisiert für die Katastrophe. Aber das war damals, und der Zusammenbruch hat etwas bewirkt. Autoritarismus und Ressentiment sind jetzt schwächer, Selbsteinsicht ist stärker. Es kann schwerlich etwas weiter jenseits des Faschismus führen als die therapeutische und spirituelle Bewegung (sogar trotz ihrer regressiven Momente), weil sie Aggressionen und Ressentiment aufarbeitet, bewußt macht, abbaut.

Es kann aus derselben Energie, die damals auf die Katastrophe hin disponiert war, sogar aus der Neigung zum Furor teutonicus, wenn sie bewußt gehalten und dadurch kontrolliert wird, heute etwas Besseres werden. Kein Gedanke verwerflicher als der an ein neues anderes 1933?! Gerade der aber kann uns retten. 

Die Ökopax-Bewegung ist die erste deutsche Volksbewegung seit der Nazibewegung. Sie muß Hitler miterlösen — die seelische Tendenz, die er, wenn auch schwächer, immer noch in uns ist — wie Rußland jetzt Stalin erlöst, ohne Verteufelung, ohne Beschönigung, mit aller Ehrfurcht für die Opfer. Wir können uns kaum besser zu der Herausforderung stellen als mit dem Ausruf, der am Ende von Friedrich Wolfs linksrevolutionärem Drama "Die Matrosen von Cattaro" steht: "Kameraden, beim nächsten Mal besser!" 

Das Wirtschafts­wunder hat die Bundesdeutschen quasi erneut in ein "Volk ohne Raum" verwandelt, sogar realer und intensiver. Aber diesmal geht die Energie hauptsächlich nach innen, und sei es nur, weil keine äußere Grenze mehr wirklich nachgibt oder auch nur nachzugeben scheint.

Geben wir uns zu:  

Die parlamentarische Demokratie, die aufgebesserte Weimarer Verfassung, wird die ökolog­ische Krise ohnehin nicht unverwandelt aushalten, weil sie mit ihr nicht aufgehalten werden kann. Es muß einen besseren Weg als damals geben, insbesondere auch einen gewaltfrei(er)en, die Institutionen an die Heraus­forderung anzupassen. 

Ob das geht, hängt aber von dem bewußten Konsens für so einen Übergang ab, einschließlich einer bewußten Verarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit über Abgrenzung, Ausgrenzung, Anti hinaus. 

Ich glaube, daß Erich Fried das richtige Zeichen gesetzt hat, indem er Kontakt mit dem eingesperrten Neonazi Michael Kühnen aufnahm. Die Energie, die da auf eine neue Hitlerei hinauslaufen könnte, muß im Vorfeld umdisponiert werden auf eine bessere Perspektive des Krafteinsatzes hin.

 wikipedia   Erich_Fried 1921-1988     wikipedia  Michael_Kühnen  1955-1991

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 Rudolf Bahro  Logik der Rettung auf 500 Seiten 1987