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   Kaisertraum   

 

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Mich hat vor langer Zeit Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh [1933] ergriffen. Ich habe ihn im Gefängnis wieder­gelesen und jetzt noch einmal. Er berichtet ein tatsächliches Ereignis.

Im zweiten Jahr des I. Weltkriegs entscheidet sich eine Gemeinschaft armenischer Bauern, die an der syrischen Küste siedelt, an die fünftausend Köpfe stark, sich nicht widerstandslos von der jungtürkischen Regierung, die mit den Armeniern ebenso verbrecherisch verfuhr wie die Naziregierung später mit den Juden, in die Wüste treiben und vernichten zu lassen. Sie ziehen auf den Musa Dagh, den Moses-Berg, und halten dort drei türkischen Angriffen stand, bis sie nach vierzig Tagen in letzter Stunde durch eine französische Flotte gerettet werden.

Gleichnisse gelten niemals wörtlich. Es war eine bewußte Ausrottungskampagne, während die Logik der Selbstausrottung der geltenden Ökonomie und Politik als nicht beabsichtigte, wenn auch als unvermeidlich in Kauf genommene Nebenwirkung innewohnt. Dennoch drängt sich mir ein Vergleich mit der Atmosphäre des Auszugs aus den Dörfern und der tiefgreifenden sozialen Umstellung auf, die die konservativen Bauern auf sich nehmen, weil sie keine andere Alternative zum Untergang mehr besitzen. Es handelt sich nicht um ein Ideal, sondern um die denkbar würdigste Bewältigung einer Notlage durch eine noch überschaubare Gemeinschaft, die keineswegs neuen Zielen anhängt.

Das Gemeinwesen der sieben Dörfer ist klein genug, um eine Lösung ohne Terror, wenngleich nicht ohne allen Zwang gegenüber Privategoismen zu ermöglichen. Die große Mehrheit ist ja unvorbereitet auf die Umstellung. Bis zuletzt etwa, als es schon völlig sinnlos ist, verteidigen die vormals Wohlhabenderen und gar Reichen wenigstens symbolisch ihre alten Besitzstände, obgleich alle Vorräte und insbesondere die Schafherden, an denen sich der Status maß, hatten vergemeinschaftet werden müssen.

Die Revolution, die als Vorgang gar keine ist, macht deutlich, wie relativ die Unüberwindlichkeit der Eigentumsinteressen ist, wenn es um alles geht. Die soziale Struktur verschiebt sich entsprechend der Lage, obwohl in den Grenzen des Allzumenschlichen. Es bildet sich eben eine andere Hierarchie, die eines Kriegerstamms, in dem das erste militärische Aufgebot am meisten zählt, und danach erst einmal dessen Reserve.

Nur wenige haben jene Distanz zu ihrer Rolle, die sie befähigt, hinter das zurückzutreten, was sie tun. Zwei von diesen aber sind mit dem gewissen Charisma, das ihnen eignet, die Seele des Widerstands. Ohne sie hätte sich das Bauernvolk, ohnehin orientalisch hinnahmebereiter als ein westliches, nicht aufgerafft.

*   F. Werfel     W. Gust  


Der eine ist Gabriel Bagradian. Nach mehr als zwanzig Jahren als Pariser Intellektueller ist er mit seiner französischen Frau nach Hause zurückgekehrt, ursprünglich nur, um die Geschäfte zu ordnen, nachdem sein älterer Bruder gestorben war. Bagradian hatte auf dem Balkan als Artillerieoffizier einen türkischen Feldzug mitgemacht. Als er das Unheil herannahen sieht, nimmt er das Terrain des Heimatberges auf und studiert alle Ressourcen der Dörfer, ehe noch die Bauern ernstlich beunruhigt sind. So hat er in der Stunde der Gefahr den Verteidigungsplan fertig und kann seinem Volk eine Perspektive vorschlagen. Er, der eben noch Fremde, wird der unangefochtene Kriegskönig des Stammes sein.

Der andere ist Ter Haigasun, der orthodoxe Hauptpriester der Gemeinden, ein skeptischer Mann, der auf dem Berge einige wunderbare Ereignisse erleben wird, rettende Zufälle, die dennoch mehr als Zufälle zu sein scheinen. Als der türkische Vertreibungsbefehl kommt, beruft er die Volksversammlung ein in den Garten des Hauses Bagradian. Er eröffnet nicht mit einer tröstlichen, aufmunternden oder ergebungsvollen Rede, läßt keine Illusionen, das Volk werde auch diese Prüfung überstehen, sondern sagt die bittere Wahrheit ganz, daß diesmal niemand überleben wird und mehr noch, daß es kaum Aussicht auf einen würdigen Tod gibt. In diesem Lichte entscheidet sich, während eine Minderheit um einen anderen Pastor beschließt, dem Übel nicht zu widerstehen, das Volk für den Musa Dagh. Ter Haigasun wird nicht nur wie bisher ihr geistlicher Hirte und ihr Sittenrichter sein, sondern das Volksoberhaupt, zuletzt, als der gewählte Rat an den Eitelkeiten einiger wichtiger Mitglieder scheitert, der unfreiwillige Diktator ohne persönliche Willkür.

Etwas wie in diesem Epos mag uns bestenfalls erwarten, wenn wir nicht eher handeln als im Augenblick der akutesten Gefahr. Diese Armenier standen in jener Art Situation, von der es in Schillers <Wallenstein> heißt, die Menschen fänden sich in ein verhaßtes Müssen weit besser als in eine schwere Wahl.     wikipedia  Wallenstein

Ganz natürlicherweise mündet die Subjektivität der Rettung in den Traum von einer aus ihr konstituierten rettenden sozialen Macht. Sie will schließlich "den Staat finden, der zu ihr paßt", "Staat" in dem alten, umfassenden platonischen Sinne, wo die sittlich begründete institutionelle Verfassung des Gesellschaftskörpers damit gemeint ist. 

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Ich denke, wir müssen jetzt naiv genug sein, die Probleme der sozialen Macht erneut von ihrer archaischen Substanz, von dem Archetypus des Fürsten­problems her aufzunehmen.

Früher haben sich die Menschen solche Instanzen wie den Kriegskönig und den Priester äußerlich gegen­übergestellt, ohne sich ganz bewußt zu sein, welchen Anteil ihre eigene Projektion daran hatte. Jetzt liegt es an uns, unsere eigene Kaiserlichkeit (wie im Religiösen unsere eigene Christusnatur) in eine soziale Instanz hineinzukonstituieren, die sich bei voller allgemeiner Bewußtheit über den Vorgang nicht entfremden muß. Schon ein auch nur halbwegs seiner selbst und seiner Lage bewußtes Volk projiziert vielleicht einen Präzeptor, aber noch keinen Hitler. Es müssen erst mehr als die üblichen regressiven Mutter- und vor allem Vaterkomplexe, es müssen massenhaft Besessenheit, Rigidität und Ressentiment hervortreten, damit der Rattenfänger anstelle des Präzeptors seinen Auftritt bekommt.

Es haben diese Dinge wenig mit "Oben" und "Unten" zu tun, vielmehr damit, wie eine soziale Bewegung, die sich heute in unserem Lande mehr denn je aus bewußtheitsfähigen Individualitäten zusammensetzt, von innen geführt wird, von innen sich selber führt, wie sie ihren Konsens findet und in welcher repräsentativen Gestalt oder Gruppe dieser Konsens sich vermittelt, wie kommunikations-, wie kommunionsfähig dieses Medium ist. Die neue Lösung für die ganze Gesellschaft kann gewiß nur jenseits jener Bewußtseinsstruktur ausgearbeitet werden, in der sich Obrigkeit und Subalternität gegenseitig korrumpieren.

Werden Impulse für eine Umkehrbewegung kaum aus den alten Strukturen heraus erfolgen, so können sie dennoch auch von Menschen kommen, die noch dort eingebunden sind. Ein führender Politiker, der grundlegend etwas ändern möchte, hat persönlich kein grundsätzliches anderes Problem als jeder kritische Geist, der zugleich irgendwo eingebunden ist, und es gibt keinen anderen Maßstab als die Konsequenz und Integrität des betreffenden Menschen. Kommt er von "oben", so muß er seine Machtidentifikation hinter sich lassen, kommt er von "unten", ebenso die Identifikation mit seinem Unterdrücktsein.

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Es ist niemand nur subaltern, niemand nur superior. Bis zu einem gewissen Grade steckt bisher in jedem Menschen ein Tyrann und ein Sklave (samt Verkleidung und Paradoxien), wenn auch in glücklicheren Fällen nur marginal, und die beiden Figuren korrespondieren wie im Individuum so auch im sozialen Verband miteinander. Auch die reformatorische Konstellation wird nicht davon verschont bleiben. Aber eine Lösung der ökologischen Krise ist sehr davon abhängig, wie stark in wie vielen Individuen die selbstverantwortliche Mitte zwischen den beiden prekären Polen ist. Ob es Terror geben wird oder nicht, entscheidet sich nicht am Despoten in spe und auch nicht an unserer Warnung davor, sondern an der Stärke oder Schwäche der alternativen Bewußtseins­struktur, daran, ob eine überzeugende Gesamtlösung ausgearbeitet und vorgeschlagen ist, um die herum sich eine Bewegung gestalten und organisieren kann.

Fehlt es einerseits an so einer Neukristallisation, während andererseits keine gemeinschaftliche Verpflichtung an die bestehende Ordnung mehr durchträgt, können die Menschen nur von ihren unmittelbaren, kurzfristigen und privaten Interessen ausgehen, so daß nur die Ressentiments und Antihaltungen gemeinsam sind. Gibt es dagegen die Vision einer neuen Ordnung und ist ihr Entwurf schon inkarniert, so kann es zu einer Assoziation der besten individuellen Bestrebungen kommen. Die meisten Menschen sind durchaus in der Lage, sich zu ihren fundamentalen, zu langfristigen und allgemeinen Interessen zu erheben. Die Atmosphäre freilich wird in dem einen und in dem anderen Fall von sehr verschiedenen Charakteren bestimmt, und es werden je nachdem unsere bösen oder unsere guten Geister das Zentrum halten.

Jene Grundentscheidung, "den Kahn am Ufer zu vertäuen", kann nur fallen, wird aber auch fallen, wenn das ganze Volk dazu bereit ist — in seinen dumpferen Schichten wenigstens bereit, sie hinzunehmen. Vor allem müssen die zahllosen Individuen, die die mehr oder weniger privilegierten Initiativeträger unseres bisherigen Modells sind, ihre Nadeln neu ausrichten, zu einer anderen als der für unsere Kultur so typischen besitzergreifenden Weltumseglerhaltung finden. Aber wie soll das gehen ohne einen institutionellen Rahmen, der dem entgegenkommt, der das belohnt? Läuft doch unser ganzes politisches System seit Jahrhunderten darauf hinaus, daß "das Ganze schon für sich selber sorgt", wenn jede(r) nur das Seine treibt.

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Bei uns ist dieser unverpflichtete Individualismus nach 1945 erst von unseren besser darin geübten transatlantischen Vettern zu Ende legitimiert worden. In einer solchen Situation ist die Vernetzung der für eine ökologische Wende engagierten Kräfte allein nicht genug, sondern das kommende neue Ganze bedarf darüber hinaus eines starken sichtbaren Symbols. Und es ist nur menschengemäß, dieses Symbol auch in einer Menschengestalt zu erwarten, die die neue Verfassung vorverkörpert. Es mag auch eine Gruppe sein, wir wissen es nicht; jedenfalls wird es Zeit, diesen Antipersonalismus zu verabschieden, der dem eigenen Narzißmus so schön entgegenkommt: "Keine Macht für niemand", vor allem aber "keine Prominenz für niemand". Für mich hat den höheren Rang dies Hölderlin-Wort: "Einer aber, der ein Mensch ist, ist er nicht mehr denn Hunderte, die nur Teile sind des Menschen."

Der Auftrag, unsere soziale Existenz ans Naturgleichgewicht zurückzubinden und sie kontraktiv, zentripetal auszurichten, ökonomisch viel mehr auf Haushalt als auf Unternehmung, bedeutet, daß das Medium einen starken weiblichen Akzent haben wird, wie es ja auch schon in den neuen sozialen Bewegungen angelegt ist. So oder so aber bedarf es für den Durchbruch durch diese Masse zivilisatorischen Betons starker charisma­tischer Kräfte. Die entsprechende Fähigkeit, im Kern des Menschen gegeben, wird sich in allen aufdecken, die an der Bewegung teilnehmen; etwas davon wird ja immer freigesetzt, wenn sich Menschen auch nur einen Schritt aus dem Spinnweb der Abhängigkeit und Interessenpolitik befreien. Wer davon ausgeht, daß sich charis­matische Potenz nicht mit Aufgeklärtheit und Kritikfähigkeit verträgt, der reproduziert bloß mit an einer Konstellation, in der sich wieder so ein falscher Gegensatz manifestieren kann.

Der politische, der institutionelle Aspekt so einer Umkehrbewegung läßt sich nicht besser als von der Denkfigur des "Fürsten einer ökologischen Wende" her fassen. Für Deutschland und vielleicht überhaupt für die europäische Nord-Süd-Achse visualisiert sich dieser Archetyp eben am ehesten in einem Kaisertraum. Selbstverständlich gilt heute mehr denn je, "dem Kaiser, was des Kaisers ist" — nicht mehr! Aber die Erkenntnis, daß ihm überhaupt etwas gebührt, gewinnen wir heutzutage erst wieder neu.

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Und indem wir uns die Erfahrung des Scheiterns mit einer rein säkularen Staatsauffassung, gleichzeitig jedoch die Erfahrung der Gottheit in uns vergegen­wärtigen, rückt diese kaiserliche Instanz zugleich an ihren Platz in uns selber, nicht über uns.

Die Frage nach dem Fürsten für eine rettende Transformation steht unabhängig davon an, welche von Tag zu Tag schwankenden Ängste und Hoffnungen sich mit ihr verbinden. Die psychologische Abwehr, die sich gegen Führung und ganz besonders gegen persönliche Führung erhebt, kann sich bei uns auf die negative Erfahrung der NS-Zeit stützen, muß dabei allerdings voraussetzen, daß der Psychopath an der Spitze eines großen Volkes mehr über sich verrät als über dieses Volk. Hitler ist auch jetzt noch die große Ausrede derer, die ihre eigene Subalternität zu fürchten haben. Aus einigem Abstand ist indessen kaum anzunehmen, daß irgendein verbrecherischer Führer die allgemeine Idee der repräsentativen Persönlichkeit (die den intuitiven Willen einer Menschengruppe, die notwendige Tendenz ihres Handelns ausdrückt) widerlegen könnte.

Wo alles gestaltet ist, mag ein herausragender Repräsentant überflüssig sein, obwohl der monarchistische Einschlag selbst da — etwa in der französischen oder der US-Verfassung — den schöpferischen Umgang mit der Gesamt­situation begünstigen kann. In Zeiten tiefer Krise kommt es meist zu so einer Projektion, und das Interesse sollte sich auf ihre Qualität konzentrieren, also primär auf die charakterliche und intellektuelle Integrität derer, die votieren. In Deutschland hat die Projektion nach ihrer objektiven Seite eben lange die Gestalt eines Kaisertraums und der entsprechenden Reichsidee gehabt. Wenn das letzte Mal "ausgerechnet Der" kam, so sagt das wenig über das historische Muster, sehr viel über die soziale und seelische Real­verfassung der Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich so oder so einen passenden Ausdruck verschafft hätte. Mir ist, seit ich ihn mit siebzehn lesend kennenlernte, "der gute König Heinrich-Huhn-im-Topfe" als Ideal erschienen, wie ihn Heinrich Mann in seinem Doppelroman von "Jugend und Vollendung des Königs Henri Quatre" der Hitlerei entgegensetzte, Figur gegen Figur.

Wie schon gesagt, hat Antonio Gramsci, auf Macchiavelli zurückgehend, die moderne Kommunistische Partei als den (kollektiven!) Fürsten einer Transformation gedacht. 

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Zuvor hatte Schiller in seinem <Wallenstein> mit dem Thema gerungen. Von Platons <Staat> habe ich schon gesprochen. In Indien suchte der Kaiser Ashoka mit der Weltauffassung des Buddha zu regieren. In China standen sich durch zweieinhalb Jahrtausende bis in die Kämpfe der Ära Mao Tse-tungs hinein des Konfuzius und des Laudse Konzeptionen von einem herrschaftlichen und einem nicht herrschaftlichen Weisen als "Fürsten"-Bilder gegenüber. 

Die Inhalte unterschieden sich, aber stets ging es um mehr als ein Klasseninteresse. Der Topos als solcher bestätigte sich als eine notwendige Instanz im Individuum, so daß man geradezu sagen könnte: Das Erscheinen des wirklichen Fürsten, welcher Gestalt auch immer, ist nur das Komplement der Leerstelle in uns, d.h. jenes intra­individuellen Raumes, in dem wir dem kategorischen Imperativ nicht genügen.

Solange wir überhaupt projizieren, ist die Personalisierung völlig normal, ihre Ablehnung bloß eine Verdrängung, die sich irgendwie rächen wird. Es ist nur der westliche Individualismus, der hier so sehr die Tyrannis fürchten und die Tyrannis fürchten wird, weil er paradoxal damit zusammengehört: Das vernachlässigte Ganze meldet sich in dieser mißgestalteten Form. In Asien hat es die schon von Platon konstatierte europäische Abfolge der Staatsformen — von der (theokratischen) Monarchie über die Aristokratie (bzw. ihre pejorative Form als Oligarchie) zur Demokratie, die in ihrem Verfall zur Herrschaft des Pöbels dann die Tyrannis herbeizieht, damit diese (im Idealfall, den Platon vergebens erhoffte) dann wieder umschlägt in die ursprüngliche Monarchie — vergleichbar nicht gegeben. Dafür hat es dem Laudse, der aus unserer Perspektive anarchistisch anmutet, gleichwohl keine Schwierigkeit bereitet, sich das soziale Ganze von einem königlichen Weisen regiert zu denken, indessen auf eine Art, die von den Grundlagen her total verschieden von dem Despotismus ist, zu dem Platon sich angesichts der Furien des Privatinteresses getrieben sah.

Für Laudse war der Kaiser dafür verantwortlich, die Harmonie der Welt zu bewahren, d.h. gar nicht erst durch Eingreifen zu stören. Ich habe seine Vorstellung von der menschlichen Verfassung, aus der heraus jemand geeignet wäre, "Herr der Welt" zu sein, ja in dem Kapitel über die Subjektivität der Rettung gerade zitiert, weil sie mir beispielhaft für die Zielrichtung erscheint, in der ein heutiger "Fürst der ökologischen Wende" handeln, also freilich doch eingreifen müßte, da er das Gleichgewicht erst einmal grundgestört vorfindet.

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Bei Laudse gibt es diese fundamentale "Gewaltenteilung" nicht, die sich bei uns zwischen "wahrer" und "oberflächlicher" Politik entwickelt hat und die sich von der Unterscheidung zwischen Civitas Dei und Civitas Terrena, geistlicher und weltlicher Ordnung herleitet — einer Unterscheidung, die er als letztlich selbst nicht in Ordnung angesehen hätte. In der dauistischen Staatsauffassung ist die soziale Macht heilig und profan zugleich, es sind nur zwei Aspekte einer polaren Einheit, die nicht auseinandergerissen werden dürfen.

Selbstverständlich ist die Personalisierung vor allem ein Hilfsmittel zur Verlebendigung der gemeinten Ordnungsidee. Die Staatsform ist in meinen Augen kein Wertmaßstab in sich selbst. Ich glaube nicht an eine an sich beste Verfassung, etwa an die repräsentative Demokratie. Sicher entspricht sie am meisten der modernen europäischen Individualitätsform und dem von dort aus über die ganze Welt verbreiteten Zivilisationstyp. Aber sie ist — so sehr da etwas Substantielles in ihr zu bewahren bleibt — doch auch mit ihm fragwürdig geworden. Indem sie es empirisch unmöglich zu machen scheint, das Gemeinwohl neu zu definieren, erscheint sie denkbar ungeeignet für eine Situation, in der die Gesellschaft über ihren Schatten springen muß.

Es ging immer um eine seinsgemäße, gute und gerechte Ordnung des Ganzen, in der Sprache unserer christ­lichen Zivilisation um die Idee des Gottesstaates, die viele Lesungen hatte, zuletzt am Umschlags­punkt des Mittelalters, wie erwähnt jene Option des Joachim di Fiore für eine mystische Demokratie. Wenn alle im Kontakt mit dem Geist sind, entfällt einfach der Verfassungszirkel Platons, weil dann Monarchie und Demokratie identisch sind. Das Bedürfnis nach einer solchen machtpolitischen Fürstenfigur wie bei Macchiavelli oder in unserer Barbarossa-Sage hängt gewiß mit dem vorherigen Scheitern der anderen, hochmittelalterlichen Ordnungsidee, die in Joachim gipfelte, zusammen. Ähnlich hing später auch die Marxsche "Diktatur des Proletariats" mit dem Scheitern des Liberalismus, der "Republik der Könige", zusammen. 

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Der Marxsche Staatsgedanke zielte noch immer auf ein (säkularisiertes) "Reich Gottes", das mit lauter vollentfalteten Individuen rechnete, nur daß sie nicht wie bei Joachim alle am Heiligen Geist, sondern an der allumfassenden sozialen Praxis gleichen Anteil haben sollten.

Lag es an dieser Idee selbst, wenn sie praktisch immer auf eine totalitäre Konsequenz hinauslief? Oder sprach sich darin ein tieferliegender und bisher unlösbarer Widerspruch unserer Existenz aus? Totalitarismus und Anarchismus haben sich in der Geschichte der revolutionären Bewegung geistig viel zu eng miteinander verflochten, als daß man nicht auf ein für ihren Streit ursächliches und darunterliegendes Drittes schließen müßte. In einer traditionellen Gesellschaft ereignen sich normalerweise weder Anarchie noch Diktatur. Auch der Anarchismus ist ein modernes Produkt, setzt das sozial ganz auf sich selbst zurück­geworfene Individuum voraus. Gerade die radikalsten individualistischen, anarchistischen, existentialistischen Positionen führen deshalb auch oft an den Umschlag zu einer neuen Gesamtsicht heran. Das Ziel besteht dann darin, auf die an ihrer Verlorenheit, auf die an der Abwesenheit genießbarer Mitmenschlichkeit verzweifelte Individualität einen sozialen Zusammenhang neuzugründen.

Bei Menschen, die nicht so geübt sind, es durch Reflexionen zu verdecken, stellen sich Individualismus bis zum Anarchismus und die Sehnsucht nach einer starken Macht, die die Welt nach dem jeweils gewünschten Gusto ordnet und der sie sich deshalb notfalls auch unterwerfen würden, als zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Je stärker aber eine Neuordnung objektiv notwendig wird, desto mehr erweist sich der Pluralismus bloß als eine Ideologie mehr, sich um das Notwendige zu drücken. Aus der Auszähl­abstimmung der Sonderinteressen wird mit Sicherheit niemals ein neuer verbindlicher Rahmen des sozialen Zusammen­lebens hervorgehen. Wo aber das Bedürfnis danach dringlich wird, erweist sich stets aufs neue, daß der Satz, wonach die Zahl der Irrtümer grenzenlos, die Wahrheit aber nur eine ist, auch in der politischen Dimension gilt.

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Wenn sich die Elemente einer neuen Politik und die Akzeptanz dafür im Volke angesammelt haben, was für eine Kraft wird ihnen komplementär entgegen­kommen? Ein Parlament, das von vornherein so eingeordnet ist, daß es das schwächste Glied im machtpolitischen Getriebe ist, und wo die Abgeordneten statt ihrem Gewissen ihrer Fraktion, ihrem Kanzler, der riesigen Bürokratie, den Interessen der faktischen Mächte verantwortlich sind? Wenn sie im Wahlkreis erscheinen — gehören sie etwa zum Volk? Oder sind sie exakt, was ihnen Marx vor 1848 bescheinigte: Abgeordnete der Regierungsgewalt gegen das Volk?

Der politische Diskurs, den die Parteien stiften, ist auf alles Mögliche gerichtet, nur nicht darauf, Bewußtheit über die gesellschaftlichen Erfordernisse zu erzeugen. Das bestehende Parteiensystem mag im Rückblick auf die Naziherrschaft so liebenswürdig wie nur möglich sein — interessant ist das jetzt nicht mehr. Mit der bösen Vergangenheit, der damals zugelassenen, mehrheitlich erwünschten Diktatur läßt sich heute nicht der kleinste Schritt vernünftig begründen. Außerdem kommt die jetzt gewiß nicht wieder, auf keinen Fall kommt sie so, daß sie an der Verfassung scheitern würde, die man gegen den toten Führer gemacht hat.

Dem Scheine nach hat die Nazibewegung — in der Eigenschaft als Bewegung — das "System" überwunden, nämlich die Weimarer Parteiendemokratie — auf die es aber gar nicht ankam, weil sie nur der politische Vorhang war, hinter dem sich die faktischen Mächte verborgen hielten. Diese selbst waren dabei, sich umzu­strukturieren, nämlich auch formell zu der modernen Megamaschine zu verwachsen, die schon im Kriegs­kapitalismus 1914-18 erprobt worden war. Das Nazi-Regime war die Außenansicht dieser Konstituierung, ihr im Augenblick des Übergangs hervorstechendes Merkmal. Die irrationalen Züge, die in der Person des Führers als allgemein bedeutsam bestätigt wurden, spiegelten gar nicht diesen formativen Vorgang wider, sondern die Verstörtheit der Massen über die Krise, die vorausging. 

Deutschland wäre ja relativ gut bedient gewesen mit einer Neuordnung à la Rathenau als einer anderen Antwort auf dasselbe Problem, einer ordoliberalen Lösung in gewissem Sinne (wobei Rathenau überdies noch die Russische Revolution nicht verteufelte). Das "hat nicht sollen sein", d.h. Rathenau konnte als einsamer Mann erschossen werden.

Die "Volksgemeinschaft" war ein Aspekt der neuen Gesamtstruktur, und gewiß kein spezifischer Einfall der Nazis. 

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Die Megamaschine formiert korporativ, und das, was damals noch mit direkter Gewalt und einigermaßen unorganisch geschah, hat nach dem für sie geradezu heilsamen Schock von 1945 in dem flexiblen neuen Rahmen freier wachsen können. Seit Mitte der siebziger Jahre erleben wir die nächste Strukturveränderung der Megamaschine. Sie geht weniger konvulsivisch vor sich, weil sie über ein weltweites informationelles Netz und vor allem über eine weltweite Kontrolle verfügt. Das ist eine Struktur, die selbst die Sowjetunion und China wenigstens im Gröbsten einschließt. Und die mörderische "Entwicklung" draußen erspart uns den Terror drinnen.

Stalin paraphrasierend kann man sagen, "die Hitler kommen und gehen, die Megamaschine aber bleibt". Deshalb kann die antifaschistische (und antikommunistische!) Fixierung auf den Führer als Ursache nur irreführen. Trotz allen Gerangels der Sonderinteressen auf der Staatsbühne kommt auch bei uns das falsche Ganze keineswegs zu kurz. Die Metropolis kann sich vielmehr den Luxus dieser Verteilungskämpfe, der sich als "Innenpolitik" darstellt, noch leisten. Die Macht ist gesichert genug, vor allem durch die stumme strukturelle Gewalt des zivilisatorischen Apparats, von dem alles abhängt, und für den Ernstfall durch Notstandsgesetze, die den "friedlichen" GAU des Atomkraftwerks vorsorglich mit einschließen.

Das bedeutet: Die bereits hier und dort vernehmbaren Rufe nach einem "grünen Adolf" werden keineswegs zu einem wieder­erkennbaren Faschismus jenes unverwechselbaren Typs mit einem Psychopathen an der Spitze führen. Da wird nach einem Gespenst gerufen, und von der Gegenseite vor einem Gespenst gewarnt, das keinen Auftritt plant. Sicher wird wieder jemand für die dann fällige "Junta der nationalen Errettung" sprechen, aber jene subjektiven Faktoren, die damals nötig waren, um die (braune) Restauration zu schaffen, werden jetzt noch viel mehr als einst bloße Begleiterscheinungen eines technischen Ablaufs sein, der "rational" vorbereitet und beschlossen ist. Die Psychopathie des Ganzen ist perfekt genug, als daß es auch nur eines einzigen Psychopathen in dem präparierten Notstandsbunker bedürfte.

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Im Notstand, der sich in Zukunft ökologisch rechtfertigen kann, wird man die Megamaschine "rettend" einsetzen, von der Wissenschaft bis zur Umwelt­polizei, unter lauter menschenfreundlichen Begründungen und indem eine Menge ehrenwerter Motive ausgenutzt und umgedreht werden. Wir werden noch dankbar für die polizeiliche Rationierung sein, weil sie Mord und Totschlag unter Überlebenskämpfern, wie sie ihn in den Rocky Mountains vorbereiten, so lange wie möglich hinausschieben wird. Und das Wichtigste für unsere Erkenntnis: All das folgt nicht aus perfiden Verabredungen in einer herrschenden Minorität, sondern schlicht aus der Existenz der Megamaschine und der von ihr verursachten Gefährdung, die wir indirekt bejahen, solange wir nur um- statt abbauen wollen.

Antiindustrielle Ressentiments sind diesmal viel schwächer als vor 60 Jahren, weil die älteren Mentalitäten ungleich stärker zersetzt und aufgebraucht, die Segnungen des Industrialismus so breit gestreut worden sind, daß dies die eigentliche Grundsicherung des politischen Regimes ist, mit dem sich die Megamaschine in der Nachkriegszeit versehen hat. Sie wird im Grunde bejaht. Deshalb gehen, sobald sich das Gesamtsystem auf "Umweltschutz" eingestellt hat, die unmittelbaren Panikreaktionen auf die selbstmörderischen "Nebenwirkungen" wieder zurück.

Offenbar wird es gestützt auf "soziale" Bewegungen im herkömmlichen Sinne keine Systemveränderungen geben, im Gegenteil. Die konzertierte Aktion war keine Eintagsfliege, obwohl sie formell nicht fortgesetzt wurde. Kämpfe wie um den Paragraphen 116 haben eine systemkonforme Funktion; es geht um die Ermittlung des Stabilitätsbereichs zwischen innerem Frieden und Weltmarktschlagkraft des Modells Deutschland. Der Rest ist eine Frage der Geschicklichkeit, an der es dem gegenwärtigen Management etwas gebricht. Keine der beiden industriellen Hauptmächte Kapital und Arbeit wird den Grundvertrag brechen. Jede Parteinahme für eine der beiden Seiten bestätigt die Spielregeln der industriellen Apokalypse.

Aber von dieser ganzen Normalität geht keinerlei echte motivationale Kraft mehr aus. Die organisierte Selbstsucht hat jeden sittlichen Status verloren. Die Schauspieler der Sonderinteressen beginnen verächtlich zu wirken.

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Selbst die parteipolitischen "Hoffnungsträger", die nichts weiter sind, werden in der begonnenen Epoche nie mehr als das Glück einer Wahlkampfepisode haben, weil der Betrug (vielleicht auch der Selbstbetrug), Führung aus der alten Struktur heraus anzubieten, die selbst der mächtigste Katastrophenfaktor ist, immer rascher auffliegen wird.

Um es durch Wiederholung zu unterstreichen:

Was wir normalerweise unter Politik verstehen, ist in Zeiten, da es auf eine Neubegründung bis in die Fundamente der Zivilisation ankommt, einfach nicht politisch genug. Politik erweist sich dann als Politikasterei, wird immer mehr Teil des Problems statt Teil der Lösung. Eigentlich zählt jetzt nur noch, was Menschen jenseits all ihrer Abhängigkeit an Kraft aufbieten, um in sich selbst und um sich herum geistig und praktisch einen neuen Anfang zu setzen. Erst wenn das genügend viele Menschen tun, die allerdings durch Signale einer persönlichen Umkehrbereitschaft auch aus dem politischen Bereich ermutigt werden können, wird sich institutionell etwas ereignen, das die verhängnisvolle Kontinuität bricht.

Rein betrachtet, ist Führung überhaupt keine Kommandofunktion, sondern der Kommunikationsprozeß, in dem die schöpferischen Elemente einer Gruppierung zusammentreffen, um Weg und Ziel ihrer Initiative auszuleuchten. Im Idealfall umfaßt diese Kommunikation die ganze Gesellschaft. Dann kommt sie nicht von außen, sondern von innen, und ist viel eher "vorn" als "oben". Da der Staat auch der Schatten des Individualismus und Egoismus ist, kann er nur zurücktreten, wenn die Individualitätsform, die er ergänzt, auch aufgehoben wird. Speziell das Machtstreben kann nicht bei den Herrschenden sei's domestiziert, sei's überwunden werden, es würde denn im Menschen domestiziert bzw. überwunden.

In Wirklichkeit müssen wir nach Verhältnissen fragen, mit denen sich der Mensch nicht andauernd selbst überfordert, indem er sich an seine zivilisierte Welt anpaßt, anstatt diese zivilisierte Welt an sich anzupassen. Noch wichtiger als konviviales Werkzeug ist eine konviviale Gesellschaftsordnung, eine politische Verfassung nach menschlichem Maß. Mit der ökologischen Krise werden wir immer häufiger darauf aufmerksam, wie eng die Gefahr, in die wir geraten sind, mit elementaren Widersprüchen der menschlichen Natur (des menschlichen Geistes) zusammenhängt, die zwar institutionell (zum Guten wie zum Bösen) verstärkt werden können, aber letztlich nicht durch diese Aufbauten verursacht sind (es ist viel eher umgekehrt).

Wirklich fundamentalisch vorgehen heißt, eine neue Lösung dieser Urprobleme zu suchen. Zugleich scheint uns das Tempo unserer verheerenden Geschichte weder Zeit noch Ruhe dafür zu lassen. 

So sehen wir uns vor folgendem Dilemma: Um überhaupt eine Zukunft offenzuhalten, muß etwas geschehen, die Megamaschine zu stoppen. Das ist nicht anders als durch ein Machtwort vorstellbar. Damit aber würden wir höchstwahrscheinlich nur wieder zu "Lösungen" gelangen, die die Endursache der Katastrophe — ihre subjektiven Antriebe, die in eine ängstliche und gierige Subalternität münden — noch einmal verstärken. 

Aber könnte nicht die Frage lauten: Wie ist eine Tyrannis möglich, die aus einer Mentalität "anfänglicher", "heiliger" Monarchie heraus wirkt — nachdem wir alle die Königinnen- bzw. Königswürde für uns beansprucht haben? Das erste, was König und Königin zu lernen haben, war von jeher: sich selbst befehlen. #

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Rudolf Bahro 1987 Logik der Rettung