4.3.      Anmerk   Start      Weiter

 

detopia-2018:  Ich finde den Begriff der Un. Kirche immer noch ungenau, obwohl er etwas Selbstverständliches ausdrücken will. Hier hat Bahro - obwohl ein Sprachmeister - 'sich vergriffen'. Ein bißchen aber können wir heute den Begriff rehabilitieren und sagen: Bahro hatte eben doch recht, denn die an sich einfache Aufgabe (irgendwas Kleines dazu beizutragen, damit es morgen noch essen und trinken und Atmung gibt), scheint für alle und jeden zu schwer zu sein. Niemand findet sich und will eine Stunde Freizeit dafür hergeben (oder nur 100-200 Leute im ganzen Land). Daher ist das "spirituelle Fundament" eben doch ganz wichtig. Ohne dem geht es nicht, aber wir suchen das Fundament noch. Theoretisch müsste es ja dort liegen: Die ewige Existenz einer fröhlichen Menschheit auf Erde müsste heute die Herzen erheben und zum Mittun 'animieren'. Ja, mehr noch: Gott würde mit dem letzten Menschen auch irgendwie verschwinden (weil niemand mehr von ihm was weiß). Also müssten alle Christen (z.B.) scharenweise bei der "Unsichtbaren Kirche" mitmachen. -- Aber nichts passiert. Und weniger noch: Ich habe eine Sammlung von Aussprüchen von Kardinälen und Bischöfen ab 1960, worin sie sich über die Erdbevölkerungsvergrößerung lustig machen.

 

   Unsichtbare Kirche weltweit     

445-454

Im weitesten Sinne ist die Umkehrbewegung als ganze — und dem Wesen des Problems entsprechend übernational — der Fürst der ökologischen Wende; an sich gehören ihr alle Bewußtseinsanteile an, alle sozialen und politischen Energiemomente, die sich in Richtung auf die andere Kante, die Andere Große Koalition bewegen, indem sie über enge und selbstsüchtige Identifikationen hinausreichen. Aber hier spielt der Unterschied zwischen Bewußtsein und Bewußtheit, hegelianisch gesprochen zwischen dem Ansichsein und dem Fürsichsein des Bewegungsgeistes, doch eine sehr wesentliche Rolle. 

Ja, es geht um eine solche Bewußtheit, die sich nicht einmal gegen die noch über ihren Auftrag unaufge­klärten Elemente des Prozesses setzt, sondern alles zu integrieren vermag. Noch einmal hegelianisch gesprochen: Es geht um An- und Fürsichsein dieser Bewußtseinskräfte in Bewegung. Das war es, was sie damals gemeint haben, als sie sich verschworen — Hegel, Hölderlin und Schelling — für Vernunft, Freiheit und die Unsichtbare Kirche, auf das Losungswort "Reich Gottes!" hin.

In dieser Kopplung von (objektiver) Vernunft, in der "die Substanz Subjekt wird", mit der Freiheit, hat Europa, wie ich schon einmal erwähnte, einen neuen Zugang zu den Topoi von "Kirche" und "Gottesstaat" geschaffen. Dadurch, daß hier die bis in die Tiefen ihrer selbst bewußte Individualität eingebracht wird, kann die "Gemeinschaft der Heiligen" Unsichtbare Kirche werden, ein freier, nichthierarchischer Zusammen­schluß. 

Und wenigstens intentional hat das auch in der Idee der Kommunistischen Partei als eines "Kampfbunds von Gleichgesinnten" gesteckt — als die noch nicht mit dem Wechselbalg des "demokratischen Zentralismus" verkuppelt war, der die ungeheure Lücke kitten soll zwischen revolutionärer Zweckbewußtheit ("Gut ist, was der guten Sache nützt") und der wahren Transparenz und Selbsteinsicht, jener umfassenden spirituellen Bewußtheit, die ich als "Subjektivität der Rettung" bezeichnet habe.

Das Schlimmste an der dunklen Phase, die die kommunistische Parteiidee bei ihrem Durchgang zunächst durch das Schattenreich der westlichen Metropolis, nämlich durch die staatsstärksten der kapitalistisch "unterentwickelten" Länder — wie Rußland und China — durchlaufen hat, war (und ist zum Teil noch) die Emanzipationsheuchelei. Lenin hatte noch klar gesagt, hier werden erst die Grundlagen des Sozialismus und der realen, mehr als bürgerlichen Freiheit geschaffen. Er sprach von Diktatur auch über die Arbeiterklasse und verhüllte nicht, daß das innerparteiliche Fraktionsverbot selbst die Kommunisten zu Parteisklaven machen konnte. Später aber hat man — was freilich schon in seiner Epoche angelegt war — immer schamloser das Erwünschte als erreicht auszugeben versucht.

Die italienische Fürstin Vittoria Alliata hatte, als sie im Orient ihrer weiblichen Identität nachging, in den 70er Jahren das Drusenoberhaupt Kamal Dschumblat, Führer der libanesischen Sozialistischen Fortschrittspartei und Träger des Leninpreises, interviewt.179  Was er sagt — und was selbst noch für die oberflächlich individualisierte, demokratische westliche Welt mehr als ein Gran Wahrheit enthält —, besticht vor allem durch die schwarz-weiße Aufrichtigkeit, mit der er seine Sicht der Realität und dementsprechend des Rettungsfürsten gibt. Er spricht in Gegenwart seiner Getreuen.

446


Monsieur Dschumblat, wer sind die Drusen?

Die Drusen sind die Erben uralter — ägyptischer und griechischer — Weisheit, verbunden mit einem gewissen muselmanischen Gnostizismus. Sie haben 5000 Jahre Geschichte hinter sich, seit der Mensch Mensch ist und die Wahrheit über die vollkommene Einheit des Kosmos sucht. Ihre Religion ist nicht irgendeine Volksreligion, sondern eine esoterische Geheimlehre, eine philosophische und moralische Weisheit, die ontologische Suche nach dem reinen Wesen der Welt.

Aber welchen Stellenwert hat heute die Religion, Monsieur Dschumblat?

Wenn alle Religionen der Welt heute eine große Krise durchmachen, so deshalb, weil der Mensch auf der Suche nach einem universalen Credo ist.
Die Kirche flüchtet sich, um modern zu sein, zu den Massen: an die Stelle der göttlichen Gnade setzt sie die Gnade der Massen. Aber es ist eine Utopie zu glauben, die Massen könnten sich der schweren Probleme, die sie bedrohen, bewußt werden. Ebenso wie es utopisch ist, an eine Herrschaft des Volkes zu glauben, an eine demokratische Vertretung, alles Dinge, die eine wirksame Unterscheidung zwischen Gut und Böse voraussetzen — wozu die Massen überhaupt nicht in der Lage sind.

Die Massen wollen gut essen, sie wollen Radio, Fernseher, Auto und jeden anderen Komfort haben; sie wollen den Reichtum, und wie die Reichen sind sie nur armselige Sklaven des Geldes. Nur eine wahrhaftige Elite kann die Welt erneuern: Individuen, die den hohen Auftrag der Evolution erkennen und sich nicht vom Mythos des Geldes, des Fortschritts, der Demokratie und des Sozialismus blenden lassen; Menschen mit einem scharfen Verstand, die sich zu einer uneigennützigen Sicht der Dinge empor­schwingen, in dem Wissen, daß Glück etwas Innerliches ist und nichts mit der Anhäufung von Gegenständen zu tun hat und daß die Gesellschaft für den Menschen geschaffen werden muß und nicht der Mensch für die Gesellschaft ...

Wer schlägt sich nicht erst einmal an den Kopf und sagt: So ist es? 
Dschumblat fährt fragend fort:

... Ach, wer wird wohl der Held sein, der sich eines Tages erheben und die Umkehr einleiten wird?
Und wie müßte dieser Mann sein?
Nötig wäre ein Mann, der Gerechtigkeitsempfinden, Nächstenliebe und Mut besitzt. Er müßte Diktator sein, um Reformen durchzusetzen, die demokratischen Systeme bieten keinerlei Hoffnung mehr. Die Massen setzen sich aus Individuen zusammen, die sich aufgrund ihres vergangenen Karmas voneinander unterscheiden; vielen fällt das Denken schwer, und nur wenige verstehen den tiefen Sinn des Lebens. Die Gleichheit ist eine Absurdität. ..
Aber Sie sind doch der Führer der libanesischen Linken?

447


Mein Streben richtet sich auf die Gleichheit in der Armut. Wenn alle reich würden, wäre das eine schreckliche Katastrophe. Wie Jesus Christus sagte, kann man nicht gleichzeitig Gott und dem Geld huldigen. Wofür ich eintrete, ist ein wirklich menschlicher Kommunismus, der einzige, der diesem teuflischen Prozeß Einhalt gebieten kann, der die Welt zugrunde richtet. Marx hat nicht begriffen, daß der Mensch, da seine Bedürfnisse begrenzt sind, auch nur über begrenzte Mittel verfügen soll, um sie zu befriedigen ...

 

Dschumblat hat damals schon die weltanschauliche Öffnung in Rußland bzw. der Sowjetunion vorhergesehen, weil er Antennen für das starke linksseitige bzw. rechtshirnige Potential dort hatte. Er erwähnte als Indiz: "Schon haben die parapsychologischen Studien in der UdSSR einen großen Sprung nach vorne getan und die interpretative Armut des historischen Materialismus verringert ..."

Die übliche materialistische, säkularistische Ideologie, in der man sich im Westen von links bis rechts völlig einig ist, gibt keinen archimedischen Punkt her, um Dschumblats Position aus dem Gleichgewicht zu bringen. Spricht man intimer mit westlichen Politikern und politischen Menschen, so stellt sich ihr Demokratismus als eher noch viel heuchlerischer (im Vergleich zu dem der "Realsozialisten") dar. Sie teilen nämlich fast durch die Bank zwar nicht die Einsicht in die Notwendigkeit der Armut (diese wohl zu unterscheiden von Elend und selbst Entbehrung), aber die Einschätzung der "Massen" — und man braucht sich ja auch nur kurz ihren öffentlichen Umgang mit dem Volk in den Wahlkämpfen anzusehen, um es evident zu haben, wie sie alles daransetzen, seine Dummheit, Kurzsichtigkeit, Versicherungsmentalität, Neidhammelei, Rachsucht, Habgier, Subalternität anzusprechen, auszubeuten, fortzuzeugen.

Eine andere Perspektive als bei Dschumblat ergibt sich nur auf der allerdings noch unerlösten, uneingelösten Entwicklungslinie abendländischer Spiritualität, dann nämlich, wenn man nach der Lichtseite der individualistischen abendländischen Kosmologie fragt. Falls es idealtypisches Ziel des abendländischen Entwurfes ist, eine Republik der Könige (und Königinnen!) zu stiften180 — dann muß man/frau sich nur noch darüber klarwerden, daß selbst König und Königin bereits ein Abfall von der Bestimmung des Menschen sind, insofern diese Gestalten schon Militarismus und Subalternität, insofern sie schon das von Laudse apostrophierte "erbärmliche Großtun von Räubern" mit repräsentieren. 

448


In Hölderlins "Eichbäumen" werden sie denn u. a. auch angesprochen: "und ergreift, wie der Adler die Beute, mit gewaltigem Arme den Raum. ..." Deshalb wohl hat auch er selbst noch gefordert, sie sollten erwachen, die Könige (und Königinnen), erwachen offenbar in seine "Unsichtbare Kirche" hinein und auf sein "Reich Gottes" zu.

Da war eine Gemeinschaft entworfen, unter den Dreien damals in Tübingen, die auf der Grundlage der Individualität erstehen sollte. Zwar nahmen sie gewiß nicht an, es wäre im Augenblick alle Subalternität zu überwinden, aber ihr Bund war unterwegs von dem alten Ordens- und Logenkonzept, das immer — wie auch bei Dschumblats Drusentum — esoterisch und insofern "weißmagisch" war ("schwarzmagisch" sind dann immer die andern, versteht sich) und der Idee eines gesellschaftsoffenen Bundes, der keine Zugangsschranken errichtet. So weicht diese Dichotomie zwischen den "Eingeweihten" und den "Massen" auf, und der Führer und Diktator wird teils aufgelöst in ein Kollektiv, das, wenn auch nach Bewußtheit abgestuft, im Prinzip die Letzten einschließt, teils wird er in seiner Funktion relativiert, enttotalisiert, d. h. das Diktatorische wird zum sektoriellen Moment, betrifft nur kritische Bereiche und Aspekte des Verhaltens, in denen die individualistische Selbstsucht das allgemeine Wohl verletzt).

Wenn — asiatisch gesprochenalle immer auch schon "Buddha sind", d.h. an sich an dem Bunde partizipieren, den etwa Schillers und Beethovens Freudenode feiert, muß niemand ausgeschlossen bleiben oder sich — wie es im Liede heißt — "weinend hinausstehlen".

Strukturell genau so war dann die Idee angelegt, die Marx, Lenin und Gramsci mit ihrer Konzeption der "prolet­arischen" Kommunistischen Partei als dem neuen Fürsten, als dem Kollektiven Intellektuellen verfolgten. Gewiß, wie noch diese von dem hochsensiblen Gramsci geprägte letztgenannte Formel verrät, war die Vision rationalistisch, abstraktionistisch, intellektualistisch verengt; überdies waren die Frauen nur als Gleiche, nämlich "wie Männer", eingeschlossen. Der Vernunftbegriff, der einging, war nicht auf die Integration aller subjektiven Wesenskräfte, nicht auf die Individuation, nicht auf die Liebe gerichtet. 

449


Die Drei in Tübingen hatten den breiteren Zugang gehabt. Auch war charakteristisch, obwohl nicht so gemeint, daß Lenin in seinem Parteibegriff der Bewußtheit die Spontaneität als das zu Überwindende entgegensetzte.

Mit seiner Kritik an der Spontaneität hat Lenin gewiß nicht hauptsächlich — wie man bei dem Wort vermuten könnte — die Impulsivität verwerfen wollen. Vielmehr zielte sie gegen das Moment der sozialen Trägheits­kräfte, gegen das gewohnheitsmäßige Weiterstricken am Status quo selbst noch in der Bewegung, die die neue Epoche heraufbringt. Aber schon wegen der rationalistischen Fassung des Bewußtheitsproblems, wegen seiner revolutionär-utilitaristischen Engführung auf den Zweck eines politischen Durchbruchs zu war die Impulsivität, war das Lebendige des Geistes dann doch asketisch eingeschnürt.

Lenin hatte zwar nicht an Hölderlin und Schelling angeknüpft, aber immerhin direkt an Hegel, hier jedoch nicht an den glühenden jungen Mann der "Phänomenologie des Geistes", sondern an den der zum System geronnenen "Wissenschaft der Logik". Bei Rosa Luxemburg, bei Karl Liebknecht und bei Antonio Gramsci, auch bei Leo Trotzki ist die Parteiidee ein breiterer und tieferer Fluß gewesen. Dennoch war der Leninsche Durchbruch kein Zufall. Dennoch waren die eben Erwähnten alle vier in einem weitesten Sinne Leninisten, auch Rosa, obwohl die immer des "Spontaneismus" beschuldigt worden war, weil sie die Rigidität des Leninschen Konzepts als tödlich für die Arbeiterbewegung empfand.

Was bis in das heutige sowjetische Wiederanknüpfen — mit den Worten Glasnostj (für Transparenz, Offenlegung der Vorgänge für den Einblick und die Einsicht) und Neues Denken — von Lenins marxistisch-hegelianischem Grundkonzept blieb, das ist sein Losungswort Bewußtheit, Bewußtheit, Bewußtheit! Dort kann der ganze ursprüngliche Reichtum der Idee, den schon Gramsci weitgehend wiedergewonnen hatte, neu einströmen.

In dem Tübinger Triumvirat aus der französischen Revolutionszeit war ja die Quintessenz einer vieltausend­jährigen Bestrebung präsent. Um in die Wirklichkeit einzugehen, hatte dieser Fluß Canons durchbrechen und dann die Mühen der Ebenen durchstehen müssen. Schon Hölderlin selbst ließ in seinem Hyperion, den französischen Revolutionsterror vor Augen, seinen Helden die Illusion beklagen, mit einer Räuberbande ein Elysium gründen zu können.

450


Die Frage bleibt, ob das Volk, ob die Menschheit ein Organ wie die "Kommunistische Partei" oder vielmehr die "Unsichtbare Kirche" braucht, um in Vernunft und Freiheit das Gottesreich auf Erden erreichen zu können. Das ist keine spezifisch russische oder gar bloß bolschewistische Frage (wissen wir immer noch nicht, daß die Russische Revolution ein Menschheitsereignis war, wie die chinesische auch eins ist?), sondern die Grundfrage der westlichen Zivilisation selbst, von Plato bis Augustinus, von Augustinus bis Joachim di Fiore, von Joachim di Fiore bis Thomas Müntzer, von Thomas Müntzer durch die Jahrhunderte der bürgerlichen Revolution bis ins Jahrhundert der "proletarischen" Revolution.

Für das, was bei dem modernen Gottesstaat herauskommen soll und was also der Verbund dafür inkarnieren muß, hatten wir in Westeuropa früh eine wunderbare Formel, von diesem Joachim di Fiore gefunden. Er fand sie in dem Augenblick, als sich Papst und Kaiser (Friedrich II, der von Palermo) auf den letzten Anlauf vorbereiteten, die Grundlagen der augustinischen Konzeption von der Civitas Dei als dem Christusreich zu zerstören, indem sie im Kampf um die Weltherrschaft den Menschen zeigten, daß es nicht um Erlösung ging, sondern um Macht.

Kurz zuvor trat in Calabrien der erleuchtete Mönch hervor. Joachim hatte die Vision von drei aufeinander­folgenden Reichen. Das Erste Reich war das Reich des Vaters, des eifersüchtigen Gottes Israels, das Reich des Alten Testaments. Kontrolle von oben. Das Zweite Reich war das Reich des Sohnes, des Christus als des brüderlichen Gurus, das Reich des Neuen Testaments. Das Dritte Reich, das Joachim kommen sah, das war das Reich des Heiligen Geistes, der ausgegossen sein sollte gleichermaßen über alle. Nach dem Osterreich des wiederauferstandenen Christus das Pfingstreich, aus dem Prinzip einer mystischen Demokratie. Sie würden den Konsens über das allgemeine Wohl nicht so sehr suchen müssen — sie würden ihn haben.

Joachims Vision ging damals als Samenkorn in die Erde. Die Franziskaner — ihr verfolgter Flügel — haben es weitergepflegt. Sie ist auf Eckhart gekommen, auf Müntzer gekommen, auf unsere klassische Philosophie und Dichtung in ganz Europa. 

451


Ihre bewußte Wiedergeburt im Kommunismus der Gegenwart hat Ernst Bloch vollzogen. Aber mit Marx schon begann offenbar — nach dem liberalistischen Kehraus aller sentimentalen Werte, den er zusammen mit Engels im Kommunistischen Manifest als Ergebnis des Manchestertums konstatiert hatte — die Wiederherstellung der alten Idee des Gottesstaates, natürlich auf einem neuen Niveau, obgleich auch bei ihm und seinen Nachfolgern ein letztes Mal patriarchal, und immer noch zu kollektivistisch (dies am wenigsten bei Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht).

Man sieht jetzt erst, was für eine Erfindung das war, dieses System mit der Partei als, verkappt, einer geistlichen Instanz an der Spitze — nachdem diese neueste Staatsidee sich zuerst als ihre eigene Karikatur ereignete, gewissermaßen mit dem Großinquisitor vor dem Christus ins Leben getreten war (aus sehr realmaterialistischen Gründen, denn spätestens seit Hobbes war ja das satanische Prinzip in seinen beiden Aspekten als Machthybris und Kapitalakkumulationsgier ins schlecht Unendliche hinein zur erklärten Verfassungsgrundlage des Westens geworden; durch den ungeheuren Hirseberg, der da aufgehäuft wurde, mußte sich der Geist erst neu hindurchfressen).

Mit dieser Parteiidee von Marx und dann mit der Leninschen Praxis ("Bewußtheit versus Spontaneität") kommt — nachdem der Kirche der Gottesstaatsgedanke kaputtgegangen war — anfangs bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, von Grund auf das. Substantielle daran für die Menschheit wieder. "Proletariat" war bei Marx sowieso nicht die wirkliche Arbeiterklasse, sondern das war ein Name für eine neue Art von "Gemeinschaft der Heiligen", vorteilhafterweise zunächst rein weltlich eingeführt. "Arbeiter" waren die, die die welt­historische Mission trugen. Und was war die Mission? Was heißt letztlich allgemeine Emanzipation? Das ist eine Befreiung, die nicht ohne spirituelle Konsequenz gedacht werden kann, nicht ohne die Entdeckung und Erfahrung der Gottheit in uns.

Wir sehen, daß das sozusagen eine List der Geschichte war, dieser kommunistische Anlauf. Übrigens war ja der Kommunismus des 16. Jahrhunderts noch spirituell, der des 19. Jahrhunderts in Frankreich wieder.  

452


Sie wußten, wie unser Thomas Müntzer, der Bauernführer, wußte, daß da über dem Thema der sozialen Gerechtigkeit noch eine höhere Oktave mitschwang. Jetzt ist es also so weit, daß die aufgeklärten, die bürgerlich befreiten Menschen wieder mit der Gottheit ins Gespräch kommen wollen und auch müssen. Und nun ist natürlich die internationalistische "proletarische" Kommunistische Partei nicht genug. Nun ist das die Larve, die gesprengt (im sowjetischen Osten) oder der evolutionäre Vorgänger, der abgelöst sein will (im Westen). Herauf kommt eine Unsichtbare Kirche weltweit, zunächst synkretistisch, d.h. in dem sich erst einmal mischt, was sich verbinden will, aber die Anläufe konvergieren. Am Ende von "Der Mensch im Kosmos" hat Teilhard de Chardin den Konver­genzpunkt des Geistes, der sich um den Planeten zusammenschließenden Noosphäre den Punkt Omega genannt!

Ich sehe dem überparteilichen Verbund in unserem Lande schon zehntausende Menschen mit mehr oder weniger Fasern ihres Herzens angehören. Vielleicht käme "Unsichtbare Gemeinde" der Sache noch näher als Unsichtbare Kirche. Es gibt durchaus eine Analogie zu dem, was ganz am Anfang der Christenheit mit der "Gemeinschaft der Heiligen" gemeint war und — ich leugne es nicht — auch mit jenem "Kampfbund der Gleichgesinnten", den Kommunisten wie Anarchisten ursprünglich im Sinne hatten statt solcher Apparatparteien. Oder wollen wir von einem offenen Orden sprechen? Oder wie Brecht nüchtern und bewußt ernüchternd von einem Verein? Ich bin überzeugt, daß die Idee des Bundes aktuell ist.

Wenn wir es wollen, können wir alle Glieder dieser letzten Kirche, dieser neuen "Gemeinschaft der Heiligen" sein. Die Zugänge jedenfalls sind offen. Es gibt keinen Logenzauber, keine Aufnahmeriten, wenn auch die eine oder andere, heute aber kaum noch esoterische Form der Einweihung, der Einführung durch einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Gruppe. Initiation als Ritus hat leicht etwas Repressives. Heute ist wohl der Prozeß, den C.G. Jung Individuation genannt hat, die angemessene Initiation, geht es doch gerade nicht ums Erwachsenwerden in die überlieferte Kultur hinein, sondern um eine zweite Geburt des Erwachsenen in eine andere. 

453


Nicht so sehr "Einweihung" in irgendwelche, mag sein vorhandene, Psi-Geheimnisse tut not, sondern daß sich allerdings möglichst viele Menschen wieder einer Aufgabe weihen, einem Auftrag, der über sie hinausgeht und dem gegenüber das jeweils "momentane" Befinden vielleicht doch nicht so ausschlag­gebend ist. Sehr viele psychische Turbulenzen haben zwar nicht in ihren Wurzeln, aber in ihrer Ausprägung und Durchschlagskraft mit dem Mangel an verbindlichem, voll verantworteten Engagement zu tun.

Es wird jedenfalls eine offene Verschwörung, und wir können uns nur wünschen, daß die Zugehörigkeit sich noch etwas verbindlicher ausdrückt — in der Art der Empfänge zum Beispiel, die wir einander bereiten —, die Solidarität sich selbstverständlicher und unverborgener äußert. Wir brauchen insbesondere "intern", d.h. in unserem weltweiten Netzwerk, mehr Kommunismus als in der Apostelgeschichte des Lukas, nach der sie "alles gemeinsam hatten". Wenn es wirklich zu einer vollständigen Entbürokratisierung der Kommunisten im "realexistierenden Sozialismus", zum Rückzug der Parteien dort von der Staatsmaschine, zur Spiritualisierung ihrer Programmatik und Praxis käme, wie es sich als Tendenz in dem Erscheinen Michail Gorbatschows ankündigt, und wenn dann Moskau, dieses Dritte Rom, nicht papistisch agieren würde ... 

Ich will den Satz nicht vollenden, denn es ist kaum auszudenken, welche glückliche Wendung die Geschichte am Ende des 20. Jahrhunderts nehmen könnte.

Für das Werden dieses Bundes aber sollen wir auf allen Ebenen der sozialen Kommunikation (lokal, regional, landesweit, kontinental, weltweit) und in allen Verbänden fachlicher und sachlicher Zusammenarbeit bewußt etwas tun. Wir brauchen ein permanentes "Treffen der Wege", und wir brauchen Mission, und zwar "innere Mission", jeweils bei uns zu Hause vor allem (nicht zu verwechseln mit Missionarismus als fanatischem oder verlockendem Predigertum). 

Wie Christus, Matthäus zufolge, in der Bergpredigt sagte: "Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es denn allen, die im Hause sind." Es wird vor allem die alltägliche Praxis, in der sich die Subjektivität der Rettung formt, dieses Licht sein.

454


 #

 

 detopia.de    ^^^^  

Logik der Rettung - Wer kann die Apokalypse aufhalten? 1987 von Rudolf Bahro