43      Anmerk    Start    Weiter

     Religiöser Totalitarismus ?     

 

455-464

Es wird ja wohl einen Aufschrei geben: Am Ende der Moderne und nach dem gescheiterten braunen Millenarismus in Deutschland die grüne Utopie einer neuen Reformation, neuer Klostergründungen, einer Unsichtbaren Kirche? Und die Perspektive des Gottesstaates, des Heiligen Reichs wieder aufnehmen?

Ich kann nicht anders, ich sehe die ökologische Krise in diesem Licht.  Aber ich will mich in einem letzten Exkurs gerne diesem Aufschrei stellen.

Seit meiner Verhaftung wegen der <Alternative> bin ich mit nichts mehr aufgefallen als mit meinem vierwöchigen Aufenthalt in der inzwischen aufgelösten Kommune des Bhagwan Shree Rajneesh in Oregon. Wer mir das alles übelgenommen und wer alles sich um meine Reputation gesorgt hat! Und wer alles Verständnis für die persönliche Problematik hatte, die doch dahinter gesteckt haben muß! Ich hatte jedenfalls keine Not.

Da ich schade finde, daß das Experiment den Keim so rascher Selbstzerstörung in sich trug, will ich dem mit ein paar Worten nachgehen. Vielleicht sollte ich klüglich nicht daran erinnern, daß mir Rajneeshpuram 1983 als der wichtigste Ort der Welt erschien und zwar, obwohl mir schon Verschiedenes auffiel, was hoffentlich korrigiert werden würde. Indessen war die Kommune ein Versuch genau an jenem "Ort" (dem weiter vorn charakterisierten), an dem er unternommen werden muß, an der Stelle jenes Spaltes, jenes Weltrisses in uns, und sie meinte jenen kleinen Kreis, in dem Gemeinschaft und Gesellschaft jenseits der großen modernen Ellipse wieder zur Deckung kommen können. 

Was an einem solchen "Ort" geschieht, ist auch bei unbefriedigendem Ausgang unvergleichlich viel wichtiger und lehrreicher als jede neueste Umdrehung etwa der rot-grünen Brauchwasser-Umwälzpumpe. Für mich war schon damals nicht ausgeschlossen, daß Rajneeshpuram scheitert, aber davon hing meine Einstellung überhaupt nicht ab. Die Grünen habe ich seinerzeit, als sie meine Äußerung für einen Ausrutscher hielten, gegengefragt, ob sie im Ernst glauben, das Parlament, in das wir gerade eingezogen waren, sei ein wichtigerer Platz?

Wo hat denn nun — denn sonst hätte das Experiment nicht so unvorhergesehen platzen können — der innere Entwurf, den Bhagwan Shree Rajneesh selbst repräsentierte, nicht gestimmt? Die subjektive Seite muß gewesen sein, daß sich der Erleuchtete über seinen eigenen Machtanspruch vorgemacht hat, der sei gar nicht vorhanden. Es ist verrückt, eine bereits verhältnismäßig große Gesellschaft von ein paar tausend Menschen, die sich eben erst auf einen Weg gemacht haben, so zu behandeln, als gehörte der Machtaspekt nicht zu den elementaren anthropologischen Gegebenheiten, als sei er quasi überhaupt nicht existent, zumindest überhaupt nicht relevant. Rajneeshpuram hat den beliebten spirituellen Kurzschluß ad absurdum geführt, der da lautet, der politische Bereich sei irreal und also zu vergessen. Nichts anderes als Politik hat die Kommune von innen gesprengt.

Bhagwan wollte die Verantwortung für seine Schöpfung nicht tragen, die er selbst so eingerichtet hatte, daß sie entgleisen mußte, daß die Sannyasins durch eine hohe psychische Barriere daran gehindert waren, ihrerseits die Verantwortung auf sich zu nehmen. Nicht in dem kuriosen Terror selbst liegt das Problem, sondern in einer Vorvereinbarung über den Ausschluß der Verantwortlichkeit für alle sozialen Angelegen­heiten. Die Struktur, die Bhagwan eingerichtet hatte, hätte so erfunden werden müssen, um experimentell zu zeigen, wann der Machtwille unaufhaltsam durchdreht. Es war jedes Gegensteuern institutionell ausgeschlossen. Selber unerreichbar, hat er eine Stellvertretung mit aller Vollmacht eingesetzt, die sich noch dazu auf ihn als eine unerreichbare Instanz verborgener Weisheit berufen konnte. Er ließ eine devotionale Religion gründen, die er gar nicht wollte. So hat er mindestens den Beweis geliefert, daß Erleuchtung an und für sich keine soziale Kompetenz, keinen sozialen Auftrag, keine soziale Struktur impliziert: nicht von vornherein.

Es haben sich in Rajneeshpuram überhaupt alle abgehakten, ausgeklammerten Probleme durch die Hintertür wieder bemerkbar gemacht, u.a. auch die von Bhagwan in seinem Buch "Vorsicht Sozialismus" vertretene halb vulgärmarxistische, halb prokapitalistische Entwicklungsideologie für arme Länder. Sonst wären die Auto­paraden nicht gewesen.

456


Keine spirituelle Qualifikation erlaubt es, in Sachen einer Ethik und Politik bei den zwischen zwei Weltzeitaltern der Bewußtseinsentwicklung in Bewegung gekommenen Kräften inhaltlich alle fünfe gerade sein zu lassen. Der reiche Mann, auch er, braucht vielleicht durchaus momentan einen Guru, aber keinen "Guru des reichen Mannes", wie Bhagwan sich eben nur halb ironisch selbst charakterisierte.

Aber mit welcher Vehemenz, in welcher Reinkultur, in welcher Komprimierung von Raum und Zeit genau das zentrale Problem, das Machtproblem aufbrach: das unterstreicht, was das Experiment in jedem Falle wert war. Mir scheint bewiesen, daß es fruchtbarer sein wird, nicht vorzugeben, daß das Ego alsbald verschwände und irgend jemand "leeres Bambusrohr" des Universums sei.

Morris Berman hat anknüpfend an Gregory Bateson ausführlicher die Frage aufgeworfen, ob denn dessen "Lernen III" — womit die spirituelle Transformation, bei der Lehrer-Schüler-Verhältnisse im Spiel sind, gemeint ist — unweigerlich zu totalitären Sozialstrukturen führen muß.181 Ich bin sicher: das muß nicht sein. Dann gilt es jedoch, für die Sozialstrukturen damit zu rechnen, daß das machtwillige Ich bis in die schönsten Erleuchtungszustände "überleben" kann und summa summarum in einer Bewußtseinskommune erst einmal noch viel mehr, viel "qualifizierter" auf die Bühne springen wird als irgendwo sonst. 

Hier ist Steiners Dreigliederungsidee ausgezeichnet: Das soziale (wirtschaftliche) und das rechtliche (staatliche) Leben müssen gegenüber dem Geistesleben relativ autonom und gegen jede Willkür sicher verbindlich auf Konsensbasis geregelt werden, in einer Perspektive auf den "Gottesstaat" hin um so mehr! In einem sauberen meditativen Klima sollte es doch möglich sein, klar zwischen hauptsächlich ich-besorgtem negativem Ressentiment und am "Weltselbst" orientierter Kritik zu unterscheiden, so daß letztere nicht gleich vorsorglich als Ausweichmanöver diskriminiert werden muß oder kann.

Wir müssen streng auseinanderhalten: hier die rein personale Beziehung zwischen zwei Menschen, von denen der eine ein spiritueller Meister, der andere sein Schüler sein mag, dort die gesellschaftliche Organisation. Auseinanderhalten muß ja nicht Gegensatz bedeuten. Der Erwachte kann den Schlafenden nicht fragen, ob er geweckt werden will (freilich: wird der Buddha in uns je vollständig schlafen? wie kämen wir dann auf den Meister?). 

457


Aber welcher Mißbrauch dieses Gedankens, ihn auf den Aufbau einer Stadt anzuwenden und das Wecken auf andere Schlafende zu delegieren. Eine kleine Gruppe kann anders experimentieren als eine große. Rajneeshpuram war schon eine kleine Gesellschaft, und die hat ihr Recht nicht bekommen. Zwischen den Dreizehn des Abendmahles ist "Demokratie" ein Nonsens — aber schon die Apostel­geschichte ist nicht frei von einem despotischen Beiklang.

Wiederum: je mehr die Megamaschine selbst ihren universalistischen Despotismus etabliert — hier die Huxleysche <Schöne Neue Welt> der "sanften" Kontrolle und in den ärmeren Ländern eher die Orwellsche Diktatur des Großen Bruders —, desto bedrohlicher malt sich ängstlichen Geistern ausgerechnet die totalitäre Gefahr, die von jedem dagegengesetzten spirituellen Konzept auszugehen scheint. Manche hatten unterschwellig soviel mit Bhagwan Shree Rajneesh zu schaffen, daß sie sich um die paar tausend freiwillig dort in Rajneeshpuram und in einigen europäischen Zentren versammelten Westler und deren Selbst­bestimm­ung gesorgt haben, als läge das Reich des Bösen plötzlich dort und als wäre der Horror der Selbst­mord­kommune von Jonestown nicht nur eine Blase mehr auf dem Sumpf dieser dekadenten Zivilisation, sondern ihr eigentlicher Kern. 

Selbst die schlimmste denkbare Entwicklung in Rajneeshpuram hätte dem, was die Vereinigten Staaten apokalyptisch zu bieten haben, nicht viel hinzugefügt.

Es gibt da eine gemeinsame Voraussetzung der Sektenpfarrer und der linken "Emanzipatoren": ihren festen Glauben an die Verführbarkeit der kleinen Männer und kleinen Frauen, die sie doch gern weiter unter ihrer eigenen seelsorgerischen Zuständigkeit hätten. Es gibt den festen Betreuerglauben an die Unaufhebbarkeit der Subalternität des Menschen durch ihn selbst. Nach manchen Zwangsvorstellungen hätte noch ein Johannes seine Autonomie verspielt, als er sich Jesus anschloß. Sie meinen, den Pluralismus der fürs Ganze blinden Sonder­interessen "kritischrationalistisch" in Schutz nehmen zu müssen gegen die finsteren Theokraten von Platon bis Hegel. Nur keine Gesamtsicht, nur keine übergreifende Ordnung, gar für das linke kritische Individuum!

458


Ich las ein Büchlein spätfrankfurterischer Linker aus Freiburg (aber die "Frankfurter" Benjamin, Fromm und Marcuse müßten ihnen auch schon ziemlich suspekt sein) — da bricht direkt die Paranoia aus. Wegen der drohenden bhagwanesischen "Diktatur der Freundlichkeit" (so der Buchtitel) überlegen sie sich, wieder auszuwandern wie einst die Lehrer wegen des Nazismus. Daß der Bhagwan nicht etwa Euer Schatten ist, wie Ihr ihn seht?! Daß Ihr nicht etwa Angst um Eure cartesianische Festung habt, nicht etwa präventiv das Zusammengezogene Eurer Existenz verteidigt?

Nur deshalb, weil es tatsächlich eine Bereitschaft gibt, sicherlich nicht nur verschattet, sondern auch direkt, sich einer überväterlichen Instanz an den Hals zu werfen, können wir uns unmöglich verbieten, über eine spirituelle Praxis nachzudenken, die eine Umkehr tragen würde, und über Staat und Fürst einer ökologischen Wende. Es ist — u.a. von Hannah Arendt — so viel über die Bedingungen gesagt worden, die den Rückfall in den alten Konformismus nahelegen. Aber nichts ist geeigneter, diese Bedingungen zu erhalten, als der Defaitismus unserer spätrömischen Intelligenzija. Auf lange Sicht wird die Individualität diesmal standhalten. Der neue spirituelle Aufbruch ist gerade ihre Stunde, freilich zuerst der Prüfung.

Die Lehre von Rajneeshpuram ist drastisch, aber das Experiment ist im ganzen "gut gescheitert" und hat die Befürchtungen letzten Endes gerade nicht bestätigt. Es ist klar, wir können nicht aus der Polarität zwischen unserer Individualität und unserer Teilhabe am Ganzen heraus. Wem Politik vom Ganzen her nur verdächtig ist, der bastelt geistig mit an der nächsten Fehlbesetzung der zentralen Position, und zwar aus Angst um die tatsächliche Schwäche des "immer gegenüber" konstituierten Ichs. Dabei ist doch unsere Individualität leidend, wünschend, hoffend mit vorausgesetzt, wo wir uns den Zustand des Einsseins, des Unabge­trennt­seins, des individuellen Nichtseins, des Aufgehens in ein Ganzes als existentielles Moment leisten.

Da wir eine Kultur hochgradigen Getrenntseins haben, also eine, die den Pol der Individualität und Endlichkeit verabsolutiert, liegt es allerdings nahe, die Sache bloß umzudrehen: entweder-oder, entweder Isolation oder Regression. Muß das sein? Sollten wir nicht versuchen, die Polarität anzunehmen und als das Thema der Kultur zu betrachten? 

459


Die verschiedenen notwendigen Momente einer insgesamt vernünftigen Welthaltung sollten je ihre Stunde haben. Wir brauchen jetzt allerdings ganz dringend einen Durchgang am anderen, "universalistischen" Pol, jedoch ohne das Kind (die Individualität) mit dem Bade auszuschütten. Und wir müssen eine soziale Verfassung finden, die das Gleichgewicht unserer Bewußtseinstendenzen fördert und so den Schwerpunkt setzt, daß wir auf dem Trip, den unsere Existenz nun einmal bedeutet, nicht aus der humanen Rolle fallen.

Teilhard de Chardin hatte in seinem <Phénomène Humain / Der Mensch im Kosmos> angesichts von National­sozialismus und Kommunismus die politische Frage so zugespitzt:

<Massenbewegungen>! Doch es handelt sich nicht mehr um Horden, die fluchtartig aus den Wäldern des Nordens und den Steppen Asiens hervorbrechen. Sondern — wie man richtig gesagt hat — um die "Menschenmillion", die sich nach wissenschaftlichen Methoden zusammengeschlossen hat. Die Menschenmillion auf den Paradefeldern schachbrettförmig angeordnet. Die Menschenmillion in der Fabrik standardisiert. Die Menschenmillion motorisiert... Als Ende dann die grauenhafteste Versklavung in den Ketten des Kommunismus und des Nationalsozialismus! Der Kristall statt der Zelle. Der Termitenbau statt der Brüderlichkeit.

Statt des erhofften jähen Erwachens des Bewußtseins die Mechanisierung, die, wie es scheint, unvermeidlich aus der Totalisierung hervorgeht ... Angesichts einer so gründlichen Verkehrung der Regeln der Noogenese (der Geistwerdung im Menschen — R.B.) behaupte ich, daß wir nicht mit Verzweiflung antworten dürfen — sondern nur mit einer neuerlichen Prüfung unser selbst. Wenn eine Energie toll wird, stellt der Ingenieur keineswegs ihre Kraft in Frage. Nimmt er nicht einfach seine Rechnung nochmals vor, um heraus­zufinden, wie man sie besser lenken könnte? 

Ist das moderne Totalitätsprinzip nicht eben deshalb so ungeheuerlich, weil es vermutlich das Zerrbild eines wundervollen Gedankens ist und der Wahrheit ganz nahe kommt? (182)

Und seine Hoffnung setzt Teilhard auf die Person und die Kräfte der Persönlichkeitsbildung sowie auf die tendenzielle Konvergenz des Persönlichen — da das Universum selbst persönlich und personbildend sei. Er spricht von jenem "unwider­stehlichen Instinkt" in unseren Herzen, "der uns jedesmal zur Einheit zieht, sobald sich unsere Leidenschaft für irgendein Ziel begeistert"183, und hält für eine vermeidbare Perversion, daß nun dabei und deswegen die Person vom Kollektiv absorbiert werden müßte. Daß es bisher so kam, gehe auf die Unvollkommenheit, die Beschränktheit zurück, in der wir bisher erst lieben gelernt hätten.

460


Ich hatte mich schon einmal — in meiner "Alternative" — auf diese Frage bezogen, ob das moderne Totalitäts­prinzip nicht Zerrbild eines wundervollen Gedankens sei: weil ich wußte, daß zumindest der Kommunismus etwas anderes gemeint hatte, als dann zunächst herausgekommen war.

Neulich las ich eine Ironie Ernst Jüngers über Martin Heidegger184, dem es seinerzeit mit dem Nationalsozialismus ähnlich gegangen war. Jünger fand, "Heidegger habe sich für seinen politischen Irrtum deshalb nicht entschuldigen wollen, weil er von seinem Standpunkt aus eher hätte erwarten müssen, daß Hitler wiederauferstünde und um Verzeihung bäte, ihn, Heidegger, irregeführt", nämlich um die mit der Bewegung eigentlich gemeinte metaphysische Wahrheit betrogen zu haben. 

Ich halte die Frage nach dem Positiven, das vielleicht in der Nazibewegung verlarvt war und dann immer gründlicher pervertiert wurde, für eine aufklärerische Notwendigkeit, weil wir sonst von Wurzeln abge­schnitt­en bleiben, aus denen jetzt Rettendes erwachsen könnte. Antifaschismus, der nichts weiter als Gefahren­abwehr ist, bedeutet vor allem, uns von dem größeren Teil des Potentials abzusperren und es der Bestimmung durch die scheinbar ferngehaltenen Geister gerade erst preiszugeben. Die Vorbedingungen, die wir zu unserer Sicherheit stellen, formieren mit an dem, was wir nicht wollen.

Falls es zutrifft, daß Kulturen überhaupt religiöse Fundamente haben, kann eine neue Kultur jedenfalls nicht darauf gegründet werden, daß "Religion Privatsache" sei — ein Prinzip, das aus dem Zusammen­bruch der Christenheit im späten Mittelalter hervorgegangen und verständlich ist. Genau wie im Falle des Staates, wo mit dem Prinzip einer verbindlichen Ordnung so oft der von Grund auf falsch eingeordnete Apparat verteidigt wird, so daß Ordnung selbst suspekt erscheinen muß, stoßen wir hier auf das Mißverständnis, es sei die "Freiheit der Kinder Gottes" bedroht, wenn dieses bürgerlich-individualistische Prinzip in Frage gestellt wird. Zudem irritiert das Wort "Religion", weil sein Sinn von der Kirche entstellt worden ist. So weit ich sehe, ist in der Tendenz zum Treffen der verschiedenen Wege, darunter auch des christlich-mystischen, schon etwas in Gang gekommen, um ohne Auslöschung des je Besonderen und Individuellen die eine neue Kosmologie entstehen zu lassen.

461


In unserer modernen Erkenntnistheorie, nach Kant, aber an dessen unmittelbaren Nachfolgern vorbei, ist es nun ausgemacht, daß wir von alledem nicht wirklich wissen können, was wir indessen wirklich sind. Wir haben in unserem Körper, der auch das Ganze ist, nämlich alles Psychische einschließt, das Organ. Aber der Rationalismus erlaubt uns nur, den abstrakten Verstand zu benutzen, der an und für sich ein nützliches Organ jenseits von Gut und Böse ist. Gerade zur Weisheit der Natur haben wir mit diesem diskursiven Instrument keinen Zugang. Dabei ist es so selbstverständlich, daß Mensch und Natur aufeinander hingeordnet sind. Die Frage, wie wir überhaupt etwas wissen können, ist neben ihrer Klugheit auch völlig blödsinnig, weil — wie die Hildegard von Bingen wußte — "alles, was in der Satzung Gottes steht, einander Antwort gibt".185  

Dieses Faktum können wir nur ausnützen, indem wir uns vom anderen, dem Verstand entgegengesetzten Pol unserer Psyche aus sensibilisieren. Dann kann uns, im Grade, wie wir unsere Fixierung auf die speziellsten Schichten unserer Existenz überwinden und diese Schichten zeitweilig hinter uns zu lassen lernen, die gesamte implizite Ordnung bis zurück an den Beginn des Lebens innerlich präsent sein.

Vielleicht werden wir den Urschauder nicht in dem Grade wieder lernen, daß er uns leiten oder zurück­halten könnte. Vielleicht brauchen wir eine noch einmal zweckrational begründete Ethik des Verzichts, die sich auf Wissen um die späteren Rückschläge unseres Machtgebrauchs begründet (Hans Jonas). Wenn aber eine solche Ethik gegen den ansonsten ungebremsten herostratischen Schub arbeiten muß, wird es bestenfalls zu einem zeitweiligen Zittern der Hand, zu gewissen Verzögerungen des Vormarsches kommen. Ein im Grunde kirchlicher Moralismus, der es freilich auch wegen immanenter Korruption nicht aufgehalten hat, als es entstand, wird jetzt nicht ausreichen.

Die extreme europäische Konfrontation von Intellekt und Körper, Mensch und Erde, damit auch männlicher und weiblicher Seele, ist ein nicht durch abstraktes Denken (allein) lösbares Problem (dann wäre es einfach, es wird jetzt viel Richtiges darüber gedacht, gesprochen und geschrieben, und das ist auch wichtig).

462


Wir haben es mit der angstbestimmten Physiologie der Psyche zu tun (wenn man Reich darin folgt), und die Angst ist in unserer Kultur deshalb mächtiger als in anderen Kulturen, weil zur impliziten Ordnung das Gesetz der Nemesis gehört: Wir haben heftiger eingegriffen, verletzt, ge- und zerstört, müssen uns mehr gegen den Rückschlag wappnen.

Je mehr wir lernen, was wir alles nicht notwendigerweise sind, desto sensibler werden wir für das eigentlich natürlich und sozial Notwendige. Entidentifizierung und Resensibilisierung sind weitgehend dasselbe. Was wir zuerst gewinnen, ist natürlich nicht die Große Freiheit, sondern die Bewußtheit über unsere vielen Verhaftungen und Abhängigkeiten vom Nächsten wie vom Ganzen.

Die Art, in der über das Erfordernis der Ich-Aufgabe gesprochen wird, verdunkelt leider oft den wesentlichen Punkt. Stellen wir uns die verschiedenen Buddhas vor — sagen wir Laudse, Christus, Buddha selbst (es war übrigens Bhagwan Shree Rajneesh, der die verschiedenen Individualitäten von, wie ich schätze, zwanzig solcher Meister ausführlich in seiner eigenen Person Revue passieren ließ, indem er sie in seinen zahllosen Vortragsreihen in Poona vergegenwärtigte, ja jeweils verlebendigte) —, so fällt gerade auf, daß sie ihren individuellen Genotyp aufs äußerste herausgebracht haben, gereinigt von den Beimengungen, die gerade nicht ihrem Inbild entsprachen, sondern diese ringsherum aufgestellten Abwehrmechanismen waren, aus denen wir alltäglicherweise Ich sagen.

Das "Selbst", das inzwischen einigermaßen wohlvereinbart diesem Ich gegenübergestellt wird, enthält, als einen Aspekt, auch den Inbegriff des individuellen Genotyps, mit dem wir geboren sind und in dem uns dieses ganze meditativ erschließbare Reservoir evolutionärer Erfahrung und Zugehörigkeit mitgegeben ist.

In Zeiten ruhiger Entwicklung und einer stabilen Kultur ist es weniger dringlich, auf den ungeformten, plastischen Grundbestand unserer Existenz zurückzugehen, obwohl es immer gut war, wenn "Heilige" existierten, die einen mehr oder weniger unmittelbaren Kontakt dazu unterhielten. Wo aber die Tradition versagt, die Kultur gar exterministisch wird wie jetzt, liegt in diesem Kontakt die entscheidende und zugleich die meistversprechende Reserve einer Erneuerung und Regeneration. 

Wir gehen damit nicht auf irgendeinen früheren Kultur- oder gar einen kaum faßbaren Naturzustand zurück, sondern hier und jetzt auf unsere natürliche Kapazität, Potenz und Plastizität.

All das zieht nach sich, die Transformation nicht als einen Kampf zwischen getrennten objektiven Mächten hier des Lichts und dort der Finsternis zu sehen. Vielmehr wird es nur soviel Umkehr geben, wie Individuen umkehren. Die implizite Ordnung wird nicht mittels einer neuen quasi-kirchlichen oder staatlichen Instanz befehlen, sich von der Megamaschine zurückzuziehen und innerhalb der großen alten Gesellschaft die neuen kleinen anderen Republiken zu bauen. Sondern der Geist wird von Mensch zu Mensch seinen Weg der Diffusion nehmen. 

Ohne Millionen individueller Entscheidungen kann auch eine vorstellbare "ideale" Ökotyrannis, "um das Schlimmste zu verhindern", nichts ausrichten. Ein starker Staat könnte einiges verhindern, einen neuen kulturellen Anfang stiften kann kein Staat, auch keine Theokratie.

Die größte Chance gegen einen religiösen Totalitarismus und gegen Totalitarismus überhaupt werden gerade diejenigen haben, die ihn am wenigsten fürchten und deshalb wagen, spirituell zu vertrauen, vor allem sich selbst zu vertrauen und auf dieser Basis auch dem jeweiligen Nächsten. 

Die Linke insbesondere sollte sich einen ganz bestimmten Aspekt des Leninschen Scheiterns vergegen­wärtigen: Es ist nichts Gutes herausgekommen bei dem Satz "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser". Der Volksmund weiß seit ewig um das Phänomen der Resonanz: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. 
Auf welche Seelenkräfte wollen wir bauen?! 

463-464

 #

 

 detopia.de       Anmerk     ^^^^  
Logik der Rettung (L.d.R.) - Wer kann die Apokalypse aufhalten? 1987 von Rudolf Bahro