2. Zwänge in die Gefahr?
«Wo bestimmte Wachstumsraten zum Ziel von Politik werden, schafft Politik sich selbst die Sachzwänge, denen sie dann — gedankenlos oder auch wehklagend — zu folgen hat. Es geschieht nur noch, was der Konjunktur dient. Politik schrumpft zur Konjunkturpolitik. Wer nur - und dies mit aller Kraft - erreichen will, daß etwas wächst, nimmt in Kauf, daß über die Frage, was wachsen soll, in den Chefetagen transnationaler Konzerne entschieden wird.»
Die Ideologie von den Sachzwängen
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Daß Wünschbares nicht durch Knopfdruck wirklich wird, daß Politik mit einer Vielzahl gegensätzlicher Kräfte und Interessen zu rechnen hat, daß alles Neue mühsam gegen das Beharrungsvermögen des Bestehenden anzukämpfen hat, daß hart im Raume sich die Sachen stoßen, ist kennzeichnend für das politische Geschäft, seit es ein solches gibt.
Daß die Macht einer Bundesregierung eingeengt, ja neutralisiert werden kann durch Bundestag und Bundesrat, durch Verfassungsgericht und Rechnungshof, durch Kritik von Opposition und Medien und nicht zuletzt durch die Gesetze, denen auch eine Regierung untersteht, ist Teil einer Verfassungsordnung, die - aus guten Gründen - auf Gewaltenteilung beruht.
Daß jede Regierung sich unter Erfolgszwang fühlt, weil ihre Politik oft alle paar Monate der Zustimmung eines Teils der Wähler bedarf, ist die Kehrseite demokratischer Mehrheitsbildung.
Dies alles kann bedeuten, daß die Zahl der Handlungsalternativen schrumpft, aber noch lange nicht, daß es Alternativen aus der Sache heraus nicht gäbe.
Wenn uns heute immer wieder das Gefühl überkommt, daß Sachzwänge uns einengen, entmutigen, erdrücken und eigenständigen politischen Willen der Lächerlichkeit preisgeben, dann haben wir es mit etwas qualitativ anderem zu tun als jener Banalität, daß es eine Sache ist, Programme zu formulieren, eine andere, sie durchzusetzen.
Daß etablierte Machtstrukturen nicht schon umgeblasen werden, wenn irgendwoher ein neuer Geist weht, ist eine Binsenweisheit. Daß Politik sich auf die Exekution von alternativlosen Sachzwängen reduziere, ist Teil einer Ideologie, die erst in den letzten Jahrzehnten aufkam. Helmut Schelsky schrieb 1961:
«Wir behaupten nun, daß durch die Konstruktion der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen wird, in welchem das Herrschaftsverhältnis seine alte persönliche Beziehung der Macht von Personen über Personen verliert; an die Stelle der politischen Normen und Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation treten, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen nicht verstehbar sind. Damit verliert auch die Idee der Demokratie sozusagen ihre klassische Substanz: An die Stelle eines politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziert.»1
Die wissenschaftlich-technische Zivilisation hat also ihre eigenen Gesetze. Sie lassen sich nicht ändern, sie lassen sich nur erkennen und anerkennen — oder verkennen und notfalls leugnen. Der Politiker kann, erkennt er diese Gesetze richtig, sich ihnen nicht widersetzen, er kann sich ihnen - bei Strafe des Scheiterns - nur fügen.
Politische Normen, Grundwerte, Parteiprogramme, Ziele, erst recht Gesinnungen, können allenfalls die Funktion haben, die Bürger zu unterhalten und von der Tatsache abzulenken, daß Demokratie zur Farce geworden ist, denn nicht der Demos, das Volk, herrscht, sondern der Sachzwang der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Das Parlament wäre dann wenig mehr als ein Theater zur Unterhaltung und Erbauung der Menschen, die gerne in der Illusion leben möchten, es gebe noch etwas zu entscheiden. Politik ist hier nicht mehr die immer neu unternommene Anstrengung zur Gestaltung von gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern Exekution von Sachzwängen.2) Die technisch-wissenschaftliche Zivilisation — und damit die Kräfte, die sie vorantreiben — wird zum Gott, dem die Gläubigen vor jeder Bitte in eigener Sache zuerst einmal zugestehen müssen, daß sein Wille geschehe.
Was Schelsky beschreibt, war ursprünglich durchaus kein harter, erbarmungsloser Gott, denn noch in den sechziger Jahren war kaum umstritten, daß die Gesetze der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation förderlich und heilsam seien und besser als alle Politiker geeignet, uns herrlichen Zeiten entgegenzuführen. Die Umsetzung von wissenschaftlicher Erkenntnis in technische Innovation, die Vermarktung technischer Innovation in — mehr oder minder — freiem Wettbewerb ließen die Wirtschaft rasch und — wie es das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz festschrieb — stetig wachsen.
1) Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Opladen 1961, S. 21 f
2) S. a. Günter Ropohl, Zur Technokratie-Diskussion in der BRD, in: Technokratie als Ideologie, Stuttgart 1973, S. 58 ff
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Der Automatisierung der Produktion entsprach die Automatisierung des Fortschritts. Die Extrapolation von Wachstumsraten bis ins vierte Jahrtausend — ein Spiel, dem sich nicht nur Herman Kahn3) mit Leidenschaft hingab — unterstellte mit entwaffnender Einfalt, daß Zukunft sich einfach aus dem — möglichst ungestörten — Walten jener heilsamen Gesetze ergebe, daß Zukunft die praktisch unendliche Fortschreibung der Trends sei, die zur Gegenwart geführt hatten. Politiker mit ihren Ideologien und Interessen, ihrem Ehrgeiz und ihren Machtkämpfen konnten da nur stören. Und so stritten sich die Spitzenkandidaten der großen Parteien im Wahlkampf 1965 darum, wer von beiden den Wohlstand rascher und sicherer verdoppeln könne, was zu tun sei, damit eine ohnehin rosige Zukunft noch etwas rosiger werden könne.
Daß die innere Gesetzlichkeit unserer Zivilisation vielleicht doch nicht nur förderlich sein könnte, wurde in jenen frühen siebziger Jahren klar, von denen ich meine, sie markierten eine geschichtliche Zäsur. Die Berichte des Klubs von Rom, so anfechtbar sie sein mögen, signalisieren den Bewußtseinswandel: Nicht in ein Paradies unaufhörlich wachsenden Wohlstandes führten die waltenden Gesetze unserer Zivilisation, sondern bestenfalls in eine Serie von Katastrophen, schlimmstenfalls in die eine große Katastrophe. Auch das Bariloche-Modell,4) das den Klub von Rom widerlegen wollte, bestätigte nur seine Kernthese. Sagte der Klub von Rom: Wenn wir so weitermachen wie bisher, sind Katastrophen unausweichlich, so stellte das Bariloche-Modell fest: Wenn wir alles anders machen als bisher, sind — die meisten — Katastrophen zu vermeiden.
Solange wir scheinbar nichts Besseres tun konnten, als uns den Sachzwängen anzuvertrauen, gab es dagegen kaum Widerstand. Warnzeichen für das Zerbröckeln dieses Vertrauens war die Studentenrevolte, später die rasch anschwellende Ökologiebewegung. Daß sie - offenkundigen Gegensätzen zum Trotz - geschichtlich zusammengehören, zeigen die sichtbaren und unsichtbaren Verbindungslinien, die von der Studentenrevolte zur Ökologiebewegung führen.
3) Herman Kahn, Vor uns die guten Jahre, Wien 1977 # H.Kahn bei detopia
4) A. Herrera, H. Scolnik, Grenzen des Elends, Frankfurt 1972
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Die Umkehrung der Vorzeichen, die Einsicht, daß wir uns gerade nicht der inneren Gesetzlichkeit technisch-ökonomischer Prozesse anheimgeben können, daß — in den Worten von Roger Garaudy5 — wir unsere Enkel umbringen, wenn wir noch dreißig Jahre so weiterleben wie in den vergangenen dreißig Jahren, hat vieles erschüttert, ganz besonders die herrschende Form eines naiven Fortschrittsglaubens. Unerschüttert blieb — seltsamerweise — der Glaube an die Sachzwänge. Heilsam oder nicht, die Berufung auf Sachzwänge nahm eher zu, nur war sie jetzt häufig begleitet von Resignation oder vom Pathos des Tragischen: Wir wissen ja, wie fragwürdig dies ist, aber es gibt keine andere Wahl.
Die Fälle mehrten sich, in denen behauptet wurde: Hier ist nur eine Entscheidung möglich, denkbar, verantwortbar. Hier gibt es — nachweisbar, errechenbar — keine Alternative. Die Entscheidung, die wir treffen, hat nichts mit Ideologie zu tun, sie ergibt sich aus der Sache selbst, aus der Eigengesetzlichkeit der Sache.
Die Ideologie von den Sachzwängen führt heute nicht nur zu Resignation und Fatalismus, sie geht auch an den Nerv unserer politischen Kultur. Wenn es alternativlose Sachzwänge gibt, an denen nichts zu ändern ist, die sich nur erkennen oder verkennen lassen, so kann Widerspruch dagegen nur drei Gründe haben: Mangel an Information, Mangel an Intelligenz oder Mangel an gutem Willen. Der Widersprechende ist entweder uninformiert, dumm, naiv oder bösartig.
Und so läßt sich die Gesellschaft unter der Herrschaft der Sachzwang-Ideologie rasch einteilen in eine Mehrheit der einsichtigen Konformisten, in eine Minderheit von einfältigen Narren und eine Randgruppe von unverbesserlichen Verfassungsfeinden.
5) Roger Garaudy, Appel aux vivants, Paris 1979
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Sachzwang und Expertokratie
Wie immer man die wirtschaftlichen Interessen einschätzen mag, die sich der Ideologie von den Sachzwängen bedienen, Ausdruck, Träger und unmittelbarer Nutznießer dieser Ideologie ist die mächtige Zunft der Experten. Wo Gesellschaft und Wirtschaft so kompliziert geworden sind wie heute in Westeuropa, muß sich die extreme Arbeitsteilung auch darin niederschlagen, daß Experten unentbehrlich werden, Menschen also, die auf irgendeinem Gebiet über wesentlich mehr Detailwissen und Erfahrung verfügen als andere.
Man kann sehr wohl Experte sein, ohne sich im Zweifelsfall auf Sachzwänge zu berufen. Aber die Regel entspricht wohl eher dem, was Theo Ginsburg beschreibt: (*1926 bis 1993)
«Experten bestimmen über unser Leben: über die Schule unserer Kinder, über das Gesundheitswesen, über den Bau von Autobahnen, über die Sicherheit von Atomkraftwerken — kurz, über alle wichtigen Entscheidungen. Aber das Vertrauen in die Experten wird immer mehr erschüttert. Experten können wohl auf Grund ihrer Fachkenntnisse sagen, wie etwas ausgeführt werden muß. Aber sie überschreiten ihre Kompetenzen, wenn sie bestimmen wollen, was gemacht werden soll. Und gerade das maßen sie sich heute immer mehr an. Atomkraftwerke müssen gebaut werden — weil Experten behaupten, es gäbe sonst Arbeitslosigkeit. Unmenschliche Krankenhäuser müssen gebaut werden — weil Experten behaupten, nur auf diese Weise könnten die Segnungen der medizinischen Kunst breit verteilt werden. Kinder müssen in der Schule Fluortabletten schlucken — weil Experten behaupten, dadurch werde die Karies bekämpft.»(6)
In der Tat neigen Experten häufig dazu, Sachzwang-Ideologie als Waffe zu benutzen: Sie können, wenn sie etwas für wünschenswert halten, notfalls nachweisen, daß es so und nicht anders sein muß, daß alles andere illusionär, unrealistisch, schädlich ist, und sie können, wenn sie etwas verhindern wollen, schwer widerleglich dartun, daß es so beim besten Willen nicht geht. Das mag bei den Experten im Parlament, in Verbänden oder Medien noch angehen, denn ihre Meinung muß j a im Feuer der Kritik sich härten. Schwierig wird es, wenn Experten mit administrativer Macht ausgestattet sind, ihren Ministern Vorlagen machen, Reden schreiben, Gesetze entwerfen, also mit ihrem Expertenwissen die von Termin zu Termin hetzenden Politiker manipulieren und notfalls überfahren.
6) Theo Ginsburg, Die Verantwortung der Wissenschaft heute, in: Wissenschaft auf Abwegen, Fellbach 1980, S. 75
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Es wäre reizvoll, einmal zu dokumentieren, wieviel Unsinniges allein die Energieexperten in den Ministerien des Bundes und der Länder ihre Minister im letzten Jahrzehnt sagen und tun ließen — und dies immer mit dem Anspruch: Was andere einwenden, verkennt die Realität und ihre Sachzwänge, denen wir nur so und nicht anders gerecht werden können. Die Zahlen, die da ex cathedra verkündet wurden, waren ausnahmslos falsch, Schlußfolgerungen aus diesen Zahlen nicht weniger. Dies ging so lange, bis die Enquete-Kommission des Bundestages die Sachzwang-Ideologie durchbrach und mit ihren vier — in sich stimmigen — Energiepfaden klarmachte: Es gibt sehr wohl Alternativen, je nachdem, wofür wir uns entscheiden, welche Prioritäten wir setzen, worauf wir unsere Mittel konzentrieren.
Was soll ein Gemeinderat tun, wenn der Experte vom Straßenbauamt ihm erklärt: Dies ist die einzige Trasse, die sich vernünftigerweise bauen läßt, andere Pläne gibt es nicht und kann es nicht geben? Was taten bis vor kurzem die Kreisverordneten, denen Experten mit gelehrten Worten das vollklimatisierte Krankenhaus aufreden wollten, notfalls auch in einem Luftkurort? Und vor allem: Was läßt sich einwenden, wenn alle Wirtschaftsexperten unisono erklären, ohne mindestens 3 oder 4 % Wirtschaftswachstum brächen alle Dämme?
Hier soll nicht noch einmal im einzelnen dargetan werden, wo die Grenzen des Expertentums7 liegen: in der Begrenzung des Blickfelds, im Schubladendenken, in der Blindheit für übergreifende Zusammenhänge, in bewußter oder unbewußter Verflochtenheit mit Interessen.
Sachwalter der Sachzwang-Ideologie werden Experten da, wo sie sich als unfähig erweisen, ihre eigenen — oft auch ideologischen — Prämissen zu durchschauen und in Frage zu stellen, wo sie die eigene Meinung als das einzig Sachgemäße, der Sachgesetzlichkeit Gemäße verstehen und vertreten und jede Gegenmeinung als uninformiert, naiv oder ideologisch motiviert ins Abseits verweisen.
7) Vgl. hierzu die Arbeiten von Ivan Illich, z. B. Fortschrittsmythen, Reinbek 1978, insbes. das Kap. I
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Wenn inzwischen gerade diese Form von Expertokratie sich von Kritik verunsichert und politisch nach rechts gedrängt fühlt, so hat dies seinen guten Grund. Fast alles, was sich in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre bewegt hat, hat sich trotz Expertokratie und gegen Expertokratie bewegt: in der Verkehrspolitik, wo auch die unsinnigste Autobahnplanung oder Streckenstillegung so lange von Experten verteidigt wurde, bis sie sich gegen den Druck aus der Bevölkerung nicht mehr halten ließ; in der Energiepolitik, wo nur dadurch riesige Überkapazitäten im Kraftwerksbau wenigstens teilweise vermieden wurden, daß Bürgerinitiativen und Gerichte, gelegentlich auch politische Gremien, Bauten verhinderten, die von Experten als absolut lebenswichtig deklariert worden waren, Experten, die allesamt in ihrem Bedürfnis nach Kontinuität die Warnschilder der Zäsur übersehen hatten.
Wer die Ideologie von den Sachzwängen überwinden will, wird auch der Expertokratie zu Leibe rücken müssen, einmal dadurch, daß sich alternatives Expertenwissen sammelt, sich Gehör verschafft und die Diskussion wieder öffnet, zum anderen durch jenes «Expertentum aller Laien», das Klaus Müller(8) analog zu Luthers Priestertum aller Gläubigen proklamiert hat.
Nur wenn der Bürger selbstbewußt genug ist, wirkliche oder angebliche Experten mit sehr simplen Fragen zu konfrontieren, ohne die Angst, lächerlich gemacht zu werden, läßt sich eine öffentliche Diskussion auch über Fragen erzwingen, die allzu lange die Experten unter sich abgemacht haben.
Experten pflegen sich - und dies oft zu Recht - auf Wissenschaft zu berufen, ein Hinweis, der seine Wirkung nicht verfehlen kann in einer Gesellschaft, wo, zumindest in der mittleren und älteren Generation, der Glaube an die Wissenschaft sich als die zäheste, widerstandsfähigste aller Überzeugungen erwiesen hat. Dieser Glaube schließt auch den Träger der Wissenschaft, den Wissenschaftler ein.
8) Klaus Müller, Die präparierte Zeit, Stuttgart 1972
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Wilhelm Just überzeichnet wenig, wenn er sagt:
«Der Naturwissenschaftler wird als Diener einer anderen, höheren Wahrheit betrachtet. Man glaubt, er stehe hoch über allzu menschlichen Schwächen, Unsicherheiten und Begierden. Seinen Aussagen wird ein scheues, schier unbegrenztes Vertrauen entgegengebracht: Er wird durch die noch zu findende saubere und nie versiegende Energiequelle Hunger und Not bezwingen, er wird durch den medizinisch-technischen Fortschritt Seuchen und Krankheiten ausmerzen, und er wird uns durch unbegrenzte Informations- und Transportmittel von den Fesseln des Unwissens und der Gebundenheit befreien, kurz: Er wird die Welt in den Griff bekommen und die <Schöne Neue Welt> schaffen.»9
Heute, wo dieser Glaube ins Wanken gerät, werden auch Mißverständnisse erkennbar, die man sich in den oberen Rängen der Wissenschaft eher gefallen ließ, als daß man ihnen anhing: der Irrglaube vor allem, es gebe die wissenschaftlich nachweisbar richtige politische Entscheidung. Dieses Mißverständnis entsteht da, wo weder die Funktion der Wissenschaft noch die der Politik ausreichend überdacht werden.
Wissenschaft hat, zumindest nach ihrem Selbstverständnis, die Aufgabe zu erkennen, Erkenntnis zu gewinnen. Man kann dies auch mit Carl F. von Weizsäcker etwas weniger anspruchsvoll ausdrücken: «Man kann sagen, der Wissenschaftler habe das Privileg, seine kindliche Neugier ins erwachsene Leben hinüberzuretten und zum Beruf zu machen.»10)
Auch wenn man Weizsäckers Forderung unterstützt, die Wissenschaft müsse sich endlich ihrer Verantwortung dafür stellen, daß es einen «Zusammenhang von Erkenntnis und Weltveränderung»11) gibt, ändert dies nichts daran, daß Politik die Aufgabe haben muß, auf Grund von Erkenntnissen, politischen Zielen und Wertvorstellungen, Interessenkonstellationen und Machtverhältnissen ihre Entscheidungen zu treffen. Für den Politiker ist die Frage: «Was kann ich erkennen?» nur eine von vielen. Andere sind zumindest nicht weniger wichtig: Welche Entscheidung entspricht meinen Vorstellungen von Gesellschaft? Was sind die Folgen meiner Entscheidung auf kurze oder längere Frist?
Was kann ich durchsetzen? Was verschafft mir Macht, was gefährdet meine Macht? Welchen Interessen gebe ich den Vorrang? Was läßt sich den Wählern vermitteln?
9) Wilhelm Just, Wissenschaft, ein Spiegel unserer Angst, in: Wissenschaft auf Abwegen, a. a. O., S. 35
10) Die Zeit Nr. 42/1980, S. 33
11) a. ebenda, S. 33
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Politische Entscheidungen lassen sich wissenschaftlich dadurch vorbereiten, daß der — notwendig fragwürdige — Versuch gemacht wird, Handlungsalternativen durchzuspielen. Aber politische Entscheidungen lassen sich mit dem Instrumentarium der Wissenschaft nicht treffen, nicht einmal nachträglich begründen. Sachzwänge werden da produziert, wo wissenschaftlich geschulte Experten und politisch Verantwortliche sich über ihre Funktionen täuschen, wo der Politiker von der Wissenschaft etwas erwartet, was sie niemals liefern kann und wo der Wissenschaftler nicht das gelassene Selbstbewußtsein aufbringt, den Politiker auf die engen Grenzen seiner Entscheidungshilfe hinzuweisen. Sogar wenn es die eine wissenschaftliche Wahrheit gäbe — und auch daran gibt es Zweifel, nicht nur in der Ökonomie, sondern bis in die Naturwissenschaften hinein —, dann wäre damit die politische Entscheidung noch längst nicht determiniert.
Wer sich jedoch daran erinnert, welche längst widerlegten Thesen in den letzten Jahrzehnten mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit aufgetreten sind, ist versucht, die radikalen Zweifel von Michael Grupp zu teilen:
«Ganz klar, daß es praktisch ist, eine (eben heute die wissenschaftliche) Vernunft auf den Sockel der Vernunft an sich zu stellen: Wirkliche Interessen verschwinden so hinter einem Schleier scheinbarer Objektivität und werden damit unangreifbar. Wer diese zum Mythos erhobene eine Vernunft kontrolliert, der herrscht damit über nichts weniger als die Realität: Das waren die, die im Mittelalter bestimmten, wer vom Teufel besessen war und aus wem Gottes Stimme sprach; und das sind heute die, die bestimmen, was wissenschaftlich ist und was nicht. Zum Glück für alle Betroffenen beginnt sich heute der wissenschaftliche Klerus zu spalten.»12)
12) Michael Grupp, Vernunft als Tarnkappe für Interessen, in: Wissenschaft auf Abwegen, a. a. O., S. 11
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Sachzwang Wachstum?
Was ist Wachstum?
Wenn es auch ein knappes Jahrzehnt nach dem bahnbrechenden, von Otto Brenner vorbereiteten Kongreß der IG Metall in Oberhausen(13) noch fast unmöglich erscheint, über Inhalt, Richtung und Umfang wirtschaftlichen Wachstums ohne Unterstellungen, mehr oder minder gewollte Mißverständnisse, vor allem nicht ohne immer neu aufwallende Emotionen zu sprechen, so hat dies seinen guten Grund: Hier bewegen wir uns hart am Nerv unseres Systems, genauer gesagt, der beiden großen Systeme, die miteinander nicht zuletzt um höhere Wachstumsraten konkurrieren.
Politische Führung, politische Macht rechtfertigt sich in hohem Maße durch den Anspruch, Wirtschaftswachstum zu garantieren , zu fördern, notfalls zu «machen». So wird aus politischem Legitimationszwang der Sachzwang: Ohne ein Wachstum von x Prozent (wobei das x vor Jahren noch bei 5 lag und nun schon bei etwa 3 angelangt ist) werde das Heer der Arbeitslosen immer weiter anschwellen, das Netz der sozialen Sicherung reißen, würden Verteilungskämpfe die Gesellschaft zerfleischen, könnten wir den armen Entwicklungsländern nicht mehr helfen und vor allem: Unser Wirtschaftssystem müsse zusammenbrechen.
Im vergangenen Jahrzehnt ist eine ganze Literatur darüber entstanden, wie wenig der Maßstab des Bruttosozialprodukts darüber Auskunft geben kann, wie es den Menschen wirklich geht. Die gründlichste Studie dazu hat wohl Alois Steiger14 vorgelegt. Steiger weist nach, daß die Sozialproduktrechnung weniger die Wohlfahrt als den «monetären Aufwand»15 mißt, was zu dem Ergebnis führt:
13) Vom 11. bis 14. 4. 1972 fand in Oberhausen eine internationale Arbeitstagung zum Thema Lebensqualität statt, die die Diskussion um das Verhältnis von Bruttosozialprodukt, Lebensstandard und Lebensqualität eröffnete. Die Referate dieser Tagung sind festgehalten in zehn Bänden Qualität des Lebens, Frankfurt 1972
14) Alois Steiger, Sozialprodukt oder Wohlfahrt, Diessenhofen 1979
15) ebenda, S. 159
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«Somit bleibt nach wie vor die Frage offen, ob ein größeres Sozialprodukt im Vergleich zu einem kleineren Sozialprodukt ausschließlich oder teilweise auf eine bessere Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen oder nur auf eine schlechtere wirtschaftliche Effizienz zurückzuführen ist.»16
Steigers Einzelberechnungen führen ihn zu dem Schluß:
«Je nach den in die Untersuchung einbezogenen Grundlagenstudien und Berechnungsmethoden sind die Hälfte bis zwei Drittel des jetzigen Bruttosozialprodukts als wohlfahrtsfragwürdig anzusehen. Der wohl größere Teil des Bruttosozialprodukts besteht aus reinen Produktionsvoraussetzungskosten und Produktionsfolgekosten.»17
Steigers These, daß der Anteil des wohlfahrtsfragwürdigen Wachstums immer größer, der des wohlfahrtsfördernden Wachstums immer kleiner werde, läßt sich an täglichen Erfahrungen erhärten. Wenn unsere Felder — ebenso wie das Vieh — mit immer mehr Chemikalien traktiert werden, so ist dies Wachstum. Wenn dadurch — vielleicht nur vorübergehend — mehr Weizen geerntet oder Kälber gemästet werden, so schafft dies Wachstum. Wenn dadurch mehr Überschüsse in Kühlhäusern gelagert werden, schlägt sich dies in Wachstum nieder. Wenn für die Kühlhäuser mehr Strom gebraucht wird, ist dies Wachstum, wenn dafür neue Kraftwerke gebaut werden müssen, ist dies noch einmal Wachstum. Und so weiter. Aber all dies ist letztlich Aufwand, den der Bürger zu bezahlen hat, sei es als Steuerzahler, der den nationalen und den EG-Haushalt mit seiner Mehrwertsteuer finanziert, sei es als Verbraucher, der die überhöhten Preise zu entrichten hat, ohne die eine solche Überproduktion kaum entstünde, ganz abgesehen von den Rückständen in der Nahrung, die er als Beigabe erhält.
Mit Beispielen dafür, wie Wachstum immer häufiger nicht in der besseren Befriedigung von Bedürfnissen, sondern in immer unsinnigerem und komplizierterem Aufwand besteht, ließe sich ohne Schwierigkeifen ein Buch füllen. Wichtiger ist, die ideologischen Grundlagen der Sozialproduktmessung und damit der Wachstumsrechnung bloßzulegen. Auch statistische Messungen haben oft ideologische Prämissen, und diese sind um so gefährlicher, je weniger man sie vermutet und je schwerer sie sich nachweisen lassen.
16) ebenda,S.185
17) Dieses Zitat stammt aus einem Vortrag von Steiger aus dem Jahre 1980
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Es sind vor allem zwei — letztlich in der Ideologie des bürgerlichen Industrialismus verwurzelte — Vorstellungen, die diesen Maßstab geeicht haben:
Erstens: Wachstumsrechnungen gehen davon aus, daß nur zählt, was am Markt mit Geld bewertet wird. Ein großer Teil der Güter und Leistungen, von denen wir leben, wird aber nicht am Markt angeboten und in Geld bewertet: die Arbeit der Hausfrau, die Hilfe des Nachbarn, die Früchte des eigenen Gartens, die vielen kleinen Dienste, die tagtäglich Gesundheit erhalten oder wiederherstellen, Bildung vermitteln, Kommunikation ermöglichen, das Alter erträglich machen. Eigenarbeit im Sinne von Christine und Ernst von Weizsäcker18) existiert für dieses ökonomische Denken nicht.
Wachstum besteht daher häufig in der Kommerzialisierung von Leistungen, die vorher ohne Geldtransfer erbracht wurden. So ergibt sich ein beträchtlicher Teil des Wachstums in Entwicklungsländern daraus, daß Bedürfnisse, die Millionen von Kleinbauern vorher in Subsistenzwirtschaft befriedigt haben, nun über den Markt — und nicht in jedem Fall besser — gedeckt werden. Wenn Menschen in Westafrika durch teure Werbung — die natürlich auch in die Wachstumsstatistik eingeht — dazu gebracht werden, ihren letzten Groschen für Coca-Cola auszugeben und ihre traditionellen Säfte für minderwertig zu halten, so ist dies Wachstum, Erhöhung des Lebensstandards und wird von Entwicklungsökonomen stolz als Fortschritt ausgegeben.
Die erste ideologische Prämisse der Wachstumsstatistik ist also, daß der homo oeconomicus seine Bedürfnisse nur über den Markt befriedige: Die Absolutsetzung des Marktes.
Die zweite Prämisse möchte ich die individualistische nennen. Für die Statistik existieren im Grunde nur die Gesamtökonomie und das Individuum. Dividiert man das Bruttosozialprodukt durch die Zahl der Einwohner, so erhält man das Pro-Kopf-Einkommen, aus dem sich der Lebensstandard ergibt. Aber dies ist eine Fiktion. Meist konsumiert nicht das isolierte Individuum, Konsum findet statt in Familien, Gruppen, Gemeinschaften, Dörfern, Städten.
18) C. u. E. von Weizsäcker: Für ein Recht auf Eigenarbeit, in: Technologie und Politik 10 (roak4265), 1978, S. 185 ff, und dies., in: J. Huber: Anders arbeiten, anders wirtschaften, Frankfurt 1979, S. 91 ff
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Daher sind wir immer gleichzeitig Konsumenten und vom Konsum anderer Betroffene. Die Zigarette des einen ist der Kopfschmerz des anderen, der Motormäher des einen ist die Nervenbelastung vieler Nachbarn, das Auto des einen ist das Hindernis, die Belästigung des anderen, der geteerte Feldweg für den Bauern ist das Ärgernis des Wanderers, das Haus des einen versperrt anderen die Aussicht.
Diese individualistische Prämisse, die den homo oeconomicus auch noch isoliert, liegt wohl bis zum heutigen Tag unserer Volkswirtschaftslehre zugrunde. Sie hat dazu geführt, daß wir erst 1976 durch Fred Hirsch auf die sozialen Grenzen des Wachstums19 aufmerksam gemacht wurden.
Ist exponentielles Wachstum erreichbar?
Einsichten in die Fragwürdigkeit der Wachstumsrechnung waren bisher nur imstande, die politische Diskussion noch undurchsichtiger zu machen. Denn einerseits verabschieden nun Parteitage reihenweise Resolutionen, wonach Wachstum kein politisches Ziel sein könne. Andererseits treffen sich die Regierungschefs der wichtigsten OECD-Länder und teilen sich gegenseitig Wachstumsraten zu, für deren Erreichung sie einzustehen haben, notfalls durch zusätzliche fiskalische Wachstumsspritzen. Und je dürftiger die Wachstumsraten werden, desto verzweifelter wird der Wunsch, Wachstum zu schaffen, auch wenn es nur im Bau von U-Booten für lateinamerikanische Militärregime besteht.
Der Erfolg der Wachstumsdiskussion ist bislang nur das klägliche Auseinanderklaffen von Praxis und Theorie, genauer: von neuer Theorie und alter Praxis.
Auch wer Wachstum, ganz gleich, woraus es besteht, für unerläßlich hält, kann sich nicht vor der Frage drücken, ob solches denn mittelfristig auch erreichbar sei. Wenn ohne 3 oder 4% Wachstum unser Wirtschaftssystem zusammenbricht — und sogar C. F. von Weizsäcker20) rechnet mit einem Minimum von 3 bis 4 % —, dann lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob dies möglich sei.
19) Fred Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek 1980
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Horst Afheldt hat dazu 1978 in einer wenig beachteten Studie21) eine einleuchtende These aufgestellt: Exponentielles Wachstum, also ein länger andauernder jährlicher Zuwachs um eine etwa gleichbleibende Prozentzahl, hat es nie über längere Zeit gegeben und dürfte daher auch künftig kaum zu erwarten sein. Afheldt verweist nicht nur darauf, wie exponentielle Wachstumskurven rasch ins Absurde führen, er untersucht die Wachstumsraten in der Bundesrepublik seit 1950 und kommt, wenn er von den konjunkturellen Schwankungen absieht, zu dem Schluß, daß es auch bei uns kein exponentielles, sondern ein lineares Wachstum gab, daß also die Wachstumsraten in dem Maße abnahmen, wie das Sozialprodukt, die Ausgangsbasis, zunahm, so daß das Wachstum in absoluten Größen immer etwa gleich blieb. Betrugen die Wachstumsraten von 1950 bis 1955 im Schnitt noch etwa 10 %, so fielen sie im nächsten Jahrfünft auf etwa 7 %, von 1960 bis 1965 auf 5 %, in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auf 4%, während sie im Lauf der siebziger Jahre von ca. 3,5 in der ersten Hälfte auf ca. 3 % in der zweiten Hälfte absanken.
Afheldt schließt daraus, daß die Wachstumsraten sich im Schnitt der achtziger Jahre in Richtung auf 2 Prozent bewegen, 1990 wären wir bei 2,18 %, im Jahr 2000 bei 1,79 %.
Nun hat jede Extrapolation ihre Tücken, auch diese; nur scheint die Annahme linearen Wachstums bei weitem realistischer zu sein als die eines exponentiellen.
Inzwischen haben die meisten Forschungsinstitute stillschweigend die Thesen Afheldts insofern übernommen, als fast alle mit abnehmenden Wachstumsraten rechnen. Interfutures, das für die OECD arbeitet, rechnet für die Bundesrepublik bis 1990 noch mit ca. 3 %, im folgenden Jahrzehnt mit 2,1 % während der Euro-Report von Prognos von 1978 bis 1990 der Bundesrepublik Raten von 2,7 bis 2,5 % voraussagt.
Schließlich legt die Enqu4te-Kommission des Deutschen Bundestages zur zukünftigen Kernenergiepolitik für ihren Energie-
20) C. F. von Weizsäcker, Friedliche Nutzung der Kernenergie -Chancen und Risiken, in: S. de Witt und H. Hatzfeld, Zeit zum Umdenken, Reinbek 1979 (roak 4521), S. 30
21) Horst Afheldt, Disposition Wachstum?, Manuskript vom Sept. 1978
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pfad 1 für die nächsten zwanzig Jahre ein Wirtschaftswachstum von 3,3 %, vom Jahr 2000 ab von 1,4 % zugrunde, für die Pfade 2-4 nur noch 2,0% bis zum Jahr 2000, dann noch ganze 1,1%, also wesentlich weniger, als nach Afheldts Projektion zu erwarten wäre.
Wer also den großen Zusammenbruch erwartet, wenn die Wachstumsraten nicht konstant bleiben, sondern im Trend sinken, wer Unheil prophezeit, wenn die Wachstumsraten unter 3,5 oder 3 % fallen, tut gut daran, sich innerlich auf den großen Kladderadatsch vorzubereiten — oder ganz neu nachzudenken.
Qualitatives Wachstum — eine Leerformel?
Nachdem sich herumgesprochen hatte, daß Wirtschaftswachstum nicht nur heilsame Folgen hat, kam der Begriff des qualitativen Wachstums auf, er wird manchmal sogar — zu Unrecht — auf dem Konto des Autors verbucht.
Kaum ein anderer Begriff — sicher nicht der verwandte, inzwischen eher präzisierte Begriff der Lebensqualität — ist so unscharf, klingt so sehr nach Entschuldigung und läßt sich so bequem als Tarnung gebrauchen, hinter der die alte Wachstumspolitik mehr oder minder fröhlich weiterbetrieben werden kann. «Wir brauchen Wachstum, aber natürlich qualitatives» — das läßt sich hören. Es befriedigt manchen Zweifler und beruhigt, zumal wenn es mit einem Augenzwinkern verbunden ist, auch solche, die an der Fortführung globaler Wachstumsstrategien interessiert sind.
Schließlich hat jedes Wachstum seine Quantität und seine Qualität, und solange nicht gesagt wird, welche Qualität nach welchen Kriterien angestrebt wird, bleibt die Forderung nach qualitativem Wachstum eine Leerformel. Entweder man will auswählen — selektieren —, was wachsen soll, oder man will es nicht. Die Vorstellung, man könne vier oder fünf Prozent Wachstum anstreben, «aber natürlich qualitatives», beruht im besten Fall auf Selbsttäuschung. Sobald nämlich ein quantitatives Wachstumsziel gesteckt ist, wird damit auch über die Qualität mitentschieden, und sei es nur dadurch, daß die Entscheidung anderen überlassen wird.
Wer bestimmte Wachstumsraten anstrebt, entscheidet über Inhalt und Richtung des Wachstums, indem er nicht entscheidet, indem er also die Entscheidung bei denen beläßt, die für die Rendite ihres Kapitals verantwortlich sind.
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Wie schwer eine solche Einsicht zu vermitteln ist, mußte Professor Scherhorn erfahren, als er bei der Abfassung des Jahresgutachtens 1977/78 im «Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung» die anderen vier Weisen davon zu überzeugen versuchte. Es blieb ihm nichts übrig, als seine abweichende Meinung dann im Gutachten, Ziffer 480, selbst darzustellen:
«Die Mehrheit des Sachverständigenrates hält es für die vorrangige Aufgabe der Wirtschaftspolitik, für ein beschleunigtes Wachstum des Produktionspotentials zu sorgen. Denn erstens seien bei geringem Wachstum die Verteilungsprobleme schwerer zu lösen, und zweitens werde der Gesellschaft und den einzelnen durch Wachstum am ehesten die Chance gegeben, sich zwischen mehreren Lebensformen zu entscheiden, einschließlich solcher, die auf Wachstum nicht angewiesen sind.
Es ist nicht einfach, eine Gegenposition unmißverständlich darzulegen. Das Mißverständnis, das fast automatisch auftritt, erwächst aus dem Vorurteil, jedes Argument gegen eine Politik des verstärkten Wachstums laufe letzten Endes auf Bevormundung hinaus; auf Entzug von Chancen; auf Schaffung vollendeter Tatsachen, bevor noch die Präferenzen der Menschen sich Geltung verschafft haben. Dieses Vorurteil hält viele davon ab, sich der Diskussion über die Inhalte künftigen Wachstums zu stellen, weil sie schon die Fragestellung unangemessen finden. Es spricht aber vieles dafür, daß über die Inhalte künftigen Wachstums auch dann entschieden wird, wenn man diese Fragestellung ausdrücklich nicht zuläßt.
Die Entscheidung, über die Nebenfolgen einzelner Technologien erst nachzudenken, wenn sie eingetreten sind, oder die Entscheidung, die Gestaltung der Städte und Landschaften den je einzelnen Bauherren und Architekten zu überlassen, beeinflußt die Chancen der freien Wahl zwischen alternativen Lebensformen anders, aber nicht weniger als die Entscheidung, die Einführung neuer Technologien an Auflagen über die Vermeidung bestimmter Nebenfolgen zu binden oder Regeln für die äußere Form von Bauwerken im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Umgebung aufzustellen. Jede Entscheidung, die heute über das künftige Wachstum getroffen wird, schränkt spätere Wahlchancenein. Eine Entscheidung für Wachstum schlechthin gibt es nicht; sie bestimmt stets zugleich auch über die Art des künftigen Wachstums mit.
Dies geschieht nur dann nicht unreflektiert, wenn der Entscheidung über die Bedingungen eines angemessenen Wirtschaftswachstums explizit formulierte, öffentlich diskutierte Vorstellungen darüber zugrunde liegen, welchen Weg die wirtschaftliche Entwicklung nehmen wird.» 22)
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Wenn hier so ausführlich Scherhorn zitiert wurde, so vor allem, weil diese Ziffer 480 im Jahresgutachten 1977/78 eines Tages einen Wendepunkt im nationalökonomischen Denken markieren könnte. Solange Inhalt, Richtung und damit Qualität des Wachstums kein Problem waren, weil Wachstum an sich gut erschien, konnte es die Volkswirtschaft dabei bewenden lassen, über Methoden der Wachstumsförderung nachzudenken.
Was geschieht, wenn Scherhorns Einsicht sich durchsetzt, daß jede Entscheidung über quantitative Wachstumsziele auch die — oft negativen — Qualitäten schon programmiert?
Globale Anreize für Investitionen, etwa die undifferenzierte Investitionszulage, wirken vor allem da, wo ohnehin investiert wird, also in den Wachstumsbranchen. Anreize für den Konsum, etwa Steuersenkungen, regen den Verbrauch da an, wo er ohnehin am regsten ist. Über die Qualität wird politisch entschieden, indem nicht entschieden wird. Wichtiger noch: Wer politisch quantitative Ziele setzt, muß sich an die Wachstumsmotoren halten, die sich anbieten. Die Wachstumsziele für die zweite Hälfte der siebziger Jahre schlossen von vornherein alles aus, was den Automobilboom hätte bremsen können: Die Verkehrspolitik wurde zum Büttel der Wachstumspolitik. Ein wirklich durchgreifendes Chemikaliengesetz verbietet sich von selbst, wenn der Wachstumsmotor Chemie nicht gedrosselt werden darf. Eine neue Energiepolitik läßt sich schwer durchsetzen, solange der Verzicht auf den Bau eines Kernkraftwerkes vor allem als Verzicht auf Wachstum verstanden und beklagt wird.
22) In: Jahresgutachten 1977/78 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Minderheitsvotum Prof. Scherhorn, Seite 190, Bundestagsdrucksache 8/1221
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Wo bestimmte Wachstumsraten zum Ziel von Politik werden , schafft Politik sich selbst die Sachzwänge, denen sie dann — gedankenlos oder auch wehklagend — zu folgen hat. Es geschieht nur noch, was der Konjunktur dient. Politik schrumpft zur Konjunkturpolitik. Wer nur — und dies mit aller Kraft —erreichen will, daß etwas wächst, nimmt in Kauf, daß über die Frage, was wachsen soll, in den Chefetagen transnationaler Konzerne entschieden wird.
Staatliches Handeln gerät in den Zwang, hinter den Folgen dieser Entscheidungen herzukeuchen. Es wird auf wenige, vom Wachstumsprozeß abhängige, ihn begleitende und stützende Funktionen reduziert:
1. Die Anstoßfunktion
Dazu gehört die Konjunkturpolitik im engen Sinne, Steuersenkungen, Investitionsanreize, Bauprogramme, die Geld- und Zinspolitik der Bundesbank, aber auch die Forschungsförderung , soweit sie sich nicht getraut, auch Kriterien für die Auswahl zwischen technischen Alternativen zu ermitteln.
2. Die Abstützungsfunktion
Sie umfaßt die Beseitigung von Wachstumshemmnissen und die Bereitstellung von Infrastruktur für Wachstumsbranchen (Autobahnen oder Verkehrspolizei für Automobilindustrie, Verkabelung durch die Bundespost für Kabeltechnik, etc.). Aber auch das ganze Instrumentarium der Exportförderung hat diese Funktion.
3. Die Kugellagerfunktion
Dazu gehört alles, was die Reibungsverluste beim Wachstumsprozeß verringert, also gesetzliche Regelungen, bürokratische Koordinierung, Konfliktbereinigung. Auch auf das Bildungswesen strahlt diese Kugellagerfunktion aus: Es soll Menschen liefern, die sich in die Wachstumsgesellschaft einfügen und in der Lage sind, den Wachstumsprozeß voranzutreiben. Bildung wird Mittel zum Zweck.
4. Die Absicherungsfunktion
Sie reicht von der klassischen Aufgabe der inneren und äußeren Sicherheit bis hin zum «Wachstum unter Polizeischutz», für das die Beispiele sich mehren (Wyhl, Gorleben, Frankfurt). Sie umschließt aber auch die Sicherung vor akuten Umweltgefahren, zum Beispiel alles, was zur Überprüfung von Lebensmitteln auf Giftstoffe, zur Einhaltung von Höchstgrenzen bei der Verschmutzung von Luft und Wasser geleistet werden muß.
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5. Die Reparaturfunktion
Dazu wären große Teile des Umweltschutzes zu rechnen, soweit er nur bereits Zerstörtes reparieren soll, aber auch der riesige, technisch perfekte und mehr auf Reparatur als auf Heilung ausgelegte Medizinbetrieb, Trinkerheilstätten, Drogenkliniken, psychiatrische Anstalten, Rehabilitationszentren, Unfallkrankenhäuser, Rettungsdienste.
6. Die Entsorgungsfunktion
Sie umfaßt die Abfallbeseitigung bis hin zur Entsorgung von Atomkraftwerken. Dazu wird man wohl auch — so unmenschlich diese Bezeichnung klingen mag — einen guten Teil der sozialen Sicherung rechnen müssen: die Sorge für die Menschen, die unter die Räder der Wachstumsgesellschaft gekommen sind, die wachsende Zahl der Frührentner, unheilbar Kranken, Ausgeflippten, für die unzähligen menschlichen Wracks, die am Rande der Wachstumsstraße liegenbleiben.
Was hier völlig fehlt, ist die Steuerungs- und Lenkungsfunktion. Sie hat hier keinen Platz. Wo Politik zuerst Quantitäten anstrebt, bleiben staatlichem Handeln nur abgeleitete, begleitende Funktionen, bleibt es bei dem krampfhaften Bemühen, einigermaßen — und immer unzureichender — mit Zwängen zurechtzukommen, Zwängen, die anderswo ausgelöst werden.
Wenn Politik wirklich, wie Hans Matthöfer es formuliert hat, damit zu tun hat, wie wir leben wollen, dann wäre zu fragen, ob, was sich auf diese sechs Funktionen reduzieren läßt, noch die Bezeichnung Politik verdient.
Die Frage, ob politisch mitentschieden werden kann, was wachsen soll und was nicht, ist daher letztlich die Frage nach Rang, Inhalt und Aufgabe von Politik.
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Kosten des Wachstums
Die Reduzierung der Staatstätigkeit auf Begleitung, Stützung und Absicherung eines anderswo gesteuerten Wachstumsprozesses bedeutet keineswegs die Reduzierung der Kosten, die der öffentlichen Hand daraus erwachsen. Im Gegenteil: Bei jeder der beschriebenen Funktionen ließe sich nachweisen, daß ihre Kosten rascher wachsen als das Sozialprodukt. Wo staatliches Handeln Inhalt und Richtung des Wachstumsprozesses sich selbst und damit den ökonomisch Stärksten überläßt, wo der Staat sich mit seiner Beschränkung auf Anstoßfunktion, Abstützungsfunktion, Kugellagerfunktion, Absicherungsfunktion, Reparaturfunktion und Entsorgungsfunktion abfindet, geraten die öffentlichen Haushalte notwendig ins Defizit. Dies der Fähigkeit oder Unfähigkeit des einen oder anderen Finanzministers oder der einen oder anderen Partei anzulasten, ist entweder naiv oder Polemik wider besseres Wissen. Dasselbe gilt, wenn Bund, Länder und Gemeinden sich gegenseitig die Schuld dafür zuschieben wollen.
Martin Jänicke23 hat die Ausgaben der wichtigsten kapitalistischen Industrieländer zwischen 1965 und 1975 für vier Bereiche untersucht: Bildung, Gesundheit, Innere Sicherheit und Umweltschutz. Dabei stellt sich heraus, daß sich diese Ausgaben in den Etats der USA in zehn Jahren von 6,3 % auf 9,3% des Bruttosozialproduktes erhöht haben, in Großbritannien, dessen Gesundheitsdienst unmittelbare Staatsaufgabe ist, von 9,4 auf 13,6%, in der Bundesrepublik von 7,3 auf 9,9%. Im Schnitt läßt sich also sagen, daß die Aufwendungen allein für diese vier Bereiche sich in zehn Jahren um ca. 3 % des Bruttosozialprodukts erhöht haben, unabhängig davon, ob ein Land von eher konservativen oder eher progressiven Kräften regiert wurde. Als Vergleich dazu mag dienen, daß alle diese Länder außerstande waren, in dieser Zeit ihre Mittel für Entwicklungshilfe auch nur um 0,3% des Bruttosozialprodukts, also ein Zehntel dieses Zuwachses, anzuheben.
In der Bundesrepublik fällt zusätzlich ins Gewicht, daß die Leistungen der gesetzlichen und privaten Krankenkassen von 1965 bis 1975 von 7,3% auf 10,8% des Bruttosozialproduktes hochschnellten, also um 3,5%. Wieder zum Vergleich: Die Kosten für unseren Medizinbetrieb stiegen Jahr für Jahr um eine Summe, die höher war als unsere gesamte staatliche Entwicklungshilfe. Heute wird etwa jede siebte Mark für ein Gesundheitswesen ausgeworfen, das nicht verhindern kann oder gar dazu beiträgt, daß Krankenziffern, Krankenhausaufenthalte und vor allem die Zahl der Frühinvaliden stetig ansteigen.
23) Martin Jänicke, Wie das Industriesystem von seinen Mißständen profitiert, Opladen 1979
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Jänicke gibt dafür einige Gründe:
«1. Ein wachsender Teil der Krankheiten und Todesursachen der Industriesysteme ist gesellschaftlich verursacht und nur gesellschaftlich zu verhindern.
2. Der technokratische Gesundheitsapparat, der mit dieser Krankheitsentwicklung seine Kostensteigerung legitimiert, ist seinem ganzen arbeitsteiligen Selbstverständnis nach auf Maßnahmen der Symptombekämpfung beschränkt (zu denen auch die Früherkennung gehört).
3. Diese Maßnahmen sind weitgehend erfolglos und erzeugen teilweise sogar eigene Krankheitseffekte (Iatrogenese).» 24)
Ähnlich ist wohl das Verhältnis von Aufwand und Erfolg in der Bildung. Die Kosten dafür stiegen im angegebenen Zeitraum in der Bundesrepublik von 3,3% auf 5,0% des Bruttosozialprodukts. Dadurch wurde das Bildungsangebot breiter, mehr junge Menschen fanden den Weg zur Hochschule. Daß dadurch allerdings die Misere unseres Bildungswesens behoben worden wäre, behauptet heute niemand mehr. Vielleicht läßt sich ein Bildungswesen, das sich als Zubringerdienst für die Wachstumsgesellschaft definieren und abrichten lassen muß, gar nicht sanieren, ganz gleich, wieviel Geld man darin investiert.
Die Kosten für innere Sicherheit sind deshalb schwer zu ermitteln, weil die Industrie immer mehr dazu übergeht, sich und ihre Führungskräfte selbst zu schützen. US-Unternehmen haben 1977 immerhin 7 Mrd. Dollar für die Sicherheit ihrer Anlagen und ihres Personals ausgegeben, das war zu dieser Zeit knapp die Hälfte des deutschen Wehretats.
In der Bundesrepublik waren 1978 etwa 300.000 öffentlich Bedienstete für innere Sicherheit zuständig. Gleichzeitig schätzt man die Zahl derer, die für Wachdienste, Werk- und Begleitschutz privat angestellt waren, auf über 150.000, für 1990 erwartet man eine Viertelmillion. Obwohl also der Staat seine Ausgaben für innere Sicherheit rasch steigert, kann er doch Sicherheit nur so unvollständig gewährleisten — die Zahl der Straftaten steigt, die Aufklärungsziffer sinkt —, daß diese klassische Staatsaufgabe sich immer mehr zur privaten Wirtschaft hin verlagert. Wenn nicht alles täuscht, wird in zehn Jahren die Bundeswehr nur noch doppelt so viele Soldaten umfassen, wie die Privatwirtschaft an Sicherheitspersonal beschäftigt.
24) ebenda, S. 87
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Nicht wesentlich anders steht es mit dem Umweltschutz. Die westlichen Industrieländer gaben 1975 für Umweltschutz zwischen einem und zwei Prozent ihres Sozialproduktes aus, mit steigender Tendenz. Trotzdem rechnet man die Kosten nicht verhinderter Umweltschäden auf drei bis fünf Prozent des Bruttosozialprodukts.
Es ist also nicht verwunderlich, wenn die öffentlichen Haushalte aus ihren strukturellen Defiziten nicht herauskommen. Das Kurieren an Symptomen der Wachstumsgesellschaft wird um so teurer, je weniger es nützt. Kein Finanzminister weiß, wie er seinen Haushalt ausgleichen soll, wenn Alvin Toffler recht hat:
«Der Anteil des Bruttosozialprodukts, den man aufwenden muß, um Konflikte beizulegen, Verbrechen zu bekämpfen, Verbraucher und Umwelt zu schützen, für eine immer umfassendere bürokratische Koordinierung zu sorgen und das soziale Gleichgewicht möglichst zu erhalten, beginnt progressiv zu steigen.»25)
Dies heißt: Die finanziellen Früchte des Wachstums reichen bald nicht mehr aus zur Bewältigung der Folgen des Wachstums. Dieser Trend dürfte sich verschärfen, wenn die Hauptwachstumsfelder der Zukunft (nach Interfutures) Chemie und Energieerzeugung sein sollen.
Es wäre ein Wunder, liefe nicht parallel zu dieser Ausweitung der Etats das Ausufern der Bürokratie. Nicht das korrigierende Eingreifen des Staates in den Wachstumsprozeß — dies hat bisher praktisch nicht stattgefunden — läßt das Heer der öffentlich Bediensteten anschwellen, sondern dieser Wachstumsprozeß selbst.
Von rechts wird heute gegen jede politische Wachstumsentscheidung polemisiert mit der Begründung, dies schaffe nur neue Bürokratie. In Wirklichkeit läßt sich nachweisen, was das Wachstum der letzten Jahrzehnte an Bürokratie erzeugt hat. Hier soll dies am Beispiel des Automobils geschehen.
Dabei geht es nicht um Vorzüge und Nachteile des Autos, sondern um den Nachweis, daß gerade der Individualverkehr, der Verkehrsleistungen scheinbar privatisiert, eine große Zahl öffentlicher Dienstleistungen nach sich zieht.
25) Alvin Toffler, Die Grenzen der Krise, Bern/München 1975, S. 51
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• Am 30. 6. 1976 beschäftigten die Straßenbauverwaltungen der Länder 28644 Bedienstete. Nimmt man die Verwaltungen des Bundes und der Gemeinden/Kreise hinzu, so dürfte mindestens dieselbe Zahl noch hinzukommen. Die Zahl 60000 ist nur vorsichtige Schätzung.
• Laut statistischem Jahrbuch 1978 wurden 1976
699.339 Einwohner der Bundesrepublik wegen Straftaten verurteilt;
davon waren 310572 Straftaten im Straßenverkehr, also 44,4%.
Bei den ordentlichen Gerichten und Staatsanwaltschaften waren (am 30.6.1976) 87.473 Beschäftigte tätig;
setzt man — wegen der unterschiedlichen Schwere der Delikte — als Arbeitsaufwand für Verkehrsdelikte nicht 44,4%, sondern nur 25% an, so wären ca. 22.000 Bedienstete an den Gerichten mit Verkehrsdelikten beschäftigt gewesen.
• Im Jahr 1977 gab es im Polizeidienst der Länder 100.518 Bedienstete, davon bei der Kriminalpolizei 19.327 Bedienstete;
von den verbleibenden 81.191 Schutzpolizisten waren ausschließlich in der Verkehrsüberwachung tätig: 11.152;
von der restlichen Schutzpolizei (70.039) war ca. ein Drittel mit Aufgaben beschäftigt, die mit Kraftfahrzeugen zu tun haben (Aufnahme von Verkehrsunfällen, Autodiebstähle, etc.); geht man von 30% aus, so wären dies ca. 21.000 Polizisten.
Insgesamt wären daher ca. 32.000 Polizeibeamte allein im Zusammenhang mit dem Autoverkehr tätig.
• Bei den technischen Überwachungsvereinen waren am 31. 12. 1977 insgesamt 11449 Bedienstete tätig, davon waren 4503 Sachverständige und Prüfer mit der Überprüfung von Kraftfahrzeugen beschäftigt. Rechnet man ca. 50 % des Verwaltungspersonals hinzu, so ergibt sich eine Zahl von 6750 Beschäftigten im Dienste der Kraftfahrzeugüberwachung.
• Geht man davon aus, daß in den 235 Landkreisen und 92 kreisfreien Städten der Bundesrepublik durchschnittlich 10 Bedienstete für Kraftfahrzeugzulassung, Ausstellung von Führerscheinen etc. beschäftigt sind, so ergibt dies ca. 3000 Beschäftigte.
• Zur Eintreibung der Kfz-Steuer sind in den Finanzämtern der Bundesrepublik jeweils 15-20 Bedienstete tätig. Die Gesamtzahl wird meist mit ca. 5000 Beschäftigten angegeben.
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• Am 31.3.1976 verbüßten 37.559 Personen Freiheitsstrafen, davon 2275 für Verkehrsdelikte (7,4 %). Im Strafvollzug waren zu dieser Zeit 20.301 Bedienstete tätig, also ca. 1500 Vollzugsbeamte für Verkehrsdelinquenten.
• Die Verkehrssünderkartei in Flensburg beschäftigt 160 Bedienstete.
• Allein der ADAC beschäftigt in seiner Hauptverwaltung 1500 Personen, im Straßendienst 1000 Personen, in seinen 171 Geschäftsstellen 1200Personen. Dies sind insgesamt 3700 Beschäftigte. Nimmt man die anderen Automobilklubs hinzu, so dürfte die Zahl von 5000 Beschäftigten vorsichtig geschätzt sein.
• Von den 726.846 verfügbaren Krankenbetten unserer Krankenhäuser ist immer ein Teil mit Unfallopfern belegt. 1976 dürften von insgesamt 219 Mio. Pflegetagen ca. 4 Mio. Pflegetage auf 145.728 Schwerverletzte aus dem Straßenverkehr entfallen sein (Verweildauer länger als im Durchschnitt). Für unsere Krankenhäuser waren 1976 etwas mehr als 600.000 Menschen tätig. Nimmt man davon nur 2%, so waren für Folgen des Straßenverkehrs ca. 12.000 Personen tätig.
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Summiert man diese Zahlen, so kommt man auf ca. 140.000 Menschen, die überwiegend mit administrativer Tätigkeit eines der Wachstumsfelder absichern, das in den letzten Jahrzehnten das Gesamtwachstum getragen hat. Noch nicht einbezogen sind dabei die Unfallrettungsdienste und vor allem die Kfz-Versicherungen. Man darf annehmen, daß mindestens ein Drittel der im Versicherungsgewerbe tätigen 221.000 Menschen sich um Kraftfahrzeuge zu kümmern haben.
Klare politische Wachstumsentscheidungen, über die in einem späteren Kapitel zu reden sein wird, brauchen keine neue Bürokratie, sie können Bürokratie einsparen.
Die Überwälzung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer würde nicht nur Energie sparen, sondern auch Beamte für andere Aufgaben freistellen.
Eine Steuer auf Gifte in der Landwirtschaft, beim Erzeuger oder im Rahmen der Mehrwertsteuer erhoben, verlangt keinen zusätzlichen Beamten, aber sie könnte manchen für die Überwachung von Lebensmitteln überflüssig machen.
Eine dezentrale Energieversorgung erübrigt den riesigen Sicherheitsapparat, der für kerntechnische Großanlagen unentbehrlich ist.
In einer modernen Industriegesellschaft wird um so mehr verwaltet, je weniger regiert wird, die Bürokratie wächst in dem Maße, in dem die Regierung handlungsunfähig wird. Wo es gilt, Sachzwänge zu exekutieren, ist nicht politische Phantasie, nicht politische Konfliktbereitschaft gefragt, sondern Bürokratie, eine Bürokratie, die sich schließlich auch noch verbunden fühlt mit den wirtschaftlichen Interessen, denen sie ihre Existenz verdankt. Es wird selten einen für Genehmigung und Sicherheit von Atomkraftwerken zuständigen Beamten geben, der Kernkraftgegner wäre. Das Kurieren an Symptomen liegt schließlich im Interesse der Bürokratie, denn dafür wird sie gebraucht.
Gerda Zellentin hat dieses Ineinandergreifen von Wachstumspolitik und Sachzwangideologie, von Hilflosigkeit der Politik und Überhandnehmen der Bürokratie treffend beschrieben:
«Politisches Handeln wird durch Sachzwänge ersetzt, und der einzelne mit seinen Bedürfnissen erscheint nur noch als Störfaktor bei der Stabilisierung des Systems. Zuverlässig sind allenfalls die Detailexperten, die wegen ihres bornierten Nutzungsinteresses an der jeweilig herrschenden Technologie und Bürokratie aber weder den Überblick über die gesamtgesellschaftlichen Folgen ihres Tuns haben, noch politische Verantwortung tragen können. Keine gesellschaftliche Gruppe ist weniger geeignet für die neue Aufgabe, die der Politik in den heutigen Krisen zufällt, nämlich die Grenze zwischen Produktion und Zerstörung in Wirtschaft und Politik zu erkennen und zu respektieren.»(26)
Gefragt ist nicht Verwaltung, sondern Politik. Bleibt politisches Handeln beschränkt auf die Exekution von Sachzwängen, so wachsen dem Staat die Aufgaben rasch über den Kopf. Er wird mit immer mehr Geld und immer mehr Bürokratie immer weniger bewirken, und schließlich könnte Jänicke recht bekommen, wenn er befürchtet, der Staat komme in die Gefahr, "wie ein Verkehrspolizist zu handeln, der vor dem wachsenden Autostrom kapituliert, dafür aber am Straßenrand Gutscheine für die Beseitigung von Unfallschäden verteilt".(27)
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27) Martin Jänicke, Wachsende Zukunftsrisiken für Umwelt, Beschäftigung und Demokratie, Beilage zum Parlament, B 23/80, S. 37
26) Gerda Zellentin, Abschied vom Leviathan, Hamburg 1979, S.10
www.detopia.de
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Von Dr.
Erhard Eppler