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6. Faust oder nicht Faust - das ist hier die Frage...

 Der Deutschunterricht als Faktor der Erziehung zur Kultur

Friedrich-1979

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Über die Zukunft des Deutschunterrichts an unseren Schulen im allgemeinen und an unseren Gymnasien im besonderen reden, heißt über die Zukunft unserer Sprache und unserer Bildung schlechthin reden. Denn, so schreibt Nietzsche: »Mit der rechten Gangart der Sprache beginnt die Bildung.«

Das heißt: Wer sich mit der Sprache beschäftigt, begegnet unausweichlich dem Problem der Bildung. Und umgekehrt: Bildung erschließt sich nur dem, der sich bereit zeigt, die rechte Gangart der Sprache zu erlernen und sie einzuüben. Dementsprechend ist die Sprach-Erziehung auch ein Grundelement, ja: das Grundelement schlechthin jeder pädagogischen Bildungsarbeit.

Ohne Sprache kein Gespräch, ohne Gespräch keine Verständigung, und ohne Verständigung kein Verstehen; wo die Sprache versagt, versagt auch der Mensch. Er wird in des Wortes übertragener Bedeutung »unmündig«, weil er sich nicht mehr sinnvoll mitzuteilen vermag.

Durch Sprache wird der Mensch erst zum Menschen; durch Sprache schließen die Menschen sich zu Völkern und schließen sich die Völker zur Menschheit zusammen. Sprache erschließt geistig die Welt, in der wir leben und die wir, indem wir sie bewußt auch er-leben, sie uns also zueignen, zu dem gestalten, was wir menschliche Wirklichkeit nennen. Sprache ermöglicht Nachdenken über das eigene Dasein und das unserer Mitmenschen ebenso wie über die Ewigkeit Gottes. Kurzum: Sprache ist, ihrer höchsten und vornehmsten Bestimmung nach, ein Hauptmerkmal der Humanität und zugleich einer ihrer bestimmenden Faktoren. Sie stellt den Ausweis aus für den geistigen und seelischen, für den schöpferischen Rang einer Gemeinschaft.

Allerdings, so muß hier gleich hinzugefügt werden, entwickelt die Sprache ihre humanisierende Kraft nicht aus eigenem Antrieb; sie bedarf der Entwicklung und Pflege — und sie bedarf auch der kritischen Überprüfung und Erneuerung. Vor allem aber kann sie der seelischen und geistigen Herausforderung durch die Menschen nicht entraten, die sich ihrer bedienen. Nur diese Herausforderung gewährleistet ihren sinnlichen Zauber und ihre gedankliche Tiefe. Bleibt diese Herausforderung aus, so muß sie unweigerlich verkümmern.

Das heißt: Sprache ist an den Menschen und dessen Verfassung gebunden. Sie ist ein Spiegel der Seele, aber sie ist nicht die Seele selbst. Und sie ist ein Spiegel des Geistes, aber sie ist nicht der Geist selbst. Die Sprache hat soviel Charakter, soviel Charme und Witz, aber auch soviel Adel und Größe wie die Menschen, die sie sprechen und schreiben. »Will jemand einen großartigen Stil schreiben«, äußerte sich Goethe gegenüber Eckermann, »so habe er einen großartigen Charakter.« Wir könnten hinzufügen: Und schreibt einer einen großartigen Stil, so beweist dies nicht nur Charakter, sondern auch Bildung. Denn nur dort, wo Bildung sich entfaltet, herrscht jene geistige Fülle, die Vielfalt und Glanz sprachlichen Ausdrucks und damit die Lebendigkeit der Sprache gewährleistet.

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Daraus folgt, daß der Mensch Wert und Unwert der Sprache selbst verantwortet. Sie ist ihm auf Gedeih, aber auch auf Verderb ausgeliefert. Er verfügt über ihre Wahrhaftigkeit ebenso wie über ihre Lügenhaftigkeit, über ihre Brutalität ebenso wie über ihre Sensibilität, über ihre Klarheit ebenso wie über ihre Verschrobenheit und über ihre Fülle ebenso wie über ihre Armut.

Zeigt sich die Gesellschaft unsicher im Gebrauch ihrer Sprache, so darf das als ein sicheres Zeichen dafür angesehen werden, daß diese Gesellschaft an sich selbst irre geworden ist und sich nicht mehr sinnerfüllt verständigen kann. Das unverbindliche Geschwätz schwillt bis zur Unerträglichkeit an, indes das schöpferisch-fördernde Gespräch mehr und mehr verebbt. Schließlich wird die Sprache nur noch als »Informationsträger« ernst und beim Wort genommen, weil der Zeitgeist ihren seelischen Qualitäten nicht nur mißtraut, sondern diese sogar als verderblich, nämlich das »kritische Bewußtsein« vernebelnd erachtet. Auf diese Weise beraubt sich eine Gemeinschaft, erst einmal in Verwirrung geraten, auch der letzten Chance, jene sprachliche Mündigkeit zurückzugewinnen, die allein imstande wäre, das wiederherzustellen, woran ihr doch angeblich am meisten liegt, nämlich die geistige Souveränität als höchste Verwirklichung der Humanitas.

Nun, es gehört kaum kritischer Aufwand dazu, um festzustellen, daß gegenwärtig die geistige Souveränität hierzulande, aber auch anderswo auf diesem Planeten manches, um nicht zu sagen: fast alles zu wünschen übrig läßt. 

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Das geistige Durcheinander der westlichen und der ideologische Gleichschritt der östlichen Welt deuten nämlich, so verschieden sie auf den ersten Blick auch anmuten, gemeinsam auf eine tiefgreifende kulturelle Verstörung der gesamten Menschheit hin — auf eine Verstörung, die durch den rapiden Verfall metaphysischer, das heißt: nicht materieller Wertvorstellungen ausgelöst wurde und immer noch ausgelöst wird. 

Ohne ein metaphysisches Bezugssystem aber, das ihm die Gewißheit höherer Ordnungen als die seines irdischen Alltags und seiner irdischen Notdurft vermittelt, ist der homo sapiens trotz seiner erfinderischen Intelligenz genau so arm dran wie jener Doctor Faust, den Goethe in seiner Tragödie des modernen, des »faustischen« Menschen beschwor: von Erkenntnis zu Erkenntnis und von Begierde zu Begierde hastend, trifft er nur immer wieder auf die eigene Verzweiflung.

Diese Verzweiflung kann keine materielle Arznei heilen. Daß diese Arzneien dennoch als der sozialen Weisheit letzter therapeutischer Schluß angeboten, ja: mit ideologischer Inbrunst aufgedrängt werden, zählt zu den tragischen Verhängnissen einer Zeit, die sich innerlich selbst abhanden gekommen ist. Je mehr die Menschen sich nämlich in ihre Träume von materiellen Besitzständen verstricken und die Hände nach den goldenen Kälbern ausstrecken, desto entschiedener liefern sie sich dem Nihilismus aus und entfesseln, anstatt sozial einander zu vertrauen, den Kampf aller gegen alle um Güter, die ebenso vergänglich sind wie sie selbst.

Der Mensch braucht die Gegenwelt jener sogenannten »höheren«, immateriellen Werte, um sich vor der Selbstvernichtung zu bewahren. Sie geben ihm die Kraft, sich über die Barbarei, die ja auch seines Fleisches Erbteil ist, zu erheben und ihrer Herr werden zu können — und sei es auch nur auf Zeit.

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Denn diese »höheren Werte«, von denen der Zeitgeist seit langem nur noch im Tonfall des Hohns spricht, sind ja keineswegs Hirngespinste, die wirklichkeitsfern in esoterischen Elfenbeintürmen zu schönem Schein verwoben werden, sondern sie sind ein unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Wirklichkeit selbst. Eine Humanitas, die nicht über das Physische hinaus und in das Metaphysische hineinreicht, ist keine, denn ihr fehlt die entscheidende Dimension. Umgekehrt freilich müßte auch eine Humanitas scheitern, die sich nur auf diese Dimension konzentriert, weil sie die Berührung mit der Wirklichkeit verlöre. Denn nur dort, wo sich die physische Wirklichkeit mit der metaphysischen zu einer Einheit verschränkt, stellt sich ein anthropologischer Sinn her.

Diesen Sinn zu erkennen und für ihn Aufmerksamkeit zu wecken, ist die eigentliche Aufgabe der Erziehung. Ohne die Gewißheit dieses Sinnes verödet das, was wir Bildung nennen, zu einer Anhäufung von Wissen, sprich: von Informationen, die vornehmlich nach den Grundsätzen materieller Zweckmäßigkeit verwaltet, kaum aber noch geistig überlegen beherrscht wird. In »spanische Stiefel eingeschnürt«, wie Mephisto treffend bemerkt, begibt sich der Geist in die Sklaverei puren Nützlichkeitsdenkens, anstatt sich ungezwungen und nachdenklich zu entfalten.

Das Problem, das sich hier stellt, ist nicht neu. Es wurde aufgeworfen durch die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Sie leitete nämlich eine Säkularisierung des Bildungsbegriffs ein, aus der sie unter dem Deckmantel kulinarischer Kulturheuchelei ein Besitzrecht an den sogenannten »geistigen Gütern« ableitete. 

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Dieses Besitzverhältnis zur Kultur, auf das die bürgerliche Gesellschaft wie auf einen Adelsbrief schwor, teilte sich auch den sozialen Spannungen mit, die im Verlauf der industriellen Revolution auftraten. Bildung wurde als klassenkämpferischer Faktor erkannt und vom Proletariat reklamiert.

Der industrielle Fortschritt tat ein übriges, um die Grenzen zwischen Bildung und Wissen zu verwischen. Indem er qualifizierte Fachkräfte forderte, verlagerte er die Akzente von der zweckfreien Bildung auf die zweckgebundene Ausbildung. So konnte nicht ausbleiben, daß Bildung und Wissen schließlich zu einem identischen Begriff mutierten, die den ursprünglichen Sinn der Bildung kaum noch ahnen ließen. Die totale Information, die heute als das Bildungsziel schlechthin ausgerufen wird, zieht aus dieser Identität lediglich die entschiedenste Konsequenz.

Die Destruktion des Bildungsbegriffs zu einem materiellen Faktor und der materialistische Fortschrittsoptimismus stehen zueinander in einem kausalen Verhältnis. In dem Maße nämlich, in dem sich die Bildung der Verwertung auslieferte, büßte sie an anthropologisch wirksamer Widerstandskraft ein. Sie sucht ihre Erfüllung nicht mehr, um mit Gottfried Benn zu sprechen, im »Gegenglück des Geistes«, sondern im gesellschaftlich-materiellen Erfolg. Damit aber wird der Weg frei zu einer Bildungsvorstellung, die das schöpferische Spiel des Geistes als kulinarischen Luxus verdächtigt und nur der nüchternen Information einen Bildungswert zuzusprechen bereit ist.

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Der materielle Fortschrittswille ignoriert den humanen Bildungsauftrag zugunsten einer Erfolgsgesinnung, die den Menschen schließlich zu seinem eigenen Sklaven erniedrigt. »Denn jetzt«, schreibt Friedrich Nietzsche, »ist die Ausbeutung eines Menschen zugunsten der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: Wer fragt sich noch, was eine Wissenschaft wert sein mag, die vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht?«

Der Satz ist jener erstaunlichen Reihe von fünf Vorträgen entnommen, die Nietzsche, damals 28 Jahre alt und Professor der Altphilologie, im ersten Quartal des Jahres 1872 in Basel gehalten hat; Titel: »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten«.

In einem fiktiven, an die platonischen Sokrates-Dialoge erinnernden Gespräch erörtern ein Philosoph und sein Schüler das Problem der Bildung, das ihnen am Beispiel des damaligen Schulwesens überdeutlich vor Augen tritt. Er hoffe, so läßt Nietzsche seinen Philosophen sagen, daß »die Tage der bisherigen Schule« gezählt seien, weil sie die jungen Menschen zu »Dienern des Augenblicks« erziehe, anstatt sie auf die »Erlösung vom Augenblick« vorzubereiten. Diese Vorbereitung habe mit eben jener »richtigen Gangart der Sprache« zu beginnen, von der hier eingangs die Rede war. Denn es gibt, sagt Nietzsche, keine klassische Bildung ohne »erschlossenen Sinn für die Form«. Nur das Unterscheidungsvermögen zwischen Form und barbarischer Stillosigkeit gewährleiste ein schöpferisches Verhältnis zur Kultur, das den Menschen davor bewahre, »schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu wollen«.

Indem er dies sagt, bekennt sich Nietzsche zum aristokratischen Prinzip der Kultur, das nicht am grünen Reformtisch ertüftelt werden kann, sondern das sich aus der schöpferischen Spannung ergibt, die ein Volk erzeugt. Dieses aristokratische Prinzip, das sich aus der geistigen Rangordnung der Individuen ableitet, ist an keinen Stand und keine Rasse gebunden — und es widerspricht auch keineswegs sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Gesellschaftsordnung.

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Kamen doch die großen schöpferischen Geister der letzten vier- oder fünfhundert Jahre fast ausnahmslos aus dem Volk, ja oft sogar aus den untersten gesellschaftlichen Schichten. Ihr Rang in der Geistesgeschichte beweist sich jedoch durchaus nicht nach ihrer Herkunft, sondern nach ihrer Leistung als, wie Nietzsche trefflich sagt, »Erlöser vom Augenblick«.

Um so grotesker erscheint die Tatsache, daß gerade eine Zeit, die vorgibt, für die »freie Persönlichkeit« zu kämpfen, dem Genie, das ins Große denkt und schafft, weniger Aktionsraum zuzugestehen bereit ist als frühere, weitaus »repressivere« Zeiten. Genies, die Gegenbilder der Epoche im Sinne der von Nietzsche geforderten klassischen, an der Form (im vorder- wie im hintergründigsten Sinn des Wortes) orientierten Bildung entwerfen, sind unzeitgemäßer denn je. Sie werden einer falsch verstandenen Bildungsdemokratie geopfert, die glaubt, Kultur sei auf dem Weg über Stoffhuberei, Informationstechnik, Trivialität und geistiges Gleichheitsprinzip zu erreichen.

Genau dies sind jedoch die Faktoren, die eine produktive Bildung als Voraussetzung für große kulturelle Leistungen mit Sicherheit verhindern und statt mündiger Individuen eine Masse von informierten Funktionierern erziehen. Bildung will herausgefordert, nicht eingetrichtert werden, wenn sie mehr zeitigen soll als spießbürgerliche Ableistung von Leben mit Urlaubsanspruch, erkauft auf dem hektischen Markt des kurzlebigen Fortschrittsaugenblicks. Kultur bedeutet Aufgeben des individuellen Egoismus zugunsten eines höheren, freieren Begriffs von

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Gesellschaft unter dem Primat schöpferischen Geistes, der an sich selbst zuletzt denkt. »Denn Bildung beginnt«, nach Nietzsche, »erst in einer Luftschicht, die hoch über der Welt des Existenzkampfes lagert.«

Es könnte den Anschein haben, als sei hier bisher von allem anderen mehr als vom Deutschunterricht, dessen sich dieses Referat annehmen sollte, gesprochen worden. In Wirklichkeit jedoch wurde nur vom Deutschunterricht gesprochen. Denn was hier geistesgeschichtlich und kultur-, auch gesellschaftskritisch zur Debatte stand, sind — oder sollten doch sein — die Inhalte, mit denen sich der Deutschunterricht, sofern er als solcher noch gelten will, beschäftigen und auseinandersetzen muß.

Die Problematik des Deutschunterrichts ist so alt wie die Problematik der bürgerlichen Gesellschaft. Sie datiert, wie diese, aus dem Zeitalter der Aufklärung, das die Säkularisierung der Bildung auf sein Panier geschrieben hatte. Zwar zeitigte diese Verweltlichung zunächst vergleichsweise trockene und nüchterne Bildungsfrüchte in Form von Denk-Schulung und moralischer Traktat-Unterweisung. Aber recht bald schon nahm der aufklärerische Gedanke großräumigere, idealistischere Züge an und wies damit der deutschen Klassik und Romantik den Weg zu einem Höhepunkt geistiger Bekundung dessen, was der Mensch sein kann, wenn er es sein will. Der erkenntnisstolze, sich selbst verwirklichende, weil aus der Unmündigkeit zur Freiheit eigenen Willens emanzipierte und zur Bildung entschlossene Mensch tritt vor den Blick und ergreift durch sein humanitäres Pathos die Zeitgenossen. 

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Was lag näher, als diesen aufklärerischen, menschenerzieherischen Bildungsauftrag unmittelbar an die Schule weiterzugeben und ihn vornehmlich jenem Fach anzuvertrauen, das die Sprache lehrte, in der sich die hervorragendsten Geister der Zeit verlautbarten, nämlich dem Fach Deutsch?

Ob Hamann, Herder oder Lessing, ob Schiller, Lichtenberg, Goethe oder Wilhelm von Humboldt — sie alle erkannten in der Sprache das edelste Werkzeug zur Beförderung dessen, was sie Humanität nannten, nämlich: zur Veredlung menschlicher Daseins-Haltung. Humanität ist, schreibt Herder

»Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechts. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.«

Die exemplarische Ausprägung der Humanität durch die Sprache sah Herder und sahen mit ihm fast alle bedeutenden Geister der deutschen Klassik und Romantik in der Dichtung verwirklicht. In der Dichtung, so meint Herder, entfalte die Sprache sowohl ihren poetischen Zauber als auch ihre sittliche Kraft am entschiedensten und wirke dementsprechend gleichermaßen bildend auf Gemüt und Verstand. Schiller ging sogar noch einen Schritt weiter, indem er in seinen Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« überhaupt nur, wie der Titel schon aussagt, die ästhetische Erziehung als die eigentlich humane gelten lassen möchte. Nur das ästhetische Erlebnis, meint Schiller, sei imstande, den Menschen aus seinen unwürdigen Zwängen zu befreien. »Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte«, schreibt er wörtlich, 

»und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.«

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Einem konkreteren, aber nicht minder idealistischen Bildungsbegriff huldigte Wilhelm von Humboldt, wenn er die Griechen als Vorbild der Humanität pries. Im alten Hellas war nach Humboldts Auffassung der Entwurf eines Menschenbildes gelungen, dem bewundernd nachzueifern er der Jugend nachdrücklich empfahl.

Denn: die »den Griechen eigentümliche Reizbarkeit für das Schöne« hielt er für den Grund ihres Strebens, »den Menschen in der möglichsten Vielseitigkeit und Einheit auszubilden«. Wenn »irgendeine Vorstellung menschlicher Vollkommenheit Vielseitigkeit und Einheit hervorzubringen im Stande ist, so ist es die Schönheit«.

Damit aber, so meint Humboldt, zeige sich

»in dem griechischen Charakter meistenteils der ursprüngliche Charakter der Menschheit überhaupt... Das Studium eines solchen Charakters — nämlich des griechischen — muß in jeder Lage und jedem Zeitalter allgemein heilsam auf die menschliche Bildung wirken, da derselbe gleichsam die Grundlage des menschlichen Charakters überhaupt ausmacht. Vorzüglich aber muß in einem Zeitalter, wo durch unzählige vereinte Umstände die Aufmerksamkeit mehr auf Sachen als auf Menschen, und mehr auf Massen von Menschen als auf Individuen, mehr auf äußeren Wert und Nutzen als auf innere Schönheit und Genuß gerichtet ist, und wo hohe und mannigfaltigte Kultur sehr weit von der ersten Einfachheit abgeführt hat, heilsam sein, auf Nationen zurückzublicken, bei welchen dies beinah alles umgekehrt war.« 

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Indem Humboldt dies schreibt, umreißt er zugleich Sinn und Absicht eines Bildungsprogramms, das sich entschieden gegen den herabziehenden Trend der Zeit richtet und ihm durch das griechische Exempel zu widersprechen versucht. Gegen Ende des gleichen Jahrhunderts nimmt der alte Fontane gleichsam diesen Faden auf, wenn er vermerkt: 

»Freilich ist es jetzt Mode geworden, bei dem bloßen Wort <Idealität> zu lachen. Aber was kommt dabei heraus? Überhandnahme jeder äußeren und inneren Verwilderung. Entchristlicht ist die Welt bereits; entgöttert man sie auch noch von dem, was uns die Griechen hinterließen, so werden wunderliche Tage anbrechen. Ich mag sie nicht mehr sehen. Zu keiner Zeit — ich bin alt genug, um das zu wissen — ist die Welt mit Lavendel- und Rosenwasser gemacht worden; immer hat das äußerlich Grobe den Tag bestimmt, aber das innerlich Feine bestimmte die Zeit.«

Das »innerlich Feine«, von dem Fontane hier spricht, zu bewahren und auszubilden sowie den Menschen davor zu schützen, sich einzig und allein zum »geldverdienenden Wesen« erziehen zu lassen, war und ist das erklärte Ziel der klassischen Bildungsidee. Sie entwirft sozusagen die Gegenwelt der Humanitas, die zwar nie rein gelebt und erfüllt werden kann, durch deren herausfordernde Kraft der Mensch jedoch entscheidend gehemmt wird, sich der ihm innewohnenden Barbarei auszuliefern.

Insofern sind auch die Kritiker des klassischen Bildungsgedankens schlecht beraten, wenn sie dahinter nur eine Verschleierungs-Ideologie der herrschenden Bürgerschicht vermuten. Dieser Bildungsgedanke richtet sich nämlich im Gegenteil, wie die hundertfach vermehrbaren Zitate von Goethe bis Nietzsche und bis hin zu Jaspers überzeugend beweisen, in allererster Linie gegen die Bildungsheuchelei gerade des Bürgertums und gegen dessen Bildungs-Nivellierung zum Zweck materieller Besitz-Erweiterung.

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Im Bürgertum sieht die klassische Bildungsidee nicht nur ihre Träger, sondern mehr noch ihre Verächter. Denn diese Idee schwätzt nicht nur vom Wahren, Schönen und Guten, sondern sie verkörpert es; es ist ihr eigentlicher Inhalt.

Allerdings sind, dies sei eingeräumt, Begriffe wie diese inzwischen durch Mißbrauch und Polemik derart verschlissen und korrumpiert, daß man ihren ursprünglichen Bedeutungs- und Sinngehalt kaum mehr begreifbar machen kann. 

Was man aber vielleicht noch begreifbar zu machen vermag, und wir haben es hier versucht, ist dies: daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in das 20. Jahrh­undert hinein, als nach aufklärerischer Vorarbeit die bürgerliche Bildungsreform (wie wir sie einmal nennen wollen) entworfen und verwirklicht wurde, mehr zur Debatte stand als schönrednerische Phrasen und idealistische Illusionen.

Das humanistische Gymnasium, das dieser Reform seine Existenz verdankt, gab sozusagen die pädagogische Antwort auf die geistige Herausforderung der Epoche, indem es einen Menschen zu formen versprach, der auf die Realien des Lebens ebenso vorbereitet sein sollte wie auf dessen Ideale, durch die sich erst die Humanitas verwirklicht.

Mit anderen Worten: Die Veredlung des Menschen war das Ziel dieser Erziehung. Und dieses Ziel stimmt mit dem geistigen Entwurf, den die Großen der Zeit von Lessing bis Goethe der Epoche lieferten, vollauf überein. Insofern war es nur sinnvoll, daß die dichterischen und philosophischen Zeugnisse dieser Epoche auch zum Hauptinhalt des Unterrichts wurden, von dem hier die Rede ist: des Deutschen. Konnte es überhaupt einen geistig mehr herausfordernden, den bedeutenden Gang der Sprache eindringlicher vermittelnden Stoff geben als diesen?

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Und lassen sich durch ihn nicht alle Höhen und Tiefen menschlichen Leidens und menschlichen Glücks, menschlicher Größe und menschlicher Niedertracht unabhängig von zeitlichen Tendenzen veranschaulichen, ja: erlebbar machen?

Man mag zu dem, was hier »klassisches Bildungs-Ideal« genannt wird, stehen, wie man will — eines kann man ihm wohl auf gar keinen Fall absprechen, nämlich: daß diejenigen, die es entwarfen, mit einem ausgeprägten Sinn für menschliche Würde und mit hohem sittlichen Ernst bereit waren, geistige Verantwortung für die Gesellschaft ihrer Zeit und für die nachfolgenden Generationen nicht nur zu übernehmen, sondern auch in die geistige Tat umzusetzen, anstatt sich, wie das heute leider so oft geschieht, mit kritischer oder auch nur pseudokritischer Mäkelei an bestehenden Verhältnissen aus der bildungspolitischen Affäre zu ziehen. Sie nahmen die Aufklärung ernst und beantworteten deren Säkularisierungsgebot in Sachen Bildung mit einer Sinngebung der nun anbrechenden weltgeistigen Entwicklung — mit einer Sinngebung, die immerhin das ganze 19. Jahrhundert hindurch und bis weit in das 20. Jahrhundert dem Prozeß materialistischer Verarmung des Geistes hinhaltenden Widerstand zu leisten vermochte. Selbst den nationalen, völkischen und sektiererischen Umarmungen des Zeitgeistes konnte sich das klassische Bildungsideal, wenn auch gelegentlich ramponiert, stets wieder entwinden und seine ursprüngliche Strahl- und Aussagekraft zurückgewinnen.

Erst der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts blieb es vorbehalten, die endgültige Liquidation dieser Bildungsidee einzuleiten und damit das letzte Bollwerk gegen die materialistisch total denaturierte zweite Aufklärung wegzuräumen.

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Diese Liquidation begann mit der Kritik an der Sprache und zugleich mit der Vernachlässigung sprachlicher Ausbildung, und sie gipfelt vorerst in der Überlegung, Goethes »Faust« als Klassen-Lektüre zu streichen. Stattdessen gewinnen Trivialität und die Analyse bestehender Zustände, Einübung in Sozialkonflikte und textkritische Wortklaubereien sowie politische Ideologien immer mehr die Oberhand in einem Fach, das sich doch, seiner eigentlichen Bestimmung nach, über den Tag erheben und dem Ewig-Menschlichen mehr Augenmerk schenken sollte als dem Allzumenschlichen, in das wir ohnehin heillos verstrickt sind.

»Aus dem Überpolitischen erst«, sagt Karl Jaspers, »geht der Blick einerseits in die tiefsten Abgründe, andererseits in die höchsten Möglichkeiten.« 

Und er fährt fort: 

»Die überpolitische Wirklichkeit von Moralität, Opfermut, Vernunft zeigt die Ursprünge. Unsere Lebensauffassung wird von dorther bestimmt. Der in ihnen sprechende Ernst ist uralt, aber vergessen in der Verstandeswelt technischer Zivilisation, bis diese selber nun an einen Punkt geführt hat, wo sie sich vor dem selbstbereiteten realen Abgrund sieht. In der Vernunft hört das Gewaltsame auf. Von ihr her gewinnen die Selbstbezwingung im Moralischen und der Opfermut erst Führung und eigentlichen Sinn.«

Soweit Jaspers, der mit Sätzen wie diesen gewiß nicht meint, daß der apolitische Mensch ein Erziehungsideal sei, dem allein humanisierende Wirkung zukomme. Aber ebenso gewiß will er sagen, daß der homo politicus nicht die allein seligmachende, ja: vielleicht die am wenigsten seligmachende menschliche Erscheinungsform sei, und deshalb der ständigen Überprüfung und Korrektur durch die Humanitas bedürfe, um überhaupt erträglich und gesellschaftlich produktiv sich auswirken zu können.

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Der Unterricht im Deutschen ist eines der zentralen Fächer, die auf dieses Korrektiv aufmerksam machen und in dessen Gebrauch einüben, indem er den Menschen als Glied der Menschheit ebenso wie als Glied in des Lebens unendlicher Kette anschaubar macht und jene Kräfte anregt, die dem öden Zweckdenken das freie Spiel des Geistes als Inbegriff menschlicher Freiheit entgegensetzten: die Kräfte der Phantasie.

Der Deutschunterricht hat nur dann eine Zukunft, wenn er sich auf diesen ursprünglichen Bildungsauftrag wieder besinnt und sich der humanitären Veredelung des homo sapiens wieder entschiedener annimmt anstatt sich zum Diener einer primitiven zweiten Aufklärung zu machen, die den Menschen auf seiner verkommensten, weil aller metaphysischen Bezüge und damit seiner eigentlichen Werte beraubten Stufe vorführt.

Es gehört zum Aberwitz dieser zweiten Aufklärung, daß sie glaubt (oder jedenfalls glauben machen will), dieser Anschauungsunterricht sei die beste Methode, den Menschen zu sich selbst zurückfinden zu lassen und ihn zur Gestaltung eines menschenwürdigeren Daseins anzuhalten. Diese Methode jedoch ist nicht nur nicht die beste, sie ist die allerschlechteste. Denn, um noch einmal Karl Jaspers zu zitieren, denn 

»wo die sittlich-politischen Entscheidungen je im einzelnen Menschen fallen, wo die Umkehr gewonnen wird aus Irrtum, Illusion und verkehrten Antrieben, da ist der Geist als dritte Kraft zwischen Regierung und Volk gegenwärtig. Sie könnte auch das Denken in den Parteien mitbestimmen, es aus der Dumpfheit herausheben. Sie ist das Schöpferische und das Erfinderische, wenn auch bloß in Gedanken und Vorstellungen. Sie ist die demokratische Öffentlichkeit, in der und mit der die Urteilskraft der Bürger geübt wird. Durch sie gewinnen die Bürger Liberalität und Vernunft zu eigen.«

Nun: 

Liberalität und Vernunft als geistige dritte Kraft im Staat — dies wäre doch in der Tat auch für den Deutschunterricht nach wie vor ein erzieherisches Ziel, in möglichster Unabhängigkeit vom Zeitgeist aufs innigste zu wünschen.... 

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   Heinz Friedrich 1979