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Prognosen seien deshalb so schwierig, so ein Bonmot des Physikers Niels Bohr, weil sie die Zukunft betreffen. Tatsächlich ist Wissenschaft immer nur im Rückblick wirklich gut. Just beim Blick in die biohistorische Vergang­en­heit ist die Evolutionsforschung in ihrem Metier. Ausgerüstet mit dem Blick des Evolutionsbiologen und dem Wissen des Biodiversitätsforschers zu Artenvielfalt ebenso wie Artenschwund soll es hier um den Menschen, seine Wurzeln in der Natur und die Entwicklung seiner Kultur sowie um unseren Umgang mit der Natur gehen; schließlich auch darum, wohin uns das zukünftig führt.

Dieses Buch folgt einem Drehbuch, hat seine eigene Choreographie und Chronologie. Die fünf Hauptabschnitte seiner insgesamt drei Teile beginnen jeweils mit kurzen Reiseimpressionen, mit Szenen und Ansichten von Natur und Kultur. Dabei geht mein Blick nach Südostasien, nach Bali, Bangkok, Sulawesi und Singapur sowie schließlich Angkor. Zum einen, weil ich diese Weltregionen von Forschungsreisen und aus dem eigenen Erleben am besten kenne; zum andern, weil sich dort besonders eindrücklich einige jener unheilvollen Entwicklungen dokumentieren, um die es hier gehen soll.

Solche Entwicklungen sind sicher in vergleichbarer Weise auch anderswo zu besichtigen. Während sie sich in Europa und Nordamerika meist nur mehr in der Rückschau präsentiert, wird die derzeit desaströse Entwicklung in Asien von der sich abzeichnenden katastrophalen Zukunft auf dem südamerikanischen Halbkontinent, vor allem aber in Afrika vermutlich noch übertroffen werden.

Tei 1:

Um nach vorn, in die Zukunft zu blicken, müssen wir zunächst zurück in die Vergangenheit reisen, Befunde sichten, Fakten sammeln und Zusammenhänge verstehen. Der erste Teil dieses Buches umreißt daher in einem kurzen Rückblick unsere bisherige Evolution, die Naturgeschichte, aber auch die Anfänge der Kulturgeschichte dieses höchst eigenartigen Säugetiers Homo sapiens, des »weisen Menschen«. Wir werden ihn als Pfadfinder kennenlernen, mit seiner spezifischen Menschennische des sogenannten Mesokosmos und seiner Pioniermentalität, die ihn zu einer der erfolgreichsten und nunmehr global agierenden Lebensformen hat werden lassen. Nur zum geborenen Naturschützer ist der Mensch von sich aus dadurch nicht geworden; vielmehr ist seine Natur die des biologischen Ausbeuters, dessen evolutives Erbe es ist weiterzuziehen, sobald die Ressourcen erschöpft sind.

Wo immer wir bis in unsere jüngste Vergangenheit hinkamen, haben wir Natur und die von ihr bereitgestellten Produkte als freies Gut gesehen. Wir haben uns genommen, was wir brauchten, als ob diese natürlichen Ressourcen niemals versiegen könnten. Natur ist ein Gut, das nichts kostet und unerschöpflich scheint. Die einzelnen Phänomene und Vorgänge dieser Evolutionsgeschichte und Weltgeschichte sind gut dokumentiert. Wir wissen heute mehr denn je; nicht nur über viele Details unserer biologischen Vergangenheit, sondern auch über Angeborenes und Erworbenes im Verhalten des Menschen. Zudem hat diese Debatte über »nature« und »nurture«, über das Prägende unserer Natur und Kultur, ihre ideologische Verkrampfung weitgehend abgelegt. Dadurch fällt es leichter, unsere grundlegende und offenbar unerschütterliche Überzeugung zu beleuchten, nach der der Mensch im Zentrum dieser Welt steht.

Anschließend werden die bisherige Bevölkerungsentwicklung des Menschen untersucht und vor dem Hintergrund der demoskopischen Prognosen die Frage nach dem wichtigsten singulären biologischen Faktor für die Zukunft unseres Planeten aufgeworfen. Die simple, nur nicht gern gehörte und mithin allzu oft verdrängte Nachricht ist: Wir sind zu viele! Es drohen elf Milliarden bis zum Jahr 2100 zu werden; bereits Mitte des Jahrhunderts werden vor allem in Afrika, so die Prognosen, mit etwa 2,5 Milliarden doppelt so viele Menschen leben wie heute; die meisten davon in immer größer werdenden urbanen Ballungsräumen. Ihre Versorgung wird immer mehr Ressourcen, nicht zuletzt Flächen und Land beanspruchen.

Teil 2:

Der zweite Teil dieses Buches beschäftigt sich in seinen Kernabschnitten mit meinem Hauptanliegen: aufzuzeigen, wie umfassend und weitreichend, mithin brisant das Artensterben um uns mittlerweile geworden ist. Dabei werden zwei zentrale biologische Entwicklungen rund um den Globus untersucht, nämlich der Lebensraumwandel überall auf der Erde und das daran gekoppelte Verschwinden von immer mehr Tier- und Pflanzenarten. Eng mit der Bevölkerungsexplosion ist eine weitere Ursache des allgemeinen Artenschwundes verknüpft: unsere moderne Lebensweise mit ihrem unstillbaren und überzogenen Ressourcenverbrauch, insbesondere unsere Landwirtschaft. Die Plünderung der Rohstoffe und Übernutzung der biologischen Reserven vernichtet indirekt und direkt zahllose andere Lebewesen.

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Bereits jetzt sind mehr als drei Viertel der eisfreien Landfläche der Erde nicht mehr im ursprünglichen, das heißt in einem nicht vom Menschen wesentlich manipulierten Zustand. Überall auf der Erde verändern wir Lebensräume in großem Stil; meist durch unsere Art der Landwirtschaft und unsere Art des Zusammenlebens. Wir übernutzen und überfordern unsere Umwelt zu Wasser wie an Land. An vorderster Front im Terrestrischen steht dabei der Verlust an Wäldern weltweit. Rund um den Globus wird es viele Waldökosysteme bald nicht mehr geben. Landnutzungsänderung heißt es euphemistisch, wenn Wald landwirtschaftlicher Nutzfläche weicht. Doch Entwaldung oder »Deforestation« und in der Konsequenz der damit einhergehende Artenschwund sind die beiden hässlichen Seiten einer Medaille.

Und der Verlust an Arten setzt sich im Aquatischen fort, wo wir die Meere plündern und mit unseren anthropogenen Produkten verpesten. Ohne die vielen bisher darin lebenden Organismen aber werden Ozeane biologisch weitgehend zu Wasserwüsten werden. Wir verlieren gegenwärtig auf dramatische Weise die Biodiversität - jene biologische Vielfalt auf den verschiedenen Ebenen, von der genetischen Konstitution einzelner Populationen über die Organismen selbst bis hin zu ganzen Lebensgemeinschaften.

Seit 1800 haben wir etwa 80 Prozent der heimischen Vögel verloren, rechnen Experten vor, die diesen sich beschleunigenden Zusammenbruch in einer immer vollständiger »ausgeräumten« Landschaft genauer analysiert haben. »Wo früher 100 Vögel umherflogen und sangen, sind es heute nur noch 20.«(13) Beinahe die Hälfte aller in Deutschland brütenden Vögel ist gefährdet oder konkret vom Aussterben bedroht. Eine Reihe von Vogelarten ist bereits ausgestorben, andere stehen nicht nur bei uns an der Schwelle ihres unwiederbringlichen Verschwindens. Weltweit sind bereits insgesamt ein Drittel aller erfassten Arten betroffen; ein Viertel aller Säugetiere, 13 Prozent aller Vögel und beinahe die Hälfte aller Amphibien sind vom Aussterben bedroht.(14) Sämtliche kürzlich näher untersuchte Arten haben Bestandsverluste von bis zu 50 Prozent in den vergangenen Jahrzehnten.

Bei Landsäugetieren, für die die beste Datengrundlage vorliegt, hat die Hälfte aller Arten sogar Verluste von mehr als 80 Prozent ihrer Verbreitungsgebiete im vergangenen Jahrhundert.15 Die Liste der schlechten Nach­richten reißt nicht ab. Längst schon geht es nicht mehr um Einzelfälle wie den flugunfähigen Dodo auf der abgelegenen Insel Mauritius. Längst liegen Hunderte von Lebewesen auf dem Friedhof der Arten, wird das Sterbe­register der Natur immer länger. Es ist eine Artenkrise planetaren Ausmaßes.

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Spätestens hier erschließt sich, warum Geowissenschaftler inzwischen mit der Menschenzeit, dem Anthropozän, den Anbruch einer neuen erdgeschichtlichen Epoche vorschlagen.

Aus der Erdgeschichte kennen wir fünf katastrophale Artensterben während der vergangenen 540 Millionen Jahre; jetzt droht ein weiteres, sechstes und diesmal menschengemachtes Massenaussterben. Jedes dieser früheren Naturereignisse war von dramatischer Brisanz für das Leben auf der Erde, jedes eine Gefahr für die irdische Evolution, deren Ende es hätte bedeuten können. Auch diesmal ist das Sterben von globalem Ausmaß, und es geschieht zudem in erdgeschichtlich kürzester Zeit. Vor allem aber passiert es auf einem dicht mit Menschen besiedelten Planeten mit vielfältigen ökologischen Abhängigkeiten von funktionierenden Lebensräumen und von ihren darin eingepassten lebenswichtigen Arten.

Dass unsere Kinder bald schon Elefant und Emu, Nashorn und Nachtschwalbe, Tapir und Tasmanischen Teufel nicht mehr in freier Wildbahn erleben werden, dass Löwe und Leopard, Giraffe und Gorilla allenfalls in Zoos überleben (die ihre Existenz mit Erhaltungszucht kaum mehr rechtfertigen können und zum Vergnügungspark mit Tieren werden) und deren sterbliche Zeugnisse nur noch in einem Naturkundemuseum zu sehen sind; dass Nationalparks weltweit nur einen kläglichen Rest der Lebensvielfalt bewahren werden, dagegen in den Betonwüsten unserer wachsenden Städte mit ihren künstlichen Parkoasen und gestalteten Gärten lediglich die immer wieder gleiche beschränkte Auswahl einiger weniger bestange-passter Lebewesen überdauern werden - all dies sind nur einige wenige der vielen traurigen und bedenklichen Facetten eines drohenden und dramatischen, ebenso erdumspannenden wie rapiden Verlustes an Tier- und Pflanzenarten.

Doch warum sollte uns das, warum muss uns das kümmern?

Bei dem von uns verursachten Artensterben geht es nicht um die letzte Mönchsrobbe im Mittelmeer, den letzten Flussdelphin im Mekong, den Nebelparder in Nepal oder den Jaguar am Amazonas. Es geht um ein weitgehend anonymes Heer an Arten, das unbemerkt für immer von der Erde verschwindet. Es geht darum, dass beispielsweise bereits 80 Prozent der bei uns heimischen Insekten verschwunden sind.16 Darunter sind zahllose Schmetterlinge und Wildbienen als die noch bekanntesten Verlierer einer bisher kaum hinreichend beachteten globalen Veränderung. Wir werden den Artentod der meist bekannteren Ikonen des Naturschutzes als nur die vordergründig sichtbarsten Zeichen dieser unheilvollen Entwicklung kennenlernen. Dahinter verbirgt sich die eigentliche Biodiversitätskrise - die organismische Insolvenz ganzer Lebensräume und der Bankrott evolutionärer Vielfalt. Wir aber sind Teil dieser biologischen Vielfalt; ihr Verschwinden ist unser Verlust.

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Während um uns die Arten sterben, reden alle inzwischen vom Klima. Weniger berücksichtigt wird, dass selbst eine menschengemachte mittlere globale Erwärmung die Evolution der Tiere und Pflanzen durch natürliche Selektion überfordert und Lebensräume nicht nur verändert, sondern das Artensterben weiter befördert - wenngleich letztlich nicht verursacht. Es geht darum, wie sich Verbreitungsgebiete einzelner Organismen vor unseren Augen verschieben, welche Arten scheinbar neu hinzukommen, welche Zufluchtsräume in bislang kälteren Gefilden einzelnen Arten noch bleiben; und vor allem, was das für ihr Überleben und den Menschen bedeutet.

Neben Energiewende, Stromtrassen, Hybridmotoren gehören zu den wirklich entscheidenden Zukunftsthemen auch die allgemeine Naturzerstörung, der Verlust unserer natürlichen Lebensgrundlagen und das Schwinden der Artenvielfalt. Die gegenwärtig immense Anteilnahme am Klimageschehen darf nicht vom Artensterben und vom Erhalt der Biodiversität ablenken. Immerhin, so hier die These: Das vom Menschen verursachte rasante sechste Massensterben ist für sich eine der größten Gefahren der Menschheit, verstärkt noch durch den anthropogenen Klimawandel.

Teil 3:

Die biologische Vielfalt ist bereits heute auf knapp 60 Prozent der Erdoberfläche so geschrumpft, dass die Ökosysteme nicht mehr richtig funktionieren, haben Forscher ermittelt.17 Mit jeder neuen Erkenntnis zur Biodiversität erahnen wir die eigentliche Komplexität der Ökosysteme, deren Arten voneinander abhängig sind. Diese sind Kettenglieder komplizierter ökologischer Beziehungsgeflechte, deren Stabilität wir umso dramatischer einschränken, je mehr ihrer Teile wir schwächen oder gar entfernen. Weil stabile Ökosysteme eine Vielfalt und Vielzahl an Arten aufweisen, widerstehen sie äußerem Druck. Biodiversität sorgt dafür, dass ökologische Funktionen von vielen Arten übernommen werden. Fällt eine aus, übernimmt eine andere. Das funktioniert, solange ausreichend Arten da sind. Fallen indes zu viele Arten aus und wird der Druck zu groß, zerreißt dieses vielfach gestrickte ökologische Gewebe irgendwann.

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Ökologen sprechen vom sogenannten »tipping point«, jener Situation, bei der die Lage plötzlich kippt und ein System zusammenbricht. Ökosysteme sind darin vergleichbar anderen sich selbst regulierenden Systemen wie etwa Märkten. Auch sie können sich trotz krisenhafter Tendenzen immer wieder selbst in Balance bringen - bis sie jenen gefährlichen Punkt des plötzlichen Umschlags erreicht haben, an dem die Eigenregulierung irgendwann nicht mehr stattfindet. Oft reicht dazu ein an sich unbedeutender quantitativer Zuwachs oder ein eher marginales Ereignis, um diesen Effekt des »Zuviel« zu bewirken. Wir kennen das als den sprichwörtlichen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Anschein, dass es trotz Verschlechterung immer auf gleiche Weise weitergeht, sollte nicht endlose Stabilität suggerieren, auch nicht bei Ökosystemen. Vom Funktionieren solcher mehrfach gepufferten Sicherungssysteme des irdischen Lebens sind letztlich auch wir Menschen abhängig.

Im dritten Teil werde ich die thematischen Stränge aus den ersten beiden Teilen zusammenführen und die Fakten in der Zusammenschau bewerten. Dadurch wird es beispielsweise möglich, mit verschiedenen Mythen aufzuräumen und kontroverse Hypothesen zu überprüfen. Dabei werden sich wichtige Trends heraus­kristallisieren, die sich fortschreiben lassen, um so einen Blick nach vorn zu werfen; zum einen auf die Zukunft der Arten, zum anderen auf unsere eigene Zukunft. Als Wegmarke soll dabei die Mitte unseres gegenwärtigen Jahrhunderts dienen, bewusst willkürlich vom Autor (Jahrgang 1962) mit dem Jahr 2062 gewählt; die Jahreszahlen 2030 und 2050 sind bei langfristigen Prognosen und Planungen inzwischen ohnehin eine feste Größe. Die zentrale Frage wird einerseits sein, wie unsere Welt dann aussieht, und andererseits, warum das allgegenwärtige Artensterben bedenklich und bedrohlich auch für das Überleben des Menschen ist.

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In den fünf Hauptkapiteln des Buches wird es also zuerst um uns gehen; darum, wie wir als Wesen mit evolutiven Wurzeln zu dem wurden, was wir sind. Und dann darum, dass wir inzwischen zu viele sind, dass wir unsere Erde zu sehr beanspruchen, dadurch zu viele andere Arten zum Aussterben bringen, was letztlich aber auch unser Überleben gefährdet. Wir fragen mithin nach unserem evolutiven Anspruch und nach unserer faktischen Anzahl, nach Anthropozän und Artenkrise, schließlich nach dem Ausweg, vielmehr: nach möglichen Auswegen.

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Ähnlich wie Filmregisseure sich gelegentlich nicht entscheiden können, welches Ende ihre Geschichte nehmen soll, oder vergleichbar jenen Prognosen, die jeweils den günstigsten und ungünstigsten Verlauf berechnen, werde ich im Schlusskapitel zwei Versionen - jeweils gleichsam als Nachruf auf das vergangene Jahr 2062 - beschreiben: ein »worst case«-Szenario, bei dem sich die vielstimmigen Kassandrarufe tatsächlich bewahrheiten, die augenblickliche Artenkrise zur Apokalypse wird und die Zukunft des Menschen kürzer ausfällt als seine Herkunft.

Und dann ein »happy end« bei Abkehr von den bisherigen Verhaltensweisen des Menschen und den damit einhergehenden Entwicklungen. Bei diesem dramaturgischen »directors cut« wird indes offenbleiben, welches Szenario daraus abgeleitet für wahrscheinlicher zu halten ist.

Mir ist wichtig, dem Leser selbst die Beurteilung zu überlassen, welche Zukunft die zahllosen Arten und die Menschen haben. Entscheidend für den Ausgang, so eine der wesentlichen Schlussfolgerungen, werden die nächsten, unmittelbar kommenden Jahrzehnte sein.

In einem Epilog werde ich dann nochmals auf das andere globale Problem neben dem Artenschwund eingehen, den bereits hinreichend benannten Klimawandel. Ich behaupte, dass das augenblickliche Artensterben der neue Klimawandel ist - eine weitere "unbequeme Wahrheit": erst lange kaum wahr- und ernstgenommen, irgendwann aber gleichsam gesellschaftsfähig und Gegenstand globaler Politik. Es lassen sich tatsächlich viele Gemeinsamkeiten zwischen Artenwandel und Klimawandel entdecken. Beiden sieht die Menschheit viel zu gefasst entgegen, dem Letzteren allerdings bereits jetzt mit einer gewissen Anspannung.

Es wäre spannend, die Gründe zu untersuchen, wie es beim Klimawandel möglich wurde, dass das Thema inzwischen die Wissenschaftsseiten der Tages- und Wochenzeitungen und Magazine verlassen, dann die Politik- und vor allem die Wirtschaftsseiten und neuerdings die Gesellschaftsseiten erreicht hat, während dies aber beim mindestens ebenso brisanten Artensterben bisher zumindest noch nicht der Fall ist.

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Der Lebensraumverlust insbesondere an Wäldern ist in erster Linie eine ökologische Katastrophe und biologische Tragödie, dessen Nebeneffekt dann aufgrund der freigesetzten Klimagase auch der Klimawandel ist. Doch gegen das Sterben der Arten gibt es keine ingenieurtechnische Lösung und keine unmittelbar ökonomische Perspektive. Auch ist das Verschwinden vieler Tier- und Pflanzenarten derzeit scheinbar noch ohne Folgen, zumindest in der Wahrnehmung der meisten von uns, die indes sehr wohl jeden Tag und jedes Jahr aufs Neue das Wetter beobachten.

Im Zweifel verstellt die Debatte um den Klimawandel derzeit noch eher den Blick auf die biologischen Realitäten des Artenwandels und drängt die kommenden Herausforderungen und dringenden Maßnahmen in den Hintergrund.

Doch mit der biologischen Lebensfülle, der uns umgebenden Artenvielfalt derart ignorant und rücksichtslos umzugehen, wie dies gegenwärtig geschieht, ist ein ebenso gewaltiger Fehler, wie den menschengemachten Klimawandel zu ignorieren; vielleicht sogar der größte Irrtum der Menschheit. Es ist nicht der erste Irrweg des Homo sapiens; aber, so wird im Folgenden zu zeigen sein, von ähnlich großer Brisanz wie ein anderer, früherer Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit.

 

   (7)  Die Menschheit am Wendepunkt    

Nachdem Homo sapiens über die längste Zeit seiner Evolution in überschaubaren Jäger-und-Sammler-Horden umhergezogen war, begann er vor etwa 12.000 Jahren mit dem Übergang zur Landwirtschaft sesshaft zu werden und sich als Bauer zu ernähren. Wir werden uns diesem Wendepunkt in der Evolution der Menschheit im ersten Teil des Buches gleich noch ausführlich widmen. Inzwischen stellt sich dieser Übergang zur Landwirtschaft nicht mehr rückhaltlos als große Erfolgsgeschichte dar, eher als Leidensgeschichte mit enormen gesellschaftlichen Konsequenzen. Denn der vermeintliche Fortschritt führte zu Streit über Land und Gut, erzeugte Gewalt, führte zu sozialer Ungleichheit und Unterdrückung. Durch die Domestikation von Tieren sprangen Krankheitserreger auch auf Menschen über, die von Pocken und Pest, Cholera und Grippe heimgesucht wurden.

Der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond nannte diesen neolithischen Übergang zur Sesshaftigkeit den »größten Fehler der Menschheit«; durchaus treffend, bedenkt man die erheblichen Folgen, die dies für die Menschheit hatte; das Schuften im Schweiße unseres Angesichts, Eigentum, Ungleichheit und anonyme Gesellschaften.18 Er hat in seinem einsichtsreichen Bestseller Arm und Reich der Erfindung der Landwirtschaft wesentliche Passagen gewidmet und damit unser neues Bild der neolithischen Revolution geprägt.19 

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Der israelische Historiker Yuval Noah Harari verstieg sich unlängst sogar dazu, die landwirtschaftliche Revolution als den »größten Betrug der Geschichte« zu bezeichnen.20  

Und auch das Autorengespann Carel van Schaik und Kai Michel, Anthropologe und Historiker von der Ausbildung her, sehen in Landwirtschaft und Sesshaftwerdung nicht nur »die größte Verhaltensänderung, die je eine Tierart auf diesem Planeten vollzogen hat«.21 In ihrem Buch Das Tagebuch der Menschheit interpretieren sie die biblische Vertreibung aus dem Paradies als Erzählung über jenes folgenreichste Ereignis in der Menschheits­geschichte, das unsere Vorfahren einst vom Leben als Jäger und Sammler zum sesshaften Dasein übergehen ließ. Sie führen auf diese »größte Dummheit des Menschen«, seinen eigentlichen Sündenfall, die eigentliche Veranlassung für das »Buch der Bücher« zurück - das Alte Testament oder die hebräische Bibel.

wikipedia  Carel_van_Schaik *1953 

DNB.Buch  


Pestel auf detopia  1974-Menschheit am Wendepunkt

Diamond auf detopia

Harari auf detopia

Mit der neolithischen Revolution, so machen sämtliche neuere Darstellungen deutlich, ist das Leben keineswegs angenehmer und leichter geworden; ganz im Gegenteil war der Alltag der Bauern härter und weniger befriedigend als der ihrer Vorfahren geworden. Zwar nahm die Gesamtmenge an verfügbarer Nahrung insgesamt zu, aber über sie bestimmte plötzlich eine selbst ernannte Elite.

Zwar kam es erstmals zu einem rasanten Anstieg der menschlichen Population, doch wurde das alltägliche Leben - verglichen mit jenen Zeiten, als man in der Wildnis Früchte sammelte und Beutetiere jagte - in großen anonymen Gesellschaften sehr viel komplizierter. Um es hier kurz zu machen: Mit der Landwirtschaft kamen mehr menschliche Laster zutage, mehr Nahrung führte zu neuen Nöten, die Sesshaftigkeit verschärfte das Soziale und brachte Stress.

Folgt man der These von Carel van Schaik und Kai Michel über die Evolution der Bibel - und für sie spricht durchaus einiges -, dann führte diese neu anbrechende Zeit des Sesshaftwerdens und der bäuerlichen Hochkulturen mit einer ersten Bevölkerungsexplosion zu Problemen, die Jäger und Sammler zuvor nicht hatten und nicht kannten. Plötzlich sahen sich die Menschen zahllosen Komplikationen ihres Lebens und allgegenwärtigen Krisen gegenüber, waren Krankheiten und Katastrophen ausgesetzt, vor allem aber steigender Gewalt. Über lange Zeit fehlte die rechte Antwort darauf; man hatte anfangs einfach nicht die probaten biologisch-kulturellen Mittel, um mit den gewaltigen Veränderungen fertig zu werden, die die neolithische Revolution mit sich brachte.

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Schließlich bestand die Krisenbewältigung in der Religion. Sie wurde zu einer Art kultureller Selbst­behauptungs­maßnahme in einer Welt, die sich der Mensch zwar selbst geschaffen hat, für die er ursprünglich aber nicht gemacht war. Gott wurde, so ließe sich lapidar formulieren, zur Survivalstrategie. Mit einer Sinn und Gemeinschaft stiftenden Religion spielte der Mensch eine seiner wichtigsten Stärken aus, sein Talent zu »kumulativer kultureller Evolution«, wie van Schaik und Michel das nennen.22

Anthropologen unterscheiden in diesem Zusammenhang neuerdings nicht nur zwischen biologischer Evolution als erster Natur des Menschen und kultureller Evolution als seiner zweiten Natur. Sie sprechen zudem von einer dritten Natur des Menschen.

Die erste oder »natürliche Natur« besteht in unseren angeborenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, unseren Gefühlen, Reaktionen und Vorlieben - Verhaltensweisen also, die genetisch verankert sind und vererbt werden. Wir verdanken sie unserer biologischen Abstammung und Entwicklung, die dafür sorgte, dass wir uns physisch und psychisch immer mehr oder weniger gut in unser Habitat, unseren Lebensraum einpassten. Bis in prähistorische Zeit haben sie uns damit gute Dienste erwiesen und ein fast reibungsloses Funktionieren des Menschen in seiner ökologischen wie sozialen Umwelt garantiert. »Sie haben sich über Jahrhundert­tausende hinweg entwickelt und ihre Tauglichkeit im Alltag kleiner Jäger-und-Sammler-Gruppen bewiesen.«23

Während sich unsere erste Natur noch heute als Intuition und Bauchgefühl zu Wort meldet, verdanken wir der kulturellen Evolution unsere zweite Natur, die sich aus unseren Sitten und Gebräuchen konstituiert. Sie ist uns nicht angeboren, sondern wir erlernen ihr Regelwerk meist in der Kindheit und im familiär-sozialen Umfeld. Diese Sozialisation weist dadurch auch große regionale und ethnische Unterschiede auf. Als »kulturelle Natur« sattelt sie auf unseren ererbten Gefühlsstrukturen auf, »sie erreicht jedoch nie das Maß der Selbstverständlichkeit, nie die emotionale Tiefe unserer ersten Natur«.24

Sie sorgt indes dort für Lösungen, wo unsere Biologie allein viel zu lange brauchte. Das war etwa der Fall, als das neue, sesshafte Leben mit der neolithischen Revolution existenzielle Probleme mit sich brachte. Allein die sehr langsam arbeitende biologische Evolution mittels natürlicher Selektion konnte dem Menschen in dieser neuen, katastrophalen Lage

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nicht mehr helfen, die dringend schnelle kulturelle Lösungen erforderte. Die Antwort waren neue Gewohnheiten, Konventionen und Mentalitäten. Aber diese kulturelle Evolution schaffte auch eine Kluft zwischen uns und unseren Bedürfnissen der ersten Natur und der Umwelt. Nicht nur innere Konflikte sind damit vorgezeichnet.

Unsere dritte Natur nennen Carel van Schaik und Kai Michel unsere Vernunftnatur. »Das sind kulturell verankerte Maximen, Praktiken, Institutionen, denen wir aufgrund einer weitgehend bewussten Rationalität folgen - etwa als Ergebnis einer gezielten Situationsanalyse.« Diese Regeln des Common Sense werden erst später in unserer Individualentwicklung internalisiert, meist in der Schule oder durch andere Institutionen. Ihnen zu folgen ist vernünftig, aber ebenfalls in Konflikt mit der ersten Natur. Als einleuchtenden Beispiel nennen die Autoren jene Dinge, die wir nur widerstrebend tun, obwohl wir wissen, dass sie gut für uns sind oder zumindest vernünftig wären: »gesund essen, Sport treiben, uns an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten. Auch die guten Vorsätze, die wir jedes Jahr aufs Neue fassen, sind typische Produkte der dritten Natur.« Sie können uns kaum glücklich machen, doch als jüngste Errungenschaft im Prozess einer kumulativen kulturellen Evolution sichern sie dem Neuzeitmenschen das Überleben in großen Gruppen angesichts sozialer Schichtung und in abstrakten Institutionen wie Staaten, Körperschaften oder Verbänden. Unsere Vernunftnatur ist eine Ersatzlösung, die unsere eigentlichen Bedürfnisse aus einer längst vergangenen Welt allenfalls partiell befriedigt. »Das Leben ist seither vor allem Kopfsache geworden.«

Wir sehen daran:

Der Mensch als biologisches Wesen und kulturelles Tier ist nicht nur befähigt, in seiner Umwelt zu überleben, sondern dafür auch gezielt Erfindungen einzusetzen und weiterzugeben; auch entwickelt er sie über Generationen fort, kombiniert sie mit anderen und baut sie zu immer elaborierteren Systemen aus.    wiktionary  elaboriert 

Unter der neuen evolutionsbiologischen Perspektive betrachtet, ist auch Religion so ein Produkt kumulativer kultureller Evolution. Religion ist nicht nur eine mächtige kulturelle Institution, um den Gruppenzusammenhalt zu stärken. Der Glaube an (einen) Gott und die Rituale frommer Vergemeinschaftung wurden überall auf der Welt dem Menschen zur dritten Natur, so die Anthropologen; zur kulturellen Praxis und zu einem ritualisierten Schutzsystem, um die elementaren Gefährdungen des Menschen und die vielen neuen Herausforderungen des modernen Lebens zu bewältigen.


Auch viele Soziologen vertreten neuerdings die These, dass religiöser Glaube und Ritus der konstruktiven Bearbeitung elementarer Daseinskontingenzen dienen. Das ist sicher erklärungsbedürftig; wir werden diese komplexen Zusammenhänge später noch eingehend beleuchten.

Hier ist vorläufig nur wichtig, dass sich nach anthropologischer Theorie kulturelle Strategien in Schriften wie der Bibel manifestieren. Sie half jene Krisen zu meistern, die einst aus der Verhaltensänderung des Homo sapiens beim Übergang zum Sesshaftwerden resultierten, und vollbrachte eine große zivilisatorische Leistung. »Der Erfolg dieser heiligen Schrift eines kleinen Volkes aus einem Hinterhof der Weltgeschichte [war] sensationell.«25

Weder also dürfen wir in der Religion eine irrationale Angelegenheit sehen noch die Geschichten in der Bibel für »einfach nur grotesk« halten, wie es etwa der britische Religionskritiker und Evolutionsbiologe Richard Dawkins tut, der sie als »eine chaotisch zusammengestoppelte Anthologie zusammenhangloser Schriften« bezeichnet und in dem Gott des Alten Testaments »die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur« sieht.26 Stattdessen trug insbesondere das Alte Testament, so van Schaiks und Michels These, maßgeblich dazu bei, die Probleme des mit der Landwirtschaft anbrechenden Holozäns zu lösen; zwar mit erheblicher zeitlicher Verzögerung, aber immerhin.

Die Bibel präsentiert kondensierte Menschheitserfahrung, auch wenn man es in ihr mehr mit Fiktion als mit historischen Fakten zu tun hat. Dass die Bibel mit ihren lebensprallen Geschichten ein literarisches Konstrukt mit nur begrenzter historischer Verlässlichkeit ist, dass auf sie als Verhaltenskodex weder die einzigen Religionen zurück-gehen, die wir kennen, noch dass sie alles andere als perfekt und kohärent erscheint - all das soll uns hier noch gar nicht interessieren.

Vielmehr impliziert die Vorstellung von einer dritten Natur des Menschen den Gedanken an eine Analogie und erlaubt uns nun, als nächsten Schritt in der evolutionsbiologischen Argumentationskette, in diesem Buch eine weitere These zu formulieren:

Dürfen wir von dieser unserer Fähigkeit zu kumulativer kultureller Evolution auch jetzt, mit Beginn des Anthropozäns, eine Antwort auf die jüngsten, diesmal globalen Probleme erwarten? Werden wir die neuen Heraus­forderungen unserer Zeit abermals durch einen, diesmal die gesamte Menschheit umfassenden, gleichsam biblischen Verhaltenskodex meistern, wie er einst vor mehr als zwei Jahrtausenden im Alten Testament für das damit sich formierende Judentum und Christentum formuliert wurde? Und wie könnte heute solch ein Verhaltenskodex aussehen? Wer würde ihn diesmal verfassen, wer darüber befinden und ihn verbreiten? Wird der Mensch auf diese Weise von sich aus plötzlich vernünftig handeln?


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Keine Frage: Ähnlich wie bei der neolithischen Revolution stehen wir Menschen mit dem Anthropozän, seinen Signaturen und Folgen an einem weiteren markanten Wendepunkt unserer Evolutionsgeschichte. Führt dies als ähnlich ernsthafte Herausforderung für das Überleben des Menschen wie einst Landwirtschaft, Sesshaftwerdung, Stadt- und Staatsgründungen einmal mehr zu einer neuen kumulativen kulturellen Entwicklung, gleichsam einer Art neuer Religion?

Zumindest hoffen können wir auf eine neue Form von völkerverbindender Gemeinsamkeit und probater Überlebensstrategie, der es die Menschheit vielleicht eines Tages verdankt, eine weitere von ihr selbst verursachte Krise der Evolution des Lebens auf der Erde bewältigt zu haben. Natürlich lassen sich zu dieser hier nur angerissenen These eine ganze Reihe von Nachfragen aufwerfen; was wir aber nicht hier, sondern dann im dritten Teil des Buches tun werden.

 

  8-  Mars?  Mission Impossible!

 

Inzwischen ist der Wettlauf ins All wieder neu entfacht. Gleich mehrere Nationen - darunter jetzt auch Japan, China und Indien - planen, wenn auch vorerst keine bemannten Missionen, so doch verschiedenartige Sonden und Rover zum Mond zu schicken. Ende der 1960er Jahre, als aus der damals verbreiteten Technikgläubigkeit in das Weltall projizierte Allmachtfantasien erwuchsen, rangen die damaligen Weltmächte auch dort um Vormacht und Prestige, weitete sich der ideologische Systemstreit bis zum Mond aus. Den Wettlauf zum Mond beförderte er nicht allzu lange.

Mittlerweile investieren neben staatlichen Raumfahrtbehörden auch Weltallbegeisterte wie Jeff Bezos, Elon Musk und Larry Page [Google], die offenbar nichts Besseres mit ihren in Internet-Unternehmen verdienten Aber­millionen an Dollars anzufangen wissen, in ebenso prestigeträchtige wie an sich sinnleere Weltraumabenteuer, vorgeblich »zum Wohle der Menschheit«. Was sonst ist es, wenn einige dieser - vermeintlich visionären - Milliardäre ihre zahlenden Kunden um den Mond herumfliegen wollen? Andere planen die Mondrückseite zu besuchen oder auf dem Südpol des Mondes zu landen. Oder gar die Mondoberfläche auf der Suche nach Rohstoffen anzubohren und die Sphäre des irdischen Handels und Wandels bis in das Weltall auszudehnen, wobei astronomische Gewinne winken sollten.

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Schließlich gibt es jene, die sogar von einer permanent besiedelten Raumstation auf dem Erdtrabanten fantasieren und glauben, künftig würden Millionen Menschen im Weltraum leben und arbeiten. Doch warum, für wen und mit welchem Nutzen? Bleiben diese Fragen bereits beim Mond meist unbeantwortet, so drängen sie sich umso mehr beim scheinbar nächsten logischen Schritt der Raumfahrt auf. Als vermeintlich nächstes Ziel der Mensch­heit gilt der Mars.

Damals durchaus visionär, hatte bereits vor einem Jahrhundert der aus anderen Gründen großartige britische Naturforscher Alfred Russel Wallace die Frage aufgeworfen, ob der Mars bewohnbar sei.(27) Aus der Zusammen­setzung seiner Atmosphäre haben dann Geophysiker Ende der 1960er Jahre geschlossen, dass der Mars ohne Leben ist, was die Messwerte der »Viking«-Marssonden ein Jahrzehnt später bestätigten. Inzwischen mehren sich dank der Missionen weiterer Testsonden zur wissenschaftlichen Erkundung des Roten Planeten die Hinweise, er könnte immerhin einst Leben getragen haben. Es wird vermutet, dass der Mars in jungen Jahren flüssiges Wasser auf der Oberfläche und eine schützende Atmosphäre wie die Erde hatte. Ist vielleicht auch dort Leben entstanden, wenn auch sehr primitives? Vielleicht sogar in Form von Mikroorganismen, die - ähnlich wie auf der Erde an Orte mit extremen Bedingungen angepasst - in an sich lebensfeindlicher Umgebung überdauert haben?

Sicher ist bislang nur, dass es auf dem Mars weder freies Wasser noch sonstiges Überlebenswichtiges für den Menschen gibt.

Ungeachtet dessen heizen auch diesmal Ankündigungen der NASA, die nach 2030 erstmals Menschen auf den Mars bringen möchte, die Fantasie an und befeuern einen irren Wettlauf, bei dem nun einmal mehrere Milliarden schwere Privatunternehmen Teilnehmer für ein solches Himmelfahrtskommando locken; und dies gleich in Scharen.

Als im Jahr 2013 die Pläne für »Mars One« vorgestellt wurden, Freiwillige mit einem One-Way-Ticket auf den Roten Planeten zu schicken, finanziert durch TV-Übertragungsrechte, führte dies zu mehr als 2000 Bewerbern, einem großen Medienecho und einer Debatte um Ethik und Machbarkeit solch einer Mission ohne Rückkehr. Inzwischen wurde der Start der ersten Crew auf dieser Einbahnstraße zum Mars auf 2026 verschoben.(28)

Gleichzeitig wurde 2016 mit der Bruchlandung der Raumsonde »Schiaparelli« auf dem Mars der wahre Stand der technischen Realisierbarkeit demonstriert.

 wikipedia  Mars_One        wikipedia  Schiaparelli_Marslander    wikipedia  Biosphäre_2     wikipedia  Ulrich_Walter


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Ebenso eindrucksvoll zeigt sich die Unfähigkeit der bisher an der Raumfahrt beteiligten Nationen, tatsächlich zusammenzuarbeiten, etwa beim Bau von Raumstationen trotz desselben Fernziels; und ungeachtet der (nicht einmal genau berechenbaren, aber sicher exorbitanten) Milliardenkosten, die kein Land allein wird aufbringen können.

Und dennoch propagieren sich als Vordenker gerierende namhafte Astrophysiker, darunter Martin Rees und Stephen Hawking, immer wieder die Zukunft des Menschen im Weltall im Allgemeinen und bemannter Flüge zum Mars im Besonderen. Beliebt ist es auch, dazu ehemalige Astronauten zu befragen, etwa den deutschen Physiker Ulrich Walter, der 1993 mit der D2-Mission im US-Shuttle »Columbia« ins All flog. Auch er fantasiert dann gern von einer Art kosmischer Arche Noah; unlängst meinte er in einem Interview:

»Wenn die Menschheit sicher wüsste, dass es aus irgendeinem Grund mit der Erde zu Ende geht, würde man alles Wissen, Geld und Energie in den Bau eines Habitats stecken [wie etwa die indes fehlgeschlagene »Biosphäre II«], mit dem man ins Weltall aufbrechen kann, um einen anderen Planeten zu suchen, auf dem man leben kann.«(29)

Ebenso wie diese ausgemachte Utopie geht bereits das Denken an eine bemannte Marsmission in eine Sackgasse. Dass dabei niemand weiß, wie die Rückkehr gesichert werden soll, ist nur eines der zahlreichen völlig ungelösten Probleme. Wir können sie hier aber getrost unberücksichtigt lassen, da die Fantasten solcher Weltraumabenteuer den Boden ihrer eigenen Profession meist längst verlassen haben. Um es kurz zu machen: Der Mars muss warten, und zwar gleich aus drei Gründen: weil die Technik unzureichend ist, das Geld fehlt und überhaupt die Sinnhaftigkeit in Frage steht.

Fortschrittsoptimisten verweisen dennoch gern auf den Schriftsteller Jules Verne, dessen Science-Fiction nach vielen Jahren erst Realität geworden sei. Doch auch er lag keinesfalls immer richtig. Wo immer er Natur­gesetz­lichkeiten verletzte - die der Physik, was schlimm genug ist, wie die der Biologie -, gingen auch Vernes Visionen bis heute nicht in Erfüllung. Selbst unter der Setzung des derzeit theoretisch Möglichen ist der Flug zum Mars deshalb praktisch Unfug und jede weiterreichende Weltraumodyssee nur Spinnerei.

Es bleibt dabei: Immer noch Geld in das Milliardengrab einer aussichtslosen Marsmission zu investieren, um nach Wasser und Leben zu suchen, während wir beides hier auf Erden im Übermaß haben, aber nicht erhalten, wäre die wohl größte Fehlinvestition einer mit dem Überleben befassten Menschheit.

 9-  Es steckt in unseren Genen 

Um nicht missverstanden zu werden: Es soll hier gar nicht gegen Raumfahrt oder gar astrophysikalische Forschung an sich argumentiert werden; und keinesfalls gegen Flüge in den erdnahen Weltraum. Die erwähnte »Voyager«-Mission darf dank ihrer gestochen scharfen Bilder und Milliarden von Messdaten von den Ringen des Saturns, den Monden des Uranus oder der stürmischen Oberfläche des Jupiters zu Recht als »das erfolgreichste Raumfahrt­unternehmen aller Zeiten« gelten.30 Insbesondere die Erkundung unseres Planeten mithilfe von Satelliten in der Erdumlaufbahn ist heute aus vielen Gründen unverzichtbar. Von oben, aus dem Orbit, erkennen wir vieles erst richtig gut. Seit die ersten Satelliten vor Jahrzehnten begannen, uns ein ganz neues Bild zu zeigen, haben sie unser Verständnis des blauen Planeten revolutioniert.

Gleichzeitig jedoch die buchstäblich bodenständige Erforschung der Biosphäre, der belebten Umwelt unseres Planeten, weiterhin zu vernachlässigen ist höchst sträflich.

Natürlich ist völlig unbestritten, dass das Erkunden ferner Welten uns Menschen von jeher fasziniert. Stets geht es dabei um die Befriedigung eines unserer urmenschlichen Antriebe - der Neugier. Im Zusammenhang mit der Erkundung des Weltalls wird vielfach gesagt, dies stecke einfach in unseren Genen. Und tatsächlich spricht sehr viel dafür, dass es dieselbe Pioniermentalität ist, die den Menschen einst aus seiner Heimat in Ostafrika auswandern ließ, die unsere Vorfahren die Küsten der nächstgelegenen Kontinente entlang die ganze Erde besiedeln ließ. Und die uns jetzt magisch in die unendlichen Weiten des Weltalls zieht.

Kein Zweifel, dass es dem Homo sapiens im Blut liegt, sich hinausziehen zu lassen ins Unbekannte, immer wieder Grenzen zu überschreiten und Neues zu erkunden. Kein Zweifel auch: Das Unbekannte macht uns zwar Angst, reizt aber auch unsere Fantasie und animiert uns zum Aufbruch. Wir können das bei jedem Blick in die Menschheitsgeschichte feststellen; ja, wir können diesen Entdeckergeist getrost als ein fest verankertes Merkmal der ersten Natur des Menschen bezeichnen, in dem er es zu großer Meisterschaft gebracht hat. Auch darum wird es hier in diesem Buch gehen; wir kommen deshalb gleich anfangs des ersten Teils darauf zurück.

Doch beim vielfach ersehnten Exodus ins Weltall ist diesmal etwas Entscheidendes anders. Was dort fehlt, ist ein natürlicher Lebensraum des Menschen. Unsere Evolution hat uns Erdlinge nicht für den kosmischen Raum bestimmt. Während des Auszugs aus Afrika und der Wanderung über Kontinente bewegte sich der Mensch stets in seiner Welt. Stets fanden unsere Vorfahren dabei geeignete Lebensbedingungen vor; mit frischem Wasser, geeigneter Nahrung und allem anderen, was sie zum Leben brauchten (wenn nicht unterwegs, dann sicher am jeweiligen Zielort). Es war nicht nur diese natürliche Umwelt des Menschen, vielmehr die Passung des irdischen Lebensraumes auf seine evolutive Konstitution, die ihn überhaupt erst ausziehen, dann immer weiterwandern ließ - und ihm so ermöglichte, Neues zu entdecken. Grund genug, sich dies nun genauer anzuschauen.

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Glaubrecht, Prolog, 2019