Udo Grashoff
»In
einem Anfall
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2006 474 (518) Seiten DNB.Autor DNB.Person *1966 Wikipedia Suizid Wikipedia Autor Amazon.Buch inside Amazon.Autor mit Blick ins Buch Grashoff Aufsatz bei googlebooks detopia: Pankowbuch |
(detopia-2007:) Ein Doktorwerk mit NVA-Bezug.
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Inhalt-2006 Einleitung (11) Anhang (475) Quellennachweise 475 Literaturverzeichnis 477 Abkürzungsverzeichnis 509 Danksagung 512 Personenregister 513 Angaben zum Autor 518 Wie glücklich waren die Menschen im »Arbeiter- und Bauernparadies« wirklich? Die DDR gehörte zu den Staaten, in denen überdurchschnittlich viele Menschen durch eigene Hand starben. Im weltweiten Vergleich der Selbsttötungsraten nahm der »erste sozialistische Staat auf deutschem Boden« einen Spitzenplatz ein. War das eine Folge der SED-Diktatur? Warum wurde das Thema jahrelang tabuisiert? Der Leipziger Historiker und Biochemiker Udo Grashoff hat mehrere tausend Suizidfälle ausgewertet und fertigte erstmalig eine Analyse des Selbstmordgeschehens für die gesamte Zeit der DDR an. Dabei zeigt er anhand von bisher unveröffentlichtem Material die unterschiedlichen Arten im Umgang mit Selbsttötungen auf und arbeitet die Konfliktfelder und existenzbedrohenden Situationen in der SED-Diktatur heraus, die zeitweilig zu gehäuften Selbsttötungen führten. Eine gelungene umfassende Darstellung! 2007 Von G. Weißflog (Leipzig) Fünf Jahre hat sich der Autor, Historiker und Bio-Chemiker Udo Grashoff im Rahmen seiner Promotion intensiv mit der Thematik Selbsttötungen in der DDR befasst. Die nunmehr vorliegende 518 Seiten starke im Christoph Links Verlag erschienene Publikation ist das Ergebnis einer intensiven Forschungsarbeit, die Grashoff selbst als auch als eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen bezeichnet. Die Fülle der nun gebündelt vorliegenden Informationen zur in der DDR größtenteils tabuisierten Selbsttötungsproblematik verdankt sich einer umfangreichen Quellen- und Literaturrecherche, die ergänzt wird durch die Befragung von Zeitzeugen. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil quantifiziert im Anschluss an die theoretische Einführung die Häufigkeit von Selbsttötungen in der DDR und stellt zudem auch aufschlussreiche Analysen von Subgruppen vor (z.B. Suizide in Gefängnissen oder bei der Nationalen Volksarmee). Hernach diskutiert der Autor verschiedene Ursachen. Er kommt zu dem Schluss, dass die Suizide nicht generell als Reaktion auf die politische Repressionen durch die SED-Diktatur zurückzuführen seien. Als Ursachen für die relative Häufung von Suiziden sind vielmehr im Einzelfall das in der Biografie des Einzelnen begründete Scheitern vor dem Hintergrund einer gewissen <regionalen "Tradition"> in Mitteldeutschland (Sachsen und Thüringen) anzunehmen. Diese deutsche Region weist seit den Zeiten des Kaiserreiches die höchsten Selbsttötungsraten innerhalb Deutschlands auf. Nicht unerwähnt sollen die statistisch nachweisbaren Anstiege der Selbsttötungsraten im Kontext historischer Ereignisse wie der von 1961 oder 1991. Der zweite Teil des Buches ist dem Umgang mit Selbsttötungen in der DDR gewidmet, welches unter den Titel "Zwischen Tabu und Fürsorge" gestellt wird. Dies weist zum einen auf den Versuch der Tabuisierung durch die SED hin, zum anderen auf die gelenkte Annäherung des Regimes an die Thematik. Als Indikatoren für Hinwendung zum Thema werden die verstärkte wissenschaftliche Beforschung und die Einrichtung von Beratungsstellen bzw. telefonischen Kontaktmöglichkeiten, an die sich Menschen in akuten suizidalen Krisen wenden können. Abgerundet wird das Buch durch Reflexionen zur Darstellung des Suizids in der Literatur der DDR. Dem ist hinzuzufügen, dass vom Autor ebenso eine Sammlung von Abschlussbriefen vorliegt ("Ich möchte dann schließen"). Diese Abrundung verdeutlicht die Stärke des vorliegenden Buches. Es ist die Vielfalt der Zugänge, die Udo Grashoff wählt, um sich der tabuisierten Thematik anzunähern. Die Verknüpfung sorgfältig recherchierter statistischer Daten und umfassend dargestellter Fallbeispiele, eingebettet in die Darstellung soziologischer Theorie machen das Buch lesenswert und interessant. |
Teil 1: Ursachen und Häufigkeit von Selbsttötungen in der SBZ / DDR (13)
1
Selbsttötung als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung
(15)
2
Zur Häufigkeit von Selbsttötungen in der SBZ / DDR
(27)
3
Im Schatten der Statistiken? — Konfliktfelder und Einzelschicksale
(122)
4
Selbsttötungsrate und politische Ereignisse (181)
Teil 2: Zwischen Tabu und Fürsorge Zum Umgang mit Selbsttötungen in der DDR (269)
5
Suizidalität als ethisch-moralisches Problem (271) 5.3 Bewertungsprozesse suizidaler Handlungen in der Nationalen Volksarmee 289 5.3.1 Zum Umgang mit Selbsttötungen (289) 5.3.2 Zum Umgang mit Suizidversuchen von NVA-Angehörigen (290) 5.4 Selbsttötungen an den Schulen der DDR als politisch-moralische Herausforderung 293 5.5 Selbsttötungen und Gesellschaftskritik 297 5.6 Resümee 300
6
Praktiken des Verschweigens (302) 6.6 Zur Tabuisierung von Selbsttötungen in der NVA 320 6.7 Medizinische Suizidforschung der DDR und die Tabuisierungspolitik der SED 321 6.8 Resümee 335
7
Das politische Protestpotenzial von Selbsttötungen in der DDR
(337)
8
Suizidprävention im Sozialismus (386)
8.3
Suizidprävention in verschiedenen Sektoren der DDR-Gesellschaft 421 8.4 Resümee 446 9 Das »Selbstmord«-Thema in der Belletristik der DDR (448) Entwicklungslinien der Tabuisierung — Ergebnisse des II. Teils 470 |
Einleitung
11-12
Die DDR hatte eine der höchsten Selbsttötungsraten der Welt. »Noch ist nicht eingehend geklärt, ob und wie viele dieser Selbstmorde einen politischen Hintergrund hatten. Aber es gibt auch kein Land in Europa, in dem so viele Selbstmorde im Zusammenhang mit der Politik der Kommunisten stehen«, vermutete Ehrhart Neubert im »Schwarzbuch des Kommunismus«.1)
Wie tief reichte die SED-Diktatur mit ihrer im Grunde unbegrenzten »Verfügungsgewalt über die Gesamtheit der Lebenschancen des Einzelnen [...], über Bildungschancen und Berufschancen, über die Chancen der Befriedigung materieller Bedürfnisse und Kommunikationschancen« in das Privatleben hinein?2) Und welche Rolle spielten DDR-Spezifika wie die »Mauer« oder das Ministerium für Staatssicherheit?
Mediziner haben den psychischen Zustand derjenigen, die in den Tod gehen, als »präsuizidales Syndrom« bezeichnet.3) Als typische Bestandteile des Syndroms benannten sie eine extreme Einengung der Wahrnehmung, starres Denken, Hemmung von Aggressionen. Mit diesen Eigenschaften könnte man auch das politische System der DDR, die SED-Parteidiktatur charakterisieren. Kann daher aus der hohen Selbsttötungsrate ein hoher Grad an »sozialer Pathologie« in der sozialistischen Gesellschaft der DDR abgelesen werden?
Antworten auf diese und andere Fragen nach dem »Warum« von Selbsttötungen in der DDR werden im ersten Teil dieser Arbeit4) auf verschiedenen Wegen gesucht. Die Untersuchung beginnt, nach einer einführenden Sichtung wichtiger Ergebnisse der soziologischen und medizinischen Selbsttötungsforschung, mit einer Überprüfung der vorhandenen Erklärungsansätze der hohen Suizidneigung in der DDR. Dazu wird das quantifizierende methodologische Paradigma Emile Durkheims aufgegriffen und für eine auf — zum größten Teil erstmals veröffentlichtes — statistisches Material gestützte Kritik der Selbsttötungsdiskurse fruchtbar gemacht.
1) Ehrhart Neubert, Politische Verbrechen in der DDR, in: Stephane Courtois u.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998, S. 829-884, zit. 859.
2) Peter Graf Kielmannsegg, Krise der Totalitarismustheorie?, in: Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 1999, S. 286-304, zit. 299.
3) Vgl. Erwin Ringel, Der Selbstmord. Abschluß einer krankhaften psychischen Entwicklung, Wien-Düsseldorf 1953.
4) Es handelt sich um eine von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig angenommene Dissertation. Termin der Verteidigung: 22. Juni 2006. Gutachter: Prof. Ortrun Riha, Prof. Günther Heydemann, Prof. Alf Lüdtke.
Gleichzeitig wird in synchronen und sektoralen Vergleichen die Bundesrepublik verstärkt in den Blick genommen, die als Norm vielen Untersuchungen zur DDR-Geschichte ohnehin inhärent ist und hier als Bezugsgröße sichtbar und produktiv gemacht wird. Damit wird teilweise auch eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte geschrieben, indem zum Beispiel die Instrumentalisierung von Selbsttötungen in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges hinterfragt wird.
Im dritten Kapitel werden Einzelfälle analysiert; dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle politischen Maßnahmen und repressiven Sozialstrukturen im konkreten Suizidfall beizumessen ist. Das vierte Kapitel erweitert die Fragestellung, indem der Einfluss der politischen bzw. ökonomischen Verhältnisse der SED-Diktatur, die im zweiten Kapitel als statisches Gebilde behandelt wurde, nun unter dynamischen Gesichtspunkten untersucht wird.
Grundlage der Erörterungen im ersten, quantifizierenden Teil bilden die jeweils zeitgenössischen Repräsentationen von Suizidalität. Selbsttötungen werden in der westlichen Industriegesellschaft vor allem durch den Prozess der statistischen Erfassung als solche konstituiert. Diesem liegt eine pragmatische Selbsttötungsdefinition zugrunde, deren Determinanten die Identität von Handlungssubjekt und -objekt, ein knapper Zeithorizont und eine erkennbare Intention zu sterben sind.
Zweifelsohne zieht diese Definition eine willkürliche Grenze, indem sie tragische Unfälle, riskante Lebensstile oder langfristige Selbstzerstörung (wie zum Beispiel durch Überarbeitung oder Drogensucht) ausklammert; andererseits bildete sie die Grundlage des Selbsttötungsdiskurses des 20. Jahrhunderts, und erscheint deshalb als angemessen für die vorliegende Untersuchung.
Der zweite Teil dieser Arbeit untersucht den Umgang mit Selbsttötungen in den 40 Jahren des Bestehens der DDR. Insgesamt werden fünf Aspekte analytisch getrennt. Zunächst werden Deutungsvorgänge, d.h. ethisch-moralische Bewertungen von Selbsttötungen und deren Entwicklung untersucht. Danach werden die Praktiken des Verbots herausgearbeitet. Die Entstehung und Entwicklung dieser Praktiken stand, wie sich im siebenten Kapitel zeigen wird, in engem Bezug zum politischen Protestpotenzial von Selbsttötungen.
Neben den Tendenzen zur Tabuisierung gab es in der DDR aber auch Tendenzen der Enttabuisierung. Dazu zählten die Bemühungen um Suizidprävention, die vor allem im medizinischen Bereich stattfanden; vergleichbare Anstrengungen gab es zudem in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Als Beleg für allgemeine Enttabuisierungstendenzen in der DDR-Gesellschaft wird schließlich im neunten und letzten Kapitel die Verwendung des »Selbstmord«-Themas in der DDR-Literatur untersucht.
12
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