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3.2  Der Irrationalismus unserer Zivilisation   Gruhl-1975

Die moderne Kultur ist in ihrer gegenwärtigen Entwicklungs­phase eine Kultur ohne Weisheit, ohne Vernunft. Das ist eine Neuerung unter den Weltkulturen, und eine Neuerung, die nicht dauern wird. Carl Weizsäcker 

   Die erdrückende Lawine des Wissens  

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Die Lawine, die heute über die Welt rollt, ist nicht nur eine der Produktionen, sondern auch der Informationen (die selbst wieder in Druckereien produziert werden, welche ihrerseits auf Papier- und Maschinenfabriken angewiesen sind). Der Papierverbrauch beträgt in den USA 120 Kilo je Person und Jahr, woran der Ausstoß an Computerpapier allein mit 20 Kilo beteiligt ist. Der Bürger hat außerdem noch das zu verkraften, was über Rundfunk, Fernsehen und in Vorträgen auf ihn einwirkt. Die Informations­lawine wird zum Informationschaos. 

Dies ist auch im Bereich der wissen­schaftlichen Information der Fall. »Im Jahre 1665 erschien die erste wissenschaftliche Zeitschrift der Welt. Im Jahre 1865 betrug die Zahl der wissenschaftlichen Blätter 1000 und heute 100.000.«(1) Friedrich Dittmar meint, daß »nicht einmal der Spezialist auf irgendeinem noch so kleinem Gebiet heute noch in der Lage ist, mehr als fünf Prozent seiner speziellen Fachliteratur zu lesen«.(2)

Die Beschleunigung der Informationslawine ist so groß wie die der Produktion. Seit 1700 kommt es alle fünfzehn Jahre und heute alle zehn Jahre zu einer Verdoppelung.2 Dies trifft für die Fachliteratur ziemlich genau zu und bedeutet, daß in der Welt täglich 500 Fachaufsätze mehr erscheinen als jeweils ein Jahr zuvor. Die chemische Fachliteratur verdoppelt sich alle acht Jahre, die für die Elektronik alle fünf Jahre und die für die Weltraum­forschung sogar alle drei Jahre.3

Die Gesamtzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen aller Art liegt bei etwa vier Millionen pro Jahr.(4)

Dies bedeutet für ein Fach, z.B. die Biologie, daß 20.000 Zeitschriften in der Welt erscheinen, und der Biologe Bendley Glass schätzt, daß es um die Jahrtausendwende 120.000 mit sechs Millionen Artikeln sein werden. Er selbst sagt, daß er die Hälfte seiner Tage im Jahr braucht, um wenigstens 2000 Artikel davon zu lesen.5 Dies könnte aber immerhin zu der Schlußfolgerung führen, daß es gerade mit der Biologie bestens bestellt sei. Doch ganz im Gegenteil!

Der Biologe Barry Commoner führt aus, daß mit dem II. Weltkrieg zwar die biologische Forschung in den USA einen beispiel­losen Aufschwung genommen habe, daß wir aber dennoch erstaunlich wenig von den tiefgreifenden biologischen Umwelt­veränderungen wissen. Die biologische Forschung werde heute von der Überzeugung geleitet,

»daß der fruchtbarste Weg zu einem Verständnis des Lebens darin bestünde, einen spezifischen Vorgang auf molekularer Ebene zu entdecken, der dann mit <dem Mechanismus> eines bestimmten biologischen Prozesses gleichgesetzt werden kann. Die komplexe Biologie des Erdbodens oder das empfindliche Gleichgewicht des Stickstoff­zyklus in einem Gewässer — Phänomene, die nicht auf einfache molekulare Mechanismen zu reduzieren sind — werden heute oft als uninteressante Forschungsobjekte irgendeiner alter­tümlichen Zunft angesehen.«6

Commoner nennt dieses Vorgehen der Forschung <Reduktionismus> und sagt: 

»Der Reduktionismus tendiert dazu, die wissenschaftlichen Disziplinen voneinander zu isolieren und alle zusammen von der wirklichen Welt. ... Daß die Kommunikation zwischen derart spezialisierten Grundlagenwissenschaften versagt, ist ein wichtiger Grund dafür, daß wir solche Schwierigkeiten haben, unsere Umweltprobleme zu verstehen.«7

Der Wirtschaftswissenschaftler Walter Eucken meinte, daß der Mensch schon seit Jahrzehnten an eine aufspaltende Geschichts­betrachtung gewöhnt gewesen sei. Die Spaltung »in Politische, Wirtschafts-, Geistes-, Rechts-, Religions-, Kunsthistorie hat verhängnisvoll gewirkt. So verlernten wir, geschichtliche Ereignisse in ihrem universalgeschichtlichen Zusammen­hang zu sehen«.8 Inzwischen sind nicht nur weitere Sparten der Geschichte hinzugekommen, die einzelnen Historiker spezialisierten sich auf gewisse Länder und dort in der Regel noch auf bestimmte Epochen.

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Die Teilung, die mit der großen Zweiteilung in Natur- und Gesellschaftswissenschaften begonnen hatte, so daß daraus »zwei isolierte wissenschaft­liche Gruppierungen« wurden, setzt sich ständig weiter fort. Schon auf Grund dieser ersten Teilung in zwei Lager 

»können die Naturwissenschaften gewisse Probleme als technisch nicht lösbar bezeichnen und sie in die Niederungen der Politik verweisen, während die Gesellschaftswissenschaften die Suche nach Lösungen für Probleme, die mit den vorhandenen politischen Mitteln nicht zu lösen sind, auf die Zukunft verschieben, von der sie neue technische Methoden für ein Angehen dieser Probleme erwarten. Beide Wissenschaftsbereiche können auf diese Weise der Verantwortung ausweichen und ihren jeweiligen Mythos der Kompetenz und Relevanz aufrechterhalten...«9

Die Berge des bereits gesammelten Wissens und das punktuelle Bohren in die Tiefe haben zur Folge, daß sich die Wissen­schaftler immer weiter spezialisieren, um ein kleines Gebiet vollkommen zu beherrschen. Denn mit der Zunahme des Wissens nehmen nicht etwa die Fragen ab, sondern jedes gelöste Problem wirft mindestens zwei neue Fragen auf. Darum spaltet sich auch »alle fünfzehn bis zwanzig Jahre ein Wissensgebiet in zwei, wie bei der Zellteilung«.(10)  Das Problem präzisiert Heinz Haber mit folgenden Worten:

»Um zum Lauf der Dinge während des kritischen Jahrhunderts, das uns zwischen heute und dem Jahr 2075 ins Haus steht, etwas Bündiges sagen zu wollen, müßte man Fachmann auf so vielen Gebieten sein, daß ein einzelner so etwas nicht meistern kann. Was gehört denn da alles dazu: Politik, die Wirtschafts­wissenschaften, Geologie und Physik, Technik und Industrie, Transportwesen und Metallurgie, Landwirtschaft und Biologie, Ozeanographie und Klimatologie, Weltraumfahrt und Völkerpsychologie.«(10a)

 

       Die technische Realisation      

Die Entwicklung in den Wissenschaften entspricht ganz der Arbeitsteilung in der industriellen Produktion, die auch zu einer immer stärkeren Aufsplitterung und damit Einengung des einzelnen Aufgabenbereiches geführt hat. Die Arbeitsteilung ist der charakteristische Zug jeder Industrie­gesellschaft.11

Die industrielle Entwicklung war das Werk von einzelnen, die meistens sogar Autodidakten waren, keine Wissenschaftler. Bertrand de Jouvenel stellt fest, daß die Autodidakten unter den Erfindern erst in jüngster Zeit abgenommen haben, ohne daß ihr Anteil völlig unbedeutend geworden wäre.12

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Die Entwicklungen spielten sich zunächst in Fabriken und Werkstätten ab. 

»Die Universität hielt sich fast ausnahmslos aus diesem Abenteuer heraus. — Bis zum II. Weltkrieg blieb die Forschung eine rein intellektuelle Angelegenheit. Ein Luxus, den sich die Gesellschaft leistete. Der Wissenschaftler hatte manche Züge mit dem Künstler gemein. Er trieb Forschungen, die nicht auf einen Gewinn gerichtet waren, auf Kosten eines öffentlichen oder privaten Mäzens. Trotz einiger Ausnahmen von dieser Regel war eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik nicht erkennbar.«13

Bertrand de Jouvenel sagt weiter, »daß die technologische Revolution nicht aus der Wissenschaft geboren wurde, sondern daß die Wissenschaft nur zum Instrument jener geworden ist«.14  

So änderte sich das Verhältnis in den letzten Jahrzehnten grundlegend. Jetzt werden Wissenschaftler wie Techniker daran interessiert, ihre Ergebnisse in die Tat umzusetzen. Dies ist schließlich die Krönung ihrer Arbeit. Darum werden sie immer gute Gründe dafür anzuführen wissen, warum gerade ihr Projekt von größter Wichtigkeit sei. Die Technik entfaltet ihre eigene Finalität, die Projekte drängen auf ihre Realisierung.15

Die Spezialisierung der Wissenschaftler und Techniker gebiert auf Tausenden von Einzelgebieten Unmengen von Ergebnissen, die alle isoliert entstehen. Sie sind oft nicht einmal mit einem bestimmten Ziel ersonnen worden; aber damit sind vielerlei Potenzen auf verschiedensten Gebieten entstanden, die für freibleibende Zwecke bereitstehen. Der Mensch stellt nicht nur Werkzeuge her wie früher, sondern entwickelt Potenzen: Dampfmaschinen, Elektrizität, Dynamit, Motoren aller Art, Röntgen- und Laserstrahlen. Die Frage stellt sich: »Was kann ich damit alles machen, das heißt was kann ich nun alles wollen?«16)

Es wäre nicht möglich gewesen, die vielen Neuentwicklungen auch herzustellen und auf den Markt zu bringen, wenn, ja — wenn nicht damit auch Geld zu verdienen gewesen wäre. Der Kapitalgeber trifft aber damit auch die Entscheidung darüber, was produziert werden soll. Für ihn sind rein wirtschaftliche Überlegungen maßgebend. Er wird das herstellen, was den größten Gewinn verspricht und wofür er Abnehmer zu finden hofft. Es sind also isolierte Gesichtspunkte, wie auch der Käufer isolierte Gesichtspunkte zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Das Risiko aber, keine Käufer zu finden, war in den letzten Jahrzehnten gering, wie wir in dem Kapitel über die Arbeit sahen.

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Ohne die Kapitalgeber wäre die technische Realisation nicht in Gang gekommen. »Die Akkumulation von Kapitalien in der bürgerlichen Gesellschaft geht der Verwendung von Maschinen vorauf: Sie macht die Maschine aus einer technischen Möglichkeit zu einer geschichtlichen Realität.«17 Das Kapital übernahm schließlich auch die Rolle eines Bindegliedes zwischen Wissenschaft und Technik — aber erst in den letzten Jahrzehnten. Es ermöglichte sowohl Wissenschaftlern wie Technikern, das Ersonnene in Aktion zu sehen, zu verbessern, neue Entwicklungen daran zu knüpfen. Die Wissenschaft verdankt, nach Dubos, »ihr großes Prestige eher der technologischen Anwendung als ihrem begrifflichen Inhalt«.18 »In der Tat genießen die Wissenschaftler heute ein enormes Ansehen; doch geht dieses Prestige weniger auf die allgemeine Verehrung des Wissens in der Gesellschaft zurück als auf die von der Wissenschaft erwarteten Resultate, die man als Instrumente zur Bewältigung praktischer Probleme schätzt.«19

Die Technik verbindet sich mit jeder Macht, die ihr die Realisierung ermöglicht. So paktiert sie im Westen mit dem Privatkapital, im Osten mit dem Staat. Wobei im Westen der Staat keineswegs abseits steht. Hier kommt es vielmehr zu einem Dreiecks­verhältnis zwischen Kapital, Wissenschaft und Technik und dem Staat.

Karl Jaspers geht von der »Neutralität der Technik« aus, die zunächst »an sich weder gut noch böse«20 ist. Doch ist dies lediglich der Ausgangspunkt. Die sich selbst überlassene Entwicklung bleibt nicht neutral. Sie bekommt nicht nur ein zunehmendes Eigengewicht, ihre Folgewirkungen gehen in Bereiche, wo man das gar nicht vermutet hat. Wenn es in den »Grenzen des Wachstums«21 heißt: Technik erfordert »keine Änderung menschlicher Werte oder moralischer Vorstellungen«, dann ist das dem Wortlaut nach richtig; die Technik »erfordert« diese Änderungen zwar nicht, aber sie hat automatisch die Änderung menschlicher Werte und moralischer Vorstellungen zur Folge. Dies wurde im Laufe der Entwicklung praktisch bewiesen.

Darum kommt Freyer zu dem Schluß:

»Die ältere Kulturphilosophie, besonders die deutsche, hat sich das Problem der Technik im allgemeinen zu leicht gemacht. Sie ging von der These aus, die Technik sei ihrem Sinne nach ein wertneutrales Mittelsystem, das von sich aus überhaupt keine Ziele oder Entscheidungen setzen könne und jedenfalls nicht dazu befugt sei (das ist natürlich an sich ganz richtig). Daran schloß sich dann meist der Gedanke, den Georg Simmel unter das Stichwort <Die Dialektik des Mittels> gebracht hat: mit einer gewissen Notwendigkeit absorbiere der Mittelapparat einen immer größeren Teil der seelischen Kräfte; die Gefahr sei, daß er davon zuviel absorbiert;

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dann werde er zum Selbstzweck, er wachse sich gleichsam zu seinem selbständigen Wesen aus; schließlich halte der Mensch mit aller Anstrengung die Maschine in Gang, wisse aber gar nicht mehr, wozu sie läuft, und so werde der Sklave Mittel zum Herrn seines Herrn.«22 In diesem Stadium befinden wir uns heute. »Um so mehr scheint es an der Zeit, die Bilanz des technischen Fortschritts zu ziehen, bezogen nicht auf die Technik, sondern auf den Menschen.«23

Das, was für die Technik gilt, trifft auch für die Wissenschaft zu: »Die Wissenschaftler werden niemals müde zu betonen, daß die Ergebnisse ihrer Forschung >neutral< sind: ob sie die Menschheit fördern oder zerstören, hängt davon ab, wie sie angewendet werden. ... Sogar die Wirtschaftswissenschaftler bestehen auf ihrer Neutralität. >Über die Werthaftigkeit oder Unwertigkeit eines Zieles an sich zu befinden, ist niemals Sache der Wissenschaft<.«24

Infolge der beschriebenen Verschmelzung von Wissenschaft und Technik wird nun »jede Entdeckung kurzfristig in technische Produktion umgesetzt; nichts hemmt das ungezügelte Spiel mit der Macht des Gedankens über die Kräfte der Natur; aber die Auswirkungen dieses Tuns werden weder bedacht noch kontrolliert, weil keine der Spezialwissenschaften dafür zuständig ist. Die folgenreichsten Auswirkungen der modernen Wissenschaft sind nicht die vorausberechneten und geplanten Effekte, sondern die unvorhergesehenen Nebenwirkungen. Das irrationale Produkt dieser Nebenwirkungen ist die Zivilisation, in der wir leben.«25

Klaus Müller spricht von einer »Lawine der miteinander gekoppelten Versäumnisse«26, womit er den gleichen Vorgang umschreiben will. Die meisten Entscheidungen sind in den letzten Jahrhunderten dadurch gefallen, indem nichts entschieden wurde. Denn die Folge der Nichtentscheidung war nicht etwa, daß nichts getan wurde, sondern daß jeder Spezialist in seinem Bereich völlig freie Hand bekam, das zu tun, was er aus seiner Sicht für richtig hielt. Er brauchte keine Rücksicht auf Übergeordnetes oder Benachbartes zu nehmen. Isoliertes, schrittweises Vorgehen kennzeichnet die Entwicklung der Neuzeit.

Nebenwirkungen und Versäumnisse sind das Produkt einer Spezialisierung der Wissenschaften — Georg Picht spricht auch von »Balkanisierung der Wissenschaft«27 — wobei jede einzelne ihre isolierten Ergebnisse in isolierte Aktionen leitet. Dies konnte nur geschehen, weil alle Welt gierig auf Ergebnisse wartete, weil man den Erfindern die Projekte immer schneller aus den Händen riß — und in den letzten Jahren die Wissenschaft sogar antrieb, kurzfristig Ergebnisse zu liefern.

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»Leider entwickelte der moderne Mensch neue technische Kräfte, bevor er weise mit ihnen umzugehen wußte. Nur allzu häufig wird die Wissenschaft heute für technische Bereiche benutzt, die nichts mit menschlichen Bedürfnissen zu tun haben und lediglich darauf hinzielen, neue künstliche Wünsche zu erzeugen.« Aber, so sagt Dubos, »die Einführung einer neuen Technologie ohne Beachtung aller möglichen Auswirkungen kann zu einer Zeitbombe werden, die jederzeit, von einem Monat bis zu einer Generation in der Zukunft, der Gesellschaft ins Gesicht explodieren kann«.28

Man überließ den Spezialisten aus Wissenschaft und Technik das Feld zum Teil notgedrungen, zum Teil aber auch in der Überzeugung, daß hier »das nicht zu tötende Glaubensbedürfnis der Menschen in lockenden Bildern einer Zukunftswirtschaft ... Ersatz für die zerschlagene Hoffnung des Himmelreiches« finden könne.29

Die Berufung auf den wissenschaftlichen Spezialisten ist völlig unstatthaft; denn die Wissenschaft »ist im strengen Sinne des Wortes nicht verantwortungsfähig«.30 Es ist ein untauglicher Versuch, hier Verantwortlich­keiten schaffen zu wollen.

»Wissenschaft schafft sich ihre eigene Qualifikation. Aber diese erstreckt sich nur auf das Fachgebiet einer Disziplin. Die Frage der Einbettung des Fachgebietes in die Welt des Menschen ist nicht eo ipso Sache dieser Disziplin. Es gibt sicher überhaupt keine Disziplin, die eine solche Einbettung ins Auge faßte ... Wissenschaft gleicht einem Feuer, das in einem Dickicht entzündet wurde. Niemand kümmert sich darum, ob der Wald abbrennt. Denn der Wald liegt nicht in der Helle wissenschaftlicher Rationalität.«31

Dieses Vorgehen war so lange ungefährlich, wie die spezifischen wissenschaftlichen Ergebnisse nicht in die Tat umgesetzt wurden. Heute werden aber jährlich, täglich, stündlich ungeheure Mengen von neuen Fakten geschaffen, für die man bestenfalls nachträglich Alibis sucht — nach dem Wort von Karl Jaspers: »Ich erkenne, was ich machen kann dadurch, daß ich es tue.«32 Die Folge ist: »Wir eilen unbekümmert in den Abgrund, nachdem wir etwas vor uns hingestellt haben, das uns hindert, ihn zu sehen.«33

In der Wirtschaft kommt es zum freien Spiel der Kräfte, die von Wissenschaft und Technik bedient werden. Und die entfesselte Konkurrenz führt zwangsläufig zu einer hektischen Nachfrage nach allem Neuen. Auch Bertrand de Jouvenel warnt vor einer Hoffnung auf die Wissenschaft: »Die Wissenschaftler sind die Lieferanten der Erkenntnis, ohne jedoch die Richtung ihrer Anwendung zu bestimmen. Natürlich läßt sich bei der Anwendung von Wissen kein einheitlicher Wille feststellen: vielmehr findet ein außerordentlich verworrener Prozeß statt, an dem viele Instanzen beteiligt sind.«34

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Weil sie längst überfordert waren, haben alle Instanzen abgedankt. Die Entwicklung lief aber von selbst immer weiter; sie hatte inzwischen längst ein Eigengewicht erlangt, das sie auf der einmal eingeschlagenen Bahn vorantrieb. Da keine allgemein anerkannten Zielsetzungen vorhanden waren, wurden die Mittel zum Zweck. Alle Nachdenklichen wissen, daß dies nicht mehr gutgehen kann. Alvin Toffler sagt, »wir können nicht zulassen, daß Entscheidungen von welterschütternder Bedeutung leichtfertig, unbedacht, planlos gefällt werden. Den Dingen ihren Lauf lassen heißt, kollektiven Selbstmord begehen.«35

Der Normalbürger in seinem naiven Vertrauen geht natürlich davon aus, alles laufe bestens überlegt, vorausbedacht und von höchsten Instanzen kontrolliert ab. Wir können ihn in diesem Punkt völlig »beruhigen«: da ist nirgendwo irgend jemand, der das Ganze in der Hand hätte; ja, da ist sogar kaum jemand, der es auch nur überblickte. Der Bürger wird nun fragen, wozu haben wir denn eine Regierung? Ist es nicht deren Aufgabe zu prüfen, auszuwählen, die Folgen zu bedenken? Dazu ist zu sagen, daß sich zunächst gerade die führenden Staaten der westlichen Welt viel darauf zugute hielten, daß sich bei ihnen die Wirtschaft von selber regele. Theoretisch halten sie noch heute weitgehend an dieser Ansicht fest, obwohl es kein einziges Land mehr gibt, wo die Wirtschaft noch sich selbst überlassen wäre. Die Regierungen waren einfach gezwungen, das immer komplizierter werdende Gewirr der Industriegesellschaft unter gewisse Regeln zu stellen. Die Weltwirtschaftskrise zwischen den beiden Weltkriegen gab dafür starke Anstöße, die in der Folgezeit durch die Ansprüche der Menschen auf soziale Sicherheit gewaltig verstärkt wurden.

Aber was da bewirkt werden konnte, waren jeweils nachträgliche Korrekturen, die angebracht wurden, um die schlimmsten Unzuträg­lichkeiten zu mildern. An den vollendeten Tatsachen änderte dies nie etwas. Daran wollte man auch gar nichts ändern; denn noch erschienen sie ganz angenehm.

Ein neues Moment kam nach dem II. Weltkrieg dazu: Die unwahrscheinlichen Erfolge der industriellen Produktion verleiteten die Regierungen wohl in allen Fällen dazu, sich mit den Siegern auf ein Podest zu stellen, um den Beifall miteinzuheimsen.

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Auch wenn man sich mit fremden Federn schmückte — nichts eignete sich so glänzend für die Wahlkämpfe wie die Bilder des »Wirtschaftswunders« und die immer größer werdenden Zahlen auf allen Gebieten. Die Wirtschaft, vor allem die Großindustrie, teilte nur zu gern die Lorbeeren mit den Regierungen, konnte sie ihnen doch damit am deutlichsten demonstrieren, worauf sie angewiesen, ja von wem sie schon völlig abhängig waren.

Und die Regierungen begriffen sehr schnell, welche Werte sich hier ansammelten und daß diese sich für steuerliche Abschöpfungen geradezu anboten. Die für den Staat eintretenden Folgen waren höchst angenehm. Aber gerade diese erfreuliche Teilhaberschaft hinderte die Staaten andererseits daran, einmal Überlegungen darüber anzustellen, was denn hier eigentlich vor sich ging.

Es blieb auch gar keine Zeit, darüber nachzudenken; denn das Tempo der technischen Realisation hatte zunächst zu sozialen Notständen geführt. Diesen mußte staatlich begegnet werden. Dies geschah mit der sozialen Realisation, die dann zum Sozialstaat geführt hat. Je perfekter aber der Sozialstaat organisiert ist, um so mehr ist er auf die Produktivität der Wirtschaft angewiesen. Darum muß seine Regierung zwangsläufig für die Prosperität der Wirtschaft sorgen. Dies tun inzwischen die Anhänger der Marktwirtschaft genauso intensiv wie die Anhänger der Planwirtschaft. Der weitaus größte Teil der politischen Auseinander­setzungen, zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland, geht darum, ob denn die Regierung die richtige Wirtschaftspolitik treibe. Den Regierungen wird längst die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik auch dann aufgebürdet, wenn dies gar nicht in die Theorie der regierenden Partei paßt. Die Regierungen fügten sich diesem Wandel — gern, solange alles gut ging; sie werden sich noch mehr fügen müssen, wenn es schlecht geht. Vor dieser Epoche stehen wir jetzt.

Dieser epochale Wandel trifft durchweg auf Staatsführungen, die nicht im geringsten mit den echten wirtschaft­lichen Grund­gesetzen vertraut sind. Wie sollten sie auch, da nicht einmal die Wirtschafts­wissenschaftler solche besitzen?! Der demokratische Staat ist bestenfalls auf Interessen­ausgleich vorbereitet, nun aber kommen völlig neue Aufgaben auf ihn zu.

Anzahl und Schwierigkeitsgrade der Probleme nehmen in der Industriegesellschaft ständig zu. »Nimmt die Veränderung zu, dann ... stellen sich pro Zeiteinheit (Jahr oder Legislaturperiode) mehr neue Probleme, dann steigt mit der Zeit der Druck, welcher von den nach Entscheidung verlangenden Fragen auf die Verantwortlichen ausgeübt wird.

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In einem derartigen Fall ist es scheinbar natürlich und sogar vernünftig, die Fragen in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit vorzunehmen. Eine Praxis, deren Irrtum in den Ergebnissen sichtbar wird. Wenn jedes Problem erst auf die Tagesordnung gesetzt wird, wenn es sich als <brennend> nicht länger hinausschieben läßt, dann sind die Dinge inzwischen soweit gediehen, daß — wie man beim Schachspiel sagt — <Zugzwang> herrscht. Es gibt keine mögliche Wahl mehr zwischen verschiedenen Handlungen mit dem Zweck, eine noch flexible Situation zu beherrschen, keine determinierenden Handlungen mehr, sondern nur noch einen im voraus determinierten Gegenzug, um sich aus einer Lage zu befreien, die nur noch einen Ausweg offen läßt.

Die Verantwortlichen des Augenblicks gehorchen der Notwendigkeit und rechtfertigen sich nachträglich damit, daß sie nicht die Wahl gehabt hätten, sich anders zu entscheiden. Richtig ist, daß sie die Wahl nicht mehr hatten, und das ist etwas ganz anderes. Wenn sie auch hinsichtlich der tatsächlich unumgänglichen Entscheidung von Tadel freizusprechen sind, in bezug darauf, daß sie die Dinge bis zu diesem Punkt ihren Lauf nehmen ließen, der ihnen jede Entscheidungsfreiheit nahm, sind sie es nicht. Der Beweis der Unvorsichtigkeit ist es, daß man unter die Herrschaft der Notwendigkeit gerät, und um das zu vermeiden, muß man die sich erst bildenden Situationen zur Kenntnis nehmen, solange sie noch formbar sind, ehe sie gebieterisch zwingende Form angenommen haben. Anders ausgedrückt, ohne prävisionelle Aktivität gibt es keine Entscheidungsfreiheit.«36

Damit ist zum »Sachzwang« der (zeitliche) »Zugzwang« gekommen. Die Politiker können, selbst wenn sie den besten Willen hätten, nichts anderes mehr tun, als das »abzusegnen«, was irgendwelche Spezialisten auf einem Gebiet — vielleicht schon vor langer Zeit, unter ganz anderen Voraussetzungen — in die Wege geleitet hatten. Die Beamten waren ihrerseits nicht zu beurteilen imstande, was Spezialisten auf immer neuen Gebieten veranstalteten, und sie sind es heute noch viel weniger. Genausowenig sind es die Politiker in den Gemeinde- und Stadträten oder die Abgeordneten in den Parlamenten bis hin zum Bundestag. Sie müssen sich notgedrungen in jedem Einzelfall auf das Urteil von Fachleuten verlassen — und das sind die Interessenten selber oder deren Beauftragte. Darum verwenden die Politiker in ihrer Hilflosigkeit gern den Begriff »Sachzwang«, der in der Mehrzahl noch beliebter wurde: sie sehen sich nun überall von »Sachzwängen« umgeben.

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Die Probleme und die Projekte werden aber immer größer, so daß der Staat auch im Westen um finanzielle Beteiligung bei Neuentwicklungen gar nicht umhinkann — und sei es wegen der inter­nationalen Konkurrenz. So stehen die Regierungen und die Parlamente vor einer Menge »besonders vordringlicher« Projekte. Dabei sind sie völlig unfähig, alle im Zusammenhang zu sehen; denn jedes Projekt hat normalerweise ein Ministerium zum Fürsprecher. Und wer soll all die Einzelheiten beurteilen? Sollte es doch jemand versuchen, wird er sofort in einigen Punkten der Unkenntnis bezichtigt. Bemüht sich eine Regierung, Schwerpunkte zu setzen und dafür anderes zurückzuweisen, dann geht mit ziemlicher Sicherheit ein Aufschrei durch die Öffentlichkeit: wie verständnislos sich diese Regierung gegenüber einem so »berechtigten Anliegen« verhalte. Und gewiß tauchen in der Presse all die guten Argumente wieder auf, die sich auch tatsächlich für das eine Projekt vorbringen lassen — wenn, ja wenn man es eben isoliert betrachtet.

Was tut infolgedessen fast jede Regierung dieser Erde, insbesondere aber die demokratische? Sie gibt jedem etwas, damit möglichst alle den Mund halten. Wer dann noch schimpft, hat es schwer in der Öffentlichkeit (denn er bekommt ja etwas), und ihm kann man daraufhin leicht drohen, daß er in Zukunft nichts mehr bekommen werde, wenn er sich so »undankbar« verhalte. Also bleibt alles beim alten Schlendrian.

Wo sollen auch die armen Beamten, Politiker und schließlich die Richter die übergeordneten Maßstäbe hernehmen, um die technischwirtschaftlichen Vorhaben beurteilen zu können? Schulen und Universitäten sehen sich schon lange nur noch in der Lage, Spezialisten auszubilden. Wenn Karl Steinbuch die lobens­werte Unterscheidung zwischen Spezialisten und Generalisten vornimmt, dann kann er doch nicht sagen, wo die Generalisten eigentlich herkommen sollen. Er gibt auch zu, »daß unsere akademische Tradition beinahe ausschließlich Spezialisten produzierte, für die Randprobleme kein Verständnis entwickelte und sich so ein beängstigender Mangel an Generalisten ergab. Die Generalisation, die in den philosophischen Fakultäten betrieben wird, geht meist auf Kosten der Realitätsnähe. Man hält es vielfach für unmöglich, das Sachwissen mehrerer Fakultäten rational zusammenzufassen, und überläßt übergeordnete Probleme den spontanen Aktionen von Amateuren.«37

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Generalisten sind Einzelgänger, die sich aufgrund ihrer Anlagen dazu entwickelt haben, oder solche, die ihr Spezialistendasein nicht befriedigte. Generalist zu sein, ist aber kein Beruf, der eine bestimmte Laufbahn ermöglichen würde, ja man wird fast niemanden finden, der bereit wäre, Generalisten zu beschäftigen. Selbst die Zeitungen beschäftigen heute Spezialisten, und die Politiker entwickeln sich zu solchen, wenn sie es nicht von vornherein waren.

Max Nicholson folgert: »Man wird die menschliche Entwicklung nur dann mit der natürlichen Umwelt im erforderlichen großen Maßstab in Einklang bringen können, wenn die verantwortlichen Politiker, Verwalter, Manager, Techniker usw. auf eine neue Art ausgebildet werden, so daß sie lernen, die Probleme als Ganzes und in ihren großen Zusammenhängen zu sehen. Nach gegen­wärtigen Unterrichts­methoden lernen sie die Umwelt nur bruchstückweise, in isolierten Aspekten kennen.«38

Die Folge ist, daß die Politik ebenso »balkanisiert« ist wie die Wissenschaft. In allen Bereichen werden Anforderungen gestellt, die menschliches Vermögen übertreffen. »Was eigentlich vom heutigen Menschen gefordert wäre, ist ein solches Übermaß an planvollem, verantwortlichem Handeln, wie es ein endliches Wesen, das er ist, gar nicht leisten kann. Unter ethischem Aspekt ist es daher unsere Endlichkeit, die in die Krise gelangt ist: Wir haben in einem dreihundert Jahre währenden, weithin blinden Anlauf eine Welt entworfen und gestaltet, deren verantwortliche Steuerung ein Maß an Überblick und Voraussicht erfordert, welches mit der aktualen Endlichkeit unseres Wissens und Könnens kollidiert.«39 Aber die Ausdrücke »entworfen« und »gestaltet«, die Klaus Müller verwendet, stimmen schon nicht; es wurde gerade nichts entworfen und nichts gestaltet, vielmehr entfesselt und freigesetzt.

Es war bisher noch nie jemand da, der Gesamtverantwortung tragen konnte, aber auch selten jemand, der Gesamtverantwortung tragen wollte. Die Berufung auf die »Spezialisten« wurde zum beliebtesten Spiel der heutigen Zeit, die Verantwortung loszuwerden. In dieser Lage, in der ohnehin niemand mehr »durchsteigt«, kommt dann eine Theorie, wie die von Adam Smith, wie gerufen, wonach eine »unsichtbare Hand« schon alles regele.40

Wenn das Ganze, was nie gewachsen ist, und für das es eingestandenermaßen auch niemals eine Konzeption gab, zusammen­brechen wird, dann wird es unzählige Teilverantwortliche oder besser Kleinstverantwortliche (in Deutschland nannte man sie Mitläufer) geben, aber niemanden, der die Gesamtverantwortung trägt; darum wird es auch sehr leicht sein, die Verantwortung immer weiter und hin und her zu schieben.

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Es könnte aber schließlich der Fall eintreten, daß das Volk absolut jemanden zu hängen wünscht. Dann haben die Politiker die größte Chance, zu dieser Ehre zu kommen — schon darum, weil man sie kennt; denn wer kennt schon den eigentlich Verantwortlichen bei der Firma Nova Chemie & Co. KG auf Aktien?

Aber so ganz ungerecht wird das auch gar nicht einmal sein. Die Politiker tragen nun einmal die Verantwortung für »das Ganze« — und sie waren ja auch bisher immer schnell zur Stelle, wenn es einen Fortschritt zu feiern galt und die Verdienste derer zu loben waren, die solch großartiges Werk durch ihren »unermüdlichen Einsatz überhaupt erst ermöglicht« hatten.

Die Völker sind in den letzten Jahrzehnten, soweit es das konkrete Leben der Bürger betrifft, nicht mehr von Ideen, Religionen oder kulturellen Werten beherrscht gewesen und schon gar nicht von klaren Zielen. Beherrschend waren die angeblich konkreten Zwänge der Wirtschaft. Der Bürger merkt nur noch die Folgen, und diesen paßt er sich an, denn sie kommen allmählich. Ja, es gilt als Zeichen der Modernität und der Fortschrittlichkeit, sich anzupassen. Bisher scheint ja auch alles wunderbar gelaufen zu sein. Und die Planer im Osten haben es auch nicht besser machen können; wie sollten sie auch, es sind ja ebenfalls durchweg Spezialisten.

 

      Unendliche Möglichkeiten in einer endlichen Welt?      

 

Den technisch entwickelten Ländern der Erde eröffneten sich inzwischen eine solch riesige Zahl technischer Möglichkeiten, daß es allein von der Menge her längst nicht mehr möglich ist, alle zu realisieren. Dies ist schon ein mathematisches Problem geworden: die Menge der einsetzbaren Mittel, die wir in diesem Fall unter dem Begriff Kapital zusammenfassen können, kann gar nicht so schnell zunehmen wie das Angebot an Neuerungen. Dafür bietet allein die heutige Medizin eine Unmenge von Beispielen. Dennoch erhält man die Illusion fleißig aufrecht, als könnte alles, was möglich ist, auch wirklich werden.

Die sich zwangsweise vergrößernde Differenz zwischen Möglichem und Wirklichem ist übrigens eine Quelle wachsender Unzufriedenheit. Die perfektionierte Nachrichtentechnik der Massenmedien bringt tagtäglich Meldungen von tatsächlichen oder angeblichen neuen Möglichkeiten, die dann jeder auch nutzen möchte. Da sie dennoch für lange Zeit noch nicht zur Verfügung stehen, vielleicht niemals zu haben sein werden, wird jeweils nur eine Erwartung geweckt, die dann unerfüllt bleibt, aber zu einer politischen Forderung wird. Da die Möglichkeiten ständig zunehmen, wird der Abstand zur Erfüllung und damit die Unzufrieden­heit immer größer, niemals kleiner.

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Nichts ist heute leichter, als phantastische Zukunftsbücher zu schreiben. Eine ganze Reihe von Autoren, die sich »Futurologen« nennen, betreiben dieses Geschäft ausgiebig. Sie brauchen nur die extremsten Möglichkeiten auf einigen Gebieten auszumalen, und schon ist eine Welt voller Wunder fertig. Wolfgang Schmidbauer sagt sehr richtig: Diese Futurologen sagen die Zukunft voraus, »indem sie jene Einzelbereiche der Gegenwart, die sie besonders interessieren, zu gigantischen Dimensionen aufblasen«.41

Klaus Müller spricht von einer »Anhäufung aller nur denkbaren Möglichkeiten«, wie sie zum Beispiel von Herman Kahn praktiziert wird. Die Propheten gehen von der für sie selbstverständlichen Voraussetzung aus, »daß alles, was sein kann, auch sein soll und also schließlich auch sein wird«.42 Nicht einmal Widerspruch bekommen diese Utopisten; denn jeder Spezialist wird für seinen isolierten Fachbereich bestätigen, daß »dies geht«.

Dennoch ist es Wahnsinn, weil nicht alles, was geht, zugleich und überall gehen kann. Es geht nicht einmal das eine oder das andere. Schon jetzt kann nur noch jeweils eines von vielen Angeboten der Wissenschaft und Technik realisiert werden. »Wir schicken uns an, unwiderruflich die Erfahrung zu machen, daß der Traum von den unbegrenzten Möglichkeiten ein Wahn war. Die technische Welt ist eine Welt der grausam begrenzten Möglichkeiten.«43 Mit der exponentiell wachsenden Zahl der Möglichkeiten nimmt der Anteil derer, die verwirklicht werden können, unwiderruflich ständig ab — nicht zu. Dies ist ein Gesetz, das prinzipiell bereits vor aller Rohstoff- und Energieverknappung und vor der Umweltverderbnis gegolten hat. Doch diese begrenzenden Faktoren werden das Problem gewaltig verschärfen und zu einem unlösbaren machen; denn ihre Grenzen gelten absolut.

Auf die Frage: was wollen wir? gab es bisher nur die einfache Antwort: Alles! Da heute um so weniger verwirklicht werden kann, je größer die Zahl der Möglichkeiten geworden ist und weiter wird, lautet jetzt die entscheidende Frage, wohin soll die Entwicklung eigentlich gehen? Die jetzt getroffene Auswahl bestimmt doch all das Weitere, was in der Folge geschehen kann.

Bisher war es ein wesentlicher Bestandteil des Fortschrittsglaubens, daß alles, was man machen könne, gut sei und daß man es darum auch machen müsse. 

* (d-2015:) W.Schmidbauer bei detopia 

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Alexander Rüstow formulierte es so: »So fest war man im 19. Jahrhundert und noch bis weit ins 20. hinein von der unantastbaren Absolutheit und der unbedingten Heilsamkeit des technischen Fortschritts überzeugt, daß man auf den Gedanken einer Kontrolle, auf die Frage, wozu denn das gut sei, was denn dabei herauskomme, ob nicht vielleicht eine Auswahl notwendig wäre, gar nicht kam. ... Der technische Fortschritt wurde als ein Gut an sich, als etwas Unbedingtes, Unbezweifelbares, Begeisterndes, Herrliches, Erhebendes uneingeschränkt und unkontrolliert bejaht.«44

Der Fortschritt der Technik wurde mit dem Fortschritt des Menschen gleichgesetzt. Ja, genau besehen gab es überhaupt keinen anderen Fortschritt mehr als den von der Technik erzeugten. »Der technische Geist wird ... aus der Führung vorgegebener Zielsetzungen entlassen.«45 Er war nie unter dieser Führung. Das Ganze ist »ohne Wissen um die Folgen zustande gekommen«.46

Die technische Realisation hat weder ein Ziel noch dient sie der Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Ernst Forsthoff sagte: »Der technische Prozeß produziert sich selbst, und das um keines anderen Zweckes als um seiner selbst willen. Sein Motor ist, wie schon Hans Freyer feststellte, der dem Menschen innewohnende Drang, das, was als machbar erkannt ist, auch zu machen. Eben weil die Technik keinen außer ihr selbst liegenden Zweck hat, ist sie beliebig instrumentierbar. Sie kann dem Profitstreben einzelner ebenso dienstbar sein wie der Hervorbringung eines breit gestreuten, allgemeinen Wohlstands — und auch beiden zugleich — wie auch den Zwecken der politischen Macht.«47

Der heute erreichte Zustand unserer Zivilisation ist alles andere als ein großer Wurf. Er konnte das auch gar nicht werden, da schon die Grundlagen nicht stimmten. Aber auch die einzelnen Teile stehen beziehungslos im Raum. »Mit anderen Worten: Die Technik wucherte bisher aufs Geratewohl, nur durch Zufälle und Profit-Erwägungen bedingt. Mit den kontrollierten und geplanten Experimenten, die zu den technischen Anwendungen führten, hat diese Technik-Entwicklung nichts gemein.« 

Und der amerikanische Professor Philip Siekevitz führt in einer 1970 gehaltenen Rede aus, »daß diese Forschung und diese technische Entwicklung unerbittlich miteinander verknüpft sind und daß wir Forscher trotzdem nur wenig von der Welt um uns herum verstehen. Deshalb halte ich es für geradezu selbstmörderisch, zu glauben, mit noch raffinierterer Technik ... die Fehler der vergangenen Technik wiedergutmachen zu können.« Er schließt mit den Worten: »... und selbst wenn wir es nicht glauben, erwecken wir den Anschein, als seien wir unserer Sache sicher. Und die Welt nimmt unsere vorläufigen Ergebnisse und macht sie zu Tatsachen.«48

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Der Zweifel verstärkt sich heute überall, gerade bei Technikern und selbst bei Wirtschaftswissenschaftlern. So sagt der Amerikaner Galbraith: »Man ist heute immer mehr der Meinung, daß an einem entsprechenden Tempo des technischen Fortschritts alle Nutznießer sterben werden.«49 Und der Schweizer Ingenieur Ernst Basler wirft die Frage auf: »Wird der hochzivilisierte Mensch, dem der Eroberungstrieb zur zweiten Natur geworden ist, nun auch die Vernunft aufbringen, seine angenommenen Gewohnheiten abzulegen, und einsehen, daß man in Zukunft auch im technisch-wirtschaftlichen Bereich immer weniger all das tun darf, was man tun könnte?«50

Wenn so weiter gewirtschaftet wird wie bisher, dann werden die Naturgesetze die Arbeit besorgen und die Menschen durch eine Kette von Katastrophen zur Anpassung zwingen. »Zusammenbruchsanpassung« nennt das Bruno Fritsch.51 Klaus Müller beginnt sein Buch <Die präparierte Zeit>, mit den Worten:

»Noch nie war die Zukunft so ungewiß wie heute; mehr noch: sie ist tödlich bedroht. Die Menschheit steht am Abgrund ihrer bisherigen Geschichte. ... Der Abgrund — das ist die Gesamtheit der zerstörerischen Wirkungen einer unaufgeklärt zur Herrschaft gelangten wissenschaftlich-technischen Welt auf die Bewohner dieser Erde — auf uns alle. Schon heute trägt für den, der sehen kann, das Leben auf dieser Erde die Züge eines Wettlaufs zwischen diesen — oft lautlosen — Wirkungen und der Aufklärung über ihre unausbleiblichen zukunfts­bedrohenden Folgen. Dieser Wettlauf wird in den kommenden Jahren die Form eines Notstandes annehmen, der Versuch seiner Bewältigung die Form eines permanenten Ausnahme­zustands.«52

 

       Der unkontrollierte Spaltungsprozeß      

 

Hätte es eine Gesamtsicht, eine Zielsetzung gegeben, dann wäre es zu dem heutigen Weltzustand gar nicht gekommen. Wie entstand aber unsere Zivilisation? In der Weise eines Würfelspiels! So ist in den westlichen Ländern und in Japan etwas entstanden, was keine Macht der Welt mehr verantworten kann.

Es ist bereits ein großer Mangel, wenn am Anfang einer zivilisatorischen Entwicklung die Koordination und die Richtung fehlt.

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»Sobald sich die Gesellschaft aber auf den Weg zum Superindustrialismus begibt, wird diese hemmungs­lose Laissez-faire-Politik vollkommen unzureichend und hat gefährliche Folgen.«53 Und im Zeitalter des Superindustrialismus, wie Alvin Toffler es nennt, befinden wir uns, weiß Gott.

Der Amerikaner John Platt faßt zusammen:

»Im letzten Jahrhundert erhöhte sich die Geschwindigkeit der Kommunikation um den Faktor 107, die Reisegeschwindigkeit um 102, die Geschwindigkeit der Nachrichten­verarbeitung um 106, die Zunahme des Energie­verbrauchs um 103, die Kraft unserer Waffen um 106, unsere Fähigkeit, Krankheiten in Schach zu halten, um etwa 102 und die Geschwindigkeit, mit der sich die Bevölkerung vermehrt, um den Faktor 103, verglichen mit dem Zustand vor einigen tausend Jahren. — Ist da zu bezweifeln, daß die menschlichen Beziehungen in der ganzen Welt bis in ihre Grundlagen in Mitleidenschaft gezogen werden? Innerhalb der letzten 25 Jahre betrat die westliche Welt das Zeitalter der Düsenflugzeuge, Raketen und Satelliten, der Kernenergie und des Atomschreckens.« 54)

 

Die beinahe unfaßbare Erhöhung aller Geschwindigkeiten der Veränderung hat unbedachte Auswirkungen auf die Menschen, wie Alvin Toffler in seinem Buch, <Der Zukunftsschock>, nachgewiesen hat.55 Ralph Läpp sagt: »Wir sitzen in einem Zug, der immer schneller wird und auf einem Gleis dahinrast, auf dem es eine unbekannte Zahl von Weichen gibt, die zu unbekannten Zielen führen.«56 Die Zahl der möglichen Weichenstellungen nimmt laufend zu und damit die Anzahl der möglichen Fehlentscheidungen und der unvermeidlichen Konsequenzen.

»Wir haben gelernt, die mächtigsten Technologien zu entwickeln — wir haben uns nicht bemüht, etwas über die Konsequenzen der Technologien zu lernen. Heute drohen diese Konsequenzen, uns zu vernichten.«57 Dies ist die Schlußfolgerung Tofflers, die sich daraus ergibt, daß es auf dem Gebiet der Technologie niemals eine übergeordnete Planung oder verantwortliche Leitung gab noch gibt. Dies nennt Toffler eine »erschreckende Wahrheit«.58  

Aber es geht nicht nur um die unkontrollierte Technologie: »Wenn nur die Technologie ungesteuert dahinraste, wären unsere Probleme schon ernst genug. Fatalerweise sind jedoch zahlreiche andere gesellschaftliche Entwicklungen unseren Händen entglitten, machen wilde Sprünge und widerstehen allen Bemühungen, sie wieder in den Griff zu bekommen.«59

Hat die Entwicklung also bereits ein so fortgeschrittenes Stadium erreicht, daß jeder Versuch, das Ganze zu steuern oder auch nur in der Richtung ein wenig zu verändern, aussichtslos bleibt? Es ist ja nicht nur die Technologie und damit die Wirtschaft, die unkontrolliert dahinrast, die gesamte gesellschaftliche Entwicklung ist davon ebenfalls betroffen.

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Und das nicht nur in einigen Ländern: »Die durch eine soziale Kontrolle der Technologie entstehenden Probleme sind unter dem Kapitalismus, Sozialismus oder Kommunismus so ziemlich dieselben. Unabhängig von der politischen Philosophie müssen neue Formeln der sozialen Planung gefunden werden, damit die Technologie wichtigen menschlichen Bedürfnissen dient, anstatt daß sie um ihrer selbst willen weiterwächst oder als Werkzeug für wirtschaftliche und nationale Expansion benutzt wird.«60 Zu dieser Feststellung kommt Rene Dubos

Und Karl Steinbuch: »Die Kontrolle des technischen Fortschritts ist marktwirtschaftlich nicht möglich: Die Markt­wirtschaft setzt zwar enorme persönliche Initiativen frei und beschleunigt damit den technischen Fortschritt. Sie macht ihn aber gleichzeitig hemmungslos: Wo die Marktwirtschaft ohne Kontrolle verläuft, entwickelt sie sich in Richtungen, die gesamt­gesellschaftlich oft bedenklich sind.«61

Später aber meint Steinbuch in seiner »Kurskorrektur« hoffnungsvoll: »Wir sind auf dem Wege von der naiven Marktwirtschaft über die aufgeklärte Marktwirtschaft zu einer aufgeklärten Politik, die nicht vorwiegend durch Wirtschaft bestimmt ist, wo vielmehr Wirtschaft, technischer Fortschritt und die anderen Formen des Verhaltens ihrem eigentlichen Zweck untergeordnet werden, nämlich menschliches Leben zu ermöglichen.« Um aber sogleich fortzufahren: »Die Kontrolle des technischen Fortschritts und der Wirtschaft setzt Klarheit über die Ziele voraus: Vorläufig besteht aber wenig Klarheit darüber, wohin das Fortschreiten führen soll.«62

In der Tat: Nichts wird so schwer zu erreichen sein wie eine Einigung über die anzustrebenden Ziele. Darum ist es sehr wahrscheinlich, daß wir, wie Forrester fürchtet, »von einem sozialen und ökonomischen System, das wir selber geschaffen haben, aber nicht beherrschen können« überwältigt werden.63

Nun fallen allerdings in der Planetarischen Wende die meisten Ziele als nicht mehr realisierbar fort. Wenn die harten Notwendig­keiten begriffen werden, dann könnten die übriggebliebenen Ziele eingegrenzt werden. Allerdings: 

»Die Steuerung der öffentlichen Angelegenheiten setzt politische Apparaturen voraus.« Sie sind bisher nicht vorhanden. »Deshalb greift das Instrumentarium der Politik in die realen Verhältnisse nicht mehr ein. Ist man in irrationalen Strukturen gefesselt, so bleibt für die vernunftgemäße Verwaltung von Macht nur ein geringer Spielraum. Es gilt also, die Strukturen selbst zu verändern, und dadurch allererst die Möglichkeit für eine sachgemäße Politik zu eröffnen. ... Das erscheint selbst angesichts der drohenden Katastrophe als ein utopisches Ziel.

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Es erfordert außerdem Zeit, die wir nicht haben, denn wir befinden uns in einem mörderischen Wettlauf mit irreversiblen physikalischen Prozessen. Deshalb muß auch im Rahmen unserer gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und unserer gegenwärtigen Verwaltungsstrukturen jede Anstrengung unternommen werden, um das zu leisten, was geleistet werden kann. Aber ein solches Handeln hat nur einen provisorischen Charakter. Im Gefüge der heutigen politischen Formationen kann die fortschreitende Zerstörung unserer Biosphäre vielleicht für eine kurze Zeit verlangsamt, aber gewiß nicht aufgehalten werden. Das ökologische System menschlichen Lebens in der technischen Welt bedarf einer langfristigen Planung, die von allen unseren Aufgaben die dringlichste ist.«64 

Soweit Georg Picht.

 

Man müßte sich demnach zunächst auf die Institutionen einigen, dann auf die anzustrebenden Ziele — und das alles unter dem Zeitdruck, unter dem wir bereits stehen!

Wir halten fest, daß keinerlei Ansätze der Steuerung vorhanden sind. 

Woher hätten sie auch kommen sollen, da die Entwicklung bisher nach der Maxime verlief: Alles ist gut! Die Welt konnte bisher nur darum ohne Planung auskommen und der Lauf der Dinge nur deshalb Einzelentscheidungen überlassen bleiben, weil man jede Entscheidung, etwas zu tun — gleich was es war — für fortschrittlich und richtig hielt. Sobald dies nicht mehr gilt, kann man auch die Entscheidung nicht mehr dem jeweiligen Belieben überlassen.

In den Demokratien ist schon darum keine zur Entscheidung befugte Instanz vorhanden, weil man aus Angst vor der Macht­konzentration die Verantwortung auf unzählige Gremien verteilt hat. Auch die Regierung ist nur eine unter vielen Instanzen. Der Staat ist mit anderen Mächten so verstrickt, daß er keine Unabhängigkeit besitzt. Und der Entscheidungsprozeß ist so langwierig, daß er stets hinter der Entwicklung herläuft. Auf den einzelnen Sektoren ist das partikuläre Denken vorherrschend, so daß Klaus Müller meint, »ein solches System ist daher künftig überlebensunfähig, weil in ihm ein katastrophaler partikularer Irrationalismus waltet«.65

Die von Klaus Müller und anderen vorgeschlagene Mitwirkung des Bürgers an den Entscheidungs­prozessen wird aber darum nicht weiterführen, weil dieser sich erst recht nicht den umfassenden Überblick verschaffen kann. Experten haben immer die Möglichkeit, die Ergebnisse ihres Sonder­gebietes als die große Errungenschaft darzustellen, deren Anwendung phantastische Segnungen verbreiten werde.

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Und das Urteilsvermögen des Zuhörers reicht nicht aus, die schwachen Stellen und die Pferdefüße und all die Folgen zu erkennen. Zumal Interessen­vertreter ihre Angelegenheit immer geschickt vortragen, denn sie verdienen daran, oder der Verdienende ist leicht imstande, sie gut zu honorieren. 

So steht alles unter dem Antriebsdruck partikularer Eigeninteressen und keineswegs im Dienst des Gemeinwohls der Menschheit.

Daß Wissenschaft wie Technik dem Menschen diene, ist das beliebte Thema aller Festreden. Auf der Tagung des Vereins Deutscher Ingenieure wurde zum Beispiel 1970 erklärt: »Aber die Wirtschaft ist nicht Selbstzweck, sondern nur ein Werkzeug der menschlichen Existenz.« Dennoch mußte zugegeben werden, daß der technische Fortschritt <vorläufig> beinahe ausschließlich von wirtschaftlichen Überlegungen bestimmt wird.66 Das ist aber nicht nur gegenwärtig und vorübergehend so, sondern seit Beginn des Zeitalters der Technik vor 200 Jahren.

 

Mahnende Worte gibt es schon seit dem I. Weltkrieg.67 Wie wenig diese vermochten, beweist die weitere Entwicklung. Der Ingenieur Fritz Kesselring hatte 1947 in einem Vortrag ausgeführt:

»Das technische Geschehen breitete sich aus wie eine Epidemie, ergriff die Menschen, ob sie sich dagegen sträubten oder nicht, und veränderte ihr Dasein von Grund auf. Wohl glaubten am Anfang und lange Zeit danach insbesondere die großen Erfinder, daß das von ihnen Geschaffene dem Wohle der Menschen diene. Heute aber wissen wir, daß die Technik zu unserem Schicksal geworden ist, und aus diesem Wissen heraus stellen wir immer wieder und immer dringlicher die Frage: Müssen wir Menschen diesen Sturm einfach über uns ergehen lassen, als etwas uns Auferlegtes und Unabwendbares, oder gibt es vielleicht doch noch eine Möglichkeit, die unendlichen Kräfte der Technik sinnvoll walten zu lassen ... Denn was nützt schließlich Lernen und Schaffen, alle Begeisterung und Mühsal, wenn dies alles uns nur immer weiter hinausführt aus der großen Harmonie der Natur, wenn es nur Degeneration, Untergang, Verderben und Tod nach sich zieht und unser Leben arm macht.«68

Was 1947 schon nicht möglich war, ist heute noch weniger möglich, denn mit der exponentiellen Entwicklung, die seitdem stattfand, sind auch die Kontroll­schwierigkeiten exponentiell gewachsen. Wir kommen zu der ernüchternden Feststellung, daß zu der Zeit, wo eine Steuerung und Planung der menschlichen Entwicklung immer notwendiger wird, die Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung beinahe auf Null gesunken ist. Man hätte wohl das Leben sich selbst überlassen dürfen, aber nicht die wirtschaftliche Produktion.

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Um deren Willkür zu begründen, mußte man unterstellen, daß es sich um einen ganz natürlichen Vorgang handele. So nannte man das Ganze einfach »Wachstum«. Die technische Realisation der letzten 200 Jahre setzte aber gerade jedes natürliche Steuerungssystem außer Kraft und hat bis heute kein neues an seine Stelle gesetzt. Ja, man weiß noch nicht einmal, ob ein solches jemals möglich sein wird.

Wenn wir das Motto dieses Kapitels von Carl-Friedrich v. Weizsäcker wieder aufgreifen, dann lautet seine Fortsetzung: »Die Entwicklung der Willens- und Verstandeswelt ist kein Unheil, sondern — religiös ausgedrückt — eine Gottesgabe. Es ist möglich, die Werke des Verstandes in meditativer Gelassenheit zu betrachten, und auszuwählen, wo sie weitergeführt und wo sie beschnitten werden sollen. Der Weg dazu ist der Menschheit seit Jahrtausenden bekannt; heute wird er lebensnotwendig — oder wir werden heute auf neue Weise sehen lernen, daß er immer lebensnotwendig war.«69  

Wer betrachtet aber heute die Werke des Verstandes in meditativer Gelassenheit? Wer wählt aus? Wer beschneidet? Wir vermögen niemanden zu erkennen, der das tut, nicht einmal jemanden, der es tun könnte! Wäre das je der Fall gewesen, dann hätte es zu diesem fortgeschrittenen Stadium unserer heutigen »Kultur ohne Weisheit, ohne Vernunft« nicht kommen können. Daß es zu unzähligen unkontrollierten Ketten­reaktionen und Spaltungsprozessen kam, ist die Ursache dafür, daß wir heute am Abgrund stehen.

Wir leben bereits in einer Welt, der nicht nur die Weisheit und die Vernunft fehlt, sondern sogar der Boden unter den Füßen.

 

     Die tödliche Anfälligkeit der Industriestaaten     

 

Die Welt hallt wider von dem Geschrei über die menschliche Not in den Entwicklungsländern. Kaum jemand macht sich klar, daß nicht diese, sondern die Industrieländer sich am schnellsten auf den Abgrund zubewegen. Wir haben dargestellt, daß ihre äußere Abhängigkeit in vielen Fällen total ist. Sie gefallen sich noch in der Rolle eines Weihnachtsmannes für die Welt, sind aber selbst einem weit gefährlicheren Zusammenbruch nahe. Im Falle einer Krise werden gerade die jetzigen Errungenschaften zum aller­größten Verhängnis werden.

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Die Industriestaaten sind so empfindlich strukturiert, wie es die allerkomplizierteste Maschine nicht schlimmer sein kann. Die menschlichen Ballungszentren, die Millionen beherbergen, sind in ihrer Spezialisierung und Arbeitsteilung so vollständig vom Funktionieren aller ihrer Glieder abhängig wie der menschliche Körper vom Funktionieren aller seiner Organe. Die Störung auch nur eines Teilbereiches — und eine solche ist um so wahrscheinlicher, je komplizierter das System ist — zieht kurzfristig das ganze System in Mitleidenschaft. 

Der Ausfall der Stromversorgung würde schon innerhalb einer Sekunde nicht nur die gesamte Wirtschaft lahmlegen, er hätte auch eine umwälzende Auswirkung auf das Leben aller Bürger. Denn nicht nur die Industrie steht dann still, das gesamte Nachrichtennetz fällt ebenso aus wie die automatisch gesteuerte Heizung und die Wasserzufuhr. Nicht nur die einzelnen technischen Einrichtungen haben eine Schlüsselfunktion, sondern auch die Gruppen von Menschen, die sie bedienen. Diese besitzen eine Schalthebelgewalt, die lebensbedrohlich ist.

In den Städten wird die nichtwissende Hilflosigkeit der Menschenmassen infolge fehlender Ausweich­möglich­keiten in den Raum ins Unfaßbare gesteigert. Die einzelne Familie ist tagtäglich auf Gedeih und Verderb auf das Funktionieren der zivilisatorischen Maschinerie angewiesen und kann selbst nur noch das vollbringen, worauf ihre Mitglieder spezialisiert sind. Aber spezialisierte Fähigkeiten sind zu Zeiten des Zusammenbruchs völlig wertlos.

Frühere Generationen lernten von Vater und Mutter noch alles, was man im Leben wissen muß. Die Kinder von heute lernen nur noch in der Schule. Sie lernen viel, aber nichts von dem, was die Grundlage des Lebens ausmacht und was sie zum Überleben brauchen werden, sobald sie einmal auf sich allein gestellt sein sollten. Sie erlernen höchst spezialisierte Berufe und dazu bestenfalls, wie man im Verkehr möglichst am Leben bleibt. Sie wissen jedoch nichts davon, wie man sät, erntet, Tiere hält, mit einfachen Mitteln kocht, sich ein Dach über dem Kopf errichtet, Krankheiten ohne Arzt behandelt ...

Vor 50 Jahren gab es noch Handwerker, die mit einfachen Mitteln lebensnotwendige Güter herstellten: Färber, Seiler, Wagner, Spengler, Korbmacher, Küfer, Schmiede, Brunnenbauer; »heute kämpfen die letzten Zimmerleute, Schreiner, Buchbinder, Schuhmacher auf verlorenen Posten um ihre Existenz«.70

Weil die Menschen über das elementare Leben nichts mehr wissen, wurde es überhaupt erst möglich, daß sie sich in eine solch absurde Situation steuern ließen, ohne jemals alarmiert zu sein. Und das, obwohl Mitteleuropa zwei Kriege mit allen bitteren Erfahrungen durchgemacht hat.

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Der »moderne Mensch« ist ein auf Spezialbereiche reduziertes Wesen. Wenn seine künstliche Welt zusammen­bricht, dann wird er völlig ratlos dastehen. Und selbst wenn er sich zu helfen wüßte, wird er es doch nicht können, weil keine Werkzeuge, sondern nur noch automatische Geräte da sind, die alle vom Stromanschluß und von vielen anderen Voraussetzungen abhängen. Er wird auch keine Nahrung vorfinden, denn diese kommt täglich über Straßen und Schienen, wenn nicht sogar aus fernen Ländern. 

Er wird nicht einmal Trinkwasser haben, denn in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gibt es Gesetze, die das Zuschütten der privaten Brunnen erzwungen haben. Der Städter kann seine Industrieerzeugnisse nicht verzehren — und selbst der Landwirt hat heute auf seinem Hof Schweine, aber kein Mehl; oder er hat Kartoffeln, aber keine Milch.

Auch die Dörfer sind inzwischen — auf sich allein angewiesen — nicht mehr lebensfähig. Wenn

»heute in einem Schwarzwalddorf die Stromversorgung ausfällt, so bleiben nicht nur alle Maschinen in Industrie, Handwerk und Haushalt, vielfach auch in der Landwirtschaft, stehen, sondern es erlöschen auch alle Ölheizungen, die für ihr Funktionieren auf elektrischen Strom angewiesen sind. Das gleiche Dorf war noch vor 50 Jahren durch seine Mühlen, sein Brennholz, sein Zugvieh und durch seine Landwirtschaft ... weitgehend autark«.71

 

In der medizinischen Versorgung ist die gesamte Bevölkerung völlig vom Arzt und dieser wieder von den Medikamenten abhängig. Früher gab es eine in den Familien weitergegebene Kenntnis von Hausmitteln gegen Krankheiten. Diese Tradition ist völlig erloschen mit dem Ergebnis, daß bei einem Ausfall der medizinischen Versorgung heute selbst die Landbevölkerung völlig hilflos dasteht.

Je »fortgeschrittener« eine Zivilisation ist, um so krisenanfälliger ist sie. »Die Industriegesellschaft schafft ... Interdependenzen, die entweder alles gelingen oder alles zusammenbrechen lassen.«72  Max Nicholson urteilt: »Unsere westliche Kultur verdient auf diesem Gebiet ein besonders schlechtes Führungszeugnis; sie ist die katastrophal unfallanfälligste, die es je auf Erden gegeben hat.«73 Rene Dubos stellt fest: 

»Als biologische Spezies hatte der Mensch Erfolg, weil er Anpassungsfähigkeit besitzt. Er kann jagen oder Landwirtschaft betreiben. Fleischesser oder Vegetarier sein, in den Bergen oder am Meer wohnen, Einzelgänger oder Mitglied einer Gruppe sein, in einer Demokratie oder einem totalitären Staat leben. Andererseits beweist die Geschichte, daß Gesellschaften, die erfolgreich waren, weil sie sich außerordentlich spezialisiert hatten, schnell zusammenbrachen, wenn sich die Verhältnisse änderten. Eine hochspezialisierte Gesellschaft vermag sich ebenso wie ein hochgradiger Spezialist kaum anzupassen74

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Der Mensch ist inzwischen das »Opfer seiner eigenen Schöpfung« (Oswald Spengler) geworden, ein äußerst beschränktes Lebewesen. Darum wird jeder Zusammenbruch der hochentwickelten Infrastrukturen in den Industrieländern furchtbare Auswirkungen haben. »Die Weltlage wäre daher um vieles hoffnungsvoller, lebten wir auf einem fiktiven Globus, wo es nur Staaten auf dem Niveau heutiger Entwicklungsländer gäbe.«72 Die Chance der Völker, Krisen zu überstehen, ist um so größer, je geringer der Entwicklungsstand ist, den sie erreicht haben. Klaus Müller sieht sehr richtig: »Es ist nicht allzu schwierig, als Gesellschaft (nicht als Individuum) auf einem relativ niedrigen Niveau zu überleben, wo die statistische Unabhängigkeit zwischen den verschiedenen Einflüssen noch relativ groß ist.«72

Die heutige Verzweifelung der armen Völker ist darum in Wahrheit ihre große Hoffnung für die Zukunft. Und es ist unklug, die noch im natürlichen Regelkreis lebenden Völker mit der Industrialisierung zu »beglücken«; denn die Völker ohne hochentwickelte Industrien werden die Krisen und Katastrophen leichter überstehen.75  

Toffler meint sogar, daß wir »Enklaven der Vergangenheit« schaffen müssen, »Orte, an denen Veränderungen, Neuartigkeit und Vielfalt bewußt zurückgeschraubt werden«; denn so erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit, »daß jemand für einen Neubeginn übrigbleibt, wenn eine massive Katastrophe eintritt«.76

Auf jeden Fall kann man den — heute materiell benachteiligten — Bauern in den Industrieländern nur raten, durchzuhalten; sie werden die Letzten sein, die in Gefahr geraten, umzukommen. Sie werden sich nur dort Bedrängnissen ausgesetzt sehen, wo die Menschen der Ballungszentren aus Hunger plündernd über Land ziehen.

Enzensberger stellt sich die Frage, ...

»...wie sich im Fall einer ökologischen Katastrophe die Überlebens­chancen der verschieden strukturierten Gesellschaften ausnehmen, die es heute auf der Erde gibt. Aufs Ganze gesehen liegt die Vermutung nahe, daß die Letzten die Ersten sein werden: große Nationen von relativ geringem industriellen Entwicklungsgrad. ... Am anfälligsten für Öko-Katastrophen sind dagegen die überentwickelten Industrieländer des <Westens>. Nicht nur, weil in Japan, in Westeuropa und in den USA die irreversiblen Anteile an der Zerstörung der Umwelt zweifellos am höchsten liegen, sondern auch, weil die theoretischen Möglichkeiten einer Tendenzumkehr dort auf systematische Schranken stoßen, die nur durch eine vollständige Umwälzung beseitigt werden können.«77

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Richtiger würde es vielleicht lauten: Die Letzten werden auch dann wieder die Letzten sein, die übrigbleiben, wenn es ums Überleben geht! Vor allem, wenn sie das Glück haben, daß die großen Maschinerien an ihnen vorbeirollen, und wenn nicht irgendwelche Bodenschätze die Begierde der Mächtigen auf sie lenken.

Es gibt Anzeichen, daß einige Führer armer Völker diesen Vorteil schon erkannt haben: »Viele Länder — und dazu gehört nicht nur Zaire — verwahren sich gegen die Relikte europäischer Zivilisation und Dekadenz«78, obwohl die Nachrichten aus diesen Ländern nicht ohne Zwiespältigkeit sind.

Der Präsident von Zaire, General Mobutu Sese Seko*, führte auf dem Parteitag in N'Sele 1972 unter anderem folgendes aus79:

»Denn das Erbe, das unsere Vorfahren uns hinterlassen haben, ist die natürliche Schönheit unseres Landes. Es sind unsere Ströme, unsere Flüsse, unsere Wälder, unsere Berge, unsere Tiere, unsere Seen, unsere Vulkane und unsere Ebenen. Mit einem Wort: Die Natur ist der untrennbare und wirkliche Bestandteil unseres besonderen Wesens. - Deshalb weigern wir uns, blind dem Weg der <entwickelten> Länder zu folgen, welche die Produktion um jeden Preis wollen. Die Rohproduktion macht oft wirklich roh im geistigen Sinne. ...

Wir glauben nicht, daß der Friede und das Glück abhängen von der Zahl der Autos in der Garage, den Fernsehantennen auf dem Dach oder vom Lärmvolumen in den Ohren, welches spitzfindige Techniker >noch erträglich< nennen. ... Was nützt es, unzählige Fabriken zu besitzen, wenn deren Schornsteine Tag und Nacht Gift über uns ausschütten? So wären wir zwar reich, liefen aber mit einer Gasmaske auf der Nase herum und würden von der Last unseres eigenen Reichtums erdrückt. Wir möchten keine dieser verderbenden Industrien besitzen, die durch ihre Abfälle die Fische unserer Flüsse töten und den Menschen der Freude an der Fischerei berauben oder auch einfach des Vergnügens an trinkbarem Wasser. -

Wir kennen sehr wohl den Gegeneinwand, daß dort, wo die Vergiftung wütet, auch — wie Blumen auf dem Kompost­haufen — die Industrie zum Bekämpfen der Vergiftung wächst. Aber da das Gift ein Gegengift verlangt, sehen wir Bürger von Zaire nicht ein, daß es Vergnügen bereiten soll, das Gift zu fördern, nur um dann ein Gegengift herzustellen. — Warum sollen wir nicht von vornherein die Wohltaten des natürlichen Lebens vorziehen, wenn wir erfahren, daß die Denker der industriellen Gesellschaften selbst ins Auge fassen, das Streben nach dem höchst­möglichen Bruttosozialprodukt aufzugeben, und zwar zugunsten des wirklichen nationalen Wohles. —

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Wir werden sie also kaum in Erstaunen versetzen, wenn wir unsere Bestrebungen bekräftigen, Zaire, unser schönes Land, zu einem Naturparadies zu machen. ... Denn wir wollen, daß es in Zaire für die Menschen noch dann eine Zuflucht zur unberührten Natur gibt, wenn die Wissenschaftler die Welt der natürlichen Lebewesen zu einem technischen Kunstprodukt verändert haben! Wir schützen unsere Gewässer und im besonderen den Fluß Zaire, weil auch das nachträgliche Entgiften eines völlig vergifteten Flusses ihm seine Reinheit und Jungfräulichkeit nicht wiedergibt. ... Wir Bürger von Zaire nehmen für uns in Anspruch, aus allen diesen Möglichkeiten den Weg zu wählen, der uns am vernünftigsten erscheint, aber indem wir ihn unseren eigenen kulturellen Werten unterwerfen. In diesem Sinne werden wir fortfahren, und zwar so lange, als man uns nicht beweist, daß diese zwei großen Systeme (das kapitalistische und das sozialistische), die vorgeben, das gesamte Dasein regeln zu können, sicher keinen falschen Weg eingeschlagen haben. —

Deswegen müssen wir unser Gesellschaftsmodell, das nur unseren Bestrebungen gerecht wird, selbst schaffen. — Es ist klar, daß auch wir das wirtschaftliche Wachstum suchen. Aber wir verstehen auch, es menschlich zu machen und an unsere Denkart anzupassen. Wir wollen es mit einem Empfinden für die Natur ausstatten, ohne daß der wirtschaftliche Fortschritt früher oder später den Verfall des Menschen nach sich zieht. — Jene, die sich in der Industrialisierung befinden, sind ständig in Gefahr, zu verarmen und sich nach vielen Richtungen zu verirren. Vielleicht wird morgen der Reichtum eines Volkes an seinen Bestrebungen für die Erhaltung der Natur, seiner Umwelt, gemessen. Mit einem Wort: daran, ob es ihm gelang, seine eigene Seele zu erhalten.«

*(d-2007:)  Es braucht heute nicht mehr verwirren, daß Mobuto diese Ideale binnem kurzem verlor und stattdessen ein großer Verderber seines Volkes und seines Landes wurde - also in der Realität seiner Diktatur anderen Idealen folgte. Nämlich 'den üblichen' Idealen, wie Geld, Macht, Brutalität. - Und es ist nach heutigem Wissen auch damit zu rechnen, daß 'PR-Berater' (evtl. sowjetische) als 'Redenschreiber' fungierten.    wikipedia  Mobutu_Sese_Seko  1930-1997

 

Diese Haltung entspricht einer Begebenheit, die der damalige Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Erhard Eppler, auf der Tagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing 1973 schilderte. Der Präsident Kaunda von Sambia hatte vor Epplers Besuch dessen Oberhausener Rede80 gelesen und erklärte ihm, daß der Maßstab des Lebensstandards die Entwicklungs­länder zwangsläufig entmutigt habe. Vorher gab es keine Chance, auf dem Gebiet des Bruttosozialprodukts und des Lebensstandards die Industrieländer einzuholen; jetzt aber gebe der Maßstab der Lebensqualität den Entwicklungsländern ihre Selbstachtung zurück. Danach könnten sie sehr wohl mit den Industrieländern konkurrieren, deren Schwierigkeiten zeigten, daß sie sich in eine Sackgasse verrannt hätten.

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Die Entwicklungsländer sind gut beraten, wenn sie vom »Fortschritt« höchst maßvollen Gebrauch machen — sie haben diese Chance noch; während die Industrieländer in einen Teufelskreis geraten sind, aus dem sie kaum wieder herauskommen. Die Entwicklungsländer werden ihre Rohstoffe künftig recht sparsam verwenden und zögernd herausgeben. Insofern wird die Verknappung in den Industrieländern zwar immer schlimmer, aber sie werden zu einer Sparsamkeit gezwungen, zu der sie durch Vernunftsgründe wahrscheinlich nie gebracht werden könnten.

Rohstoffreiche Entwicklungsländer haben somit noch eine Zukunft — hoch­entwickelte Industrieländer ohne Rohstoffe haben keine mehr; es sei denn, sie holten sich die Rohstoffe mit Gewalt. 

Wer in unseren Breitengraden die weitere Produktions­steigerung für unbedingt nötig hält, der sollte sich auch im klaren darüber sein, daß er künftig die Rohstoffe dazu nur noch mit Gewaltanwendung wird holen können. Dann sollte er aber zunächst klären, ob er auch wirklich die Macht dazu hat. Es müßten dann nämlich die Länder wieder besetzt und zu Kolonien gemacht werden, die zum größten Teil erst nach dem II. Weltkrieg geräumt worden sind. 

Forrester wirft allerdings die Frage auf: »Werden die Industrie­nationen tatenlos zusehen, wie ihre Wirtschaft zusammenbricht, während es in anderen Weltteilen noch immer Vorräte gibt? Könnte nicht eine neue Serie internationaler Konflikte unter dem Druck der sich verknappenden Rohstoffe entstehen?«81)  Dies gilt aber erst für den Fall des drohenden Zusammenbruchs der Wirtschaft, wovon Anfang 1975 der amerikanische Präsident und sein Außenminister sprachen. Doch für wie viele Jahre würde eine solche »Beschaffungsaktion« bei dem gegenwärtigen Verbrauchs­tempo weiterhelfen?

Die Völker, welche heute mit Einsatz von potenzierter Arbeitskraft in internationaler Verflechtung die Erde ausbeuten, würden einige Jahre später eben doch wieder in die gleiche Krisensituation geraten und müßten dann dennoch zugrunde gehen. Überleben werden am ehesten die Teile der Menschheit, die nach wie vor mit einem Bruchteil irdischer Güter auskommen, die sie direkt der Natur entnehmen, mit der sie noch vertraut sind.

Eine Mittelstellung nehmen die Staaten des Ostblocks ein, wo sich — regional äußerst unterschiedlich — eine Kombination beider Lebensweisen erhalten hat. Darum werden auch die kommunistischen Völker in der Sowjetunion und in China Katastrophen besser durchstehen; gerade weil dort der »Fortschritt« bisher nicht so groß war. Je geringer der wirtschaftliche Erfolg der östlichen Welt im Hinblick auf die private Güterversorgung ist, um so größer wird ihre Überlebenschance sein.

Die Bevölkerung kennt noch das einfache Leben, und weite Teile blieben Selbstversorger. Sie behielten auch eine viel größere Fähigkeit zu Entbehrungen, denen die vom Wohlstand verwöhnten Völker völlig hilflos ausgesetzt sein werden. Die Letztgenannten sind auch an keine Disziplin gewöhnt und werden schon darum gegenüber den kommandierten Massen des Ostens ins Hintertreffen geraten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Mentalität der Völker der Sowjetunion und der Chinesen genau den Erfordernissen einer reglementierten Gesellschaft entspricht. Sie sind es gewohnt, sich in ein geplantes Leben einzuordnen und sich führen zu lassen.

In der auf das Geratewohl durch Spezialisten vorangetriebenen Entwicklung zur großstädtischen Zivilisation fern jedes verläßlichen Nährbodens liegt das größte Verhängnis unserer Zeit. Es gibt kein menschliches Wesen, das die Verantwortung für ein gutes Ende dieses unbedachten Experiments übernehmen könnte. Während einzelne ahnen, in welch ausweglosen Teufelskreis man hier bereits geraten ist, arbeiten alle anderen daran, sich die tödliche Falle noch perfekter zu konstruieren. Und sie halten sich für sehr klug und ihre Tätigkeit für höchst verdienstvoll. 

Bisher herrscht lediglich bei einem Teil der Wissenschaftler Alarmzustand. Von diesen wenigen sagt Heinz Haber:

»Es ist keineswegs so, daß die Wissenschaftler blind in das Chaos rennen. Viele machen sich Gedanken darüber und sinnen auf rechtzeitige Abhilfe. Lediglich die große Öffentlichkeit lebt noch im Traumzustand einer immer besser werdenden Zukunft, die sich beherrschen und durch stetes Wachstum unserer Produktion immer reicher gestalten ließe.«82

Die Völker arbeiten aber mit Fanatismus an der weiteren Zerstörung der Lebensgrundlagen. Sie sehen noch nicht, »daß der Menschheit nicht von ihren Fehlleistungen, sondern von ihren Erfolgen die größte Gefahr droht«.83

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Herbert Gruhl   Ein Planet wird geplündert   Die Schreckensbilanz unserer Politik