Herbert Gruhl 

Die Menschheit
ist am Ende

 

SPIEGEL 1992

Dr. Herbert Gruhl: Die Menschheit ist am Ende - Artikel bzw. ein Essay im SPIEGEL 13/1992

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Artikel 1999 von Carl Amery  

Rede 2000 von Rolf Kreibich 

Das Ende 1993 von G. Fuller

 

Wir stehen auf dem Höhepunkt einer phantastischen Erfolgsserie. Die Menschheit hat in den letzten 100 Jahren den Erdball stärker umgewandelt als in all den Jahrtausenden zuvor. 

Erst seit wenigen Jahren nehmen die Menschen wahr, dass sich Unheil zusammenbraut, und einige suchen nach Auswegen. Schon 1972 fand eine erste globale Umweltkonferenz statt. Die Teilnehmerstaaten einigten sich darauf, in Kenia ein Büro für das Umwelt­programm der Vereinten Nationen einzurichten. Heute muss festgestellt werden, dass die 20-jährige fleißige Tätigkeit der UNO-Umweltschützer für die ökologischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen in der Welt bedeutungslos geblieben ist.

Obwohl es unbestritten um das Überleben des Menschen auf diesem Planeten geht, ließ sich die UNO 20 Jahre Zeit, bis sie auf Juni dieses Jahres zur zweiten Umweltkonferenz nach Rio de Janeiro einlud. Doch nein, nicht zu einer Umweltkonferenz, sondern zu einer für <Umwelt und Entwicklung>. Unter Entwicklung aber ist alles zu verstehen, was die Umwelt zerstört: Investitionen in die Industrie, Schaffung von Arbeitsplätzen, Bau von Verkehrswegen und -mitteln zu Lande und zu Wasser und in der Luft, kurzum wirtschaftliches Wachstum.

Die Entwicklungsländer wollen all das nachholen, worin ihnen die Industrieländer "voraus" sind — und diese sollen es ihnen bezahlen. Um das auch nur zum Teil zu können, lautet das Argument der Wohlstands­staaten, müssten sie ihr eigenes Wirtschafts­wachstum noch kräftiger steigern. Für beide Lager geht es wie eh und je um das bessere oder noch bessere Leben. Alle Kundigen wissen jedoch, dass die Frage inzwischen nur noch lautet, ob der Mensch auf diesem Planeten überhaupt noch überleben kann, angesichts der Verwüstungen, die er schon angerichtet hat.

Sehr vieles müsste da auf die Tagesordnung einer Weltkonferenz kommen: 

Aus diesen Hauptkomplexen und unzähligen weiteren ergeben sich durch ihr vielfältiges Zusammen- und Ineinanderwirken jetzt schon Störungen der natürlichen Kreisläufe, die nicht mehr zu heilen sind. Doch die Eingriffe und Belastungen nehmen Jahr für Jahr zu. 

Dabei kann schon jede einzelne dieser Beschädigungen unseres Planeten das menschliche Leben auf dieser Erde beenden.

Eine UNO-Weltkonferenz zur Behandlung all dieser Probleme ist zwangsläufig überfordert. Sinn hätte sie überhaupt nur dann, wenn sie sofort Entscheidungen treffen könnte, die umgehend verwirklicht würden. Doch weder die UNO noch ihre einzelnen Mitgliedsländer haben die Macht und die nötigen Mittel, wirksame "Weltrettungspläne" zu realisieren. Eine solche Konferenz müsste Ziele und Verhaltensweisen der Menschen in allen Erdteilen ins Gegenteil wenden können — eine reine Utopie. 

Die Völker müssten danach streben, sich klug einzuschränken und weisen Verzicht zu üben; sie müssten ein asketisches Leben führen. Beginnen müsste die Enthaltsamkeit bei der Fortpflanzung. 

Dazu sind 80 Prozent der Menschen gar nicht fähig, ja sie weigern sich zum Teil, darüber auch nur zu reden. Sie halten die unbegrenzte Vermehrung für ihr Recht — und das hat ihnen die UNO 1968 bestätigt: "Eltern haben das Grundrecht, frei und verantwortlich über Zahl und zeitlichen Abstand ihrer Kinder zu entscheiden." 

Von 1968 bis 1992 hat die Zahl der Menschen um fast zwei Milliarden zugenommen. Mehr lebten um 1930 insgesamt nicht auf dem Planeten.

Das teuflischste Problem — dem Papst sei das gesagt — ist also die Vermehrung der Menschen. Noch bei jeder Art ist die explosive Zunahme mit einem Massensterben beendet worden. Der Mensch ist aber nicht nur ein Lebewesen, er hat sich zu einem Arbeitswesen entwickelt, dessen intelligenter "Fortschritt" darin besteht, dass er Maschinenwesen für sich arbeiten lässt, deren <Produktivität> er in den letzten 50 Jahren phantastisch gesteigert hat.

Aber für ihre Leistung verschlingen diese Maschinenwesen immer größere Mengen an Energie und Mineralien, womit sie nur so lange gefüttert werden können, wie die Vorräte reichen. Noch sind sie vorhanden. Das entscheidende Dilemma liegt darin, dass in der modernen Industrie immer weniger Menschen benötigt werden — während die Zeugungslust der Dritten Welt tagtäglich etwa 200.000 Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt wirft. Das ergibt alle fünf Jahre soviel Jobsuchende mehr, wie heute die gesamte EG Einwohner hat.

Menschenmassen ohne Arbeit sind zu unberechenbaren revolutionären Aktionen bereit, und die Demagogen bedienen sich ihrer. Also werden die Völker lieber bis zur Selbstvernichtung arbeiten und produzieren. Ihre Regierungen werden sie dabei anleiten — ungeachtet dessen, dass sie damit die Beschäftigung der Menschen nur um eine Galgenfrist von wenigen Jahren verlängern, und ungeachtet dessen, dass sie die wertvollen Vorräte der Erde noch schneller in umweltzerstörenden Müll verwandeln.

Das Dilemma ist unauflösbar: Sollten sich die Menschen weit und breit zum materiellen Verzicht bekehren, dann würde sich die Beschäftigungs­losigkeit sofort vervielfachen. Und jede Regierung, die solches einleitete, würde schnell hinweggefegt werden. Also wird das kein Regierender versuchen, und auch kein Volk wird zur freiwilligen materiellen Einschränkungen bereit sein.

Haben Gewerkschaftler jemals für die Erhaltung der Natur gestreikt, um ihren Kindern und Enkeln noch eine Lebenschance zu bewahren? Nein — sie streiten für mehr Geld jetzt und sofort, damit ihre Gefolgschaft noch mehr kaufen und noch mehr wegwerfen kann.

Vor den Überlebensproblemen kneifen alle und begnügen sich mit Schlagworten wie <ökologischer Umbau der Industriegesellschaft>. Das ganze Wesen der Industriegesellschaft besteht doch gerade darin, dass sie nur antiökologisch sein kann. Industrieller Fortschritt bedeutet nichts anderes, als Stück um Stück der Natur zu verarbeiten.

Retten könnte uns nur der Ausstieg aus der Industriegesellschaft. Dafür befinden sich aber schon fünfmal zuviel Menschen auf diesem Planeten — und 30 Jahre weiter wenn es bereits achtmal zuviel sein. Folglich sind alle Staaten emsig dabei, die Industrie- und Handelsgesellschaft global auszubauen. Die Menschheit ist dabei, aus der Welt einen einzigen Fabrikations- und Verbrauchs­betrieb zu machen, obwohl keine politischen Gemeinsamkeiten existieren, ja nicht einmal vage Vorstellungen über globale Lenkungssysteme bestehen.

Wir haben im Gegenteil das Menetekel vor Augen, wie das größte zentralistische Lenkungs­experiment der Weltgeschichte scheiterte. In der ehemaligen Sowjetunion, in Jugoslawien, überall und auf allen Kontinenten vollzieht sich die Aufsplitterung in Völker und Stämme. Diese besinnen sich auf ihre alten Sprachen, entdecken ihre ursprünglichen Kulturen und Religionen und wollen sie wiederherstellen.

Die großartigen Utopien von einer einzigen Weltzivilisation, seien sie kommunistisch oder liberalistisch, sind überholt. Nur die EG hat das noch nicht begriffen; sie bastelt realitätsfern an ihrer Utopie einer Union — diesmal nicht von sozialistischen Sowjetrepubliken, sondern von kapitalistischen Marktrepubliken. Während im Osten 290 Millionen Bürger die gemeinsame Währung abschaffen, soll für 350 Millionen Westeuropäer eine solche eingeführt werden. Eine Mammut­bürokratie unternimmt es, Europa bis in die letzten Winkel zu dirigieren und selbst die Käsesorten vorschreiben. Man könnte glauben, das Politbüro sei von Moskau nach Brüssel umgezogen.

 

Indessen wird die europäische Kultur, die in unserem Jahrhundert in der triumphalen weltbeherrschenden und naturvernichtenden Technik kumulierte, nicht an der Degeneration ihrer Menschen untergehen wie frühere Hochkulturen, sondern aufgrund physikalischer Gesetze: an der alles überflutenden Masse Mensch auf gleichbleibender Erdoberfläche, an deren gewaltiger Energieproduktion und ihrem Stoffumsatz, der Verwandlung wertvoller Materie in wertlosen, ja giftigen Abfall nämlich, also an Abläufen, die mittlerweile nicht mehr umkehrbar sind.

Es wird keine 100 Jahre dauern, bis die ganze technisierte Weltwirtschaft einschließlich Landwirtschaft schon mangels Erdöl scheitern muss. Und wenn der Weltgüterverkehr aufhört, dann ist es aus mit der globalen Verbundwirtschaft und der weltweiten Nahrungsverteilung. Am schlimmsten ergeht es der Dritten Welt. Dort sitzen jetzt schon die Menschen in Hunderten von Ballungsgebieten zu jeweils mehreren Millionen, denen alles herantransportiert werden muss, sogar das Trinkwasser. Das sind die Hunger- und Seuchengebiete der kommenden Jahre. Dort wird auch ohne Atomkrieg das große Sterben grassieren. In ihrer Not werden die Menschen zu den unvernünftigsten Mitteln greifen und damit ihre Lage noch weiter verschlimmern.

Es ist ausgeschlossen, dass die Wohlstandsländer — sosehr sie sich auch bemühen wollten — die Probleme jener Völker "lösen" können, wie die Politiker immer noch daherschwätzen. Allein die dortige Verdoppelung der Bevölkerung alle 30 Jahre fegt selbst die größten ökonomischen Erfolge hinweg. Politisches Chaos ist schon heute allenthalben die Folge. Wer immer kann, wird aus den Elendsregionen in die letzten Wohlstands­zonen der Erde flüchten. Aber wenn — was droht  — 500 Millionen Menschen aus der Dritten Welt nach Westeuropa kommen, dann bricht auch hier jegliche Ordnung zusammen. Dort allerdings schaffen selbst 500 Millionen Abgewanderte keine Entlastung; denn in nur sieben Jahren ist diese Lücke von 500 Millionen schon wieder ausgefüllt. Und nach 14 Jahren leben in den Anmutsländern abermals mindestens 500 Millionen mehr als heute.

Die menschliche Gattung ist zu Ende mit ihrer Weisheit. Sie hat sich den Erdball rücksichtslos unter­worfen; sie kann sich nicht zügeln, und sie wird das nie können. Göttliche Weisheit und Voraussicht wären vonnöten. Doch die menschliche Psyche, mit der wir seit Tierzeiten ausgestattet sind, ist himmelweit davon entfernt. Der Mensch kann nicht vorausdenken (der antiken Kassandra hatte diese Gabe ein Gott verliehen, doch ändern konnte sie auch nichts) und erst recht nicht danach handeln.

Wir haben allerdings über die Arbeitsweise der Natur in den letzten Jahren tiefgründige ökologische Erkenntnisse gewinnen können. Damit wissen wir jetzt, welche Vorgänge sie und uns unweigerlich in den Untergang treiben. Doch nie werden sterbliche Wesen imstande sein, die letztlich verborgenen Kräfte der Natur zu steuern. Wir sind nun mit unheimlichen selbstgefertigten Waffen ausgestattet, die der Natur und uns den Tod bringen. Das beginnen wir erst jetzt zu begreifen, da es zur Umkehr zu spät ist.

Die verbleibende Chance besteht nur in Fristverlängerungen. Aber auch dazu rafft sich kein Volk, keine Regierung, keine Partei auf. Nur unsere hybriden Gehirne, die so viele stolze Leistungen hervor­gebracht haben, bilden sich noch hin und wieder ein, das Schicksal aufhalten zu können. 

 Ende

 

 

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