Leander Haußmann  

NVA   Der Roman

NVA: Der Film  

Interview mit Haußmann  

"Herr Haussmann, Sie haben gesagt, dass Sie sich mit dem Film <NVA> rächen wollen, das ist der Ausdruck persönlicher Rache. An wem rächen Sie sich für was?"

  

Aschebuch    H.htm

2005   240 Seiten  

*1959 in Quedlinburg

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detopia: (Ordner

Stefan Wolter   K.Moeller 

Die Welt hat einen tiefen Sprung

Systemkritik für Anfänger: Leander Haußmanns Bildungsklamotte "NVA"

www.literaturkritik.de    9.11.2005    Von Stefan Mesch

 

2001 legte Sven Regener, Sänger der Band "Element of Crime", einen launigen kleinen Roman vor: "Herr Lehmann". Die Geschichte eines Kneipenphilosophen, der einen Tick zu intelligent ist für das Leben, das er führen will - und deshalb seine Umwelt ständig in absurde Grundsatzdiskussionen verwickelt. Unfreiwillig, versteht sich. Der Roman spielte in Westberlin, Ende der 80er Jahre, aber Regener gelang es, die Weltgeschichte immer nur am Rande aufblitzen zu lassen.

Seine Titelfigur machte einen großen Bogen um alles, was Ärger bedeutet. Und landete trotzdem ständig mittendrin. Auch ihr Autor hielt den Ball flach, beschränkte sich auf kurze Szenen, verzichtete auf überambitionierte Spielereien. Doch genau dadurch brachte er den Irrsinn des Lebens in einer geteilten Stadt auf den Punkt. Zwei Jahre vorher, 1999, hatte Leander Haußmann gezeigt, wie man es besser nicht macht: Sein Kinofilm "Sonnenallee" buhlte penetrant um das Prädikat "kultig" und war doch nur peinlich didaktisch, bemüht und spießig. Als Zeugnis der DDR-Jugendkultur taugte das fade Filmchen nichts.

2003 wurde "Herr Lehmann" verfilmt. Das Ergebnis: ein launiger kleiner Streifen, der wie die Vorlage durch geschicktes Understatement punkten konnte. Im Regiestuhl: Leander Haußmann. Anschließend gingen Regener und Haußmann wieder getrennte Wege. Beide führten sie an die Schreibmaschine. Regener ging in "Neue Vahr Süd" um weitere zehn Jahre zurück, schilderte die Sturm-und-Drang-Phase seines Frank Lehmann. Dieser verheddert sich auch im Nachfolger/Prequel hoffnungslos im System, dieses Mal als Wehrdienstleistender. Haußmann bearbeitete dasselbe Thema, allerdings die Ost-Variante.

Jetzt kommt seine Antikriegs-Groteske "NVA" gleichzeitig in Buchläden und Kinos. Und wirft mehrere Fragen auf: Braucht man ein Jahr nach "Neue Vahr Süd" schon wieder neues Militärgekaspere? Ist "NVA" ein Buch zum Film oder ein genuiner (Erstlings-)Roman? Und darf es wie Regeners Romane fortan munter im Freundeskreis kursieren, oder sollte es besser zu "Sonnenallee", in die eingestaubte Ostalgie-Grabbelkiste?

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"NVA" (Roman) erzählt die Geschichte des jungen, empfindsamen Henrik Heidler, der zur Einberufung mehrere Kilo Weltliteratur mitbringt: Proust, Joyce, Musil. Und von Krüger, der auf einem getunten Mofa in die Szene schlittert, sich die wildrebellische Mähne aus dem Gesicht wischt und - dannwollnmermal - für 18 Monate mit Henrik die Stube teilen wird. Weitere Kameraden: ein naiver Christ, ein fieser Opportunist und das übergewichtige Landei Mischke, auf den daheim eine kugelrunde Metzgereifachverkäuferin wartet: Mandy Mopp, liebevoll "Moppelchen" genannt. Na, das wird was werden!

Die Gegenseite ist nicht minder seltsam: der gefühlskalte Oberst Kalt, in dessen schnucklige Tochter sich Henrik auf den ersten Blick verliebt, der fiese Spitzel Aurich ("Was denkste denn so? Wir sind hier privat.") und Hauptfeldwebel Futterknecht, der bei der Armee ist, weil ihm als Kind warm ums Herz wurde, wenn er die in Reih und Glied auf dem Backblech aufgereihten Lebkuchenmännchen seiner Mutter sah. Skurril, skurril! Und dann benutzt der Schlaumeier auch noch Worte wie "Syphilisarbeit", und plant, "auch mal eine Biologie" über sich zu "verpassen", hihi!

"Man verstand Henrik nicht. Wer war dieser Soldat Heidler? War er für uns? War er gegen uns? Wer war der lesende, verschlossene Genosse? Wie ist seine Haltung? Seine Haltung zu unserem Staat?" Sätze wie diese sind weniger Literatur als Nachschub für Deutschlehrer an Gesamtschulen.

"NVA" wählt deutliche Worte. Zu deutliche Worte: Haußmann hetzt flache Klischeefiguren aufeinander und gibt sich alle erdenkliche Mühe, jede von ihnen mit vier, fünf einfachen Sätzen zu charakterisieren. Das schreit nach Jugendbuch, nach Schullektüre, nach Deutschklausur: "Mann, war ich blöd, warum hab ich dieses Spiel überhaupt mitgemacht, ich Idiot, wahrscheinlich weil ich jedes Spiel mitmache, schon mein ganzes Leben lang, ich bin nicht mutig, im Gegensatz zu Krüger...", grübelt sich Henrik in den Schlaf, und der Leser versteht ihn. Er versteht alles, augenblicklich. "NVA" ist ein Bildungsroman. So simpel gestrickt, dass es wehtut.

Hinzu kommt der Humor. Mischke grübelt, wie sein Moppelchen schwanger werden konnte, wenn er sie seit neun Monaten nicht mehr gesehen hat. Krüger bekommt Liebesbriefe aus Hintertupfingen, von einer "Nancy Frettwurst". Und ein durchgeknallter Waffenwart bringt ständig Attrappen und scharfe Munition durcheinander. Keine Frage: Mit gut geführten Schauspielern taugt das durchaus für anderthalb Stunden Schenkelklopferkino. Nicht eben neu, kein Stück originell, aber nun gut: Als Film könnte "NVA" durchaus sein Publikum finden. Doch wozu der Roman?

Liest er sich doch über weite Strecken wie ein uninspiriert um Szeneriebeschreibungen erweitertes Drehbuch: "Inzwischen gab das Bäumchen, an das er sich mit seinem ganzen Gewicht gelehnt hatte, nach. Die Wurzel riss aus dem Boden, und Henrik konnte gerade noch den Wipfel greifen. Nun hing er über einem 20 Meter tiefen Abgrund. Unter ihm schlängelte sich ein Fluss." Autsch! Haußmanns Romandebüt ist auf allen Ebenen unterkomplex: sprachlich, psychologisch, politisch. Und immer, wenn Tagträume oder ins Groteske ausufernde Zwischenfälle ("Kamerafahrten" in den Weltraum, Vollrausch, Nahtoderfahrungen usw.) die Schullektüren-Tristesse aufhellen könnten, sind sie so unpräzise und fade beschrieben, dass man sich ärgert, nicht lieber den Film gesehen zu haben.

"Neue Vahr Süd" und "NVA" sind gesellschaftskritische, aber amüsant und einfach gehaltene Appelle gegen den Wehrdienst. Regeners Buch ist grotesk dick, verzichtet aber darauf, seine Figuren zu Archetypen zu stilisieren - die Systemkritik so deutlich auszusprechen, dass es auch der Dümmste kapiert. "NVA" will viel, viel mehr, und das auf deutlich weniger Platz. Doch vor allem lugt Haußmann wieder von vorne bis hinten in Richtung "Kult". Dabei sollte er es doch inzwischen gelernt haben: Weniger ist mehr. Und will man den "tiefen Sprung" in der Welt anprangern, muss diese Welt erst einmal überzeugend geschildert werden. Auf einer Leinwand scheint das Leander Haußmann deutlich einfacher zu fallen als zwischen Buchdeckeln. Also eben doch: Ab in die Grabbelkiste, Genosse Heidler!

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Freitag 41  /  14.10.2005  /   www.freitag.de    Ingo Arend

Ist doch alles wie im Film    GROTESKE

Ein kleiner Versuch, Leander Haußmanns Buch "NVA"

gegen seinen Film und die Augenzeugenliteratur zu verteidigen

 

Soldaten sind Mörder. Wie ein Damoklesschwert hängt der Satz von Kurt Tucholsky über einem Beruf, der seinen wahren Charakter nicht verleugnen kann. Militär ist eine Regression. Mag es sich auch noch so sehr hinter High-tech verstecken und mit Formeln verkleiden, die dem Blutgeschäft einen zivilen Tarnanstrich geben sollen: Sicherheitsingenieur, Staatsbürger in Uniform, Verteidiger des Friedens.

Die Schizophrenie des Militärs, der Tanz auf der Kippe von Banalität und Barbarei, zieht sich wie ein roter Faden durch die Militärliteratur. Noch im kriegsverherrlichendsten Landserroman ist etwas davon zu spüren. Entsprechend sind die Erwartungen an die literarische Bearbeitung dieses Instituts. Der Soldatenroman muss das Sinnlose und Inhumane des Systems im Auge haben, er soll aber auch den Einzelnen, der sich darin wie in einem Stacheldrahtverhau verfangen hat, nicht vergessen. So ein Stoff, lautet eine weit verbreitete Meinung, eignet sich sehr, sehr schlecht für Witze.

Der Vorwurf, Leander Haußmann verharmlose mit seinem Film und dem Buch NVA das Gewaltinstitut Militär im Allgemeinen und die DDR im Besonderen, indem er es auf ein paar Kasernenschnurren reduziert, gilt - zumindest für das Buch - nicht. "Viel schlimmer", wie es jetzt von allen Seiten tönt, war der Militär-Alltag womöglich doch nicht. Zumindest kann man das einem der Verharmlosung unverdächtigen Buch entnehmen, das zur gleichen Zeit wie Haußmanns Taschenbuch zum gleichen Thema erschienen ist. In Hinterm Horizont allein - Der "Prinz von Prora". Erfahrungen eines NVA-Bausoldaten hat der Berliner Journalist Stefan Wolter seine Zeit bei der Nationalen Volksarmee im ehemaligen KdF-Bunker Prora auf Rügen 1986/87 beschrieben.

 

Wolters Fall wiegt besonders schwer. Als Wehrdienstverweigerer wurde der 1967 in Eisenach geborene Pfarrerssohn Bausoldat und musste auf der "sozialistischen Großbaustelle" Mukran hinter Stacheldraht Sand schippen. Natürlich ist der Militäralltag ohnehin schon schrecklich. Aber als Christ ist Wolter zusätzlichen Schikanen ausgesetzt. Bibelkreise werden als Staatszersetzung ausgelegt und mit Urlaubsentzug geahndet. Da liest man einigermaßen verwundert, wie er im Dezember 1986 seinen Eltern schreibt: "Die Arbeit macht nach wie vor Spaß und ich freue mich über die Ruhe. Gestern ... habe ich mit Michael Kaffe getrunken. Wir ... haben beide festgestellt, dass wir noch nie so viel verrückte Typen wie hier vorher kennen gelernt haben". Wolter findet sogar Zeit, hebräisch und Flöte spielen zu lernen.

Verrückte Typen tummeln sich auch bei Leander Haußmann. Und in Wolters Soldatenleben findet man gleichfalls all die Versatzstücke wieder, die bei Haußmann als Klamauk beargwöhnt werden: perverse Vorgesetzte, menschenverachtenden Drill, Pennälerscherze wie heimliches Duschen im Keller und die kleinen Folterspielchen, mit denen die Insassen dieses geschlossenen Systems den Druck von oben und außen nach innen wenden: die "Musikbox" und die "Schildkröte". Bei dem einen muss man in einem geschlossenen Spind singen. Bei dem anderen macht man Bekanntschaft mit dem Heizungskörper. Selbst die gefürchtete Strafverschickung in die Schleifer-Kompanie von Schwedt kommt bei Wolter vor. Von wegen Klamotte: Haußmann hat sich ziemlich genau an die Realität gehalten.

Der Unterschied zwischen den beiden Bänden liegt im ästhetischen Verfahren. Wolter ahnt etwas von dem Aberwitz des Systems Militär. Als der junge Rekrut angstbebend in Rügen ankommt, trifft er auf einen kleinen Offizier, der so fett ist, dass ihn die neuen Rekruten sarkastisch "die Luftpumpe" nennen. Als abends wieder einmal eine besonders bunt zusammen gewürfelte Truppe in seiner Baukompanie beisammen sitzt, schreibt Wolter an die Lieben daheim: "Alles ist hier wie im Film". Ein gefundenes Fressen sollte man meinen. Doch er macht nur einen tristen Dokumentarfilm daraus. Das kann man machen. Fade wird es erst, wenn man immer nur auf das Material und den eigenen Bauchnabel hält, nach dem Motto - so war es!

 

Haußmann dagegen bläst den militärischen Alltag kurz und knapp zur Groteske und damit zur Kenntlichkeit auf. Dieses realitätsverzerrende Genre ist im Fall des Militärs aber das realitätstauglichere Mittel, weil der militärische Alltag eine Groteske ist. Gerade weil das Große, Böse, dem er dient und das er vorbereitet, unsichtbar ist und letztlich unvorstellbar bleibt, wirkt er oft wie eine besonders schlecht ausgedachte Karikatur. Das macht die blockübergreifende Lächerlichkeit von Übungen wie "Gasalarm" oder "Tarnen im Gelände" aus. Das ist der Sinn von Haußmanns Klischeetypen wie Hauptfeldwebel Futterknecht, von absurden Ritualen wie der Postausgabe ohne Post oder dem Eiertanz um die klassengerechte Bemalung einer hässlichen Betonwand in der Kaserne.

Wolters Band dagegen liest sich wie die Schwarzweiß-Fassung dieser grellen Komödie. Sein Buch ist aufrichtig. Es gibt interessante, mitunter bewegende Einblicke in das Drama vom Verlust des Ichs und der Erziehung zur Gleichgültigkeit. Doch wie alle Augenzeugenberichte krankt sein Mix aus nachträglicher Erinnerung, Briefen von damals und Fotos von heute an der eingeschränkten Perspektive und einer peinigenden Detailseligkeit. Ständig schreibt er den Eltern, wie er sich mit den Stubenkameraden heimlich Spaghetti kocht oder am Strand spazieren geht. Mit dieser Erbsenzählerei kommt er dem Institut Militär allerdings kaum näher als bis zu den eigenen Tränen.

Da ist Haußmann an der Welt hinter der Welt näher dran, wenn er einen Soldaten im schlechten Slapstick durch einen geheimen Bunker im Wald stolpern lässt, in dem der atomare Ernstfall vorbereitet wird. Ausgerechnet diese Szene hat sein Drehbuchschreiber Thomas Brussig im gleichnamigen Film aber weggelassen. Statt auf die ironische Psyche, die Haußmann seinem Helden Henrik Heidler gibt, setzt er auf Grimasseneffekte oder running gags wie Futterknechts ständiges: "Ich glaub es nicht", wenn sich seine Soldaten wieder allzu zivil benehmen. Dem Film fehlen die Zwischentöne von Haußmanns Prosa.

 

Wer nicht zum Mörder werden will, muss lieben lernen. So unterschiedlich beide Bücher und Autoren sind - hier der kesse Haußmann, da die empfindsame Seele Wolter. So sehr treffen sie sich in ihrem romantischen Glauben an eine alles erlösende Macht. Haußmanns fiktiver Henrik landet am Ende im Wachtturm in den Armen von Franziska, der Tochter von Oberst Kalt, der reale Stefan in den Armen eines Kameraden: "Da trafen sich die Lippen ... Unter Bäumen, die nur als Silhouetten wahrnehmbar waren, wurde ich durch unschuldige Küsse zu einem zauberhaften Erleben hinübergerissen ... auf dem stacheligen Waldboden ... im fahlen Mondeslicht" stammelt der überwältigte Bausoldat sein Coming-Out von damals nach.

Gegen diese pubertäre Protolyrik lobt man sich die lässige Romantik von Haußmanns Protagonisten. Schon der Kaserne nähert er sich in der distanzierenden Vogelperspektive, immer eingesponnen in seinem immunisierenden Paralleluniversum aus Popsongs West. Der fiktive Henrik ist zwar ähnlich sensibel wie der reale Stefan. Aber als er nach einem schmierigen Vorgang zwischen Stasi-Anwerbe- und schwulem Annäherungsversuch die Bude von Unteroffizier Aurich verlässt, stürzt er nicht in ausweglose Verzweiflung, sondern in Mitleid: "Während er langsam über den Flur zurückging, sah er vor sich das Gesicht von Aurich und er tat ihm leid. Einfach so".

Zugegeben: Haußmann hätte die humoristische Schraube noch anziehen, die Groteske noch grotesker sein lassen und Brussig ein bisschen mehr auf die Finger sehen können. Das ändert nichts an der Wirksamkeit eines Prinzips, das da heißt: Verlacht die Militaristen, wo ihr sie trefft!

 

Leander Haußmann: NVA. Roman. Kiepenheuer&Witsch. Köln 2005. 240 S., 8,90 EUR

Stefan Wolter: Hinterm Horizont allein - Der "Prinz" von Prora. Erfahrungen eines NVA-Bausoldaten. Projekte-Verlag, Halle 2005, 350 S., 19,80 EUR

 

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