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11   Sozialismus und Tod 

 

 

«Mach dich frei von Lebenslust, von Dünkel, von Unwissenheit und der Zerstreuung Wirrsal.

Zerreiß die Bande; so nur erreichst du wirklich das Ende der Pein.

Wirf von dir die Kette von Geburt und Tod — du weißt, was sie bedeuten.

So, von Verlangen befreit, sollst du im Erdenleben ruhig und heiter ziehn deines Weges.»  

Der Buddha, Psalmen der frühen Buddhisten.

 «Es gibt nur einen Weg aus dem verfilzten Dschungel, in
dem der Kampf um Ehre, Macht und Vorteil geführt wird ...
dieser Weg heißt: Ja sagen zum Tode.»
 

Dag Hammarskjöld, UNO-Generalsekretär

 

 

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Um das Wesen des Sozialismus weiter zu erhellen, soll jetzt das Augenmerk auf dasjenige Phänomen gelenkt werden, das als letztes Geheimnis allem Sein zugrunde liegt: auf den Tod. Jeder wahre Weise interessiert sich für ihn und strebt danach. So jedenfalls lehrt es uns der alte Lebemeister Sokrates im <Phaidon>. Richtiges Leben bedeutet deshalb Sterbenlernen. In aller herkömmlichen Geistesschulung ebenso wie in den Mysterien des Altertums wurde stets darauf geachtet, daß die Beteiligten sich praktisch auf das Erlebnis des Todes einließen.

Es ist die Vorfreude darauf, daß es mit dem empirischen Bewußtsein einmal ein Ende haben werde, worin diese Gesinnung gegenüber dem Tod wurzelt. Denn mit dem empirischen Bewußtsein ist nicht allein der Durst nach Vergnügen, der Durst nach Macht und der Durst nach Dasein verbunden, mit dieser Form des Bewußtseins ist gleichfalls alles Leiden gesetzt.

Das sozialistische Bewußtsein will vom «Sein zum Tode» nichts mehr wissen. Mit diesem Bewußtsein und mit der Entwicklung eines «sozialistischen Gesundheits­wesens» ist im Hinblick auf den Tod eine neue Situation eingetreten. Denn zahllose Menschen, die in der Vergangenheit längst gestorben wären, werden heute im Sozialismus mittels Herzschrittmachern, mit Hilfe mechanischer Nieren und anderem Gerät künstlich am Sterben gehindert. War in der Vergangenheit der Unterschied zwischen dem zu frühen Tod, sei dieser nun durch Krankheit, Unfall oder Verwundung im Kriege verursacht, und dem natürlichen, altersbedingten Tod für jedermann klar erkennbar, ist das in der Gegenwart kaum mehr möglich. 

Es ist also zu fragen, was aus einer Gesellschaft wird, die das Sterben behindert und den Tod zunehmend aus ihrem Bewußtsein drängt. Wer Fragen dieser Art stellt, wird bald merken, daß alles Behindern und Verdrängen durchaus kein Jasagen zum Leben ist, sondern lediglich der Aufrechterhaltung einer besonderen Lebensform dienen soll.

«Der Kampf um das Leben», heißt es in der neuesten Ethik des Staatssozialismus, «wird beim zu früh geborenen Säugling ebenso entschlossen geführt wie beim Schwerstverunglückten, bei dem chronisch Kranken oder auch sehr alten Menschen. Viel schlimmer als je zuvor wird der Tod als eine Niederlage in diesem Kampf empfunden.»58

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Dieser ganz dem empirischen Bewußtsein verpflichteten Ethik zufolge ist der Mensch nichts weiter als eine Erscheinung in der Zeit, weshalb ihm der Tod als Vernichtung erscheint. Dagegen aber muß man sich mit allen verfügbaren Mitteln zur Wehr setzen. Den Tod hinauszuschieben ist deshalb der Endzweck des Gesundheitswesens, denn das gegenwärtige Leben im Fleische soll verlängert werden um jeden Preis. Um das aber zu erreichen, muß sich die Gesellschaft «auf eine völlig neue Weise auf den sterbenden Menschen einstellen. Es ist nicht selten ein Kranker, der weder essen noch trinken kann, der künstlich beatmet wird, der also von einer Fülle technischer Einrichtungen umgeben ist.»59

Erstmalig in dieser Lage - im Zeitalter des totalen Einsatzes der Medizintechnik - bewahrheitet sich das Wort vom Körper als dem «Kerker der Seele». So sterben denn die Alten zu spät, und ihr sinnlos verlängertes Leben wird zur Last. Herausgerissen aus ihren Familien, lieblos durchgefüttert aus Pflichtgefühl, wird den Alten jede Entscheidungsfreiheit über ihr Leben und ihren Tod genommen. Als soziales Gerümpel werden sie schließlich entsorgt, sobald die von ihnen belegten Krankenhausbetten knapp werden.

Achtung vor dem Leben soll das sein! Wie menschlich klingt im Gegensatz dazu die Lehre des «Stirb zur rechten Zeit», die Nietzsches Zarathustra dem Tod, «der heranschleicht wie ein Dieb — und doch als Herr kommt», entgegenhält. Freilich, ganz trifft dieses Bild vom Tode heute nicht mehr zu. Bei wem und wann die medizinische Versorgung eingestellt wird, das hängt davon ab, über wieviel Bettenkapazität die medizinische Einrichtung verfügt, in die der Mensch zum Ende seines Lebens eingeliefert wird. Begrenzte medizinische Kapazitäten verhindern ein weiteres Ansteigen der «durchschnittlichen Lebenserwartung», des wohl dubiosesten Wertes im Wettkampf der Systeme mit der Zeit.

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Natürlich geht es jenen Predigern einer Ethik des Staatssozialismus, die den langsamen Tod ehren wollen, nicht allein um das Abschneiden im Wettlauf der Systeme. Es geht um weit mehr. Bis zu seinem Tode soll der Mensch daran gehindert werden, für sich und sein weiteres Leben selbstbestimmt zu entscheiden. Noch in seinem Sterben soll der Mensch den Geist der bürokratischen Vormundschaft zu spüren bekommen, ganz so, als sei der Mensch in Ewigkeit und nicht nur hier auf Erden von der Macht abhängig. Darum wird der freie Tod, der Tod, der dann kommt, wenn wir es wollen, verteufelt. Darum ist der bürokratisch geplante, der statistisch unauffällige Tod erwünscht. Vor dem Hintergrund dieses Todes aber wird das Sterben zur letzten erschütternden Zurechtweisung darüber, wohin uns die Entmündigung gebracht hat.

Welcher Mensch hat jemals so hilflos angesichts des Todes dagestanden wie der sozialistische?

Klar ist doch wohl: Je materialistischer der Mensch eingestellt ist, um so überwältigender, vereinnahmender erscheint ihm die gegenständliche Welt, um so ärmer ist seine innere Welt. Je ausgeprägter die Lust des Menschen auf äußere Dinge aus ist, um so schwerer fällt es ihm, sich von der Erscheinungswelt abzukehren. In der Stunde des Todes bleibt da nicht viel mehr als die Angst, daß man vielleicht doch nicht richtig vorbereitet sei auf das, was da kommen wird. Denn was nützen alle Phrasen, wenn man nicht weiß, wie man sterben soll? In solch einer Lage erscheint der Tod nurmehr, wie Marx in den «Ökonomisch-philosophischen Manuskripten» richtig feststellt, «als ein harter Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum».

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Natürlich kann der Tod das immer nur dort sein, wo der Mensch auf die Selbstbehauptung reduziert wird. Die bittere Niederlage des Individuums, die unsere Ethiker so schmerzt, kommt doch im Grunde genommen daher, daß der sozialistische Mensch Wirklichkeit nurmehr in seiner Person wahrhaben will, nicht jedoch in seinem inneren Wesen, in der Natur und in Gott. Bis zum letzten Atemzug auf die Behauptung seines Selbst bedacht, denkt der Mensch im Sozialismus zumeist in den Begriffen seiner eigenen Person, was ihn daran hindert, seinen Eigen-Sinn fahren zu lassen und mit der Welt einen einzigen Leib zu bilden.

Wie ein ontologischer Status des Menschen aussehen könnte, der nicht mehr durch Selbstbehauptung bestimmt ist, sondern von einem Willen zur lebendigen Gemeinschaft mit allem Sein, das haben in der deutschen Kultur bisher nur die Mystiker zu sagen gewußt. Besonders in ihrem vorlaufenden Bedenken des Todes deutet sich eine organismische Weltsicht an, die den Zustand des Abgetrenntseins des Menschen von seinem ureigentlichen Sein überbrückt. Wo immer der Mensch bei ihnen aufhört, ein Individuum zu sein, verkörpert er und durchdringt er die ganze Welt, innerlich ebenso wie äußerlich. Eins geworden mit allem, schafft der Mensch in sich und aus sich heraus das All, den Himmel wie die Hölle.

Ganz in diesem Sinne antwortet der philosophus teutonicus Jakob Böhme, seines Standes einst Schuhmachermeister in Görlitz, auf die Frage: «Wo fährt die Seele denn hin, wenn der Leib stirbt, sie sei selig oder verdammt?» — «Sie bedarf keines Ausfahrens, sondern das äußerliche tödliche Leben samt dem Leibe scheiden sich nur von ihr. Sie hat Himmel und Hölle zuvor in sich... denn Himmel und Hölle ist überall gegenwärtig.»60)

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Auch im Sozialismus bleibt das menschliche Leben ein «Sein zum Tode». Mag dadurch das Leben von Anfang an beleidigt werden, wie uns die neueren Sinn-Geber einreden wollen, es ist so, daß wir ständig sterben. Deshalb mahnen die Meister: Sterblicher, denk ans Sterben! Denn der morgige Tag ist ungewiß, und es ist niemand da, der uns verbürgt, daß wir ihn noch erleben werden. Darum heißt es, wir sollen jetzt leben lernen, und zwar so, daß uns die Todesstunde mehr Freude als Schrecken bringt. Je weniger wir Mahnungen dieser Art beherzigen, je weiter wir statt dessen den Tod an den alleräußersten Rand des Sozialgeschehens drücken, um so mehr wird dieser zur Quelle unausgesprochener Ängste werden. Gegen diese Angst aber wird der sozialistische Mensch wehrlos sein, denn er hat ihr nichts — nicht einmal den Glauben an ein wohlwollendes Wesen — entgegenzusetzen. In solcher Lage ist die Verabsolutierung der banalen Lebensdauer beinahe schon wieder verständlich, ebenso wie die Erklärung des Todes zum Erzfeind der Menschheit nachfühlbar wird.

Das ständige Ausweichen vor dem Tode beherrscht den sozialistischen Alltag uneingeschränkt. Mehr denn je hängt die Entwicklung menschlicher Selbstbestimmung unter diesen Umständen davon ab, daß wir wieder die ethische Bedeutsamkeit des Todes erkennen. «Was tun?» — «Welches ist die bestmögliche Weise zu leben?» — «Wer will ich sein?» Gleichgültig in welcher Form wir die Grundfrage aller Ethik stellen, Tiefe gewinnt unser Fragen erst in dem Moment, wenn wir den Mut aufbringen, unser Leben im ganzen in Frage zu stellen und nicht nur irgendwelche untergeordneten Lebensziele. Wollen wir uns praktisch auf die Ganzheit unseres menschlichen Seins beziehen, setzt das notwendig voraus, daß wir den Tod als die einzige Möglichkeit des Nicht-mehr-Seins vorlaufend bedenken.

Nur dann, wenn wir uns das jederzeit mögliche Ende unseres Lebens ernsthaft vor Augen führen, indem wir den weiteren Vollzug des bevorstehenden Lebens zum Gegenstand einer Wahl werden lassen, leben wir nicht weiter unüberlegt in den Tag hinein.

Erst aus einer so gearteten Entscheidungs­situation heraus kann die Verwirklichung einer eigenver­antwortlich übernommenen Biographie beginnen, können neue Lebenswege beschritten werden. Zudem zwingt die Hamlet-Frage, den, der sich fragt, ob es besser ist, «zu sein oder nicht zu sein», das eigene Dasein tiefer zu begründen. Damit wird von vornherein der allerorten sich ausbreitende Optimismus in Frage gestellt, bei dem das Ergebnis von Lebensentscheidungen immer schon entsprechend der wohlfeilen Lehre feststeht, wonach — ganz gleich unter welchen Verhältnissen und Menschen — alles Leben gleichermaßen lebenswert sein soll. Nein, nicht das ist die Hamletlehre! Nicht der Hamlet ist uns Symbolfigur für menschliches Handeln, dessen Unentschlossenheit zum Leben angeblich aus einem Zuviel an Nachdenken herrührt. Von Interesse kann uns nur jener Prinz von Dänemark sein, der für sich erfahren mußte, daß ein unverschleierter Blick in das Wesen menschlicher Lebens­verhältnisse Handeln lähmen kann.

Zu keiner Zeit in der Geschichte wurde vermutlich das Tätigsein und damit zugleich die Ruhelosigkeit höher bewertet als in der Gegenwart, wodurch die in jeder Hinsicht lebenswichtige Stille zu kurz kommt im Leben der Menschen. Durch die meditative Beschäftigung mit dem Tode könnte dieser Mangel wenigstens teilweise ausgeglichen werden. 

Um den Tod wieder in unserem Gefühlsleben einzuheimaten, empfiehlt uns der Dichter Rainer Maria Rilke die Lektüre der Erzählung Tolstois «Der Tod des Iwan Iljitsch».

Sehen wir uns darüber hinaus nach weiteren Lebensgeschichten um, die ein vorlaufendes Verstehen gegenüber dem Tod befördern können, dürfen wir natürlich Sokrates nicht vergessen.

Platon hat die letzten Stunden des Sokrates in den Dialogen «Kriton» und «Phaidon» dargestellt, wobei ihm die Gelassenheit des Sokrates angesichts des sicheren Todes als der beste Beweis für das heimliche Streben eines weisheits­liebenden Menschen zum Tode erschien. Nicht als Bußprediger, nein, im Rahmen eines Lehrgesprächs zwischen Sokrates und Simmias trägt uns Platon sein Verständnis des Todes vor.

Und es ist wundersam wahrzunehmen, wie er im Gespräch über die alltäglichsten Dinge des Lebens die esoterische Erkenntnis weitergibt, wonach erst in dem Augenblick, wenn Körper und Seele voneinander scheiden, alle die Hindernisse beseitigt sind, die dem Erkennen des Guten, Gerechten und Schönen im Wege stehen:

«Und offenbar dann erst werden wir haben, was wir begehren und wessen Liebhaber wir zu sein behaupten, die Weisheit, wenn wir tot sein werden - wie die Rede uns andeutet -; solange wir leben aber nicht. Denn wenn es nicht möglich ist, mit dem Leibe irgend etwas rein zu erkennen: so können wir nur eines von beiden, entweder niemals zum Wissen gelangen oder nach dem Tode.»61

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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus.