4. «Das beste Recht wird sinnlos ohne den Gerechten» - Zum Rechtsdenken Ernst Jüngers
Jünger auf detopia Personen-Register
Manches
Treffliche, das verborgen bleibt in dem Herzen,
Regt die Gefahr es nicht auf, und drängt die Not nicht den Menschen,
Daß er als Engel sich zeig, erscheine den andern ein Schutzgott.
Johann Wolfgang von Goethe
Stil und Blick
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In seinem Tagebuch notiert Ernst Jünger am 4. Dezember 1983: nicht allein aus der Behandlung der Themen, schon aus dem Stil eines Autors sei zu schließen, «wie sein Verhältnis zum Recht beschaffen ist». Wie umgekehrt auch gelten soll, daß man aus der Sprache der Juristen gleichermaßen Rückschlüsse auf deren Urteilskraft ziehen kann.
Fragen wir also zuerst einmal nach Jüngers eigenem Stil, bevor wir uns seinen Erzählungen über den «Gerechten» zuwenden.
Optik und Stil Jüngers sind durch anschauendes Denken bestimmt. Bei kaum einem anderen deutschem Schriftsteller ist die bestehende Beziehung zwischen Wahrnehmung und Denken so intim wie bei Jünger. Dennoch ist der Autor Jünger nicht nur der reine Augenmensch mit dem stereoskopischen Blick, als der er im Literaturbetrieb gerne gehandelt wird.
«Wenn ich meinen Stil bedenke, über den die Auguren streiten», heißt es in einer Selbstauskunft, «so liegt das eigentliche an ihm wohl darin, daß noch ein Teilchen der alten Bilderwelt in ihm lebendig ist, ein Tropfen heraklitischen Salböls; alles andere ist Schaum der Zeit.»
Nicht wenige Leser werden sich gerade im Hinblick auf dieses «Teilchen der alten Bilderwelt» fragen: Will der Dichter hier vielleicht aus der Bewegung seiner schöpferischen Phantasie heraus etwas sehen, wo an sich gar nichts mehr zu sehen und zu verstehen ist? Der Rationalist muß so fragen. Nur sollte er nicht vorschnell sein mit der Antwort. Denn Jünger schlägt mit seinem Bilderwelt-Hinweis an einen alten Felsen.
Der Quell, den er noch einmal in dichterischer Freiheit anzapfen will, hat in der Gebundenheit der mythischen Zeit die Menschheit getränkt. Wer auf die Wahrheiten einer solchen Dichtung in der Moderne nicht verzichten will, ist bei Ernst Jünger an der richtigen Adresse. Wobei die visuelle Prosa des Autors Jünger in höchstem Maße, das gilt für seine Erzählungen über Staat und Recht nicht minder, der tätigen Teilnahme, genauer gesagt, der Imaginationen seiner Leser bedürftig ist. Wenn Jünger, um ein Beispiel zu nennen, die Körpersprache der «großen Schlächter» unseres Jahrhunderts ausmalt, indem er dem Leser das «angeekelte und ewig witternde Gesicht» der Gewaltherrscher vor Augen führt, wird natürlich zuallererst dessen anschauende Urteilskraft angesprochen und nicht sein diskursives Denken.
Ob Jünger den «Arbeiter», den «Waldgänger», den «Anareben» oder den «Gerechten» beschreibt, in jedem Falle berichtet er aus einem «Bildersaal». In diesem aber führen nicht Begriffe und Abstraktionen das große Wort. Hier haben Typus und Gestalt das Sagen! Was heißt das? In <Typus, Name, Gestalt> (1963) hat Jünger die für seinen literarischen Stil charakteristische Herangehensweise selber einmal am Beispiel des Rechts dargelegt. Durch Anschauung, heißt es hier, wird der Typus, durch Denken der Begriff erfaßt.
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Ergriffensein und Ergriffenwerden gehen dabei dem Begreifen voran. Immer wieder aber muß die Begrifflichkeit jedes Denkens durch Anschauung überprüft werden. Und weiter:
«Indem wir ein begriffliches Gerüst aus der natürlichen Ordnung lösen und es wieder an sie herantragen, verfolgen wir spezielle Absichten. Das geschieht in den Wissenschaften und auch in der Praxis — so trägt der Staatsmann den Staat an das Volk heran, dessen lebendiges Bild ihn zunächst leidenschaftlich ergriff. Auch das Recht wird auf diese Weise den natürlichen Einheiten, den Einzelnen, der Familie, der Sippe, dem Volk, den Völkerverbänden entzogen und wieder an sie herangetragen, wie jede Normung überhaupt.
Am Nutzen und an der Notwendigkeit solcher Abstraktionen kann kein Zweifel sein. Wie gesagt, müssen sie immer wieder durch die Anschauung geprüft werden, falls die natürliche Ordnung sich nicht auf andere Weise wiederherstellen soll. Hier eben erweist der Typus seine stärkere, ursprünglichere Macht. Durch ihn erst erfährt die Satzung ihren Sinn. Das beste Recht wird sinnlos ohne den Gerechten, der nicht nur in und hinter dem Recht steht, sondern, wenn es sein muß, auch dafür zu Grunde geht. Er ist gründender als alle Gesetzbücher. Er stellt auch das ungeschriebene Recht wieder her, wo das geschriebene Gesetz versagt. Wo er verschwindet, ist es belanglos, ob das Gesetz dem Wortlaut nach bestehen bleibt oder nicht. Es tritt ein anderer Typus an seine Stelle: der des Gewalthabers.»
Was meint Jünger hier mit dem «Gerechten», den wir allzu schnell mit Gesetzlichkeit und Rechtsprechung, mit Sittlichkeit und Tugend in einen Zusammenhang stellen wollen? Am ehesten und am wenigsten durch Vorurteile behindert fassen wir Jüngers «Gerechten», wenn wir uns erst einmal an sein eigenes Bild halten: Im Typus des Gerechten verkörpert sich dann der einheitliche Zusammenhang des Rechten: die weisende Richtung und das, was sich in sie einfügt.
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Als Urbild ist der Typus des Gerechten für Jünger Treuhänder jeder Satzung: Demokratie und Freiheit werden in einer so veranlagten Ästhetik des Rechts durch die bestehende normative Ordnung im besten Falle festgeschrieben — garantiert werden sie aber nur «durch die Freien und Redlichen». Wichtig ist also nicht irgendeine «juristische» oder «moralische» Bedeutung des Typus. Hingegen ist bedeutsam, daß der Typus des «Gerechten» im Verhältnis der Polarität und Steigerung zum Typus des «Gewalthabers» steht.
Heeresgliederung oder Gesellschaftsvertrag?
Der «Gerechte» war nicht von Anfang an der dominierende Typus in Jüngers Werk. Er beginnt in seinen unterschiedlichen Einzelgestalten ab Mitte der dreißiger Jahre eine Rolle zu spielen. Davor liegt der Versuch des Autors, die «vergiftenden Gegensätze von Macht und Recht» mit Hilfe einer «organischen Konstruktion» auszuschalten.
In seinem 1932 erschienenen Essay <Der Arbeiter> zeichnet Jünger das Bild einer durch die Totalität der Technik dominierten Welt, in der Staaten modernster Prägung in Ost und West gleichermaßen für die planetarische Entscheidungsschlacht mobil machen. In diesem imperialen Rahmen, der weltweit durch die Gestalt des Arbeiters geprägt ist, sieht der preußische Modernist Jünger einen neuen Menschenschlag am Werk, der als Typus überall und in jeder Hinsicht die überlieferten historischen Rechtssysteme angreift.
Die Existenz des Arbeiters schließt den Angriff auf die Existenz des bürgerlichen Individuums in sich ein. Für den Arbeiter als Helden und Typus der Moderne sind die beängstigenden Mittel der Technik seiner Zeit Prüfsteine seiner Kraft. Weil der Typus «sich seinen Mitteln mit jener naiven Sicherheit verwachsen fühlt, mit der sich das Tier seiner Organe bedient».
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Wird «die Technik» aber erst einmal als «die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeiters die Welt mobilisiert», in ihrer vollen Durchschlagskraft vorbehaltlos gefeiert, so ist es nurmehr ein kleiner Schritt festzustellen, daß es mit allen nichttechnischen Staats- und Rechtsvorstellungen alsbald vorbei sein wird.
Und da zwischen dem Technischen, dem Totalitären und dem Soldatisch-Militärischen unübersehbar enge Verflechtungen herrschen, liegt es natürlich nahe, so wie Jünger im <Arbeiter> zu sagen: «Muster jeder Gliederung ist die Heeresgliederung, nicht aber der Gesellschaftsvertrag».
Angesichts einer so durchkonstruierten «Einheit von Macht und Recht» hat es schon seine innere Logik, wenn Jünger hier den Individualismus ebenso gnadenlos attackiert wie den Begriff der bürgerlichen Freiheit, «dessen Aufgabe» nach Auffassung des Autors «die Umwandlung aller verantwortlichen Bindungen in Vertragsverhältnisse auf Kündigung ist». Verkörpert der Mensch in seiner spezifischen Eigenart als Individuum im Unterschied zum Typus doch die Tendenz, sich als Bevorrechtigter und Ausnahme gegenüber dem Staat zu setzen.
«Theoretisch ist jeder Bürger vor dem Gesetz gleich», so die Beobachtung des Autors, «praktisch aber besteht das Bestreben, jeden Fall als Ausnahmefall, also als einmaliges Erlebnis, zu sehen. Der Nachweis der Individualität ist zum mindesten ein Milderungsgrund; daher schiebt sich in die Rechtspflege immer stärker das medizinische, in letzter Zeit auch das psychologische Gutachten ein, ebenso in gewissen Fällen die soziale Indikation.» Der Individualismus ist die Waffe, welche der Bürger gegen den Typus in Anschlag bringt. «Entsprechend gestaltet sich für den Träger der ausgesprochenen, etwa der literarischen, Individualität der Prozeß zu einer besonderen Abart der Reklame um, zu einem Forum, von dem aus der Einzelne die Gesellschaft verklagt.»
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So, wie andererseits «ein bestimmter Eigentumsbegriff dem wirtschaftlichen Individuum eine große Verfügungsgewalt» verleiht, «die weder der Gemeinschaft noch der Vergangenheit und Zukunft verantwortlich ist. Ein Rüstungslieferant kann Kriegsmittel herstellen für jede beliebige Macht. Eine neue Erfindung ist Teil der individuellen Existenz; sie fällt folgerichtig dem Meistbietenden zu.»
Wo Herrschaft und Dienst zusammenfallen, muß das Individuum als Vertreter einer geschwächten und zum Untergang bestimmten Ordnung dekonstruiert werden. Denn nur in dem Maße, wie «sich die Individualität auflöst, verringert sich der Widerstand, den der Einzelne seiner Mobilmachung entgegenzustellen vermag».
Jüngers Rechtsdenken im <Arbeiter> konzentriert sich darauf, die der perfekten Synchronisation des Organischen mit der Welt der Technik entgegenstehenden Hindernisse einzukreisen. In einer Zeit des großen Verzehrs, in der das Recht hinter der Dynamik des Zwangs zur beschleunigten Bewegung zurückfällt, soll jeder juristische Protest aus der Privatsphäre abgeschnitten werden.
Jünger unterschlägt nicht die immensen Kosten, die der Abbau subjektiver Rechte mit sich bringt. Für ihn handelt es sich jedoch — immer aus dem Blickwinkel der Zwischenkriegszeit gesehen — genau um den Preis, den Deutschland zahlen muß, wenn es im planetarischen Modernisierungswettlauf mithalten will. Nur wenn die Deutschen den «Arbeiter» aus sich heraus freisetzen, können sie sich aus dem Desaster der ersten Weltkriegsniederlage befreien.
Gemeint ist damit keineswegs allein die ökonomische Misere. Jünger ging es ebenso um die ordnungspolitische Einbindung jenes explosiblen Menschengemischs, welches durch seine dauernden Bürgerkriegsaktivitäten auf der Straße Staat und Gesellschaft der Weimarer Republik in Frage stellte.
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Anders gesagt: Mit seinem Rechtsdenken im <Arbeiter> antwortet Jünger auch auf den permanenten Ausnahmezustand. Die Privatisierung der Hoheitsrechte des Staates will er nicht hinnehmen. Weshalb mit der Mobilmachung zugleich ein Zustand der Un-Ordnung beseitigt werden soll, dessen zeitgenössische Phänomenologie der Autor mit den Worten beschreibt:
«Neben der Polizei tauchen Einwohnerwehren und Selbstschutzorganisationen auf. Während man auf der Seite des kosmopolitischen Geistes den Landesverrat zu kanonisieren sucht, bringt die Blutseite des Lebens eine mit Boykotten, Attentaten und Femegerichten arbeitende Geheimjustiz hervor. Die Hoheitsabzeichen des Staates werden durch Parteiabzeichen ersetzt; die Tage der Wahlen, Abstimmungen und Parlamentseröffnungen gleichen Probemobilmachungen zum Bürgerkrieg. Die Parteien scheiden stehende Heere aus, zwischen denen der Zustand eines latenten Vorpostenkrieges herrscht, und entsprechend nimmt die Polizei eine Art der Bewaffnung und der Taktik an, die als Kennzeichen eines permanenten Belagerungszustandes aufzufassen ist.»
Seine Bücher über den ersten Weltkrieg, die Totale Mobilmachung und den Arbeiter hat Jünger 1942 gegenüber Edgar Traugott zusammenfassend einmal als sein «Altes Testament» bezeichnet. Ein geradliniges Fortschreiten wäre hiernach wohl möglich gewesen. Allerdings hätte ein solches Denken, wie Jünger selber mit aller Klarheit gesehen hat, direkt in «eine reine Masken- und Automatenwelt geführt». Die Entfaltung unterschiedlicher Gestalten des «Gerechten» in den Tagebüchern, Essais und der Prosa Jüngers ab dem Ende der dreißiger Jahre kann man insofern also durchaus als geistige Richtungsänderung des Autors und damit zugleich als literarische Kompensation rechtsnihilistischer Positionen des Arbeiten lesen.
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Für die Nationalsozialisten war <Der Arbeiter> im übrigen ein skandalöses Buch schon allein deshalb, weil Jünger darin «die Grundfrage alles Daseins, [...] das Problem von Blut und Boden» negierte, wie Thilo von Trotha im Völkischen Beobachten kritisierte. Ernst Jünger nähere sich mit seinem literarischen Schaffen damit der «Zone der Kopfschüsse», hieß es drohend. «Herr Jünger», sekundierte ein anderer Rezensent in Goebbels <Angriff>, «ist damit für uns erledigt».
Waldgänger und Anarchen als Gestalten des «Gerechten»
Früher als die Mehrheit seiner Zeitgenossen, früher sicher auch als die meisten Inhaber juristischer Lehrstühle in Deutschland, hat Ernst Jünger gesehen, daß der Nationalsozialismus («die Pöbelherrschaft») Deutschlands direkter Weg in den nächsten Abgrund war. Angesichts solcher Aussichten geht es dem Autor seit Hitlers Machtantritt immer wieder um zweierlei Fragen: Wie soll man sich verhalten, wenn Legalität und Legitimität in einen schreienden Widerspruch zueinander geraten, wenn die Autorität des Gerichtswesens nicht oder kaum mehr vorhanden ist — und sich damit das Problem von Gehorsam und Widerstand praktisch stellt? Und: Welcher Typus kann den Zumutungen, die in einer solchen Zeit an jeden gestellt werden, widerstehen?
Jünger ist kein Schreibtischstratege des Widerstands, der fern vom Schuß sitzend zur Sabotage aufruft. Und schon gar nicht gehört er zu denen, die jeden Nichtwiderstand zur Kollaboration mit dem Unrecht stilisieren wollen. Dennoch läßt Jünger keinerlei Zweifel daran, daß jede Form der Mitarbeit in der Tyrannis — und sei sie noch so abstrakt — ihren Preis hat.23) Gegenüber dem Nationalsozialismus müsse man, wie Jünger schon im Sommer 1933 seinem Bruder Friedrich Georg schreibt, «die Kunst erlernen, wie man mit Tatsachen ficht».
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Um die praktischen und menschlichen Schwierigkeiten jeglichen Widerstands in Zeiten der politischen Despotie wohl wissend, hält der Autor Jünger nach der Machtergreifung Hitlers nach dem Typus Ausschau, welcher überhaupt noch den Anforderungen einer erforderlichenfalls gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Gewalthabern gewachsen sein könnte. Daß er vor diesem konkret-historischen Hintergrund die literarische Palette seiner Gestalten noch mit der Gestalt des «Gerechten» anreichern würde, war nurmehr eine Frage der Zeit.
In der Widerstandsparabel <Auf den Marmorklippen> (1939) thematisiert Jünger in Form zeitgeschichtlicher Bezüge erstmals, welchem Typus er in Zeiten der Not zutraut, die schwierige Rolle des «Gerechten» in ihrer Polarität zum Gewalthaber in diesem Sinne zu besetzen. Der «Oberförster», in dessen Maske Jünger Hitler auftreten läßt, ist hier für ihn dem gewissenlosen Operateur und Arzt vergleichbar, der vorsätzlich das Leiden fördert, um dem Kranken dann die Schnitte zufügen zu können, die er im Sinne hat. Die perfide Medizin, die er dem sozialen Organismus verabreicht, ist die Furcht. Sie soll jeglichen Widerstand lähmen.
23) Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht, wie Jünger seinerzeit unter dem Eindruck des NS-Regimes die Rolle Carl SCHMITTS, mit dem er ja seit Oktober 1930 freundschaftlich verbunden war, bewertet: «Als klassischer Rechtsdenker ist er der Krone zugeordnet, und seine Lage wird notwendig schief, wo eine Garnitur des Demos die andere ersetzt. Bei der Heraufkunft illegitimer Mächte bleibt an der Stelle des Kronjuristen ein Vakuum, und der Versuch, es auszufüllen, geht auf Kosten der Reputation.»
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Und während seine niederen Agenten den inneren Krieg noch schüren, besetzen die Eingeweihten zur selben Zeit schon Ämter und Magistrate. Wo sie als starke Geister die Hoffnung auf sich ziehen, daß sie alsbald den Pöbel zu Paaren treiben würden.
Angesichts der schwarzen Hochzeit von Nihilismus und Willkür ist für Jünger das Bedrohlichste, daß die Untaten, «die das Land erregten und nach dem Richter schrien, kaum noch Sühne fanden — ja es kam so, daß man von ihnen nicht mehr laut zu sprechen wagte und daß die Schwäche ganz offensichtlich wurde, in der das Recht sich gegenüber der Anarchie befand.»
In dieser der aufziehenden Gewaltherrschaft teilweise noch vorgelagerten typologischen Modellstruktur ist es der «alte Belovar», der die für den praktischen Widerstand erforderlichen habituellen Voraussetzungen mitbringt. Ihn beschreibt Jünger als einen Menschen, dessen «Augen Glanz zu sprühen» anfingen, sobald er auf die Blutrachefehden vergangener Zeiten zu sprechen kam. Unübersehbar ist der alte Belovar aus vergleichbarem Holz geschnitzt wie der Kleistsche Michael Kohlhaas. Für den reichte ja auch kein Unrecht auf der Welt an das heran, welches die Obrigkeit in dem Moment verübt, wenn sie das Recht wissentlich bricht. Otho und der Ich-Erzähler in Jüngers Parabel überlegen deshalb folgerichtig, gemeinsam «mit Belovar und seiner Sippe nachts auf die Jäger Jagd zu machen und jeden, der[...] ins Garn geriet, zerfetzt am Kreuzweg aufzuhängen, um so den Gäuchen aus den Tannicht-Dörfern in einer Sprache zuzusprechen, wie sie ihnen allein verständlich war».
Der archaische Habitus des alten Belovar ebenso wie die literarischen Verschlüsselungen der Ereignisgeschichte erschweren vermutlich manchem Leser der Erzählung das Verständnis dafür, warum Jünger in einer bedrohlichen und durch extremen Rechtsnihilismus gekennzeichneten Lage seinen Ich-Erzähler hier die weitreichende Feststellung treffen läßt: «Doch wußten wir, daß unserer Rautenklause kein Unheil drohte, solange noch der alte Hirte mit seiner wilden Sippe in der Steppe lag.»
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In seinem Essay <Der Waldgang> (1951) hat Jünger die unverschlüsselte Erklärung dafür nachgeliefert, warum er angesichts eigener Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus in der Stunde der Not nurmehr auf einen Typus des «Gerechten» vom Stamme des alten Belovar setzen will. In der zu Recht als «Unabhängigkeitserklärung des Einzelnen» gelobten Schrift hebt der Autor darauf ab, daß unter allen Umständen «eine winzige Zahl von Menschen, die wirklich entschlossen sind, nicht nur moralisch» für den Fall der Fälle vorhanden sein muß, um dem Leviathan Paroli zu bieten.
Was wirkliche Entschlossenheit bewirken kann, ist nach Jünger am besten in ruhigen Zeiten an der Wirkung großer Verbrecherpersönlichkeiten ablesbar. Da ist es möglich, daß zwei, drei solcher Apachen ganze Großstadtviertel in Aufruhr und Unruhe versetzen und dadurch langwierige und kostspielige Belagerungen verursachen. Kehrt sich das Verhältnis jedoch um, «indem die Behörde kriminell wird und rechtliche Menschen sich zur Wehr setzen, können sie unvergleichlich größere Wirkungen auslösen».
Worum geht es dem Autor? Die Freiheit im säkularisierten Staat gründet bekanntlich auf Voraussetzungen, die der Staat selber nicht garantieren kann. Das große Wagnis, welches jede freiheitliche Grundordnung um der Freiheit willen riskieren muß, besteht ja gerade darin, auf jegliche Form des Rechtszwangs zu verzichten, um das unabdingbare, konstitutive freiheitliche Verhalten autoritativ durchzusetzen. An dieser systematischen Schwach-Steile wird heute für gewöhnlich mit eher weichen und problemverdrängenden Hilfskonstruktionen wie dem «Verfassungspatriotismus», dem «Konsens der Demokraten» oder gar der Forderung nach einer «Zivilreligion» Abhilfe geschaffen. Weil wir inzwischen wissen, wie leicht sich der Wille zur Freiheit gerade in der Moderne domestizieren läßt. Oder, wie Jünger lakonisch sagt: «Jeder Komfort muß bezahlt werden. Die Lage des Haustiers zieht die des Schlachttiers nach.»
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Brüchigen Hilfskonstruktionen der genannten Art traut Jünger nicht viel zu. Ultima ratio bleibt für ihn die Bereitschaft einer hinreichenden Zahl Menschen, sich mit Gewalt gegen die Herrschaft der Schlächter zur Wehr zu setzen.
«In diesem Falle würde der Verfassungsbruch von einem starken Risiko begleitet sein. Insofern ließe sich die Theorie der Kollektivschuld stützen: die Möglichkeit der Rechtsverletzung steht im genauem Verhältnis zur Freiheit, auf die sie stößt. Ein Angriff gegen die Unverletzbarkeit, ja Heiligkeit der Wohnung zum Beispiel wäre im alten Island unmöglich gewesen in jenen Formen, wie er im Berlin von 1933 inmitten einer Millionenbevölkerung als reine Verwaltungsmaßnahme möglich war. Als rühmliche Ausnahme verdient ein junger Sozialdemokrat Erwähnung, der im Hausflur seiner Mietwohnung ein halbes Dutzend sogenannter Hilfspolizisten erschoß.
Der war noch der substantiellen, der altgermanischen Freiheit teilhaftig, die seine Gegner theoretisch feierten. Das hatte er natürlich auch nicht aus seinem Parteiprogramm gelernt. Jedenfalls gehörte er nicht zu jenen, von denen Leon Bloy sagt, daß sie zum Rechtsanwalt laufen, während ihre Mutter vergewaltigt wird. Wenn wir nun ferner annehmen wollen, daß in jeder Berliner Straße auch nur mit einem solchen Falle zu rechnen gewesen wäre, dann hätten die Dinge anders ausgesehen. Lange Zeiten der Ruhe begünstigen gewisse optische Täuschungen. Zu ihnen gehört die Annahme, daß sich die Unverletzbarkeit der Wohnung auf die Verfassung gründe, durch sie gesichert sei. In Wirklichkeit gründet sie sich auf den Familienvater, der, von seinen Söhnen begleitet, mit der Axt in der Tür erscheint. Nur wird diese Wahrheit nicht immer sichtbar und soll auch keinen Einwand gegen Verfassungen abgeben. Es gilt das alte Wort: <Der Mann steht für den Eid, nicht aber der Eid für den Mann.»>
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Dem unausgesprochenen Zusammenhang nach wird hier der «Gerechte» in Gestalt des «Waldgängers» als der eigentliche Repräsentant und Garant jeglichen Freiseins im Falle des Ausnahmezustands begriffen. Und: Jünger sagt eben nicht, daß der «Gerechte» in all seinem Tun und Lassen «gerecht» in der hergebrachten moralisch-juristischen Bedeutung des Wortes sei, so als handle dieser durchweg nach Recht und Billigkeit. Unter der Herrschaft der Tyrannei wäre dieser auch lediglich ein saft- und kraftloser Gerechter.
Stattdessen hebt Jünger mit seinem Beispiel des jungen Sozialdemokraten auf drastische Weise hervor, daß der «Gerechte», Gerechtigkeit und Gewalt miteinander in Zusammenhang stehen. Sein Bild vom «Gerechten», welches die Gewalt in eine Art wesentlichen Prädikates der Gerechtigkeit verwandelt, erhält damit eine Tragweite, die über die zynische Moral der LAFONTAINEschen Fabel <Der Wolf und das Lamm> hinausführt, soweit diese uns lehren will, daß «der Stärkste immer recht hat».
Natürlich schlagen im <Waldgang> persönliche Erfahrungen Jüngers zu Buche, die der Autor als Teilnehmer und Beobachter des Widerstands selbst gesammelt hat. Etwa an der Seite der Verschwörer des 20. Juli. Deren Handlungsunfähigkeit erlebt Jünger hautnah in Paris. Oder gelegentlich seines Eintretens für NlEKISCH, bei Hausdurchsuchungen und der Verhaftung seines Sohnes.
Darum geht es aber nicht nur. Unter dem 16. April 1943 vermerkt Jünger in seinem Tagebuch Gespräche, in denen immer wieder die Frage eine Rolle gespielt habe, woher eigentlich «all die dämonischen Kräfte, wie die Schinder und Mörder, kommen», die man zuvor nicht gesehen habe. Obwohl sie schließlich vorhanden waren, wie sich gezeigt hat. Mit seiner Antwort zeugt Jünger selbstkritisch vom Charakter seiner Epoche: «Zu dieser Freilassung führte unsere gemeinsame Schuld: indem wir uns der Bindungen beraubten, entfesselten wir zugleich das Untergründige.»
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In <Über die Linie> (1950) wird die Entfesselung des Untergründigen durch das Preisgeben von Bindungen wenig später wieder Nihilismus heißen und als «Grundmacht» bezeichnet, «deren Einfluß sich niemand entziehen kann».
Solange diese Grundmacht aber wirksam ist, kann es für Jünger, selbst nach dem Sturz Hitlers und der Errichtung einer freiheitlichen Grundordnung, keine Entwarnung mehr geben. Wo die tragenden Ideen mit ihrem Nomos und Ethos in Verfall geraten oder verloren gegangen sind, bleibt die Gefahr latent, daß dem durchgebildeten Staat mit seinen Beamten und Apparaturen unter dem Zugriff beliebiger Mächte jeder Inhalt gegeben werden kann. Weshalb der Typus des «Gerechten» auch hier weiterhin seine Daseinsberechtigung hat. Jedenfalls ist die Existenz des rechtsstaatlichen Richters für Jünger kein Grund, den «Gerechten» als Freiheitsexistential geringer zu schätzen. Mit Blick auf die Richter heißt es: «Man kann ja die Stände nicht in reine Funktionen überführen und dabei erwarten, daß ihr Ethos erhalten bleibt. Die Tugend des Funktionärs liegt darin, daß er funktioniert, und es ist gut, wenn man sich darüber auch in ruhigen Zeiten keine Illusionen macht.»
Ruhige Zeiten sind für den geschichtsbewußten Autor Jünger seit den SOLONschen Reformen Zeiten, in denen Macht, Recht und Freiheit sich nicht gegenseitig ausschließen. Männer und Mächte in der Geschichte Europas werden deshalb bis in unsere Zeit hinein, und das durchaus im Unterschied zum Osten, in ihrem Rang dadurch bestätigt, daß sie dieses «große Thema» praktisch im Recht fortschreiben.
«Das Recht soll immer wieder diese Freiheit bestätigen, die in ihm abstrakt geworden ist. Abstrahieren heißt: ein Drittes ausscheiden, das den Herrscher wie dem beherrschten zugleich entzogen und gemeinsam ist. In diesem Sinne ist auch der Fürst eine abstrakte Person: die Rechte der in ihrer Freiheit Gleichen treffen sich in ihm und werden von ihm gewahrt.»
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Kein Zufall dürfte es sein, wenn Jünger in <Der Gordische Knoten> (1953) diesbezüglich nur auf Beispiele aus der Vergangenheit zurückgreift: Solon, Alexander und der «Alte Fritz» stehen ihm als Repräsentanten sowie exemplarische Typen des Herrscher-«Gerechten» für eine Rechtsgeschichte ein, deren bloße Fortschreibung in der Moderne zweifelhaft geworden ist. Denn wo der Nihilismus erst einmal an die Tür geklopft hat, bleibt zwar eine Praxis möglich, welche im Zeichen der pietas gegenüber dem historisch gewachsenen Recht und seinen lebendigen Strukturen stehen will. Das Problem, das sich grundsätzlich stellt, ist jedoch von da an die Ausarbeitung einer Ästhetik des Gerechten innerhalb einer Perspektive des Verfalls.
Man könnte annehmen, Jünger habe diese Perspektive bereits in seiner dem sechzigsten Geburtstag HEIDEGGERS gewidmeten Nihilismus-Schrift eingenommen. Gedankenreich, aber wohl allzu optimistisch, will Jünger hier bereits «über die Linie» hinweggehen. Worauf ihn Heidegger wiederum zu seinem sechzigsten Geburtstag in hintersinniger Weise mit seiner Replik «Über <Die Linie>» hingewiesen hat.
Der Hoffnung auf «Rettung», der Jünger zuversichtlich mit seinem Gedanken-Gang über die «Linie» Ausdruck verliehen hatte, begegnete der Philosoph mit dem Hinweis: Zunächst sei der «Vollendung des Nihilismus» nachzudenken, bevor man an das Überqueren der Linie herangehen könne. Denn mit der Vollendung des Nihilismus beginnt erst die lange Endphase des Nihilismus.
Welcher Ästhetik der Existenz es tatsächlich bedarf, um als Einzelner in dieser Zone gegenüber Staat und Gesetzlichkeit zu bestehen, und wie sich die Rolle des Gerechten hier dramatisch wandelt, davon handelt Jünger zusammenfassend erst in seinem Roman des Posthistoire <Eumeswil> (1977).
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Sein Held Manuel Venator ist von Beruf Historiker und nebenberuflich als Barmann der Mächtigen tätig. In deren Gesprächen, im Fortgang ihrer Willensbildung und im Geflecht ihrer politischen Anschläge entrollt sich ihm das Bild einer posthistorischen Macht, die in Eumeswil innerhalb eines totalen Pluralismus der Kulturen, Nationen, Menschenrassen und Weltanschauungen das weltliche Regiment führt.
Inspiriert durch diese Anschauung, konkretisiert Manuel Venator — so wie sein großes Vorbild Machiavelli in seiner Kanzlei in Florenz — die klassischen Fragestellungen für seine Zeit: Wann und warum verliert man die Macht? Wie wird aus Gewalt Macht, aus Macht Herrschaft, aus Herrschaft Staat? Im Gegensatz zu Machiavelli entwirft er jedoch kein Ideal der «Virtu», der Herrschaftstugend. Eher schon ist er selbst, als eine der möglichen Inkarnationen des «Gerechten», das lebenskünstlerische Kontrastprogramm zu jeglicher Herrschaftstugend. «Als Anarch bin ich entschlossen», läßt Jünger seinen Helden sagen, «mich auf nichts einzulassen, nichts letzthin ernst zu nehmen, [...] allerdings nicht auf nihilistische Weise, sondern eher als ein Grenzposten, der im Niemandsland zwischen den Gezeiten Augen und Ohren schärft.»
Der Fanatismus politischer Identitäten ist Venator fremd. Als Anarch kommt er schon deshalb nicht in Versuchung, weil er sich nicht mehr an den universalistischen Heilslehren (den «Meta-Erzählungen», wie LYOTARD sie nennt) ausrichtet. Ihm liegt es fern, «sich dafür aufzuopfern, daß eine Unzulänglichkeit die andere ablöst und eine neue Herrschaft über die alte triumphiert».
Und: Als Historiker weiß der Held Jüngers natürlich, daß seiner Wissenschaft «zwischen den Typen des Tyrannen, des Despoten und des Demagogen keine hinreichende Differenzierung gelungen ist. Die Begriffe fließen ineinander, und sie zu trennen ist schwierig, da sie eine tief im Menschen verwurzelte Anlage bezeichnen, die in den Individuen changiert. In der Praxis erweist sich das insofern, als zunächst jeder mit Jubel begrüßt wird, der die Macht ergreift.»
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Als «Gerechter» versteht sich der Anarch Jüngers in «Eumeswil», wo die gesellschaftliche Ordnung im Gravitationsfeld des Nihilismus posthistorisch zu erstarren droht, nurmehr als eine Art personaler Ausfallbürgschaft zugunsten der Freiheitlichkeit bestehender Ordnungen. Soll der Termitenzustand vermieden werden, muß die Urkraft des Anarchischen ausreichend Raum haben und immer wieder mobilisiert werden. Obwohl Staat und Gesellschaft dem Anarchen mehr oder weniger zuwider sind, kann es für ihn aber dennoch Zeiten und Orte geben, «in denen die unsichtbare Harmonie in der sichtbaren durchschimmert. Das wird vor allem im Kunstwerk offenbar. Dann wird auch freudig gedient.»
Titanenmacht und Götterrecht
Für Jünger stellt der «Gerechte» ganz im Sinne NIETZSCHES eine der durchgehenden Gestalten im Epos der Moderne dar. In einer Zeit des Epochenbruchs, während die alten Götter verschwinden und die neuen noch nicht angekommen sind, sieht er über die kleinen Perspektiven von Gut und Böse hinaus und versucht dabei, im nihilistischen Sog dennoch den Zusammenhang des Rechten zu wahren.
Wohinaus geht aber in dieser Lage die Vorschau des Dichters? Welchen Ausblick bietet sie? Es ist der Einblick in den trotz aller Zivilisierungen gleichbleibenden bestialischen Fundus der Menschheit, den Jünger unter dem Titel «Titanenmacht kontra Götterrecht» gewissermaßen aus einer erdhistorischen Perspektive auf seine Weise schildert.
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Der Mord, nicht im strafgesetzlichen Sinne, sondern verstanden als Symptom für das, was an vielen Stellen wieder aufbrechen will, bietet dem Autor immer wieder einen Anknüpfungspunkt für seine Erzählungen. Es ist auch nicht zufällig so, daß das Verbrechen «den Hauptteil der Unterhaltung von Eumeswil bildet». Jünger weiß noch, daß sich normale Menschen nur darin vom Verbrecher unterscheiden, daß sie sich damit begnügen, lediglich zu träumen, was jene in der Wirklichkeit tun. Am Mord als Ereignis ist für Jünger deshalb weniger der individuelle Anteil des Mörders riskant. Eher schon ist es die Wirkung seiner Tat auf seine Mitwelt.
«Jeder Mord», so Jünger, «gibt ein Zeichen und öffnet einen Riegel zu den titanischen Gründen, die alle bedrohen, weil sie in jedem verborgen sind». Die am Mord-Fall aktualisierte Vergangenheit ist allerdings für Jünger mehr als die weit zurückliegende Vorstufe der Gegenwart: Sie ist deren Quelle! Indem die dichterische Phantasie bis zu ihr durchgreift, versucht sie nicht, das Geschehnis in eine zeitliche Reihenfolge zu stellen, sondern vom Grund des Seins zu erzählen und die primordiale Realität zu skizzieren, der gegenüber sich jede Rechts-Ordnung zu bewähren hat.
Wenn Jünger exemplarisch auf den Mord zu sprechen kommt, geschieht das in aller Regel mit dem Hinweis auf die «schreckliche Erregung» in einer Großstadt, wenn dort ein Mörder sein Wesen treibt. Stimmungsmäßig fühlen die Menschen, daß dann etwas wach wird, was am Ende bedrohlicher und gefährlicher ist als der gesamte Straßenverkehr, obwohl dieser doch das Tausendfache an Opfern einfordert. Dem widerspricht nicht, daß der Gewalttäter oft mit Beifall bedacht wird. Realisiert er doch stellvertretend tief «eingefleischte, ja eingesargte Träume». Bedenklich seien daher, wie Jünger schon am 6. Oktober 1942 in dem Pariser Tagebuch notiert hatte, die Abwege gewisser Arzte, die immer wieder versuchen, den Täter als Kranken seinem Richter per Gutachten zu entziehen. «Das wäre zu vertreten, wenn es im Grunde nicht unser aller Krankheit wäre, die an ihm. sichtbar wird und die das Eisen an uns kuriert.»
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Obwohl Jünger hier von «unser aller Krankheit» spricht, ist das große Verbrechen für ihn keine Krankheit am Sozialkörper. Er betrachtet es weder mit dem Auge des Internisten noch mit dem des Operateurs. Allerdings sieht der Dichter — und insofern befindet er sich durchaus in Übereinstimmung mit der modernen Anthropologie — wie prekär inzwischen die Kanalisierung und Sublimierung der Rache in einer Gerichtsbarkeit geworden ist, die jahrzehntelang «Behandlung statt Strafe» auf ihr Panier geschrieben hatte. Heute werden die verkündeten Vokabulare der Resozialisierung, Rehabilitation und Therapeutisierung stillschweigend wieder zurückgenommen. An ihrer Stelle macht die Rede vom «Verschleiß des Strafrechts», von der «Krise des öffentlichen Strafanspruchs» die Runde. Die Idee des Fortschritts ist abhanden gekommen, aber der Fortschritt geht weiter. Wer inkarniert sich aber jetzt im Verbrechen? Was bringt die Untat zum Ausdruck? Und wie reagieren? Darüber gehen die Ansichten babylonisch auseinander. Und der Rahmen ist ziemlich eng geworden, innerhalb dessen die Expertenvokabulare weiterhin überzeugen können.
Für den Dichter-Philosophen Jünger trägt das Geschehen, welches der Jurist, aufs Ganze gesehen, beim Verbrechen hierzulande angefangen bis hin zum Völkermord «hinten, weit, in der Türkei», bewerten und auf den Begriff bringen soll, unverkennbar «einen elementarischen, titanisch-tellurischen Zug, bei dem die materielle Ordnung die paternitäre überwiegt, altes Recht, alte Sitte, alte Freiheit fragwürdig wird».
Der sich so ankündigende Abschied von der klassischen Geschichte inklusive der des Rechts ist nach Auffassung Jüngers tiefgreifender und einschneidender, als es der Übergang vom Mythos zur Historie jemals gewesen sein kann. Konnte doch der Mensch den Übergang vom Goldenen Zeitalter zum Erzenen Zeitalter des Mythos, der Geschichte und der Technik bewältigen, weil er gemeinsam mit den Göttern die Thronfürsten jenes Äons, die Titanen, gestürzt hat.
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Für die Metamorphosenlehre des Rechts ist der Mythos vom Triumph der Olympier über die alte Titanenwelt von belehrender Zeugniskraft. Zeichnen sich in ihm doch die Spuren des Kampfes zwischen Formwidrigkeit und Form, Wildnis und Hegung, Gestalt und Ungestalt ab. An der Schwelle zum nachgeschichtlichen Zeitalter stehend, kommt der Mensch nicht umhin, diesen Kampf unter veränderten Bedingungen fortzusetzen, wenn er wirklich den Nihilismus überwinden und ein neues Rechtszeitalter gründen will. Jedoch richtet sich der Kampf jetzt gegen die Fürsten unseres eigenen, sich dem Ende zuneigenden Äons, gegen die zuletzt maßgebenden Götter oder den Gott, mit dem sich der Westen als Christenheit lange Zeit verbündet hatte. Und: Indem der Mensch die Götter angreift, wird er selber zum Titan.
Der durch den Siegeszug der Technik programmierte Konflikt zwischen Titanenmacht und Götterrecht kann für Jünger nicht mehr einfach dadurch geschlichtet werden, daß der Mensch in der Moderne wieder die alten Götter zurückruft. LEON BLOYS Wort «Dieu se retire» bleibt für die Postmoderne wesentlich. Mit Jüngers Worten: «Es ist sinnvoll, daß der Mensch, indem er die Gottheit angreift, Titan wird-ja diese Absetzung mußte notwendig seiner neuen Machtbefugnis vorausgehen. Eine andere Frage bleibt es, welche Mächte ihm dabei behilflich sind.»
Sofern durch die Mobilmachung der Erde die Götter einmal angegriffen und gestürzt werden, schwinden jedoch die gewohnten Grenzen. Und mit ihnen zusammen verflüchtigt sich der überlieferte Nomos, die grenzwahrende Macht, so daß die Unterscheidung zwischen Erlaubtem und Nichterlaubtem in jeder Hinsicht disponibel wird. «Sie kann nur getroffen werden, wenn Orte bestehen, wo der Zweifel schweigt.»
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Anders gesagt: Der Autoritätsverlust Gottes als Gerechtigkeit und Recht versichernde Instanz hinterläßt eine Leerstelle, die mit dem abstrakten Begriff des Subjektes nur ungenügend aufgefüllt werden kann. Wodurch kolossale Hohlräume entstehen, in die nun alles mögliche hineinwill. Mit dem riskanten Ergebnis, wie Jünger hervorhebt, daß die verfallenen Altäre fortan von Dämonen bewohnt werden.
Das Erlahmen des Widerstandes gegen Grenzverletzungen unterschiedlichster Art ist für Jünger in diesem Zusammenhang ebenso wie die Genmanipulation oder die allgemeine Konfusion hinsichtlich der Bewertung der Entnahme, Verpflanzung und des Handels mit Organen ein sicheres Zeichen für einen inzwischen weit vorangetriebenen Nomosschwund. Moralischer Einspruch kann den Vormarsch der Titanen nicht mehr stoppen. Offen bleibt lediglich, mit wem zusammen der Mensch gegen die Götter zu Felde zieht.
Schließlich kann er sich ja als prinzipiell freies und daher kontingent handelndes Individuum ebensogut mit den luziferischen wie mit den ahrimanischen, chthonischen oder den natürlichen Mächten einlassen. Insofern bleibt der Mensch auch als Titanide in Jüngers poetischen Fiktionen nach wie vor das immerwährende Fragezeichen hinter jedem Ordnungs-Denken. Und zwar deshalb, weil er sein Ethos, also seine Art des Umgangs mit der Schöpfung und in der Polis, selbst gestalten und bestimmen muß — was ihm schließlich jederzeit mißlingen kann.
Bei Jünger deutet sicher manches darauf hin, als wollte er mit seiner Erzählung vom Göttersturz der BAUDELAIREschen Vorentscheidung folgen:
Race de Cain
au ciel monte
et sur la terre jette dieu!
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Etwa dann, wenn er, wie in <Der Gordische Knoten>, von der Mordgesinnung spricht, die in den aufgeklärten Staaten ausgerechnet in dem historischen Augenblick um sich greift, sobald die Todesstrafe definitiv abgeschafft wird. Eine Gleichzeitigkeit, die Jünger in diesem Zusammenhang ebenso wie andere Beobachter erstaunt registriert, liegt ja darin, «daß die Schonung des Mörders zusammenfällt mit der Schlachtung zahlloser Brüder, zahlloser Unschuldiger, und zwar nicht durch gesetzlichen Spruch, sondern durch willkürliche Maßnahmen.»
Kainitisches Töten also als Zeichen für eine Hauptrolle Kains in der Moderne? So könnte man es sehen. Das wäre dann der Triumph eines älteren, kainitischen Gesetzes über ein jüngeres, dessen Ordnung es haßt: «Es will zugleich den Mörder freisprechen und den Bruder verurteilen. Das führt dahin, daß in den Lagern dem Mörder der Vorrang gegenüber dem politischen Gefangenen gegeben wird. Der Massenmörder rückt in die Stellung des Polizeichefs ein. Die Daten der Gewalttat werden zu Feiertagen, nach Mördern werden Straßen und Plätze, Schiffe und Städte benannt. So kommt es zu Gremien, in die nur aufsteigen kann, wer viele, und zwar Unschuldige, getötet hat.»
Man braucht nicht lange überlegen, um das «vikariierende Verhältnis» zwischen dem Verzicht auf die legale Todesstrafe und die Zunahme illegaler Tötungen für sich mit Beispielen aus der allerjüngsten Vergangenheit zu illustrieren. Der kainitische Titanismus der Erdsöhne hat jedoch keinesfalls allein in Polit-Systemen wie dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus seine Höhepunkte. Das kainitische Gesetz, von dem Jünger erzählt, kommt konsequenter noch in den aktuellen Geiselnahmen und — ganz allgemein — im Bürgerkriegsgeschehen unserer Tage zur Wirkung. «Der Bürgerkrieg», heißt es dazu noch einmal in <Die Schere> (1990), «wühlt tiefer die Leidenschaften auf als der zwischen Völkern, weil er, unter Brüdern geführt, der kainitischen Untat am nächsten liegt.»
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Von planetarischer Macht zu planetarischer Ordnung
Noch sind auf der Bühne des Weltbürgerkriegs, über den Jünger in Anlehnung an Carl Schmitt immer wieder meditiert, die verzeichneten Verluste größer und vor allem sichtbarer als der denkbare Gewinn des ganzen Geschehens. Verlieren die großen Symbole wie «Krone und Schwert» weiterhin an Bedeutung. Mit seinem Titanenepos relativiert der Dichter allerdings systematisch diese Verlustrechnung. Bis hin zu der lakonischen Bemerkung: das neue Kapitel Geschichte fordere ein weißes Blatt.
NIETZSCHES «amor fati», auf das sich Jünger schon als junger Autor früher berufen hatte, ist dabei nicht zu überhören. Jedoch verknüpft Jünger im Gegensatz zu Nietzsche seine Liebe zum Unausweichlichen mit der Voraussage, daß auf die Provokation des Göttersturzes als Replik nach dem «Zeitalter der kämpfenden Staaten» eine Konsolidierung kommen wird. Wobei die Lösung des Problems des Übergangs der Gestalt des «Arbeiters» von planetarischer Macht zu planetarischer Ordnung der «Weltstaat» bringen soll.24) Erst in diesem Ordnungs-Rahmen wird sich der Mensch wieder frei auf seinem angeborenen Urgrund, der Mutter Erde, ausleben können. Denn geteilte Erde ist dem Menschen so zuwider wie ein den Körper künstlich beengendes Kleid.
Die Summe seiner Prophetie einer solchen Welt-Staat-Zukunft, die wohl zugleich eine Zukunft der Rückkehr zu einem anderen Anfang wäre, hat Jünger im Jahre 1964 in seinen <Adnoten zum Arbeiter> mit den Worten gezogen:
«Wer heute noch über die Farben von Fahnen streitet, der sieht nicht, daß die Zeit der Fahnen vergangen ist. Die Händel an den Grenzen werden unlösbar, weil die Grenzen als solche den Sinn verlieren; sie werden unglaubwürdig, weil die Erde eine neue Haut gewinnt. Mit der Häutung der Gäa faßt Antaios dem Herakles gegenüber wieder Boden, und neue Zeichen steigen auf. Die Erde wandelt sich aus den Vaterländern wieder zur Heimat zurück.»
Dieser Weltstaat, dessen Territorium nicht ein noch so großes Territorium, sondern nur die Erde selbst sein kann, entsteht für Jünger weder in Ausdehnung noch in Verschärfung der Prinzipien des Nationalstaats. Wie sein Souverän auch nicht dieses oder jenes Volk sein darf. Er ist, philosophisch gesprochen, die ins Räumlich-Normative übersetzte «Zeitmauer», jenseits derer die Grenzen hinfällig werden und ihre Bedeutung als gesicherte Markierungen einbüßen.
Wie sich hinter dieser Zeitmauer — vor der Recht und Grenze schon verschwimmen — der Typus des «Gerechten» darstellen wird, bleibt für den Erzähler Jünger eine offene Frage. Sicher ist sich Jünger nur darin, wie er 1993 in seiner <Entgegnung auf Heisenbergs Weltformel> noch einmal hervorgehoben hat, daß auch der Weltstaat die Gewalt nicht abschaffen kann, weil sie zur Schöpfung gehört.
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24) Das Wort «Staat» spielt hierbei allerdings nicht auf das historische Vorbild an, sondern bedeutet lediglich «Status, Stand, Zustand, Ordnung schlechthin».
Rolf Henrich Gewalt und Form in einer vulkanischen Welt Aufsätze 1991-1996