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5.  Gesichter des Krieges     Henrich 1996

Kämpfen muß das Volk für sein Gesetz
wie für die Mauern seiner Stadt.  (Heraklit)

   Jenseits des Kalten Krieges  

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Unsere Vorstellung vom Krieg konzentrierte sich noch bis vor kurzem ganz auf den befürchteten nuklearen Schlagabtausch, der innerhalb weniger Stunden die «zivilisierte Welt» in eine verstrahlte Wüste verwandelt. «Ich sehe nicht», warnte 1974 der Friedensforscher C. F. v. Weizsäcker, «wie in den kommenden Jahrzehnten das Wettrüsten der Großmächte und die Gefahr eines dritten Weltkrieges vermieden werden soll.» 

Daß der scheinbar unvermeidliche Krieg nuklear geführt werden würde, war für den Friedensforscher noch 1988 «überwiegend wahrscheinlich». Das weltpolitische System antagonistischer Bipolarität, dem wir ein solches Denken vom Kriege verdanken, ist mit dem Ende der Supermacht Sowjetunion zusammen­gebrochen. 

Lawrence Eagleburger, der erfahrene Diplomat, war der erste, der, wenngleich halb im Scherz, den klaren Frontlinien des Ost-West-Konflikts nachtrauerte und seine Sorge über die entstandene «Unübersichtlichkeit» schon zum Ausdruck brachte, als allenthalben noch die Euphorie über den unblutigen Ausgang des Kalten Krieges vorherrschte.

Heute besteht kein Zweifel mehr, daß das «Gleichgewicht des Schreckens» zwischen den ehemaligen Super­mächten USA und SU jahrzehntelang ein Mindestmaß politischer Stabilität innerhalb der Staatenwelt garantiert hat. Solange die Staatenwelt weitgehend in zwei Lager eingeteilt war, wußte jeder, wer sein Feind und wer sein Freund zu sein hatte. Und man wußte seit den sechziger Jahren auch um die im Falle einer Konfrontation zwischen den Supermächten gegenseitig gesicherte Zerstörung ausreichend Bescheid. Das hat Kriege nicht verhindert, wie die Beispiele Vietnam, Kambodscha, Angola, Äthiopien, Libanon und so weiter zeigen; jedoch wurden in allen diesen Konflikten Eskalationsstufen gemieden, die den nuklearen Erstschlag einer Seite hätten herausfordern können. 

Soweit dabei Stellvertreterkriege geführt wurden, heizten die Supermächte durch ihre Waffenlieferungen und andere Unterstützung sicher das Kriegs­geschehen an. Häufiger noch betätigten sie sich aber als Weltpolizei, indem sie Konflikte schlichteten oder eindämmten. Weil sie das Risiko einer atomaren Eskalation scheuten, legten sie ihren Schutz­befohlenen Zügel an, so daß diese innerhalb ihres angewiesenen Spielraums für die Kriegführung schlimmstenfalls begrenzte Kriege führen konnten.

Welche Kriegs-Landschaft wir nach dem Ende des «Goldenen Zeitalters» (Hobsbawm) der Bipolarität vor Augen haben und wodurch diese sich von der vorausgegangenen unterscheidet, darüber gehen die Meinungen auseinander.  

Einigkeit besteht lediglich, daß die «neue Weltordnung», die der ehemalige US-Präsident George Bush nach dem Zusammenbruch des Staats­sozialismus voreilig ankündigte, bisher nichts weiter als ein frommer Wunsch geblieben ist. 

* detopia-2006:  Vgl auch "Gesichter des Bösen" von Sam Keen, 1986

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Genauso schnell ausgeträumt wie der Traum der Wilsonzeit, daß die Menschheit nach 1918 ihre Natur gewandelt habe. Nichts deutet auf einen Wandel zum Besseren hin. Allein für 1994 hat die Arbeitsstelle Kriegs­ursachen­forschung an der Hamburger Universität weltweit einundvierzig Kriege und siebzehn sogenannte «Konflikte geringerer Intensität» gezählt. Und es werden in jedem Jahr durchschnittlich mehr Kriege begonnen als beendet.

Wie steht es also um die Zukunft des Krieges nach dem Ende des kalten Krieges? 

Müssen wir mit Glaubenskriegen rechnen, mit Rassenkriegen, Handelskriegen, Revanchekriegen, Ausrottungskriegen, Partisanenkriegen, Sezessions­kriegen, mit lokal begrenzten oder weltweiten Kriegen, mit zwischen­staatlichen Kriegen oder Bürgerkriegen? 

Und: Welche Umformungen und Wandlungen des Krieges ergeben sich aus dem letzten Stand der Technik?

Wenngleich der Krieg kein wirkliches «Naturereignis» ist – das gegen den Pazifismus gerichtete Gleichnis: «Nie wieder Erdbeben!» hinkt – sondern stets erst durch den Machtwillen der Staatsmänner, Clanchefs, Bandenführer und anderen Kriegsherren hindurchgehen muß, kann man doch folgendes sagen: Konfliktlagen und Spannungen können über lange Zeiträume andauern, ohne zwangsläufig zum Kriege zu führen. Dennoch gilt die Faustregel, daß das Bestreben, in begrenzter Zeit und durch abrupte Verschwendung von Energie Schwierigkeiten zu beseitigen, um so größer ist, je mehr sich das Ausmaß unausgeglichener Spannungen erhöht. Je mehr Pulverfässer in einem Mehrfamilienhaus herumstehen, um so wahrscheinlicher ist das Risiko ihrer Explosion. 

Wer nach der Zukunft des Krieges fragt, muß demnach Ausschau halten, ob Konflikte großer Interessen in der Welt oder fortschreitende Anomien eine solche Sprengkraft in sich veranlagen, daß daraus Akte wechselseitiger Gewalt entstehen können.

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   Kriegs-Landschaften  

 

Es sind besonders vier Sichtweisen, die in jüngster Zeit die öffentliche Debatte über diesen Punkt bestimmt haben. Praktiker wie Jürgen von Alten in Deutschland oder henry kissinger und zbigniew brzezinski in Amerika gehen in ihren Analysen der politischen Verhältnisse davon aus, daß nach dem Fall der Berliner Mauer das Weltstaatensystem als ein ramponierter Phönix etwa so aus der Asche gestiegen ist, wie es bereits im Jahre 1910 existierte. 

Für sie bleiben die internationalen Beziehungen auch zukünftig geprägt durch die aus der Rivalität der Nationalstaaten um Macht und Territorium resultierenden Konflikte. Das Weltstaatensystem mit der prinzipiellen Gleichheit seiner Mitglieder, aber einer besonderen Ordnungs­funktion der Großmächte Amerika, China, Rußland, England und Frankreich als «Weltdirektorium», kann dieser Sichtweise entsprechend damals wie heute ausbrechende Kriege nur dann eindämmen und beenden, wenn die Großmächte im Verein handeln oder stillschweigend dulden, daß einer aus ihrer Runde die Rolle des «Weltpolizisten» auf sich nimmt. Solange das nicht geschieht, bleibt die Staatenwelt eine anarchische Ordnung. Deren Organisationsprinzip der souveränen Gleichheit, welches die Charta der Vereinten Nationen festschreibt, läßt jedoch Entscheidungen prinzipiell nur nach dem Konsensprinzip zu. Funktionsträger einer solchen Rechtsordnung können deshalb nur die Staaten selbst sein. Im Ergebnis bedeutet das nichts anderes als «Selbstjustiz»!

 

Schärfster Ausdruck dessen und ultima ratio des Politischen war natürlich und bleibt, wenngleich unter zusätzlichen Kautelen, immer noch das Recht zur Kriegführung. Zwischenstaatliche Kriege wird es dieser Weltsicht zufolge aus denselben Gründen wie bisher geben, sei es nun, daß durch die Zerstückelung bestehender Staatsgebiete neue Staatskörper gebildet werden sollen, sei es wegen konkurrierender Eigentums- oder Nutzungs­ansprüche oder um Unterlassungsansprüche durchzusetzen und so weiter. Erheblich vergrößert hat sich lediglich seit 1910 die Zahl der bestehenden Staaten und damit zugleich die Zahl ihrer Konflikte untereinander.

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Weil die Völkerrechtsordnung und die darauf beruhende Rechtswirklichkeit eine höchst unvollkommene und unvollständige Ordnung geblieben ist, wird es bis auf weiteres also immer wieder zu Konfliktlagen kommen, in denen eine Streitentscheidung allein durch Krieg herbeigeführt werden kann. Daß «Krieg kein Mittel der Politik» mehr sein kann und «Gewaltanwendung sinnlos» ist, gilt als Maxime dieser Meinung nach nur für den Spezialfall des Konflikts zwischen hochtechnisierten Staaten mit einem ausreichenden Nuklearpotential.

Zusammenfassend kann man sagen: Mit Einschränkungen gehen Kissinger, Brzezinski und von Alten wie schon kant von «Staaten» aus, die, «im äußeren Verhältnis gegeneinander betrachtet (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nichtrechtlichen Zustand sind; daß dieser Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenngleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende Befehdung (Hostilität) ist». Wobei ihr jederzeit möglicher Verfall in den Zustand des «wirklichen Krieges» allein abgewehrt werden kann durch ihre stabile völkerrechtliche Selbst-Bindung.

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Der prominente Harvard-Professor für Internationale Beziehungen samuel P. huntington und seine Schüler erwarten im Unterschied dazu eine Zukunft des Krieges, die wesentlich durch den Niedergang und Bedeutungsverlust des Nationalstaates bestimmt ist. Weil der Staat Macht und Funktionen an verschiedene supranationale Gebilde verliert und die Auflösung großer Staaten zu einer Vielzahl kleinerer Staaten führt, die zu schwach sind, um in der internationalen Anarchie bestehen zu können, erleben wir derzeit die Destabilisierung des Weltstaatensystems. 

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Zudem wird das Gewaltmonopol innerhalb der Staatsgrenzen von verschiedenen Gruppen und Organisationen spürbar in Frage gestellt. Die gewohnten zwischenstaatlichen Konflikte entwickeln sich innerhalb dieses historischen Wandels zu einem «Zusammenprall der Zivilisationen» weiter. Waren Kriege früher solche zwischen Königen, dann nach der Französischen Revolution von 1789 solche zwischen Nationen und schließlich ab 1945 Kriege zwischen Ideologien («Kalter Krieg»), werden sie im Übergang zum einundzwanzigsten Jahrhundert zu Kriegen zwischen Zivilisationen.

Dagegen spricht laut Huntington auch nicht die Globalisierung im Bereich der Politik, des Tourismus, der Ökonomie, des Transports und der Kommunikation. Zwar rücken die Menschen durch sie näher zusammen. Zugleich schafft aber ein gesteigertes Bewußtsein von der eigenen Zivilisation neue Barrieren zwischen ihnen und trennt sie wieder. Neben dem Westen hebt Huntington den Islam, den Konfuzianismus, die japanische Zivilisation, den Hinduismus, die orthodox-slawische Zivilisation und den Latino-Amerikanismus hervor.

Im Zentrum des Weltkonflikts steht für ihn jedoch die historische Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem Islam, da – im Gegensatz zu den anderen Zivilisationen – nur diese beiden Kontrahenten universelle, die Werte der jeweils anderen Zivilisationen in Frage stellende Vorstellungen einer «neuen Weltordnung» verfechten. Weil beide Zivilisationen für ihre Ordnungsvorstellungen Ausschließlichkeitsansprüche vertreten, geraten die historisch ohnehin verfeindeten Brüder zwangsläufig wieder aneinander.

Besonders in Deutschland hat man seine Schwierigkeiten damit, das von Huntington beschriebene Phänomen des Zusammenpralls der Zivilisationen zu verstehen. Die Aktualisierung der historischen Spannung zwischen den Zivilisationen und ihre Wahrnehmung in der Epoche nach dem Ende des Kalten Krieges werden hierzulande nicht selten gleichgesetzt mit Rassismus oder dem Versuch, neue Feindbilder zu schaffen. 

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Solche Klischees können jedoch die sich zuspitzenden Feindschaften weder erklären noch ungeschehen machen. Konflikte, Spannungen, Instabilitäten und disharmonische Vielfalt als die Urbedingungen und treibenden Kräfte des Politischen kann man nur erkennen und – soweit wie irgend möglich – pazifizieren. Fragen wir also erst einmal: Worin besteht der entscheidende, innerste Gegensatz, welcher derzeit beim Zusammenprall des politischen Islam mit dem Westen wirksam wird?

Demokratie und individuelle Menschenrechte wurzeln in westlichen Traditionen, und sie stoßen bei ihrer Verbreitung bereits im Kerngebiet der Zivilisationsgeschichte, im Mittelmeerraum, auf die Gegenvorstellung der «Hakimiyyat Allah» (Gottesherrschaft), deren Staatspraxis in einem antagonistischen Widerspruch zum modernen Nationalstaat westlicher Prägung steht. 

Im Kern geht es also beim «Zusammenprall der Zivilisationen» um die dominierende Gestalt der künftigen Welt-Ordnung: Westliche Vorstellungen von territorialen Grenzen, Marktwirtschaft, Meinungsfreiheit, privater Religiosität und der Priorität individueller Rechte kollidieren mit islamischen Vorstellungen von einer Stammes- und staatenübergreifenden Gemeinschaft («Umma»), welche die zukünftige Basis abgeben soll für eine auf einen reinen Monotheismus gegründete Gesellschaftsordnung, die sich nicht am säkularen Recht, sondern an der «Scharia» orientiert. Daß sich hierbei ökonomische Interessen­gegensätze und geistige Feindschaft mischen, versteht sich von selbst. Hinzu kommen unterschiedliche Einstellungen zum Krieg und zur Gewaltlosigkeit. Bekanntlich basiert das islamische Weltbild auf der Bestimmung der Territorialität des Islam als «Haus des Friedens». Zwar wird das von Nicht-Muslimen bewohnte Gebiet im Koran nirgendwo als «Dar al-Harb» (Haus des Krieges) bezeichnet. 

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Dennoch ist dieser postkoranische Begriff, wie die meisten Kenner des Islam bestätigen, ein derzeit konstituierender Bestandteil des Gesamtkorpus der islamischen Tradition. Und vergleichbar universalistisch gestimmt wie der Westen, versteht der Islam natürlich seine Mission ebenfalls nur als Beglückung der übrigen Menschheit. Weshalb die religiöse Bekehrung im Prinzip nicht nur mit friedlichen Mitteln, sondern erforderlichenfalls auch mit dem Schwert des Propheten erfolgen darf.

Jedenfalls geht die aktuelle Politisierung des Islam unverkennbar mit der Instrumentalisierung der herkömmlichen «Djihad»-Vorstellungen einher. saddam husseins «Heiliger Krieg» und der Kampf der Tschetschenen dudajews gegen die «christlich-orthodoxe Kolonialmacht Rußland» sind dafür nur die bekanntesten Beispiele.

Neu ist der von Huntington hervorgehobene Gegensatz keinesfalls! Aber bis in die jüngste Vergangenheit wurde die Ikonographie dieses Gegensatzes durch die globalen Formen der Ost-West-Spaltung überlagert und weitgehend aus der Welt des Politischen verdrängt. Konnten die beiden Supermächte bis zum Fall der Berliner Mauer die Staatenwelt wenigstens auf einen Minimalkonsens säkularer Normen, Werte und Spielregeln verpflichten, so erleben wir heute, daß dieser Minimalkonsens durch die Revolte des islamischen Fundamentalismus gegen den Westen praktisch aufgekündigt wird.25

25)  Das "Zeichen an der Wand" war diesbezüglich schon früher zu sehen. Als iranische Studenten am 4. November 1979 mit Billigung ihrer Regierung die amerikanische Botschaft stürmten und Diplomaten als Geiseln nahmen, wurde durch diese Tat nicht nur geltendes Völkerrecht gebrochen, sondern ebenso der traditionelle islamische Schutz für fremde Gesandte mit Fußen getreten.

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Man hat Huntington vorgehalten, in der Weltpolitik könnten nur Staaten als Subjekte handeln. Wie sehr dieser Vorhalt die tatsächliche Entwicklung verfehlt, zeigt aber bereits der Umstand, daß von den seit 1945 bis zum Fall der Mauer gezählten einhundertundachtzig bewaffneten Konflikten auf der Welt nicht einmal zwanzig Prozent als zwischenstaatliche Konflikte und damit als Kriege im klassischen Sinne eingeordnet werden können.

Was die Zukunft des Krieges zwischen den Zivilisationen anbelangt, hat zwar die islamische Öffentlichkeit bereits den Staaten-Feldzug gegen den Irak, obwohl daran wichtige arabische Länder auf Seiten der Alliierten beteiligt waren, als «Kreuzzug der Christenheit gegen den Islam» interpretiert. Die Alltäglichkeit eines Krieges zwischen den Zivilisationen dürfte zukünftig aber weniger durch den Zusammenprall staatlicher Armeen an den Schnittstellen der Zivilisationen als vielmehr durch Terrorismus und Kommandounternehmungen gekennzeichnet sein. 

Die jüngsten Konflikte im Nahen Osten sind deshalb schon eher symptomatisch für die Konflikte, die in naher Zukunft auf Europa und andere Gebiete der Erde übergreifen könnten. Wie PAUL VIRILIO befürchtet, könnte ein solches Übergreifen nach dem Muster der «Intifada» ablaufen. Die «verlorenen Kinder» der islamischen Immigration sowie andere ethnische und religiöse Gruppen, die massenhaft aus Afrika, Asien oder den Ländern Osteuropas zugewandert sind, könnten, so Virilio, in Westeuropa eine «zweite Front» eröffnen, die dann eine urbane Front wäre. Diese zweite Front würde das während des Kalten Krieges durch den internationalen Terrorismus begonnene Werk der Destabilisierung der europäischen Demokratien vollenden.

Sicher, die große Intifada ist bisher in Europa ausgeblieben. Wie explosiv aber die Verhältnisse zum Beispiel in Frankreich sind, belegt die Tatsache, daß nach einer Anschlagsserie der GIA im September 1995 die Regierung in Paris den 1978 ausgearbeiteten «Plan Vigipirate» in Kraft gesetzt hat.

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Damit übernimmt die Armee Frankreichs direkte Verantwortung für die Sicherheit im Inneren des Landes. Der Herausgeber der Tageszeitung <Liberation>, serge July, kommentierte das Inkrafttreten dieser Notstandsmaßnahme mit den Worten: «Von allen Kriegen gegen den Terrorismus wird dieser zweifellos der längste, der mühsamste, der schwierigste, möglicherweise auch der für die französische Gesellschaft zerstörerischste werden.»

Ob sich Deutschland als unmittelbarer Nachbar und Freund Frankreichs aus diesem «Krieg» heraushalten kann, wie wohl viele Deutsche hoffen, hängt nicht vom politischen Willen hierzulande ab. Könnte nämlich die Regierung in Paris Beweise für die Behauptung beibringen, daß Deutschland zum «Ruheraum» und «Rückzugsgebiet» für algerische Fundamentalisten geworden ist (dasselbe gilt natürlich für die Regierung in Ankara im Hinblick auf die PKK), wäre die Bundesrepublik – auch gegen ihren Willen – Konfliktbeteiligte. 

Zwar haftet im Normalfall Deutschland nicht für rechtswidriges Handeln Privater, das von seinem Territorium ausgeht. Für den besonderen Fall bewaffneter Gewalt gegen andere Staaten statuiert die <Friendly Relations-Deklaration> der UNO aber unmißverständlich «die Pflicht jedes Staates, das Organisieren, Anstiften, Unterstützen von terroristischen Tätigkeiten in einem anderen Staat oder das Dulden von organisierter Tätigkeit im Hinblick auf die Durchführung solcher Aktionen auf seinem Gebiet zu unterlassen».  

Analog dazu wird unter den Begriff der «Aggression» die Handlung eines Staates subsumiert, «die in seiner Duldung besteht, daß sein Hoheitsgebiet dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen». Im gleichen Sinne fordert das internationale Übereinkommen gegen Geiselnahme von 1979 die Vertragsstaaten auf, im Hinblick auf die Verhinderung von Geiselnahmen zusammenzuarbeiten sowie «rechtswidrige Tätigkeiten von Personen, Gruppen und Organisationen zu verbieten, welche die Begehung von Geiselnahmen fördern, anstiften, organisieren oder durchführen».

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Angesichts dieses Netzes völkerrechtlicher Bestimmungen kann kein Staat mehr behaupten, die Existenz von Terrorismus-Basen oder Logistik-Zentren fremder Bürgerkriegsparteien auf seinem Territorium sei seine «innere Angelegenheit».

Nicht viel anders als Huntington sieht eine an die Chaostheorie anknüpfende Denkschule, deren deutscher Exponent Hans Magnus Enzensberger ist, vor dem Hintergrund eines galoppierenden Zerfalls der Nationalstaaten und der immer durchlässiger werdenden Grenzen die Zukunft als Bühne bandenmäßig organisierter Kleinstbürgerkriege.  

Nicht mehr staatliche Heere bestimmen im Zeitalter der «coming anarchy» (robert D. kaplan) das Kriegsgeschehen, sondern der «bewaffnete Mob» — ehemalige Freiheitskämpfer und Guerilleros, die überall zu marodierenden Banden verkommen sind, zu Terroristen, Mafiosi und Skinheads, Drogengangs und Todesschwadronen, Serienkillern und Amokläufern. 

Für Enzensberger hat der «molekulare Bürgerkrieg» längst in den Metropolen Einzug gehalten. Wo und ob diese molekulare Form des Krieges zum großen Flächenbrand wird, hängt allein vom Zufall ab, wie das Beispiel Los Angeles zeigt.

Über alle Unterschiede hinweg, und das soll für den vergewaltigenden Tschetnik auf dem Balkan ebenso gelten wie für den deutschen Punk, der seine jährlichen Chaostage in Hannover abfeiert, will Enzensberger im Zerfall des Ganzen einen gemeinsamen Nenner ausgemacht haben: den autistischen Charakter der Akteure in diesem Krieg und deren damit verbundene Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. Wahrscheinlich liegt hier der entscheidende Unterschied zwischen den Auffassungen Enzensbergers und Huntingtons. Während jener den «Gotteskrieger» und seinen «heiligen Krieg» als kulturelles Phänomen ernst nehmen will, sieht dieser in dessen Tun nurmehr das blinde Wüten einer diffusen Gewalt.

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Der Japano-Amerikaner Francis Fukuyama, derselbe Fukuyama, der 1989 mit seiner These vom «Ende der Geschichte» hervorgetreten ist, gibt hingegen dem Krieg längerfristig keine Zukunft mehr. Kissinger, Brzezinski, Huntington und Enzensberger berücksichtigen nach Meinung Fukuyamas viel zu wenig die ausgleichenden Kräfte, die es in der heutigen Welt gibt. «Es wird Kriege geben», schreibt Fukuyama in seiner der Zukunft des Krieges gewidmeten Schrift, «die dem Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ziemlich bekannt vorkommen werden. Die Natur von Konflikt und Kampf allerdings wird sich auf eine andre Ebene verschieben: die des Wirtschaftslebens».  

Mit dem utopischen Auge sieht Fukuyama eine «ethische Revolution» und «Veränderungen in der Natur der Macht», da die Welt in immer größerer Zahl von Kaufleuten bevölkert wird, die zwar durchaus auf Kosten anderer verdienen wollen, aber Waffengewalt prinzipiell scheuen. Andererseits will auch er die Gefahr von Kriegen nicht gänzlich ausschließen, insbesondere nicht «zwischen den industriellen Demokratien und der großen nicht demokratischen Welt». China und Rußland sind für ihn die prominentesten Kandidaten für einen möglichen Krieg mit dem Westen.

So hoffnungsvoll Fukuyamas Voraussicht einer «Sublimation des Krieges» hin zum Wirtschafts­wett­bewerb klingen mag – sie unterschlägt, daß jeder ökonomische Wettbewerb nur in den Spielräumen realer Macht-Verhältnisse stattfindet. Schon der Begriff des Handels-Krieges deutet ja darauf hin. Oder, wie es im <Faust> heißt:

Krieg, Handel und Piraterie, 
Dreieinig sind sie, 
nicht zu trennen.

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Ob der Irak zum Beispiel am Welthandel als Wettbewerber wieder teilnehmen darf und in welchem Umfang, darüber entscheiden nicht Angebot und Nachfrage, sondern in erster Linie das Pentagon.

Für die Zukunft des Krieges dürfte unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten aber eine ganz andere Frage entscheidend sein: Werden sich angesichts einer offenbar unumkehrbaren, wachsenden Kluft zwischen den reichen und den armen Ländern dieser Welt ökonomisch abgehängte Massen unter Aufbietung religiöser, nationalistischer oder ethnischer Mythologeme dem politischen Fundamentalismus in seinem bewaffneten Kampf gegen den Westen auf breiter Front anschließen? Es ist ja schwer vorstellbar, wie dauerhaft im Wirtschaftskampf unterlegene Großkollektive anders ihren Anspruch auf eine gerechtere Verteilung der Reichtümer dieser Erde wirksam vertreten könnten.

 

    Zwischenlagen zwischen Krieg und Frieden   

 

Für das polemologische Denken sind die Überlegungen Kissingers, Huntingtons, Enzensbergers oder Fukuyamas nicht nur deshalb bedeutsam, weil diese Überlegungen, wenngleich in unterschiedlichem Maße, empirisch anspruchsvoll und prognostisch plausibel sind. Kaum weniger wichtig ist, daß in diesen Überlegungen hypothetische Konfliktszenarien erzählt werden, auf deren Folie sich zeitgemäße Antworten auf die Frage nach der Zukunft des Krieges finden lassen.

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Vergleicht man die vier sich teilweise überschneidenden und ergänzenden Sichtweisen auf die Zukunft des Krieges, kann man den zwischen ihnen bestehenden Gegensatz zunächst einmal auf die Unsicherheit einer Epoche — der unseren — hinsichtlich einer Frage zurückführen. Der Frage: Zwischen welchen Gruppierungen wird Krieg zukünftig stattfinden? Zwischen Staaten, Zivilisationen, Stämmen, Nationen, Banden oder anderen noch zu entdeckenden menschlichen Zusammenschlüssen?

Weiterhin fällt sofort auf, daß nur die auf den Staat fixierte Sicht der Dinge einigermaßen in der Lage ist, überhaupt zwischen Krieg und Frieden zu unterscheiden. Weil Kissinger oder von Alten den Staatenkrieg als Muster jeglichen Krieges vor Augen haben, können sie diesbezüglich mit der klassischen Definition des grotius operieren: «Fax absentia belli». Der korrekte Gebrauch dieser Formel setzt allerdings die völkerrechtliche Anerkennung des Krieges voraus. Er verlangt also wesentlich mehr als bloße soziologische oder kulturphilosophische Beschreibungen wie «molekularer Bürgerkrieg» oder «Zusammenprall der Zivilisationen».

Denn im völkerrechtlichen Sinne wird der Krieg erst mit der Kriegserklärung oder einem bedingten Ultimatum eröffnet. Seit Grotius wird ja zwischen dem Kriegszustand als Rechtsinstitut des Völkerrechts und den Kampfhandlungen unterschieden. Kriegszustand setzt rechtlich gesehen nicht unbedingt Kampfhandlungen voraus, schon eine Kriegserklärung kann ihn herbeiführen; ferner dauert er in der Regel selbst noch nach der Einstellung der Kampfhandlungen fort. Umgekehrt kann es zu bewaffneten Kämpfen kommen, ohne daß die Normen des Friedensvölkerrechts durch die des Kriegs- und Neutralitätsrechts ersetzt werden.

Nun zeichneten sich aber schon während der Zeit des Kalten Krieges die meisten Staatenkonflikte dadurch aus, daß die Regierungen ihre Streitkräfte ohne Kriegserklärung gegeneinander einsetzten, weil sie nicht als Aggressor dastehen wollten. Dennoch hatten diese Staaten-Kriege in der Praxis noch Anfang und Ende. Jedenfalls konnten die betroffenen Bevölkerungen, wenn die Waffen schwiegen, durchaus das Gefühl haben, wieder in Frieden zu leben.

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Eine in diesem Sinne am «Staat» und am klassischen «Kriegsrecht» ausgerichtete Sichtweise blendet jedoch gerade jene Tatbestände aus, auf welche es Enzensberger und Huntington abgesehen haben. Das Charakteristische an den Phänomenen bewaffneter Gewalt, die sie beschreiben, ist ja gerade, daß diese Phänomene sich nicht mehr in die klassische Disjunktion Krieg oder Frieden einpassen lassen. Und zwar so, daß überzeugend und ohne dritte Möglichkeit das eine von beiden (Krieg oder Frieden) gegeben ist, solange das andere nicht stattfindet.

«Molekularer Bürgerkrieg» und «Zusammenprall der Zivilisationen» führen also den Westen im Ergebnis noch ein Stück weiter in eine bereits von carl schmitt beschriebene und beklagte «Zwischenlage zwischen Krieg und Frieden». Genau dieser intermediäre Zustand mit seiner Unbestimmtheit und seinen Grauzonen ist der archimedische Punkt, ohne dessen Inaugenscheinnahme jedes politische Denken über die Zukunft des Krieges mit Blindheit geschlagen bleibt. Zweifellos können sich die Menschen in den saturierten Staaten der Europäischen Union noch heute sicher glauben gegenüber den Unruheherden und Blutbadregionen dieser Welt. So, wie die Bürger in Goethes <Faust>, deren Gespräch «Vor dem Tor» sie im Schulunterricht gelesen haben. Was die Bürger im <Faust> einander zu sagen haben, kennzeichnet noch heute, ungeachtet aller Betroffenheits­rituale, die Einstellung großer Teile der Wohlstandsbürgerschaft in Deutschland. 

Nichts Besseres weiß man hier an Sonn- und Feiertagen:

Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker auf einander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;

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Dann kehrt man abends froh nach Haus, 
und segnet Fried und Friedenszeiten. 
Sie mögen sich die Köpfe spalten, 
Mag alles durcheinander gehn, 
Doch nur zu hause bleibs beim Alten.

Nur, zu Hause bleibt es eben nicht beim alten. 

 

«Allein schon die Krise», schreibt eric hobsbawm in seinem «Vorweggenommenen Rückblick» auf unser Jahrhundert, 

«in die die Angelegenheiten der traditionellen Nationalstaaten geraten waren, reichte aus, um sie verletzbar zu machen. Ganz abgesehen von der Möglichkeit, daß sich der eine oder andere Staat spalten oder auflösen konnte, waren alle Staaten von einer Innovation aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts geschwächt, die sie, was oft gar nicht wahrgenommen wurde, ihres Monopols auf Waffengewalt beraubt hatte, das ja in allen Regionen, wo sich Menschen dauerhaft niedergelassen hatten, das entscheidende Kriterium von Staatsmacht gewesen war. Die Demokratisierung oder Privatisierung von Vernichtungswaffen hatte die Aussichten auf Gewalt und Zerstörung auf der ganzen Welt verändert.

Inzwischen war es überall selbst relativ kleinen politischen oder anderen Arten von Dissidentengruppen möglich, Unruhe zu stiften und Zerstörung zu bringen, wie die Aktivitäten der IRA auf dem britischen Festland oder die Versuche, das World Trade Center in New York in die Luft zu sprengen (1993), gezeigt hatten. 

Bis zum Ende des kurzen 20. Jahrhunderts waren die Kosten solcher Aktivitäten gering gewesen – außer für Versicherungsgesellschaften –, da nichtstaatlicher Terrorismus im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung sehr viel weniger wahllos war als die Bombenangriffe der offiziellen Kriegsführung. 

Denn seine Ziele (so überhaupt vorhanden) waren eher politischer als militärischer Art. Außerdem operierte er für gewöhnlich mit Sprengstoffen und vor allem Handfeuerwaffen, die für begrenzte Tötungsaktionen geeigneter sind als für Massenmord. Nun gab es jedoch keinen Grund mehr, weshalb die überall auf dem Weltmarkt erhältlichen Atomwaffen oder das Material und Know-how für ihre Herstellung nicht auch kleinen Gruppen zugänglich werden sollten.»

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Mit dieser Lagebeurteilung bestätigt der Historiker Hobsbawm 1995 eine bereits 1962 ausgesprochene Befürchtung Carl Schmitts. Dieser hatte seinerzeit ja angekündigt, daß sich perspektivisch auch «Industrie-Partisanen» der neuesten Vernichtungsmittel aus den Arsenalen der Hightech bedienen könnten: «Wie aber», hatte er damals gefragt, «wenn es einem Menschen-Typus, der bisher den Partisanen lieferte, gelingt, sich an die technisch-industrielle Umwelt anzupassen, sich der neuen Mittel zu bedienen und eine neue, angepaßte Art von Partisanen, sagen wir den Industrie-Partisanen zu entwickeln? Gibt es eine Gewähr dafür, daß die modernen Vernichtungsmittel immer in die rechten Hände fallen und daß ein irregulärer Kampf undenkbar wird?»

carl builder, leitender Direktor bei der amerikanischen Atombehörde NRC, glaubt, daß die größte atomare Bedrohung in der nächsten Zeit nicht mehr von Nationalstaaten ausgehen wird, sondern von nichtstaatlichen Kräften: Warlords, Drogenbarone und fanatisierte Sektenführer könnten, einmal in den Besitz von taktischen Atomwaffen gelangt (dasselbe gilt natürlich ebenso für chemische oder biologische Massenvernichtungsmittel), Staaten wie Amerika oder Deutschland ohne größeres Risiko erpressen — weil sie selber, da keiner genauer bestimmbaren Gemeinschaft verpflichtet, nicht durch einen zuvor angedrohten Gegenschlag abzuschrecken sind. Ob die Dead-line diesbezüglich heute schon überschritten ist, kann dahingestellt bleiben.26)  

Sicher ist, daß das bestehende Flickwerk aus internationalen Exportkontrollen und Nonproliferations­verträgen die in Gang gekommene Entwicklung nicht mehr stoppen kann. Nachdem der weltweite Nuklearhandel allmählich in Schwung gekommen ist, wissen wir heute, daß es keine Gewähr geben kann. Modernität ist eben kein Monopol des staatlichen Gewaltapparates. Und die Gleichheit der Waffen stellt sich her.

26)  Wie <Economist> berichtete, hat es inzwischen fünfzig Versuche gegeben, von Amerika auf diese Weise Geld zu erpressen.

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Was bedeutet aber nun der hier nur noch einmal aus dem Blickwinkel des Historikers dargestellte status mixtus für die Zukunft des Krieges? 

Ganz sicher erst einmal dieses: Da uns eine solche Zwischenlage zwischen Krieg und Frieden immer öfter mit historischen Situationen konfrontieren wird, die durch eine Symptomatik des Nicht-mehr-Frieden und Noch-nicht-Krieg charakterisiert sind, verkommt der Frieden als vorgegebene Ordnung im Inneren und Äußeren tendenziell immer mehr zur reinen Fiktion und Rechtsvermutung. Denn jeder Beobachter kann nach beiden Seiten seine Lagebeurteilung zuspitzen. In der abnormen Zwischenlage kann eben die Disjunktion hobbes von Krieg und Frieden überhaupt nicht mehr greifen.

Indiz dafür ist die Tatsache, daß im neuesten Völkerrecht der Begriff des «bewaffneten Konflikts» den Kriegsbegriff beinahe vollständig abgelöst hat. Die hermeneutische Unklarheit, die dadurch entsteht, verursacht erhebliche Orientierungs- und Verständigungsschwierigkeiten.27) Wie hermeneutische Probleme politische Unsicherheiten beim Lesen einer Konfliktsituation steigern können, konnte man jüngst am politischen Eiertanz des Westens gegenüber dem Verhalten der Konfliktparteien im Krieg auf dem Balkan sehen.

27)  Aus diesem Grund wollen bezeichnenderweise die Vereinigten Staaten das Erste Zusatzprotokoll vom 6. Juni 1977 zum Genfer Abkommen nicht ratifizieren.

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Parallel zum allgemeinen Nomosschwund verschwimmt also auch das Bild des Krieges. Ist man erst einmal beim «molekularen Bürgerkrieg» und dem «Zusammenprall der Zivilisationen» angekommen, vermag keine strenge Form mehr den Krieg zu normieren oder ihn mit klaren Begriffen sowie in präzisen Grenzen zu beschreiben. Wenn wir aber keine überzeugende Definition des «Krieges» mehr haben, können wir natürlich nicht länger so tun, als wüßten wir, wovon wir reden, sobald wir über «Krieg» und «Frieden» sprechen. 

Solche Oberflächlichkeit könnte nur dazu führen, daß wir den sich vertiefenden Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden mit seiner Morphologie des Amorphen und Irregulären aus dem Blick verlieren. Da die klassischen Erzählungen vom Krieg zerbrochen sind angesichts der Realität eines fragmentierten Kriegs, der seinen Namen immer noch nicht nennen will, sollten wir wenigstens bis auf weiteres daran denken, daß jeder künftige Frieden nicht zuletzt diesem Zwischenzustand abgerungen werden muß.

 

   Mobilmachung durch Technik: Ungleichzeitigkeiten und phänotypischer Krieg  

 

Ob wir die Zukunft des Krieges primär im Staaten-Duell, im bewaffneten Zusammenprall von Zivilisationen oder im Weltbürgerkrieg und der Chaotisierung der urbanen Zentren sehen wollen: Diese Zukunft hat in jeder Form naturgemäß ihre technische Seite. Allerdings darf die Technik im Kriegsgeschehen nicht nur als Mittel oder Instrument verstanden werden, dessen sich der Mensch zu seinen Zwecken bedient. Wie nirgend sonst wird die Technik in Kriegszeiten zur grundlegenden Taktik des ganzen Lebens. Wie wir Kriege führen, darin drückt sich unsere Lebensweise, unsere Kultur wie auch die Art unserer Produktion aus.

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Art und Einsatz der Waffen ändern sich, je nachdem, ob man dieselben gegen das Individuum oder gegen den massenhaft auftretenden Gegner richtet. Die Massenproduktion in der Industriegesellschaft hat ihre Parallelen in der Materialschlacht und der Massenvernichtung des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Wo Massen auf den Schlachtfeldern erscheinen, können sie nur durch Mittel erreicht werden, denen Massenwirkungen innewohnen, seien es nun Maschinen­gewehrgarben, Dauerbombardements oder Gasschwaden. Und natürlich entspricht der Grad der Motorisierung der Gesellschaft auch dem Grad der Motorisierung ihrer Kriegsmaschinerie.

Was kann man aus solchen flachen Analogien für die Zukunft des Krieges herleiten? Analogien dieser Art leisten für das Weitere erst einmal genug, wenn sie deutlich werden lassen, daß es zwischen dem «in Form sein» des Zivilen und des Militärischen im Zusammenhang mit einem gesamtgesellschaftlichen Mobilisierungs­geschehen in der Moderne zu immer intimeren Verflechtungen kommt. Mobilmachung ist ursprünglich eine militärische Kategorie! Sie beschreibt Prozesse, durch die in Reserve gehaltene Kampfpotentiale aktiviert werden.

ernst JÜNGER hat mit seinem <Arbeiter>-Essai in den dreißiger Jahren den Begriff der Mobilmachung für eine allgemeine Theorie der Moderne fruchtbar gemacht, welche die Erinnerung an den Gewaltcharakter der wissenschaftlichen und industriellen Spitzenprozesse von vorne herein mitdenkt. 

Gerade in einer Phase, in der wir von Industrie auf Information umschalten und damit die Gewalt scheinbar selber informatorisch, cool prozedural und weithin analgetisch wird, könnte vielleicht die Beibehaltung des Jüngerschen Vokabulars die Erinnerung daran wachhalten, daß der technologische Fortschritt in der Informationsgesellschaft die moralisch so wichtige Differenz zwischen Arbeit, Produktion und Krieg immer mehr aufhebt und den einstigen Unterschied zwischen militärischer Reserve und Einsatz zunehmend außer Kraft setzt. Das gilt durchaus nicht nur für die flächendeckende Dauer­über­wachung der Völker durch Aufklärungs- und Frühwarnsatelliten aus dem Weltall.

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Bezogen auf den derzeitigen Stand der Technik kann man sagen: Je mehr zivile und militärische Technologien auf die Dienste von Elektronik und Informatik zurückgreifen, desto geringer wird der Abstand zwischen beiden. Aus der Tatsache verschwimmender Übergänge zwischen den zivilen und militärischen Technologien folgt, daß zukünftig für die Weiterentwicklung der Kriegsmaschinerie immer weniger Sonderanstrengungen erforderlich werden. Hinter der biederen Fassade des Zivilen und der «Dienstleistungsgesellschaft», in der die Förderung der Spitzentechnologien zu den Selbstverständlichkeiten gehört, kann die Modernisierung ebenso wie der Ausbau der Kriegsmaschinerie zunehmend außerhalb spezieller staatlicher Rüstungsprogramme betrieben werden.

Wo die aktuellen Zuwächse an Können und Wissen, an Mobilität, Präzision und Wirksamkeit nur bei einer der Kriegsparteien über den «zivilisatorischen» Mechanismus der Mobilmachung ausreichend militärisch umgesetzt worden sind, kommt es im Falle ihres gewaltsamen Zusammenstoßes zu Gefechtslagen, die uns jedesmal an Don Quixotes «schreckliche und ungleiche Schlacht» gegen die vierzig Windmühlen denken lassen. Die jüngere Militärgeschichte ist voller Beispiele dafür, wie unterschiedliche Grade der Mobilmachung in diesem Sinne kriegsentscheidend zu Buche schlagen können. 

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Als eine polnische Einheit auf der Tucheler Heide noch im Zweiten Weltkrieg gegen deutsche Panzer eine traditionelle Kavallerieattacke reiten wollte, war diese Donquichotterie durchaus bezeichnend für die Unterschiedlichkeit der aufeinandertreffenden Kriegsmaschinen. Auf deutscher Seite das präzise Zusammenwirken riesiger Panzerverbände mit motorisierten Schützeneinheiten und der durchschlagenden Luftwaffe mit ihren «Stukas» sowie das effizient arbeitende Nachrichten- und Nachschubsystem: die ganze Gewalt dieses alles überrollenden Mobilmachungsgeschehens ließ den Polen nicht viel mehr als ihren Mut.

Fast in allen großen Ereignissen der Geschichte spiegeln sich vergleichbare Anfangs- und Endphasen von Entwicklungen wider. Das gilt für jeden Epochen-Krieg! Mit der Tankschlacht von Combrai hatte der Erste Weltkrieg endgültig einen Schlußstrich unter die Reiterei und das klassische Soldaten-«Handwerk» des neunzehnten Jahrhunderts gezogen. Wie zuvor schon, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, das Duell der Panzerschiffe «Merrimac» und «Monitor» 1862 bei Hampton Roads die unter Segeln ausgefochtene Seeschlacht zum Anachronismus stempelte. 

Die Tanks von Combrai und die Panzerschiffe bei Hampton Roads waren auf ihre Weise jeweils Sinnbilder kommender Kriege. So wie es die Raketen von Peenemünde am Ende des letzten Weltkrieges gewesen sind. Während die polnischen Reiter auf der Tucheler Heide nurmehr von einer längst abgeschriebenen Epoche militärischer Auseinandersetzungen zeugten.

Jede Zeit hat also ihre eigenen Kriege! 

Neben einem Phänotypus des Krieges, der in einem engeren Sinne für die Gegenwart und Zukunft des Krieges repräsentativ ist, finden sich, wie die historischen Beispiele zeigen, in jedem bewaffneten Konflikt Formen des Krieges wieder, die historisch und technisch überholt sind.

Zuletzt konnte man das am Beispiel des Krieges der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gegen Saddam Hussein sehen. Die unter Führung der USA handelnde Koalition hat nämlich seit dem 17. Januar 1991 im Rahmen ihrer Vergeltungsoperationen gegen den Irak zwei unterschiedliche Formen des Krieges praktiziert.

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Auf herkömmlichen Abnutzungsstrategien, wie sie für den Krieg des Industriezeitalters typisch sind, basierte eine der Formen. Bomberverbände, bestehend aus dreißig Jahre alten Flugzeugen, begruben die irakischen Stellungen unter ihren Flächenbombardements. Mit «dummen» Bomben, die teilweise in den sechziger Jahren hergestellt worden und im Vietnamkrieg nicht mehr zum Einsatz gekommen waren, wurden ganze Areale umgepflügt und zahlreiche Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Diese – bezogen auf den Zweiten Weltkrieg – geradezu altväterliche Art und Weise der Kriegsführung, die überaus blutig ausgetragen wurde, war den beiden am Golf aufeinandertreffenden Kriegsmaschinen nur allzu vertraut.

Gleichzeitig wurde jedoch von der ersten Stunde an der Krieg auf westlicher Seite auch in phänotypischen Formen ausgetragen. Sinnbildlich für diesen Krieg waren etwa die Jagdbomber vom Typ F-117A-Nighthawk, die mit ihren präzisionsgelenkten Bomben das Stadtzentrum von Bagdad attackierten. Obwohl nicht viel besser bewaffnet als die F-15, F-16 oder F-18, war dieses Tarnkappenflugzeug die wohl seinerzeit perfekte Inkarnation der Urwaffe, der List. Denn es verkörperte die Fähigkeit, sich in hochgefährliche Zonen einzuschleichen, da es für die feindlichen Kontrollbildschirme keine durch Radar zu ortende Oberfläche mehr hatte. Mit ihm wurden lediglich zwei Prozent aller Einsätze geflogen, jedoch vierzig Prozent der Angriffe auf strategisch wichtige und raketengeschützte Ziele bestritten.

Nach dem Golfkrieg vermittelte zuletzt noch einmal der 41. Pariser Luftfahrtsalon in Le Bourget 1995 einen Vorgeschmack auf den Staatenkrieg im einund­zwanzigsten Jahrhundert. 

Hier brachte Amerikas Stealth-Bomber Northrop B-2 die Besucher ebenso zum Staunen wie das Experimental­flugzeug X-31, das mit Hilfe eines digital gesteuerten, schwenkbaren Schubstrahls aufrecht balancieren, dann auf seiner Hinterhand kehrtmachen und in entgegengesetzter Richtung davonpreschen konnte.

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In Flugobjekten solchen Zuschnitts bis hin zu dem durch russische Forscher konstruierten Raumgleiter «Bor», der als eine Art Weltraum-Marsch­flug­körper im Kriegsfall aus seiner Umlaufbahn heraus vorgegebene Ziele angreifen soll, manifestiert sich auf anschauliche Weise die Abwertung des Bodens und des Bodenkampfes, die schon im Krieg am Golf gar nicht mehr zu übersehen war.28

Genau diese Abwertung des Bodens und des Bodenkampfes dürfte für den Staaten-Krieg des Westen und aller anderen technologisch potenten Gesellschaften zukunftsweisend sein. Nicht umsonst kreisen alle modernen Militärdoktrinen heutzutage um «AirLand Battle» oder «AirLand Operations».

Wurde die Luftwaffe noch bis vor kurzer Zeit zur Verstärkung und Steigerung des Land- und Seekrieges eingesetzt, hat sich die «Verteilung der kriegerischen Elementarkräfte» unter die verschiedenen Waffengattungen der Streitkräfte des Westens spätestens seit dem Krieg am Golf im bewaffneten Staaten-Konflikt endgültig verschoben.

In dem damit verbundenen Rollentausch der Streitkräfte kulminiert historisch jene Kraft des Dominierens, Überhöhens und Beherrschens, über die CLAUSEWITZ im achtzehnten Kapitel seines Buches <Vom Kriege> nachsinnt. Wer sich auf einem Gebirgsrande befindet und seinen Feind unter sich erblickt, hatte der große Stratege notiert, der kann nicht nur merklich besser schießen und treffen, sondern der hat gleichfalls den «Vorteil der besseren Übersicht» auf seiner Seite — ganz zu schweigen von dem «Gefühl der Schwäche und Besorgnis für den, der unten ist».

28)  Die nur geringe Zahl von dreihundertvierzig Gefallenen auf Seiten der Alliierten erklärt sich aus diesem Umstand.

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Von der kriegerischen Gelehrsamkeit früherer Zeiten, die über beherrschende Stellungen, Schlüssel­positionen und die bessere Übersicht nachdenkt, führt ein direkter Weg hin zu den zwei mächtigsten Informationswaffen, welche ihrem Benutzer gewissermaßen künstlich diejenige Position verschaffen, welche Clausewitz für vorteilhaft gehalten hat. AWACS («Airborne Warning and Control System») und J-STARS («Joint Surveillance and Target Attack Radar System») suchen diese Position jedoch nicht mehr in der Geographie. Sie schaffen sie im elektromagnetischen Feld. In Flugzeugen des Typs Boeing 707 installiert, überwachen diese Informationswaffen unterhalb der Satellitenaufklärung Himmel und Erde, um feindliche Flugzeuge, Raketen und nachrückende Bodentruppen aufzuspüren und ihre Positionen in kürzester Zeit zur Zielerfassung an Abfangjäger und andere Systeme weiterzugeben.29

29)  Aufklärungssysteme auf diesem Niveau setzen natürlich eine durchcomputerisierte Kriegsmaschinerie voraus. Am Ende der Operation «Desert Storm» waren deshalb an die dreitausend Computer im Kriegsgebiet mit Computern in den Vereinigten Staaten vernetzt. Hier und auf ausgesuchten Luftwaffenbasen in unterschiedlichen Ländern wurden die gegnerischen Verbände in ihrer Stärke, Feuerkraft und Beweglichkeit jederzeit analysiert. Ihre möglichen Angriffe wurden in Computersimulationen von den Militärs durchgespielt. 

Im Ergebnis dessen konnten die westlichen Streitkräfte höchst rational zum Einsatz gebracht werden. Wie Pentagon-Mitarbeiter berichten, hat eine Gruppe holländischer Hacker während des Golfkrieges dem Irak das Angebot unterbreitet, für eine Million Dollar die Kommunikation der Allianz zu stören. Sollte Saddam wirklich die Rekrutierung dieser Computer­freaks als Söldner abgelehnt haben, wäre das ein starkes Indiz, dafür, daß er gar nicht wußte, worauf er sich in seiner «Mutter aller Schlachten» konkret eingelassen hatte.

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Daß sich das Raumbild der Kriegsschauplätze mit der Dominanz der Luftstreitkräfte im Krieg der Bits und Bytes weiter radikal verändern wird, daran kann kein Zweifel bestehen. Welche Folgen das für die Zukunft des Krieges haben wird, ist bisher weniger klar. Unübersehbar ist allerdings, daß «Air-Land Battle» hoch hinaus will! Die Projektion der Kriegsmaschinerie in den Weltraum ist damit vorgezeichnet. 

Wer den erdumgreifenden Raum beherrscht, kann planetarisch gestützte Kriege führen. Den erdumspannenden Raum aber wird beherrschen, wer als erster funktions­fähige Militärbasen an den Punkten installiert, an denen die Anziehungskraft von Mond und Erde gleich ist. Das mag wie Zukunfts­musik klingen. Mit den ersten Voraussagen über kommende Luftschlachten war es aber nicht anders.

Das Primat des Luftkrieges, ob aus dem erdnahen Raum oder aus dem Weltraum heraus geführt, hebt jegliche positive Beziehung zur betroffenen Bevölkerung auf, die eine Landstreitmacht, welche keinen Terrorkrieg führt, in der Regel entwickelt. Bodentruppen, die in Feindesland einrücken, haben für gewöhnlich ein Eigeninteresse, im Besatzungsgebiet Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten und ihre Autorität als Besatzungsmacht zu festigen. 

Zwischen der Okkupationsgewalt und dem okkupierten Land entstehen unterschiedlichste Rechtsbeziehungen. Luftstreitkräfte haben im Gegensatz dazu zu ihrem Einsatzgebiet und seiner Bevölkerung nur ein negatives Verhältnis. Land und Leute sind für sie nichts weiter als das Ziel gewaltsamer Einwirkung, wie noch die Flächenbombardements und Entlaubungsaktionen im Vietnamkrieg auf drastische Weise gezeigt haben.

Die besondere Art der Gewalteinwirkung ist wesentlich! Denn sie betrifft, wie Carl Schmitt gezeigt hat, den Kern aller menschlichen Ordnung, den uralten Zusammen­hang von Schutz und Gehorsam.

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Aber auch der Luftkrieg ist inzwischen ein anderer geworden. 

Wahrscheinlich würden heutzutage Direktiven wie die des Führungsstabes der britischen Luftwaffe zur Flächenbombardierung vom 14. Februar 1943, die sich seinerzeit erklärtermaßen «gegen die Moral der feindlichen Zivilbevölkerung und insbesondere der Industriearbeiter» in Deutsch­land richteten, heutzutage bei der Bevölkerung einer westlichen Kriegspartei keine Zustimmung mehr finden. Das Befremden der Öffentlichkeit über das Denkmal für den Chef des britischen Bomber Command, Air Marshal Arthur Harris, hat dies fünfzig Jahre nach dem Kriegsende deutlich werden lassen. [ wikipedia  Arthur_Harris 1892-1984]

Die Konstruktion und der verstärkte Einsatz «intelligenter Bomben» sollen genau diese Akzeptanz sichern helfen. Man fühlt sich an das Wort hegels erinnert «Das Technische findet sich ein, wenn das Bedürfnis vorhanden ist» , wenn man bedenkt, daß die Militärs genau in dem Moment «saubere» und «intelligente» Waffen in die Hände bekommen, in dem die moralische Verurteilung des Krieges sich im Westen zum gesellschaftlichen Konsens zu verdichten beginnt. Das führt nicht zwangsläufig zu einem grundsätzlichen Wandel des Charakters des Luft-Boden-Krieges. Wohl aber rückt die «intelligente Bombe» die Möglichkeit der Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten wieder in den Vordergrund.

 

Irreguläre Kriege, wie sie Huntington und Enzensberger im Unterschied zu Kissinger oder Fukuyama voraussagen, kann man natürlich nicht mit derselben Waffen­technik und denselben Einheiten bestreiten wie sie für den Luft-Boden-Krieg charakteristisch sind. Selbst im Nahen Osten ist die derzeitige Form der bewaffneten Konflikte nicht mehr mit den israelisch-arabischen Waffengängen vergleichbar, die dort noch 1967 und 1973 die Region in einen Kriegs­schauplatz verwandelt haben. Kein Staat würde heute dort einen Angriffskrieg wagen. Terrorismus und Subversion beziehungsweise darauf gerichtete Abwehr­maßnahmen bestimmen inzwischen das Bild der Auseinandersetzung sowohl der Staaten als auch der in der Region operierenden Gruppen. 

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Die Fähigkeit, in solche Konflikte einzugreifen, verlangt die materialmäßige Vorbereitung von «Sonder­operationen» und die Ausbildung von kleinen, hoch­technisierten Spezialeinheiten. Nachtsichtgeräte, Wärme­bild­sensoren, Fax sowie Online-Chiffrier- und Dechiffrier­maschinen gehören heute schon zur Ausrüstung derartiger Einheiten wie spezielle Kampfanzüge, die den Träger vor atomaren, chemischen und biologischen Einwirkungen schützen. Daß derartige Kampfanzüge mit Zielerfassungssystemen ausgestattet werden, die den Augenbewegungen seines Trägers folgen und dessen Waffe automatisch auf den Punkt einstellen, den dieser im Blick hat, dürfte nurmehr eine Frage der Zeit sein.

Einheiten solchen Zuschnitts werden natürlich auch in Regionen gebraucht, wo es gar keine Staatsmacht mehr gibt und ein Land im Bürgerkrieg untergeht. In Deutschland hatte man das im April 1994 zur Kenntnis nehmen müssen. Als damals elf Mitarbeiter der «Deutschen Welle» aus ihrer von Rebellen umstellten Relaisstation nahe der ruandischen Hauptstadt Kigali gerettet werden mußten, kam nicht eine deutsche, sondern eine belgische Sondereinheit zum Einsatz. In der ganzen Bundeswehr war bis dahin kein Kommando für eine solche Aufgabe gerüstet und ausgebildet worden. 

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   Der Spezialist als Anti-Heros. Wird der Krieg der Zukunft sanfter sein?   

 

Welche Rolle spielt nun aber ganz allgemein der subjektive Faktor im Staatenkrieg der Zukunft, sobald derselbe als High-Tech-Krieg geführt wird? Oder anders gefragt: Wie ändert sich die Stellung des Militärs angesichts eines kaum mehr zu übersehenden Verfließens der vormaligen Grenzen zwischen dem Zivilen und dem Militärischen. Sind wir alle vielleicht längst Militärs wider willen?

Den Gebrauch von Arbeitsmitteln zur Abwehr eines Feindes hat es sicher schon immer gegeben. Eine Axt kann man zum Holzfällen benutzen. Man kann damit ebenso den Schädel eines anderen Menschen spalten. Trotzdem käme kein Mensch auf die Idee, den Schreiner oder den Schmied, der die für die Herstellung der Axt benötigten Teile gefertigt hat, als Militärs in Zivil oder gar als Kriegsgewinnler zu bezeichnen. Augenscheinlich resultiert das heutige Problem der Annäherung des Zivilen und des Militärischen aus einem Geschehen im Inneren der Hochtechnologiestaaten, dessen Konsequenzen erst in jüngster Zeit richtig zum Vorschein kommen. Seit Jahren schrumpft in diesen Staaten bereits der rüstungsindustrielle Sektor. Das hat zunächst sicher mit der planmäßigen Umstellung militärischer auf zivile Produktion und dem Abbau von Überkapazitäten aus der Zeit des Kalten Krieges zu tun.

Gleichzeitig hat aber die gegenläufige Verlagerung militärisch relevanter Produktionen in zivilwirtschaftlich orientierte Branchen stattgefunden. Hier entstehen gewollt und ungewollt immer mehr Produkte, die sowohl militärisch als auch zivil nutzbar sind. Hier werden Dienstleistungen angeboten, ohne deren Inanspruchnahme ein Krieg in der Moderne gar nicht geführt werden kann. Wer wissen will, in welchem Umfang «Pflugscharen zu Schwertern» geschmiedet werden, braucht sich nur das komplexe Engagement bestimmter Staaten im Bereich der Luft- und Raumfahrt genauer anzusehen. 

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Kurzum, das Militär kann seine Rüstungsbedürfnisse aus dem technologischen Überfluß des Westens genau so gut befriedigen wie jeder andere auch. Und so wie jeder andere Anwender verrichtet das Militär auf dieser Basis seinen «Job». Wenngleich ihm im Ernstfall immer noch spezielle Leistungen abverlangt werden.

Wer die Tornado-Piloten der Bundeswehr in ihren Hotels im norditalienischen Piacenza vor ihrem ersten Kampfeinsatz im deutschen Fernsehen gesehen hat, konnte sich sehr wohl an Montagespezialisten im Auslandseinsatz, nicht aber an die legendären «Kommißstiefel» und «Haudegen» früherer Zeiten erinnert fühlen. Wie eine Erinnerung an antike Zeiten mutet es da an, wenn man bedenkt, daß noch die Großväter dieser Männer als Fliegerasse im Ersten Weltkrieg die besten Flieger Englands in abgeworfenen Briefen zum Zweikampf in der Luft herausgefordert haben sollen.

Die Kampfkraft und der persönliche Mut dieser für den Krieg der Zukunft durchaus typischen Soldaten ist unter den gegebenen Umständen kein individueller Wert mehr, sondern ein funktioneller Wert. Die Entindividualisierung des Heroismus, in der bereits Hegel das Prinzip der modernen Welt gesehen hat, kommt in der unaufgeregten Geschäftsmäßigkeit und Professionalität eines solchen Typus des Soldaten unverkennbar zum Ausdruck. Hier zeigt sich, wie Heidegger es beschrieben hat, 

«daß die neuzeitliche machinale Ökonomie, die maschinenmäßige Durchrechnung alles Handelns und Planens in ihrer unbedingten Gestalt ein neues Menschentum fordert, das über den bisherigen Menschen hinausgeht. Es genügt nicht, daß man Panzerwagen, Flugzeuge und Nachrichtengeräte besitzt; es genügt auch nicht, daß man über Menschen verfügt, die dergleichen bedienen können; es genügt nicht einmal, daß der Mensch die Technik nur beherrscht, als sei diese etwas an sich Gleichgültiges jenseits von Nutzen und Schaden, Aufbau und Zerstörung, beliebig von irgendwem zu beliebigen Zwecken nutzbar.

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Es bedarf eines Menschentums, das von Grund aus dem einzigartigen Grundwesen der neuzeitlichen Technik und ihrer metaphysischen Wahrheit gemäß ist, das heißt vom Wesen der Technik sich ganz beherrschen läßt, um so gerade selbst die einzelnen technischen Vorgänge zu lenken und zu nützen.»

Material oder Moral? Die Frage ist längst entschieden! Der Versuch einer heroischen Deutung des Kriegserlebnisses bedarf insofern schon eines Betriebs­unfalls und eines Rettungsspektakels wie bei captain grady. Damit aus einem F-16 Fighter über Nacht mit Hilfe des Fernsehens «an American hero» werden kann. (Wohingegen die einundvierzig Marines aus dem «crisis action team», welche Grady herausgeholt haben, natürlich «Helden» bleiben, die kein Bericht nennt.)

Rationalisierung und Technisierung der Kriegsmaschinerie sowie die vertiefte Arbeitsteilung innerhalb der Militärbündnisse haben in der jüngsten Vergangen­heit dazu geführt, daß die zahlenmäßige Stärke der für Kriegseinsätze in Reserve gehaltenen Soldaten rapide zurückgegangen ist. Betrachtet man allein den zahlen­mäßigen Rückgang des Militärs in Deutschland, wo man in kürzester Zeit gleich eine komplette Armee ausgemustert hat, könnte man meinen, daß das Militär bis auf einen Restbestand geradezu verschwindet. Dieser Eindruck wird durch die geplante Aufstellung von dreiundfünfzigtausend Mann an Krisen­reaktions­kräften weiter verstärkt. Der gänzliche Bedeutungsverlust und die Abschaffung der herkömmlichen Wehrpflichtarmee in Deutschland dürfte damit, trotz aller anders lautenden Beteuerungen der politischen Klasse hierzulande, nurmehr eine Frage der Zeit sein.

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Elias Canetti  schreibt in <Masse und Macht>:  

«In Kriegen geht es ums Töten: "Die Reihen der Feinde wurden gelichtet." Es geht um ein Töten in Haufen. Möglichst viele Feinde werden niedergeschlagen; aus der gefährlichen Masse von lebenden Gegnern soll ein Haufe von Toten werden. Sieger ist, wer mehr Feinde getötet hat. Es ist die wachsende Masse der Nachbarn, der man im Kriege entgegentritt. Ihre Zunahme ist an sich beängstigend. Ihre Drohung, die im Wachstum allein schon enthalten ist, löst die eigene aggressive Masse aus, die zum Krieg drängt.»

Historisch ist der biologische «Wettbewerb der wachsenden Massen», den Canetti hier beschreibt, wahrscheinlich nicht selten Auslöser für kriegerische Auseinandersetzungen gewesen. Ob hierin aber der «tiefste Grund zu Kriegen» gesehen werden muß, dürfte zweifelhaft sein. Wäre es so, müßte der Westen wegen seiner zahlenmäßigen Unterlegenheit dauernd und überall Krieg führen. Und überhaupt: Geht es in Kriegen tatsächlich immer nur ums Töten? Und ist der Krieg kein «wirklicher Krieg, wenn er nicht zuerst auf einen Haufen von feindlichen Toten zielt?»

Der Krieg, den Canetti vor Augen hat, ist unverkennbar der historische Krieg der Massenproduktion des Industriezeitalters. Die Produktivität der Kriegsmaschinerie wurde in diesem Krieg ja tatsächlich an der Größe der Haufen Toter gemessen, die sich auf den Schlachtfeldern oder unter den Bombenteppichen in den Städten auftürmten.

Wir kennen aber aus der Vergangenheit durchaus Kriege, in denen die tödliche Produktivität der Kriegs­maschinerie bewußt kleingehalten wurde. In der Philosophie des Krieges hat man schon frühzeitig das Ersetzen einer Feldschlacht zum Beispiel durch einen Zweikampf damit begründet, daß auf diese Weise ein Gemetzel umgangen werden kann. «Besser, daß einer fällt als ein ganzes Heer», sagen die Krieger bei Quierzy an der Oise, als der Merowinger Theoderich sich zum Zweikampf rüstet. Und wenn im späten Mittelalter von einem Zweikampf die Rede ist, in dem zwei Kriegsherren ihre «querelle» entscheiden wollen, dann steht durchaus nicht immer nur die alte Vorstellung eines Gerichtsverfahrens im Vordergrund.

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Natürlich spielt bei den entsprechenden Überlieferungen Romantik und heroische Fiktion keine geringe Rolle. Trotzdem wäre es unrichtig, die Erzählungen über historische Hegungen des Krieges als Schönfärbereien abzutun. Den historischen Formen der freiwilligen Gewaltbegrenzung und des symbolischen Rituals liegt eine Vernunft zugrunde, die wiederentdeckt und genutzt werden muß.

Brutale Gewalt konnte ihre Macht nicht immer und überall frei entfalten. Selbst wenn die Kriegsgeschichte scheinbar mehr Belege für die gegenteilige Behauptung liefern sollte. Der Abwurf der ersten Atombombe am 6. August 1945 auf Hiroshima hat sicher den größten «Haufen von Toten» hinter­lassen, der jemals durch eine Handvoll Soldaten mit einem einzigen Angriff herbeigeführt wurde. 

Aber selbst in Vorbereitung auf diesen Angriff hat es nicht an Stimmen gefehlt, die das Drama von Hiroshima und Nagasaki verhindern wollten. So lehnten nicht wenige der an dem Manhattanprojekt beteiligten Physiker den Einsatz der Bombe ab. Als Ersatzhandlung schlugen sie stattdessen vor, die Generalität Japans zu einem Atomtest auf eine Pazifikinsel einzuladen. Amerika sollte den Generälen das Ultimatum stellen, nach Kenntnisnahme des verheerenden Vernichtungs­potentials der Bombe zu kapitulieren. Pentagon und Weißes Haus haben den Vorschlag der Wissenschaftler abgelehnt, weil sie befürchteten, die zukünftige Drohung mit der Bombe könnte wirkungslos bleiben, wenn der Test fehlschlagen würde. Nur wenige Tage nach dem Abwurf der Bombe war der Krieg mit Japan dann bekanntlich tatsächlich zu Ende. Zugleich war eine historische Gelegenheit verspielt, allein durch den organisierten Vergleich des waffen­technischen Standards Menschenleben zu schonen und der Hegung des Krieges einen neuen Impuls zu geben.  detopia: Hegung wie Einhegung, Begrenzung

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Vielleicht stehen wir heute wieder an einem Scheideweg. Denn die technischen Mittel, einen Krieg zu führen, der nicht mehr auf einen Haufen von feindlichen Toten zielt, sind heute größer denn je. alvin und heidi toffler wollen in ihrem Buch <War and Anti-War> gar von einem Rüstungswettlauf wissen, bei dem es um die Produktion von Waffen geht, «die die Letalität auf ein Minimum reduzieren, statt auf ein Maximum zu steigern».

Jedenfalls vergegenständlicht sich die allmähliche Abkehr von der für das klassische Industriezeitalter charakteristischen Vorstellung des massenhaften Abschlachtens nicht mehr nur in der Herstellung von Gummigeschossen und Tränengas. Polymere Klebemittel, mit deren Hilfe man militärische Gerätschaften verleimen und unbrauchbarmachen kann, zählen ebenso zum Arsenal einer sanften Kriegsführung wie eine besondere Munition, die den Treibstoff von Panzermotoren verunreinigen oder in seiner Viskosität verändern soll. Man kann mit entsprechend eingestellten Lasergewehren Feinde vorübergehend blenden oder sie mit «Schlafmitteln» außer Gefecht setzen, ohne daß dabei Blut fließen muß.

Überraschend an derartigen Entwicklungen ist nicht deren technischer Aspekt. Neu ist die sich darin andeutende Überwindung der Hybris, welche die Waffen­technik hin zur Konstruktion absoluter Vernichtungs­mittel getrieben hat. Man kann Entwicklungen dieser Art ablehnen oder ignorieren. Man kann ihnen aber nicht vorwerfen, sie seien nur geeignet, den «Haufen Toter» am Ende eines Krieges weiter zu vergrößern.

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Von Rolf Henrich