Teil 1 Die Grammatik des Wandels
Wie Bilder, Mentalitäten, Moralvorstellungen und steigende Komplexität unsere Zukunft formen
1.1 Die veränderten Bilder der Zukunft
Von der technischen Utopie der 60er Jahre zum Retro-Futurismus der Jahrtausendwende
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Die Vergangenheit der Zukunft
Aus meiner Kindheit ist mir ein ganz bestimmter süßer Geruch in Erinnerung geblieben. Er entströmte Alben, in die man bunte Bilder einkleben durfte, auf denen es um die Zukunft ging. Weltraumbilder. Köllnflockenbilder. Zukunftsbilder. "Die Welt im Jahr 2000" – "Schwebende Welten im Kosmos" – "Unterwasserstädte für jedermann". Raketen starteten von Bahnhöfen in ein von riesigen roten und blauen Monden beherrschtes Weltall. Fröhliche Familien (Papi mit steifem Hut) fuhren in atomkraftgetriebenen Automobilen durch die makellose Landschaft. Mutti kommandierte, mit kess-kurzer Schürze, in der Küche die Roboter (die noch wie echte Roboter aussahen), blonde Kinder winkten durch die Luken von raumschiffartigen Tauchschiffen zu fröhlichen Walen hinüber, und ein frohgemutes Team weißbekittelter Männer und Frauen sorgte mit Atomblitz und Hubschraubern dafür, daß es je nach Bedarf regnete oder die Sonne schien. Über den Städten wölbten sich Kuppeln aus Glas — gegen die Umweltprobleme.
Ach, welch wunderbare Zukunft wir hatten! In der Zukunft war alles besiegt, was ein Kind beunruhigen konnte: Kriege und Regenwetter, Arbeit und Armut, Schmutz und Krankheit. Und natürlich der Tod. Mit 12 Jahren war ich überzeugt davon, niemals sterben zu müssen; den Doktoren würde schon etwas einfallen, bis ich erwachsen wäre, schließlich gab es jetzt die Pille und die Herzverpflanzung, Penicillin und "das Atom".
Die Zukunft war voller knisternder Geheimnisse, die auf Eroberung warteten. Die erste Nacht, in der ich nicht ins Bett ging, war nicht einem Mädchen gewidmet, sondern dem Schwarzweißfernseher meiner Nachbarn. Auf dem Bildschirm vollführten geisterhafte weiße Gestalten langsame Sprünge in einem Universum aus Bild- und Tonstörungen. Die erste Mondlandung.
All dieses erwartungsvolle Glück hatte seine Entsprechung auch in real world. Die Wirklichkeit unserer Jugend roch nach dem heißem Metall neuer Stereoanlagen, den jedes Weihnachten ausgefuchster werdenden Carrera-Autobahnen. Plastik und Pop, das neue Auto von Papa — all das ging bruchlos über in ein omnipotentes Gefühl von alles ist machbar. Revolution, Psychedelik, Sex, der Rausch beim Popkonzert, ein astronautischer Existentialismus hatte uns erfaßt, der seinen Höhepunkt fand in einem Film, der unser Zeitgefühl auf den Punkt brachte.
Stanley Kubricks Kultfilm "2001 – Odyssee im Weltraum" brachte alle unsere Euphorien in einen gemeinsamen Kontext: die walzertanzende Technik, die Psychedelik, Unsterblichkeit und Wiedergeburt, die Einsamkeit des coolen Langstrecken-Astronauten. Aber auch etwas Dunkles, Drohendes, Monolithisches kündigte sich an; etwas, das weder kontrollierbar noch verstehbar war.
Die düsteren Herren der Anti-Zukunft
Es muß eine Art Krankheit gewesen sein, die uns irgendwann Anfang der 70er Jahre infizierte, eine Art Zukunfts-Aids. Sie begann äußerst harmlos. Ich erinnere mich noch an die diebische Lust, mit der wir mit unseren alten Hollandrädern an den autofreien Sonntagen der Ölkrise über die Autobahn fuhren. Der "Club of Rome" gab einen Bestseller heraus ("Die Grenzen des Wachstums"), den wir nie lasen, aber trotzdem auswendig kannten. In den kommenden Jahren waren wir damit beschäftigt, in Massen vor die Zäune der Atomkraftwerke zu ziehen und zu versuchen, die Zukunft zu verhindern, wo immer das möglich war.
Natürlich hatten wir recht, aber darum geht es heute gar nicht. Die Frage ist, warum die Zukunft über Nacht ihre Gestalt dermaßen verändern konnte. Sie wurde eine endlose Aneinanderreihung von Düsternissen. Artensterben, Giftskandale, Überbevölkerung, Atomtod, Siechtum. Schafe blicken auf, der stumme Frühling.
<Ende> hieß der Roman eines Redakteurs der FRANKFURTER RUNDSCHAU – auch ein Bestseller. [Guha]
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Vielleicht lag es daran, daß unsere Väter zum Vatersein plötzlich nicht mehr taugten. Vielleicht daran, daß uns allen schwindelig geworden war bei den Verheißungen des Fortschritts. Jedenfalls ließen die Ersatzväter nicht lange auf sich warten. Jene imponierenden älteren Herren mit düsterem Blick und mahnenden Worten, deren Botschaft so einleuchtend wie biblisch war. Wir sind schuldig und verdorben. Denn wir versündigen uns: an der Schöpfung, dem Menschen, der Umwelt.
Die düsteren Herren nahmen das Heft der Zukunft in die Hand. Ohne Umschweife nannten sie sich "Zukunftsforscher", obwohl sie doch das Gegenteil waren: Diagnostiker der Unmöglichkeit einer Zukunft, Propheten des Unheils. Jedenfalls machten sie ihren Job in Deutschland sehr gut.
Ihre Haltungen und Ängste sind heute Massengut geworden. Die Zukunft ist nach wie vor verbrannte Erde. Kaum jemand, der eine Vorstellung von ihr hat. Kaum jemand, der etwas Positives, Besseres, gar Utopisches mit ihr verbinden kann.
Utopia revisited
Werfen wir noch einmal einen Blick zurück: Welche Utopien und "Zukünfte" haben der Realität standgehalten? Auf den ersten Blick fällt auf: So gut wie alle Prophezeiungen der Futurologie der 50er und 60er Jahre hielten der Realität nicht stand. Buckminster Fuller war zwar ein genialer Architekt und ein origineller Tausendsassa, aber Bergbau auf dem Mond, Flugzeuge für 10.000 Passagiere und Wohnungen für Wissenschaftler in Weltraumkapseln lagen für eine vorhergesagte Realisierung bis zum Jahr 1980 doch ein wenig daneben. Die Prognosen eines Herman Kahn, der etwa die "Weltbombe" oder den Privathubschrauber für jedermann voraussah, waren schon früh der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch die meisten anderen trafen auch nicht besser:
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Haushaltsroboter, elektrische Hirnstimulation, Künstliche Intelligenz, Gedächtnispillen, Baby-Bezugsscheine, die Weltraumfahrt für jedermann, "Wir werden die Sahara begrünen" – "Radioaktive Strahlen machen Kirschen groß wie Äpfel" – "Riesige Glaskuppeln werden die Städte überdecken" – "Affen als Erntehelfer" – "das Kunstherz ist erst der Anfang, bald kann man ganze Körperteile austauschen". Bei allen Delphi-Studien, die bereits in der Ära der technischen Zukunfts-Euphorie regelmäßig mit großem Aufwand von Regierungen wie von Forschungseinrichtungen der Wirtschaft durchgeführt wurden, kamen die Experten zu völlig verfrühten technologischen Durchbruchsprognosen.
Besonders die Visionen vom Computer gingen großteils in die falsche Richtung. Man träumte bis weit in die 80er von gigantischen Giga-Rechnern, von "Denkgehirnen" und Expertensystemen, die ganze Regierungen ersetzen konnten. Die Vernetzung vieler kleiner Homecomputer zu einer weltweiten Gemeinde der Freaks und Hacker, die Hochzeit zwischen Subkultur und Hochtechnologie, hat selbst nach der Erfindung des berühmten Apple-Computers so gut wie niemand vorausgesehen.
Daraus läßt sich eine simple Lehre ziehen: Zukunft wird nicht von Technologie alleine erzeugt.
Doch die Fehlprognosen blieben nicht auf das Lager der Technikgläubigen beschränkt. Die düsteren Herren, die Mahner und Warner, irrten nicht weniger als ihre Widersacher, die Zukunftseuphoriker.
Das große Doomsday-Buch des Club of Rome, "Die Grenzen des Wachstums", liest sich heute ebenfalls wie ein Märchenbuch: Kaum eine Verbrauchsannahme, vom Energieverbrauch über die Rohstoffpreise bis zu den Bruttosozialprodukten, stimmt mit der heutigen Wirklichkeit überein: Die Wissenschaftler des Club of Rome rechneten einfach den Treibstoff- und Rohstoffverbrauch ihrer Zeit linear in die Zukunft hinein. Daß sich Technologien und Wirtschaft ändern, effektiver, ökologischer werden könnten, daß man neue Rohstoffvorkommen entdecken (und anders erschließen) könnte, kam ihnen nicht in den Sinn.
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Wer Zukunftseuphoriker war, malte die Zukunft rosig aus, die Paranoiker träumten vom Untergang.
Zu vergessenem Archivmaterial wurden auch andere Bilder und Projektionen der Zukunft. Erinnert sich noch jemand an die große "Alles wird gleich"-Phobie der 70er Jahre? Sie war geradezu klischeehaft deutsch, und sie trug alle Züge der Realitätsverkennung, die fast alle Prognosen hierzulande von 1970 bis 1990 auszeichnete. Damals gipfelte eine der breitesten Bürgerinitiativbewegungen in der Behauptung, alles Individuelle werde zunehmend durch staatliche Normierung und industrielle Uniformität ausradiert. Der Mensch als Nummern- und Strichcode, als genormter Clon, als stupider Massenkonsument war eine der beliebten Karikaturen. Diese grandiose Paranoia, vermischt mit allerlei Rumoren über "Neuen Faschismus" und "totale Überwachung" kulminierte im berühmten Datum 1984 mit der Volkszählung und dem "Großen Bruder": totale Kontrolle, Formierung der Gesellschaft durch den Staat. An den Schulen wurde wieder einmal Huxleys "Schöne Neue Welt" gelesen, und in den Proseminaren wurde Marcuses "Eindimensionaler Mensch" studiert.
Unsere heutige Realität entspricht ziemlich exakt dem Gegenteil dieser einfältigen Phantasie. Statt in einer genormten und von zentralen Instanzen kontrollierten Gesellschaft leben wir in einer sozialen Welt, deren individuelle Vielfalt und Chaotik uns zunehmend unheimlich wird. Statt unter dem "Großen Bruder" stöhnen wir unter Verhältnissen, in denen die Politik, die "Herrschenden", immer weniger in der Lage sind, auch nur irgend etwas zu kontrollieren. Die Gesellschaft scheint, statt sich zu formieren, eher auseinanderzubröseln. Ein unendliches Patchwork an Lebensentwürfen, Moralvorstellungen, Kleider-, Moral-, und Denk- und Lifestyle-Unordnungen erodiert unsere soziale Welt.
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Diese neue polymorphe Vielfalt, die unsere westlichen Gesellschaften befallen hat wie ein Schimmelpilz, hält natürlich keinen Paranoiker davon ab, stur auf seinem Befund zu beharren und neue Weltverschwörungen ("Turbo-Kapitalismus", "Kasino-Kapitalismus", "Kartell der Multis" etc.) zu erfinden. Aber zahllose Beispiele zeigen: zuallererst irrten meist die Zukunftsprognostiker, weil sie ein verzerrtes und eindimensionales Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit hatten. Diejenigen, die "Technik" für den Produzenten der Zukunft hielten, konnten weder mit der Jugendrevolte noch mit der weltweiten Popkultur etwas anfangen — und doch haben Jugend- und Popkultur massiv Technik- und Kulturentwicklungen beeinflußt. Diejenigen, die nur überall knappe Ressourcen erkennen konnten, mußten die vitalen Kräfte ignorieren, die darauf mit technischer und ökonomischer Erfindungskraft hätten reagieren können. Mutlosigkeit und Pessimismus wurden Teil der herrschenden Meinung. Es fehlte an Innovationswillen und Visionen. Diese "Zukunftslücke" führte in den frühen 80er Jahren zu einer neuen, einer anderen Futurologie, die sich dem Utopischen entzog und neue Wege zu gehen versuchte: die Trendforschung.
Zukunftsforscher der "ZWEITEN GENERATION"
Trendforschung verlagert den Sichtwinkel der Zukunftsprognostik. Ihr Fokus ist nicht "die Welt in 20 Jahren", sondern die vollendete Gegenwart. Sie fragt nicht so sehr nach dem Utopischen, sondern analysiert das Prozeßhafte im Heute. Sie versucht, komplexer und interdisziplinär, vielschichtiger und durchaus auch kritisch an die Zukunft heranzugehen. Ihr Interesse gilt den unbewußten Kräften, die Gesellschaften, Kulturen, Märkte formen und verändern. Ihre Grammatik bezieht sich auf Wandlung, nicht auf Erfindung.
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Während in Deutschland die düsteren alten Herren den Zukunfts-Diskurs immer mehr in die Hand nahmen, während das Wort "Angst" seinen Siegeszug bis in den angelsächsischen Sprachschatz antrat ("The German angst"), begann mit John Naisbitts "Megatrends 2000" ein neues Kapitel der Zukunftsbetrachtung. Zusammen mit Alvin Toffler, der schon 1970 mit seinem Buch "Zukunftsschock" neue Pfade gebahnt hatte, begründete er eine neue Technik der Gegenwartsanalyse. Er versuchte, auf dem sicheren Fundament lebensweltlicher Klugheit, ökonomische mit technischen, alltagskulturelle mit politischen, technikskeptische mit gesellschaftsphilosophischen Perspektiven zu verschränken. Dies führte zu weitaus realistischeren Prognoseergebnissen als sie die offizielle Futurologie hervorbrachte, wie dieses kleine Beispiel aus "Megatrends" zeigt — es stammt aus dem Jahre 1983:
Telekonferenzen, zu denen man nicht mehr das eigene Heim verlassen muß, ist ein weiterer Trend, auf den man vergeblich warten wird. Egal, wie vorteilhaft es bei rationaler Überlegung – der verstopften Straßen und des ersparten Benzins wegen — auch erscheinen mag. Gewiß, in diesem und jenem Ausnahmefall wird es die Videokonferenz wahrscheinlich geben. Aber Telekonferenzen sind einfach zu rational. Auch die Nützlichkeit eines daheim eingerichteten elektronischen Arbeitsplatzes wird sehr beschränkt sein: Menschen wollen ins Büro gehen und mit anderen Zusammensein1.
Wie viele Telekonferenzen hat man uns seitdem prophezeit! Und wie recht Naisbitt behalten hat mit seiner lapidaren humanpsychologischen Skepsis (was nicht heißt, daß es keine Anwendung für die Telekonferenz gibt – aber das steht auf einem anderen Blatt). Es begann eine neue Ära der Zukunftsbetrachtung, die sich dem Dilemma "Wilder Utopismus" versus "Schwarzmalerei" zu entziehen versuchte, die zunehmend dialektisch und komplex zu arbeiten begann. Zukunft mußte jetzt nicht mehr eindimensional, linear verlaufen, sie konnte sich — wie die Realität — "entfalten" — zu mehr Differenzierung, Vielfalt und Widersprüchlichkeit.
1) John Naisbitt, Megatrends, Seite 69
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Die neuen Parameter der Zukunft
Kultur-Recycling. Schon bei der Frage, was "neu" ist, geraten wir neuerdings ins Stocken. Haben wir nicht alles schon einmal gesehen? Die neueste Mode auf den Laufstegen der Couturiers — war das nicht schon einmal in den 60ern en vogue? Oder in den 20ern? Das Möbel dort im Schaufenster — es erinnert mich an die fünfziger Jahre. Aber ist es nicht gleichzeitig futuristisch? Aha: "Retro-Futurismus" ? Kann es Entwicklungen geben, die "utopisch" und "nostalgisch" gleichzeitig sind? Ist "Techno" nicht gleichzeitig ein Rückgriff in die naive Zukunftserwartung der 60er, aber mit dem typischen zynisch-ironischen Touch der 90er Jahre?
Recycling ist das Prinzip unserer Epoche. Aber es scheint sich längst um mehr zu handeln als die bei Zeitenwenden und Millennien übliche Nostalgie. Das Recycling der kulturellen Muster nimmt so radikale Ausmaße an, daß "das Neue" als Kategorie auszusterben droht. In der zeitgenössischen Kunstszene geht die Rede vom "Ende der Avantgarden" um. Man verliert die Übersicht: Was ist das Original? Was das Comeback? Ist dieses Comeback nicht schon wieder das Comeback des Comebacks? Die Kopie der Kopie der Kopie? Die 70er Jahre sind "schon wieder durch", jetzt werden gerade die Achtziger recycelt; wahrscheinlich kehren die Neunziger noch vor der Jahrtausendwende zurück, und wir singen alle Heino-Schlager im Rap-Rhythmus. Alles kehrt unaufhörlich wieder und dreht sich um sich selbst: die Ich-Exzentrik und die Sehnsucht nach dem Normalen, die Verherrlichung der Natur und der Futurismus, die nackte Gewalt auf den Straßen und die Sehnsucht nach subtiler Muße, die Sexwelle und die Neue Keuschheit — Scratching, sampling, recombining als zivilisatorisches Grundprinzip.
Wie weit kann man dieses kulturelle Spiel treiben? Können die Ressourcen des "Echten", des Originären, zu Ende gehen wie die Erdölreserven oder die Vorräte an Weißwein im Keller? Ist irgendwann einmal alles – jede kulturelle Ausformung, jede mögliche Kombination und damit jede Zukunft – ausgereizt? Und vor allem: Was, um Himmels willen, kommt danach?
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Das zweite Universum. Im 19. Jahrhundert gründeten Naturwissenschaftler um den Erfinder Alexander Graham Bell die "Virtual geographic league", eine Gesellschaft, die sich der Erforschung von "Parallelwelten" verschrieben hatte — damals ging man von der Existenz riesiger Höhlen im Innenraum der Erde aus oder vermutete gar sogenannte geheime "Nebenuniversen" aus Antimaterie, in die man mit Hilfe starker elektrischer Entladungen zu gelangen hoffte. Es war, wenn man so will, die Geburtsstunde dessen, was wir "Cyberspace" nennen.
Aber womöglich ist dessen Stiftungsdatum noch viel weiter zurück zu legen. Ein Zitat aus "The Pearly Gates of Cyberspace" von Margaret Wertheim zeigt den mystisch-religiösen Kern der Cyberspace-Debatte:
Die Pforten des Heils stehen heute jedem offen, der Computer und Modem sein eigen nennt. Ein Mausklick genügt, und schon betritt man jenes ätherische Reich des Cyberspace, das keine irdischen Gebrechen mehr kennt, in dem Distanzen pfeilschnell überwunden werden, Unterschiede in Rasse, Alter und Geschlecht ausgewischt und Tod besiegt sind.
Die Kirche des Mittelalters wollte auf Erden ein Abbild des Himmels liefern, die Gläubigen sollten sich direkt in das Reich Gottes versetzt fühlen. Die heutigen "Engel" sind Millionen von Cybernauten, die, ihrer Körper entledigt, in einem idealisierten immateriellen Reich surfen. Sie sind als ätherische Wesen aller physischen Begrenzung enthoben. Alle Gebrechlichkeit des Körpers bleibt beim Eintritt in den NET-Space zurück, Fettsucht, Akne, Kleinwuchs, Kurzsichtigkeit oder morsche Gelenke — was wäre das anderes als die moderne Vision des mittelalterlichen Paradieses}
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Im Unterschied zu den Visionen in den Pop-up-Menüs der mittelalterlichen Altäre hat die heutige Simulationstechnik allerdings noch eine andere Dimension: Sie wird immer mehr ökonomische und ökologische Notwendigkeit. Simulation schont die Realität. Die nachgebaute Höhle von Lascaux, die Simulationskuppel, die den hunderttausend jährlichen Besuchern des Zion-Natur-Parks in den USA die Besichtigung der empfindlichen Flora und Fauna ermöglicht, ohne sie jeweils betreten zu müssen — wer könnte gegen eine solche Realitätskopier-Maschine ernsthaft argumentieren? Angesichts von heute eineinhalb, morgen vielleicht vier Milliarden Menschen, die, erlebnishungrig und zunehmend kaufkraftstark, ihren Jahresurlaub an feinsandigen Stranden verbringen möchten, angesichts eines Wertesystems, das auf "Erlebnis" und Thrill nicht verzichten möchte, ist die Simulation einer künstlichen Südseeinselwelt unter Kuppeln in der Lüneburger Heide nicht nur ein beliebiges Element der Freizeitindustrie, sondern auf mittlere Sicht eine Überlebensnotwendigkeit für die Menschheit.
Was aber bedeutet es, wenn immer mehr Menschen immer mehr Lebenszeit in Simulationen verbringen, in avatarischen Existenzen in den Netzen, in Mittelaltersimulationen ("Ich bin Richard der Fürchterliche und bereits drei Monate on line in diesem Spiel"), in artificial environments? Was geschieht, wenn Mimikri, Rollenspiel, zweite Realität, ein technisch erzeugter Sekundärkosmos immer weitere Bereiche unserer Erfahrungen ausmachen? Wie verändert sich unsere Kultur, wenn wir tamagotchis statt realer Kinder pflegen, wenn wir, wie Kyoto date in Japan, nur noch virtuelle Filmstars bewundern? Wenn Pubertierende sich in sie verlieben?
Erste These: Wenn der Druck des Künstlichen auf die Wirklichkeit zunimmt, splittert sich Zukunft auf in unendlich viele "mögliche Zukünfte", die allesamt an Bedeutung verlieren. Denn im Kontinuum des virtuellen Raumes gibt es weder GEGENWART NOCH ZUKUNFT. Wenn "alles möglich ist", ist nichts mehr wirklich wichtig. "Zurück in die Zukunft" liest sich dann auch wie "Vorwärts in die Vergangenheit". Der kulturelle Effekt: Wir verlieren auf Dauer die Vorstellung eines Zeitstroms von heute nach morgen. Wir entwickeln eine "Kultur der Zeitlosigkeit".
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Zweite These: Die Auslagerung von weiten Teilen der Wirklichkeit in den virtuellen Raum führt über kurz oder lang zum Niedergang des technischen Fortschrittes. Virtualität verändert nämlich die Ökonomie des Wirklichen. Wozu sollen wir Milliarden und Abermilliarden dafür ausgeben, Astronauten bis zur Bewußtlosigkeit in Zentrifugen zu quälen, um sie dann auf gefährliche und langweilige Reisen zu schicken, die ganze Staatshaushalte ruinieren? Wozu auf den Mond, zu den Planeten fliegen, wenn durch Telepräsenz viel erregendere Effekte zu erreichen sind? Warum den gigantischen Aufwand für neue Waffensysteme treiben – der Krieg war immer schon der Motor der Technologie –, wenn im Cyberspace alle Bedürfnisse nach dem Eliminieren der Feinde befriedigt werden können (man denke an die weltumspannenden Abschlachtspiele, die das Internet bietet)? Warum sich mühselig den Komplikationen des fleischlichen Lebens hingeben, wenn ich alle Freuden der erotischen Welt auch als Simulationen haben kann?
Den Endzustand einer Simulationsgesellschaft hat Stanislaw Lem in seinem letzten großen Roman "Fiasko" beschrieben. Dort wird eine außerirdische Zivilisation geschildert, die genüßlich degeneriert auf ihrem Planeten dahinvegetiert. Alle Kontaktversuche, um die sich die Menschheit mit ihrem Raumschiff bemüht, scheitern. Die außerirdischen Wesen, die mit einer undeutlichen Hypertechnologie in Erdhütten leben, haben nicht das geringste Interesse an irgend etwas. Den Antrag der Erdlinge, doch endlich einmal Kontakt aufzunehmen, beantworten sie mit weniger als einem undeutlichen Achselzucken. Und begeben sich zurück in ihre Träume.
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Utopien von oben. Francis Fukuyama erregte mit seinem Buch "Das Ende der Geschichte" Aufsehen und Widerspruch. Natürlich ist die Geschichte nicht zu Ende. Aber Fukuyamas These zielte auf einen ganz anderen Sachverhalt: Das Ende der sozialen Utopien durch den Wegfall des Systemantagonismus zwischen Kommunismus und Kapitalismus verringert eine Spannung, die bis jetzt für die Dynamik der Zukunft entscheidend war.
Von "Visionen einer besseren Welt" und "Utopien eines anderen Lebens" redeten in den 60er und 70er Jahren gerne die Linken, die Revolutionäre, die Systemüberwinder. Heute hat sich die Hierarchie des utopischen Stromes auf seltsame Weise umgedreht. Rebellen, Dissidenten und Sozialrevolutionäre benutzen eher Typologien der Bewahrung, ihre Utopien gelten der Langsamkeit, dem "Konservieren" alter Verhaltensmuster ("des Menschlichen"). Im Umkehrschluß wird visionäres Vokabular plötzlich von kantigen Managern im Zweireiher benutzt. Veränderung! Umkrempelung des Bestehenden! Systemüberwindung! "Kein Stein unserer Gesellschaft wird auf dem anderen bleiben!" – das ist über Nacht ein Schlachtruf derjenigen geworden, die man früher eher als "die Herrschenden" bezeichnet hätte.
Es ist schon absurd: Heute fordert die Wirtschaft von uns allen Tugenden, die man früher als "emanzipatorisch" gepriesen hätte. Gruppenfähigkeit, Eigenverantwortung, Teamwork — jede Bügeleisenfabrik fordert heute von ihren Mitarbeitern Eigenschaften, die in den Emanzipationsseminaren der 70er Jahre als Merkmale des befreiten Menschen gefeiert wurden. Was aber bedeutet dies für die Grammatik des Wandels? Wenn nicht mehr die gesellschaftliche Dynamik von unten Veränderung erzwingt? Wenn das Publikum nicht so recht mitmachen will? Ist es Trägheit, Verfettung oder Common sense? Es wird schon nicht so heiß gegessen wie im Fritiertopf gebrutzelt ... Zukunft? Hatten wir schon. Vielleicht ein andermal.
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Das technische Nirwana. Im großen Geo-Heft Spezial "Das 21. Jahrhundert", das im Jahre 1995 an die Kioske kam, finden sich folgende "Große Visionen für das nächste Jahrhundert":
— 2010: Dr. Robot führt das Skalpell
— 2020: Die Wüste wird zum Blumenmeer
— 2030: Lavaströme befeuern Kraftwerke
— 2040: Claudia Schiffer läßt ihre Clone tanzen
— 2050: Nomaden wandern im Datennetz
— 2060: Frankfurt grüßt als Öko-Hauptstadt
— 2070: Meeresfarmer mästen Thunfische
— 2080: Gentechniker züchten Giga-Weizen
— 2090: Mondmenschen bauen Erze ab.Für alle, die in den technischen Euphorien der Sechziger aufgewachsen sind, ist dies natürlich kalter Kaffee. Abgesehen, daß "Nomaden" bereits heute munter im Datennetz herumreisen und auch die Thunfischzucht wenig Begeisterndes hat, wird hier ein abgrundtiefes Utopie-Vakuum deutlich, das die heutige Debatte um die Zukunft trotz all ihrer Aufgeregtheiten begleitet. Die Visionen leiden nicht zuletzt an technologischer Phantasielosigkeit. Trotz dem großen Geraune von Bio-, Gen- und Nanotechnik: In den meisten "utopischen" Wissenschaften stecken wir mitten in einem technologischen Zwischenfeld. Wir forschen und entdecken — aber wir sind immer noch meilenweit von den Zielvorgaben der 60er Jahre entfernt.
Der einzige, der die Emphase der technischen Entwicklungen niemals mitgemacht hat, ist ein osteuropäischer Skeptiker, der immer auf Humor, systemischem Denken und simpler Festkörperphysik beharrte. Er schrieb schon 1963:
"Was die Biologie angeht, so war ich ein Optimist in bezug auf die genetische Ingenieurskunst und ein Pessimist in bezug auf die Liquidierung von Geschwulstneubildungen ... Will der Mensch eines Tages die Geschwulstneubildungen beseitigen, so wird dies eine der spätesten, weil schwierigsten Aufgaben der Ingenieurskunst sein."
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Was der Grandseigneur einer ganzheitlichen Zukunftskunde – Stanislaw Lem ist Physiker, Mediziner, Philosoph, Kybernetiker, Satiriker, Gesellschaftswissenschaftler – hier lapidar und stoisch formuliert, ist nichts anderes als komplexes Strukturwissen, gemischt mit gesunder osteuropäischer Skepsis. Trotz der Milliarden, die in die Forschung gesteckt wurden, sind Geißeln der Menschheit wie Krebs oder Aids nach wie vor unbesiegt. Obwohl jeden Monat im Focus (inzwischen auch im SPIEGEL) eine Titelgeschichte über die Unsterblichkeit / die neuen Glücksdrogen / sensationelle Mikrocomputer mit ungeahnten Fähigkeiten / atemberaubende winzige Maschinen im Format eines Stecknadelkopfes erscheint, bleibt all das seltsam fad und gleichgültig. Man glaubt es vielleicht – aber es lockt niemanden hinter dem Ofen hervor.
Wer heute mit klugen Wissenschaftlern redet, der bekommt ein differenziertes Bild über den Fortschritt und seine Gesetze: Erkenntnisse, die zu wichtigen Anwendungstechnologien führen, entwickeln sich offensichtlich nach den Gesetzen springender Komplexität. Nach einer schnellen, erfolgreichen Phase von Forschungsdurchbrüchen wird jeder weitere Schritt mühselig und zäh. Je näher man an den "Kern des Rätsels" herankommt, desto steiniger wird der Weg. Manchmal muß man, wie bei der Dampfmaschine oder der Elektrizität, fünfzig, hundert, zweihundert Jahre Grundlagen erforschen, bis ein anwendbarer Durchbruch gelingt.
Man könnte sogar noch weitergehen. Der amerikanische Wissenschaftsskeptiker John Horgan2) behauptet: Unsere wissenschaftlichen "Geheimnisse" sind in Wirklichkeit gar keine mehr. Den Bau der Atome haben die Physiker in den 20er Jahren entschlüsselt — jetzt füttern sie mit den Millionen für Teilchenbeschleuniger nur ihre Lobby. Wie Gene aussehen und funktionieren, ist im Grunde seit den 50er Jahren bekannt. Selbst das Universum und seine Gesetzmäßigkeiten sind im Grunde "durchschaut".
2) John Horgan, "The End of Science". Addison Wesley, New York
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Man kann dieses Modell auf praktisch alle Wissenschaftszweige übersetzen. Die Gentechnik ist ein weiteres Beispiel. Lems Klugheit bezog sich auf den simplen Sachverhalt, daß die Analyse und "Zerlegung" des menschlichen Genoms ein Kinderspiel ist im Vergleich zum Manipulieren, Einschleusen und Handhaben von Gen-Information im Nanobereich, wie wir es für echte Heilungserfolge benötigen würden. Natürlich kann man, unter Ausnutzung der genetischen Naturgesetze und per "Schrotschußtechnologie", eine "Tomoffel" oder ein "Mausschwein" züchten, weil man dabei die Basis-Mechanismen der Natur selbst benutzt. Aber etwas völlig anderes ist es, eine, Hunderte, Millionen von kranken Zellen zu heilen, zu manipulieren, auszubessern. Das könnte uns Hunderte, nein Tausende von Jahren technischer Entwicklung kosten. Erst dann aber begänne eine Technologie, die man ernsthaft "Gentechnik" nennen könnte.
Ähnliche "asymptotische Grenzen" finden sich heute überall in den Grenzwissenschaften — bei den Computertechnologen, den Atomphysikern, den Medizinern, den Materialforschern. Immer größere Geldmittel schaffen einen immer kleineren Erkenntnisfortschritt. Der Teilchenbeschleuniger für eine Milliarde Mark bringt die Teilchenforschung einen Millimeter voran. Riesige Programme zur Erforschung des Immunsystems bringen als Ergebnis nur neue Rätsel hervor.
Wäre es also möglich - ich frage ja nur -, daß unsere momentane Innovationseuphorie einzig und allein zwei Faktoren geschuldet ist: Dem Durst der Medien nach Sensationen (ein Durst, der um so stärker werden dürfte, je näher das magische Datum 2000 rückt) und dem natürlichen Bestreben der Wissenschaftler und Firmenstrategen, ihre Pfründen und Forschungsgelder zu wahren?
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Natürlich ist es nach wie vor möglich, an den nächsten technischen Megadurchbruch zu glauben, etwa an die Entdeckung und Nutzung der "Schwerkraftenergie" (kaum eine Science-fiction-Serie, in der nicht mit diesem ganz speziellen Saft operiert worden wäre). Aber eine andere Diagnose ist wahrscheinlicher: Wir leben nicht in einer Zeit neuer großer Erfindungen, sondern in einer technologischen Zwischenzeit. Anders als in den 50er und 60er Jahren (oder um die Jahrhundertwende, als das Fliegen und das Auto erfunden wurden) geht es heute nicht um spektakuläre Durchbrüche, sondern um mühsame Grundlagenforschung. Der nächste technologische Schub, der tatsächlich handhabbare Gen- und Biotechnologien, Weltraumfahrt für Touristen, künstliche Intelligenz und eine erhebliche Verlängerung der Lebensspanne bringen wird, liegt wahrscheinlich noch fünfzig Jahre vor uns. Für ihn zahlen wir heute teures Lehrgeld.
Die spannendsten Erfolge der Medizin finden heute in der Plazeboforschung statt. Gegen den Schnupfen, so hat ein amerikanisches Wissenschaftlerteam für einen Etat von 40 Millionen Dollar herausgefunden, hilft nur eine einzige Medizin: Hühnersuppe.
Future Light
Auch an den Märkten selbst können wir dieses Stocken des technischen Zukunftsprozesses ablesen. Allen professionellen Marketingstrategen zum Trotz haben sich auf den Massenmärkten in den letzten Jahren nur wenige wirklich neue technische Artefakte durchgesetzt. Nach dem Walkman, dem Fax und der CD-ROM begann das Große Scheitern an der Front der Digitalität. Keine "Interaktive Technologie", mit Ausnahme des Internet, ist bislang über Marktnischen hinausgelangt. Beim interaktiven Fernsehen wird auf absehbare Zeit eine Menge Geld versenkt und sehr wenig verdient werden. Viele Innovationen werden sang- und klanglos wieder in den Forschungsabteilungen versenkt. CD-I, Foto-Disk, DAT-Leichen pflastern den Weg der Unterhaltungsindustrie.
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Es sind Varianten bekannter Technologien, die heute wie morgen unsere Märkte prägen werden: Automobile, die wir schon vor 30 Jahren bauen konnten (Cabrios, Vans), die wir jetzt aber in Energieverbrauch, Komfort und Design optimieren, ebenso wie Öko- und Sparwaschmaschinen und leisere Flugzeuge, die immer noch so aussehen, wie Flugzeuge und Waschmaschinen eben aussehen. Die wirklichen Revolutionen spielen sich nicht so sehr in den Technologien ab, sondern in den Produktionsweisen. Nie war die Vision eines freien, schrankenlosen Welthandels so nahe an der Wirklichkeit wie heute. Rationalisierung und Automatisierung der materiellen Produktion nehmen überall in rasantem Tempo zu. Dies führt zur ständigen Verbilligung von Gebrauchs- wie Luxusgütern. Und alle können sich etwas davon leisten: auch die Bewohner der Urwälder, Savannen, Gebirge und Inseln hinter dem Wind.
Der Schmetterlingseffekt
Ist es verfrüht, vom "Ende der Utopien" zu sprechen? Nähern wir uns noch einmal im Rückblick. Denken wir an eine der klassischen Fehlprognosen der 60er Jahre. Wie stand es immer so schön in den Bibeln unserer Pubertät wie dem "Neuen Universum", einem Jahresband, in dem uns Jugendlichen jedes Jahr zu Weihnachten die Zukunft in vielen Aufrissen, spannenden Geschichten und phantasiebeflügelnden Illustrationen vorgeführt wurde:
Wettervorhersage bald präzise über zwei Jahre! Computer machen es möglich!
Warum es niemals möglich sein wird, das Wetter über zwei Jahre vorauszusagen, hat nicht das geringste mit Technik zu tun. Beim deutschen Wetterdienst in Offenbach werkeln längst Cray-Computer der allerschnellsten Bauart — aber mehr als drei, vier, fünf Tage Wetterprognose ist nach wie vor nicht möglich. Man kann die Meßdichte der Wetterstationen erhöhen. Man kann Daten präziser messen. Aber wo es morgen konkret regnen wird, finden die Meterologen nicht heraus. Nicht, weil die Computer immer noch zu klein sind. Sondern weil die Gesetze, die es regnen lassen, sich der "Ausrechenbarkeit" entziehen.
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Wie ein kluger Meterologe es formulierte: Ein System, das das Wetter langfristig voraussagen kann, müßte mindestens ein Molekül größer sein als das Universum. Die Chaos- und die Komplexitätstheorie haben uns ein neues Verständnis dessen, was "Wetter" überhaupt ist, ermöglicht: Ein komplexer Prozeß, der in seinem Wesen nichtlinear vonstatten geht. Das ist mit dem — oft mißverstandenen — Zitat gemeint, daß "ein Flügelschlag eines Schmetterlings über dem Pazifik einen Wirbelsturm im Atlantik" erzeugen kann: Das "System Wetter" ist zwar in seinen Gesetzmäßigkeiten beschreibbar, aber in seinen Resultaten nicht antizipierbar.
"Man kann keine langfristigen meteorologischen Voraussagen zustande bringen, weil die Bewegungen der Luftmassen zum Teil chaotische Turbulenzen sind, deren Zukunft in demselben Sinne nicht determinierbar ist wie der Ausgang einer Reihe von Bridgespielen", schrieb Stanislaw Lem vor vielen Jahren hellsichtig. Warum sollte, was schon für das Wetter gilt, nicht um so mehr für die Entwicklung von Zivilisationen, Technologien, Menschenbildern gelten? Ist die menschliche Sphäre nicht noch um ein ungleiches komplexer, ungeheuerlicher als so etwas — im Vergleich — "Schlichtes" wie das Wetter?
De-Futurisierung
In der Trendforschung diagnostizieren wir seit Jahren einen bezeichnenden Prozeß. Man könnte das Phänomen, um das es geht, als "Gesteigerte Trend-Dialektik" bezeichnen.
Jeder "Trend" — jede Veränderungsströmung — erzeugt einen Gegenreflex. Das ist an sich nichts Neues. Je mehr Globalisierung — desto mehr Heimatverbundenheit wünschen sich die Menschen. Je mehr Virtualisierung — je mehr Umgang mit Computern, simulierte Erlebnisse, Medienüberflutung —, desto wichtiger Kategorien wie "Ehrlichkeit", "Authentizität". Je größer die Diversifizierung von Waren, desto mehr Bedürfnisse nach einem ganz simplen Produkt. Je mehr das Gefühl von Geschwindigkeit überhandnimmt, je mehr wir das Gefühl von Streß und Überdruß erleben, desto mehr wird Langsamkeit, Lessness, Zeitautonomie, zum neuen Bedürfnis.
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Zwar gab es immer schon "rückwärtsgewandte" Bewegungen — Resistenzen gegen den Fortschritt, Eigensinn, Beharrungsvermögen, Konservativismus, Regression. Es spricht aber viel dafür, daß in unserer entwickelten Individualgesellschaft die Spannweite und Spannung dieser Trend-Gegentrend-Mechanik zunimmt. Die modernen Retrotrends scheinen auf eine unmittelbarere Art mit den Ursprungs-Phänomenen verhakt zu sein, ja mit ihnen eins zu weiden. Die Strömungen, die aus der Gegenwart Zukunft formen, bilden eine Art Schleifenstruktur wie beim berühmten Pilot Pirx, Lems Protagonisten, der sich immer mehr zeitlich versetzten Kopien von sich selbst gegenübersieht, oder wie bei den unzähligen "Zurück-in-die-Zukunft"-Filmen, in denen sich immer verzwicktere Paradoxien ergeben: Je mehr - desto.
Ist es ein Zufall, daß sowohl John Naisbitt als auch Charles Handy in ihren letzten Büchern das Paradox zum zentralen Thema ihrer Betrachtung machen? Könnte es sein, daß nicht nur die Futurologie, sondern auch die Zukunft selbst ihre Gestalt ändert? Daß wir es nicht nur mit anderen Utopien, sondern auch mit einer anderen Grammatik der Zukunft zu tun haben; einer Zukunft, die ihre lineare Gestalt zunehmend verliert, weil die Gesellschaft vielgestaltiger, widersprüchlicher, eben komplexer wird? Könnte die Zukunft, um es plastisch auszudrücken, statt immer "geradeaus nach vorne" zu laufen irgendwann anfangen, im Kreis herumzugehend
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Einige Grundregeln für eine komplexe Futurologie
(1) Die Entwicklung der Gesellschaft verläuft nicht in Sprüngen oder Brüchen, sondern in Entfaltungen. Gesellschaftliche Evolution ist zunächst steigende Komplexität: Mehr Gleichzeitigkeit, mehr Widersprüchlichkeit, "je mehr desto" als zentrales Wirkprinzip.
(2) Prognosen können nicht numerisch oder linear gegeben werden, sondern nur als szenarische Überlegungen mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten.
(3) Technologische Entwicklungen sind Teil von Kultursystemen. "Erfindungen" allein machen noch keine Technologie. Angewandte Technik entwickelt sich im Spannungsfeld zivilisatorischer Wünsche, individueller Bedürfnisse und technischer Möglichkeiten.
(4) Retro-Futurismus: Wir müssen uns mit "kreisförmigen" Zukünften auseinandersetzen, in der das Vergangene zukünftig ist und das Zukünftige "von gestern".Die kreisförmige Zukunft
Die amerikanische Popkünstlerin Laurie Andersen raunt auf vielen ihrer Konzerte eine eindringliche Frage ins Publikum: Is the future long – or is it wide?
Eine scheinbar völlig bescheuerte Frage. Und doch verbirgt sich in ihr der Schlüssel zu unserem Zukunftsverständnis — und zu unserer Gegenwart. Es ist noch nicht lange her, da war die Zukunft eindeutig lang — eine unendliche Kette von logisch aufeinander aufbauenden technischen Erfindungen, Kausalitäten, Ereignissen, die schnurstracks in eine verheißungsvolle Zukunft führten, in der irgendwann alles möglich weiden würde. Zukunft bedeutete zuallererst: Naturüberwindung, Kontrolle, Emanzipation von der Natur. Daß die utopischen Landschaften meist menschenleer, maschinell geprägt, hygienisch waren, hatte mit dieser Linearität zu tun. Linearität muß ausgrenzen. Sie benötigt geplante Ordnung und störungsfreie Abläufe als zentrales Prinzip. Sie muß Turbulenzen unterdrücken.
Genau diese Linearität, dieser Zeitstrom, beginnt sich an der Schwelle des 3. Jahrtausends aufzulösen — Virtualisierung und gesteigerte gesellschaftliche Komplexität erzeugen ein anderes Kontinuum. Die Evolution unserer Zivilisation funktioniert nicht als geometrische Gerade, sondern als spiralige Bewegung oder besser noch, als Auffächerung. Aus den modernen Wissenschaften kennen wir den (oft mißverstandenen) Begriff des Fraktalen. In dieses Bild kann man es fassen: Unsere Zukunft hat sich fraktalisiert. Die Ungleichzeitigkeit siegt über die Geradlinigkeit, die Turbulenz über die lineare Dynamik. Die Turbulenz ist nicht mehr Störung, sondern Wesen des Zukunftsprozesses.
Dennoch: Es wird sie wohl auch in Zukunft immer wieder geben, jene letztlich phantasiearmen futuristischen Bilder mit den Kolonien auf anderen Planeten, freundlichen Robotern und schrecklichen Waffen. Die "Visionen" werden nicht aussterben, die uns den "polysensuellen" oder den "cybernautischen" Menschen prophezeien. Aber lockt das noch einen Hund hinter dem Ofen hervor? Und vor allem: Bringt es uns weiter? Die Wirklichkeit jedenfalls wird viel eher einem planetarischen Schlampenhaushalt ähneln. Wir werden eine ^ Gesellschaft erleben, die sowohl hypertechnologisch als auch "alt" aussieht, in dem Neo-Feudalismus ebenso wie Hyper-Individualität existieren wird, in der Steinzeit und Megatechnik sich durchdringen.
Zukunft ist keine Frage der Voraussage objektiver Entwicklungen mehr. Es geht nicht mehr um Überwindungen der Grenzen. Auch, wenn es einen alten Science-fiction-Freak (und alle, die in den 60ern großgeworden sind, sind es im Herzen ihrer Seele) schmerzen mag: Es ist nicht mehr so wichtig, ob wir Kolonien auf dem Mond bauen oder optische Speicherplatten entwickeln oder das Genom kartographieren. Die Gestalt der Zukunft entscheidet sich an ganz anderen Fronten.
Zum Beispiel in unserem Denken, unserer mentalen Ausstattung, unseren moralischen Haltungen. Denn die "fraktale Zukunft" hat sehr viel mit der Entwicklung unseres Bewußtsein zu tun.
Sind wir in der Lage "nichtlinear" zu denken? Können wir die neue Komplexität unserer Welt in unserem Bewußtsein überhaupt abbilden? Können wir "multilokal" und "fraktal" und "komplex" denken? Sind wir in der Lage, Strukturen des "Sowohl-Als-auch" in unserem Bewußtsein zu akzeptieren?
Erst dann könnten wir von uns behaupten, die Zukunft zu sehen.
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