Wenedikt Jerofejew 

Die Reise nach Petuschki

Moskau—Petuschki

Ein Trinker-Poem  

 

 

1969: geschrieben für den Samisdat

1973: in Israel erschienen 

1978: in Deutschland, Üb: Natascha Spitz

 

Wikipedia Autor 
1938-1990 (52, Kekokr) 

Wikipedia.Buch 

DNB.Buch   Bing.Buch   Goog.Buch


detopiaPsychobuch    Kommbuch 

Sterbejahr   Sterbejahr-K    J.htm 


J.Malzew    W.Wyssozki 

F.Kafka   M.Gorbatschow 

 

Petuschki: 100 km westlich von Moskau
Fahrtdauer: 2 Stunden

 

Wenedikt Jerofejew :  Die Reise nach Petuschki   ( 1973 )   Moskau - Petuschki  -

"Alles auf der Welt muss verkehrt rum laufen...    Audio

Alles auf der Welt muss langsam und verkehrt laufen, 
damit der Mensch nicht hochmütig werde, 
damit der Mensch traurig sei, und verwirrt. 
 

Oder: 

Alles, was es überhaupt gibt, soll langsam und verkehrt ablaufen, 
damit der Mensch keinen Grund zum Stolz hat, damit er traurig und verloren sei.   

Video bei Google/youtube  Nasdorowje!        google  wodka+treibstoff+russischen+seele  Ein Film von Anja Bröker 1993  

 

 

Wikipedia  Alkohol in Sowjetunion 1985-1991 

 

Dieser Roman ist ein singuläres Meisterwerk - und es ist zweifellos ein hochprozentiger Text der Weltliteratur. Seit 1978 hat sich die absurde Schilderung einer Sauftour, die innerhalb der russischen Literatur ihresgleichen sucht, vom Geheimtip zum Dauerseller gewandelt. 

Nasdorowje: Der Wodka — Treibstoff der russischen Seele 
NDR, 2003  

Wodka ist der ständige Begleiter des russischen Alltags. Trotz zeitweiligen Verbots sind die Russen dem Wodka seit fünf Jahrhunderten verfallen. Er ist Teil der russischen Seele geworden. Wie die Russen feiern, welche Trinksprüche sie mögen und wie viel Wodka ein russischer Mann trinken kann, zeigt die ARD- Korrespondentin Anja Bröker bei einer russischen Hochzeit und auf der Fahrt von Moskau nach Petuschki mit der Elektritschka, der Vorortbahn. Auf dieser Strecke spielt auch ein berühmter Trinkerroman, der eine Fahrt ins Delirium beschreibt.

Die vielfältigen russischen Entziehungsmethoden sind genauso konsequent wie der Wodka-Konsum. So gab es in den 30er Jahren Massen­hypnosen in sowjetischen Betriebskantinen. Heute dagegen ist eine moderne Form, die Kodierung, populär. Im Trancezustand wird den Patienten dabei mit schlimmsten körperlichen Folgen gedroht. 

Pater Wladimir, Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche, erklärt dagegen, dass nur Ikonenheiler durch Gebete erfolgreich gegen den Alkoholismus vorgehen könnten. Parallel dazu haben die Betroffenen die Möglichkeit, sich Pillen unter die Haut nähen zu lassen, die sich mit Alkohol nicht vertragen, und so einen Herzinfarkt oder eine Hirnblutung auslösen können - der körperliche Zusammenbruch also als Abschreckung. Eine Alternative des Alkoholentzugs bleibt: Die "Von-Hundert-auf-Null-Methode", also der Gang in eine russische Entzugsklinik.  #

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Malzew-1981, Samisdat: S.74-77 

 

Einen beachtlichen Erfolg, den sie ihrer außergewöhnlichen Form verdankt, hatte in Rußland die im Samisdat zirkulierende Erzählung <Moskwa — Petuschki> von Wenedikt Jerofejew. Es ist ein sehr interessanter Versuch surrealistischer Prosa, wobei das Verfahren der überraschenden Verzerrung der Realität, der Verschiebung der Proportionen, völlig realistisch begründet wird:

Es sind nämlich die Wahrnehmungen eines Betrunkenen, seine Halluzinationen und Gespenster — was doppelt realistisch für das heutige Rußland ist, wo der Alkoholismus zu einer wahren Geißel der Gesell­schaft geworden ist und bereits die Ausmaße einer nationalen Katastrophe annimmt. Man kann heute fast schon von einem eigenen Genre der »Alkoholprosa« in der illegalen Literatur sprechen.

Dazu gehört zum Beispiel auch die groß angelegte, anonym erschienene Erzählung »Nikto. Dissangelije ot Marii Dementnoj« (Niemand. Das Dysangelium der Maria Demens).

Hier finden wir die gleiche surrealistische Atmosphäre, das umnebelte Chaos des betrunkenen Bewußtseins mit Gedächtnislücken, die durch weiße Stellen im Text dargestellt sind. Der Autor experimentiert mit unterschiedlichen Verfahren: Überblendungen und plötzlicher Einstellungswechsel wie im Film, delirierende Monologe, betrunkener »Bewußtseinsstrom«, Groteske (Grigorij Brandow, der als »Applaudierer« bei wichtigen Versammlungen tätig ist und die Höhere Claqueurschule besucht) usw. Allerdings bleibt das alles auf der Ebene des Experimentierens und Probierens stehen, ist zwar interessant, aber eben nicht mehr; dem Autor ist es noch nicht gelungen, sich einen organischen Stil zu erarbeiten, der durch den Inhalt bestimmt wäre und diesen zugleich bloßlegte.

Das ernste Thema des Buchs: das furchtbare Schicksal eines sowjetischen Intelligenzlers, der sich weigert, weiter zu lügen, seine Arbeit verliert und seiner Existenz beraubt wird und unter Säufern und Prostituierten in den lichtlosen Kellern des Tagankaviertels zugrunde geht — bleibt auf diese Weise ohne überzeugende Gestaltung und wird zum bloßen Vorwand für eine amüsante Phantasmagorie und für formalistische Experimente genommen.

Doch kehren wir zurück zu Jerofejews Erzählung »Moskwa — Petuschki« und zu seinem Helden.

Der fährt mit dem Zug von Moskau nach Petuschki zu seiner Geliebten, genauer gesagt: Er ist bereits am Morgen nach Petuschki gefahren, versehen mit einem Köfferchen voll Spirituosen, und jetzt sehen wir ihn schon wieder auf der Rückfahrt von Petuschki nach Moskau; draußen dämmert der Abend und nicht der Morgen, wie der benebelte Held glaubt, und er fährt und fährt immer weiter. Die einzelnen Kapitel der Erzählung sind die Strecken zwischen den Stationen.

Die Reflexionen und Rückblicke des Helden vermengen sich mit kleinen Szenen im Zug; der Held versucht, mit Mitreisenden Kontakt zu bekommen, wieder in die Realität hineinzufinden, die sich seinem umnebelten Bewußtsein als absonderlich gebrochen darstellt. Je weiter die Trunkenheit des Helden fortschreitet, desto dichter werden die surrealistischen Bilder.

Jerofejew besitzt einen außergewöhnlichen Humor, der fast nie (mit seltenen Ausnahmen) sich über den anderen lustig macht, sondern eine vornehme Zurückhaltung bewahrt.

Sein »Alkohol-Epos« (Jerofejew selbst nennt seine Erzählung ein Poem) spiegelt nicht nur die traurige Lebenswirklichkeit der heutigen sowjetischen Gesellschaft — wir finden hier eine ganze Philosophie, ein einleuchtendes System von Bildern und sogar eine ironische Apologie des Alkoholismus:

»Oh, wenn die ganze Welt, wenn jeder Mensch so fein still und bescheiden wäre wie ich jetzt und ebenso wenig wie ich irgendeiner Sache sicher: weder seiner selbst noch der Zuverlässigkeit seines Platzes unter der Sonne — wie schön wäre das! Keine Enthusiasmen, keine Heldentaten, keine Besessenheit — nur Zagheit ringsumher. Ich würde mit Freuden eine ganze Ewigkeit auf dieser Erde zubringen, wenn man mir zuvor ein Eckchen zeigt, wo keine Heldentaten vollbracht werden.«

Trinken, das bedeutet der Lüge des regierungsamtlichen Optimismus den Rücken kehren, bedeutet die Abkehr von den tagaus, tagein wiederholten Aufrufen zu neuen Heldenopfern und Stoß- und Großtaten im Namen »der lichten Zukunft — des Kommunismus«; heißt die Absage an die beschränkten und fanatischen Sowjetideologen, die sich allwissend und unfehlbar dünken. Ja, der Rausch ist gleichsam der Weg zur inneren Vervollkommnung, zur Demut und Selbstbescheidung, zur Weltentrücktheit, fast zur Heiligkeit.

»Schon nach zwei Gläsern des Cocktails <Hundemagen> wird der Mensch so durchgeistigt, daß du dich vor ihn hinstellen und ihm eine volle halbe Stunde lang aus anderthalb Metern Entfernung in die Fresse spucken kannst, und er sagt keinen Ton.«

Das Verlangen, sich zu betrinken, kommt aus einem bestimmten Wunsch heraus: 

»Alles, was es überhaupt gibt, soll langsam und verkehrt ablaufen,  
damit der Mensch keinen Grund zum Stolz hat, damit er traurig und verloren sei.«  

Die Trunkenheit gebiert ihrerseits eine kongeniale Existenzphilosophie: 

»Wenn wir schon mal auf der Welt sind, müssen wir wohl oder übel ein Weilchen leben.« 

Hinter der Komik und der Ironie verbirgt sich bittere Wahrheit und tiefer Ernst.

Wenn hier alle Probleme des Lebens im Medium der »weißen Magie« (wie Sinjawskij den russischen Wodka genannt hat) gebrochen erscheinen, ist das nicht einfach nur ein formaler Kunstgriff, sondern ein Weg der Verweigerung, der Flucht, des Protests und selbst der Kritik (interessant ist die Parodie auf die bolschewistische Revolution, die uns in dieser Form geboten wird).

Jerofejew kommt aus dem Volke, er hat selbst auf einer solchen Kabelmontage gearbeitet, wie er sie in seiner Erzählung schildert. Er besitzt ein tiefes Gespür dafür, wie heute die einfachen russischen Arbeiter denken und fühlen, und eine gründliche Kenntnis ihres Alltags, ihrer Sprache und Psychologie.

Bei Jerofejew finden wir die lebendige heutige Umgangssprache, nicht als exotische Dialogbeigabe zur Sprache des Erzählers, sondern als organisches eigenes Ausdrucksmittel, womit Jerofejew unstreitig einen bedeutenden Beitrag zur modernen russischen Literatur geleistet hat.

In seiner Nachfolge sahen viele andere Samisdat-Autoren in der sprachlichen Neuerung oder vielmehr in einem »sprachlichen Realismus« oder gar »sprachlichen Naturalismus« die angemessene Methode, die neue Atmosphäre des heutigen sowjetischen Lebens und seiner Psychologie darzustellen.  #

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Klang der Gosse    Wenedikt Jerofejew — Aufzeichnungen eines Psychopathen  

2004    dlf    Von Joachim Büthe 

Außer der Reise nach Petuschki, dem alkoholhaltigsten Buch der Weltliteratur — selbst Malcolm Lowry kann da nicht mithalten —, ist bisher kein Buch von Wenedikt Jerofejew auf Deutsch erschienen. Kein Wunder, denn es gibt auch im Original nicht viele Veröffentlichungen. Das liegt natürlich auch an der unsteten Lebensweise des bekennenden Trinkers Jerofejew und selbstverständlich liegt es daran, dass eine solche Literatur in der Sowjetunion keine Chance hatte.

Jerofejew, der sich mit dem ihm eigenen Trotz und Witz immer als sowjetischen Schriftsteller bezeichnet hat, ist bald nach deren Ableben ebenfalls verschieden. Fast könnte man meinen, er habe sich diese Pointe bis zum Schluss aufgehoben, um noch einmal zu unterstreichen, was sein Schreiben ausmacht. Bei ihm weiß man nie, wo der Witz aufhört und die Tragik beginnt und ob man denn beides überhaupt unterscheiden kann.

Die Reise nach Petuschki war die ebenso furchtbare wie tränentreibend komische Reise im Kopf eines Trinkers. Mit den nun vorliegenden Aufzeichnungen eines Psychopathen kann man nachvollziehen, wann und wo diese Reise begonnen hat. Sie sind kein Tagebuch, die Verschmelzung zwischen realen und fiktiven Personen, die man aus der Reise nach Petuschki kennt, ist bereits vorhanden. Sie sind vielmehr die Selbsterfindung eines jungen Mannes als Autor.

Gleich zu Beginn kommt es zu einem fiktiven Dichterwettbewerb, bei dem Jerofejew die Konkurrenz fulminant aus dem Feld schlägt. Diesen Mangel an Demut wird man ihm nachsehen können. Er ist gerade 18 Jahre alt und schon jetzt ein außergewöhnlicher Autor:

Ich bin Optimist! Ich neige zu der Annahme, dass alles, was mir nicht gefällt, ein Komplex meiner launischen Empfindungen ist! Ich begrüße begeistert jedwede Abweichung vom normal Menschlichen! Aber ich kann nicht verstehen, warum die Erhöhung vorgezogen wird, wenn oben und unten gleichgeartete Abweichungen vom allgemeinmenschlichen Niveau sind! Überdies ist Erhöhung zeitweilig! Unten zu sein ist nach dem Zeugnis der physikalischen Gesetze bedeutend dauerhafter!

Zu diesem Zeitpunkt wird der begabte Student Jerofejew gerade von der Universität relegiert. Sein Vater, auch er ein starker Trinker, verstirbt nach langjähriger Lagerhaft. Sein Bruder wird ebenfalls inhaftiert und kommt wenig später um. Es gibt in den Aufzeichnungen traumhafte Begräbnisszenen, in den sich Jerofejew seine eigene Beerdigung bei vollem Bewusstsein imaginiert. Auch Suizidgedanken kommen vor. Sie sind jedoch nicht dominant. Jerofejew zieht es vor, gegen diese Realität anzutrinken und anzuschreiben. Das ist seine Form des Widerstands.

Triiinken!
Triiiiinken!
Triiinken, ihr verdammten Urschlöcher !

Jerofejews Aufzeichnungen sind fragmentarisch. Sie kombinieren Erinnerungen und Träume mit gedachten oder vielleicht auch wirklichen Aussagen über seine Person. Sie nutzen das Material der alltäglichen Gespräche und der sich häufenden Vorladungen zu aberwitzigen Dialogen, die den Bereich der Satire mehr als nur streifen. Das ist Jerofejews Rache, seine Genugtuung auf dem Papier. Grundiert sind diese, für einen Achtzehnjährigen erstaunlichen, Kabinettstücke mit einer tiefen Verzweiflung und dem drastischen Vokabular der Gosse, dem vertrauten Terrain des Trinkers. Jerofejew hat den Platz, den seine Gesellschaft für ihn vorgesehen hat, angenommen. Er hat das kurze Glück und das lange Elend des Rausches zu seinem Thema gemacht. Und, das ist nicht die geringste seiner Leistungen, er hat diesen Platz mit Würde ausgestattet.

Und fürchte dich nicht vor dem Gefängnis ... Das Wichtigste - fürchte dich nicht vor dem Gefängnis ... Das Gefängnis macht einen zum Tier ... Und das ist gut. Die Banditen sind grob und gefühllos, aber sie verhehlen es nicht ... sind aufrichtig ... Eure Leute von der Universität sind genauso, versuchen aber, sich sentimental zu geben ... Klug sind nur wenige, aber sie stellen sich so... Fühlen muss man klug, nicht mit dem Kopf, aber klug ...  

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 "Das hier sind seine Manuskripte. Er hat nie an irgendeinem Schreibtisch geschrieben, sondern immer da, wo er gerade war. Er lebte wie ein Vagabund, von Bank zu Bank, von einem Straßengraben in den nächsten, von Bahnhof zu Bahnhof. Und währenddessen hat er geschrieben. Diese kleinen Notizbücher hier - das war sein Innerstes. Alles, was er gesehen, gelesen oder gedacht hat, hat er hier aufgeschrieben."

Die Edition seiner Notiz- und Tagebücher bereitet, schon aufgrund der bloßen Menge (circa 2.500 Seiten transkribierten Materials), selbst in Russland "immense" Probleme. Und Übersetzungen in andere Sprachen dürften ähnlich schwierig zu platzieren sein, weiß man doch über den Autor, zumindest hierzulande, so gut wie nichts. Selbst seinem deutschen Verlag, der 1978 den Roman "Die Reise nach Petuschki" in der hinreißenden Übersetzung von Natascha Spitz vorlegte, war er noch unbekannt: "Wenedikt Jerofejew ist möglicherweise tatsächlich der Name dieses sowjetischen Schriftstellers, von dem es heißt, er sei 1939 in Wladimir geboren und habe lange in Moskau gelebt."

Mittlerweile ist bekannt, dass Wenedikt Jerofejew am 24. Oktober 1938 in Cupa in Karelien (ASSR) nördlich des Polarkreises geboren wurde, bereits als 16-Jähriger und mit Auszeichnung die Hochschulreife erwarb und sich im Juli 1955 an der Moskauer Lomonossow-Universität immatrikulierte. Er studierte Philosophie und belegte Deutschkurse, und aus seinem schmalen Werk ist sogar eine Vorliebe für deutsche Dichtung und Philosophie erkennbar - Jerofejew las Kant und kannte Goethe, Schiller und Heinrich Mann. Doch schon im Dezember 1956, nach Ablauf des zweiten Semesters, musste der intellektuelle Überflieger die Universität wieder verlassen - er war durch schwere Alkoholexzesse aufgefallen und hatte sich geweigert, an der obligatorischen Militärausbildung teilzunehmen.

Die "Aufzeichnungen eines Psychopathen" stammen aus dieser für Jerofejew schicksalhaften Zeit. Sie sind sein Tagebuch - oder sind es auch nicht - und dokumentieren den Beginn seines steilen sozialen Abstiegs, der sich nach seiner Relegation von der Universität unaufhaltsam fortsetzte. Die "Aufzeichnungen" umfassen in fünf Kapiteln den Zeitraum vom 14. Oktober 1956 bis zum 14. November 1957 ("Aufzeichnungen eines Geisteskranken I", "Fortsetzung der Aufzeichnungen eines Geisteskranken II", "Noch eine Fortsetzung. Einen Schluß wird es nicht geben III", "Aufzeichnungen eines Geisteskranken IV" und "Aufzeichnungen eines Psychopathen V") und bilden ein Tagebuchtableau, das Jerofejew, ähnlich vielleicht wie Kafka, als literarisches Experimentierfeld nutzte. 

Unter den Tageseinträgen nämlich finden sich nicht wenige Texte, die formal vom traditionellen Diarium abweichen und etwa als Mischform aus Führungszeugnis und Augenzeugenbericht ("Wie aus zuverlässigen Quellen bekannt wird") oder als Proklamation persönlicher Überzeugungen auftreten. Die meisten Einträge sind überdies szenisch bzw. dialogisch angelegt und lassen mehrere Figuren in performativer Sprechsituation auftreten.

Eindrucksvoll liest sich beispielsweise Jerofejews Verhör durch einen Komsomolsekretär - es ist vielleicht die Nachschrift jener peinlichen Befragung, der sich Jerofejew, mittlerweile Arbeiter in einer Baubrigade, unterziehen musste, weil er angeblich faschistische Reden gehalten und die Disziplin im Betrieb untergraben hatte:

"Wissen Sie was, Jerofejew - hören Sie auf mit dem Theater! [...] Wenn ich einen gesunden achtzehnjährigen Burschen sehe, der, anstatt mit der Jugend des Landes für unsere gemeinsame teure Sache zu kämpfen, nichts anderes macht, als Wodka saufen und irgendwas ... Menschenfeindliches zu verkünden, dann kriege ich es mit der Angst! Ja, Angst! Um solche, Entschuldigung, Lumpen, die es gar nicht wert sind."

Schließlich verkündet der Leiter der Kaderabteilung den Kreuzzug gegen die "Jerofejew-Seuche". Von der Universität verjagt und aus dem Komsomol ausgeschlossen, wird Wenitschka, wie er von Freunden liebevoll genannt wurde, Lastenträger, Packer, Aushilfsmaurer, Heizer, Leerguthändler, Strippenzieher einer Telefonbrigade und Diensthabender eines Milizreviers.

Seine "Aufzeichnungen", darin dem Tagebuch gemäß, bekunden eine intime Kenntnis dieser privaten Lebensumstände: Sein Großvater "bekreuzigte mit zitternden Fingern die auf ihn gerichteten Mündungen sowjetischer Gewehre"; sein Vater überlebte 16 Jahre Lagerhaft nur knapp und starb 1956; der Bruder, zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt, folgte ihm ein Jahr später ins Grab; die Mutter schließlich starb im Februar 1957. Und auch aus Kirowsk, wo sich Jerofejew als Jahrgangsbester sein "goldenes Zeugnis" erwarb, werden schreckliche Ereignisse nachgetragen, darunter die "Selbstaufhängung" des Vaters einer Schulfreundin, deren bereits "üppige Reize" den halbwüchsigen Musterschüler alptraumhaft verfolgt hatten.

Immer wieder landete der Autor mit schweren Alkoholvergiftungen in der Psychiatrie: "Sozialer Abstieg, Psychose. Bei Jerofejew finden Sie alles", so sein Psychiater Mosijew. Sein wichtigstes Buch, "Die Reise nach Petuschki", 1969 entstanden, sei "wie ein klassischer Report über Alkoholismus". Tatsächlich gilt es als die beste Beschreibung sowjetischer Wirklichkeit, die wir haben: Eines Freitags will der autornahe Ich-Erzähler von Moskau ins zwei Stunden entfernte Petuschki fahren, wo ihn seine Geliebte und sein Kind erwarten.

"Nach Petuschki" aber, heißt es gegen Ende, "kommt überhaupt keiner". Petuschki, im Buch ein Phantasma, ein unerreichbarer Traum vom Glück, steht in der Wirklichkeit für den bitteren Absturz ins Delirium, wie Galia Jerofejew erzählt: "Nach Petuschki ist er öfter gefahren, aber das war kein Zuhause, nein, dort haben sie nur gesoffen, das ganze Dorf hat gesoffen. Ja, in Petuschki, da hat man ihn immer schon erwartet."

Jerofejew schrieb auch, wenn er trank, und erschuf sich ein irrwitziges Dekokt aus Kunst und Literatur. Sein Tagebuch ist, ebenso wie sein weltbekannter Roman, ein 'gebildetes' Werk mit zahlreichen Bezugnahmen auf die Bibel, auf Heiligenlegenden, auf europäische Schriftsteller von Format und ihre Hauptwerke, sowie auf historische Ereignisse, vor allem der sowjetischen Geschichte.

"Sie beerdigten mich auf dem Friedhof Wagankowo", heißt es unter dem Datum des 11. Juni 1957, gleich zu Beginn der fünften Kladde. Jerofejew starb zwar früh, doch so früh nicht. Erst 1990 erlag er den Folgen einer Krebserkrankung, und noch Ende der achtziger Jahre gelang es begeisterten Lesern, ihren Autor in einem Moskauer Wohnblock ausfindig zu machen. Galia Jerofejew: "Er lebte hier in der Gegend, streunend wie eine kleine Katze. Freunde kamen, verbrachten den Abend mit ihm und ließen ihn nachher im Treppenhaus zurück. Dort habe ich ihn gefunden. Ich sagte: 'Komm herein.' Er kam und er blieb."

In Paul Pawlikowskis preisgekröntem Film "Die Todestrinker" (1992) hat Wenedikt Jerofejew über sein Leben und seine Zeit an der Lomonosow-Universität bereitwillig Auskunft gegeben: 

"Ich hatte gedacht, es wäre ein Tempel des Lernen, dieser verdammte Klotz. Also ging ich rein. Ich guckte nach rechts - grauenhaft. Nach links - grauenhaft. Mein Gott, dachte ich. Ich muß am völlig falschen Ort gelandet sein. Ich fing sofort an, Leibniz zu lesen und zu trinken. Das paßte zusammen."

Weil aber die Universität diesen Freigeist nicht ertragen konnte, und Wenitschka auch sonst nicht integrierbar war, verlief sein weiteres Leben wie auf einem Abstellgleis. "Wir saßen im letzten Wagen", so ein ehemaliger Arbeitskollege in Pawlikowskis Filmporträt, "und lebten dort, für zwei, drei Jahre. Vielleicht auch für acht. Morgens wachten wir auf und debattierten gleich darüber, wer was zu trinken besorgt." 

Jerofejew vegetierte zeitweise schlimmer als ein Hund und trank Mixturen aus Eau de Cologne, Möbelpolitur und Brennspiritus. Seine Cocktails trugen Namen wie "Der Kuß der Tante Klara", "Kanaanbalsam" oder "Stern von Bethlehem" und ließen ihn stille Betrachtungen über soeben Erbrochenes anstellen: "Hat Kotze nationale Besonderheiten?" (sub 7.-8. November 1956).

Neben dem Suff ergab er sich nur den Büchern, Frauen interessierten ihn nicht: "Komischer Kerl, dieser Jerofejew. Ewig liest er, liest er ... Aber saufen kann er bestens." Sein Werk ist, soweit wir es überblicken können, bis auf die 2.500 transkribierten Seiten seiner Notiz- und Tagebücher vergleichsweise schmal: Jerofejew hinterließ neben einigen Essays nur den erwähnten Roman sowie ein halbwegs abgeschlossenes Theaterstück ("Die Walpurgisnacht oder Die Schritte des Komturs").

Seine Tagebuchprosa ist nüchtern, grazil, kurzweilig - und von trockenem Witz. Thomas Reschke hat sie insgesamt passabel, bisweilen auch etwas sperrig ins Deutsche gebracht. Die Fußnoten freilich, die der Übersetzer beigesteuert hat, sind mitunter auch irreführend, so beispielsweise, wenn er beim "Geist von Genf" auf die Abrüstungsverhandlungen der Großmächte verweist, statt auf den gleichnamigen Cocktail, dessen Zusammensetzung (50 g "Weißer Flieder", 50 g Antifußschweißpulver, 200 g Shiguli-Bier und 150 g Spritlack) Jerofejew in seinem Roman "Moskau - Petuschki" zum Besten gibt. 

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Aufzeichnungs-Vorbilder  -  Tagebücher-Vorbilder 

        


dradio.de/dlf/sendungen/hoerspiel/459877/       HÖRSPIEL  18.02.2006  

Die Reise nach Petuschki Von Wenedikt Jerofejew 

"Warum nur bin ich ein Idiot, Dämon und Schwätzer in einem?" Wenedikt säuft sich durch Moskau, will endlich den Kreml sehen, gelangt jedoch immer nur zum Kursker Bahnhof. Und endlich sitzt er im Zug nach Petuschki, mit Schnaps und Geschenken für die Geliebte und den Sohn …

Bald sitzt er im hochprozentigen "Dunstkreis" von Mitreisenden, die sich traurige, tragisch-komische und wirre Geschichten erzählen - voller politischer Anspielungen und derber Anzüglichkeiten. Gogol, Lenin, Marx, Tschechow - sie alle nisten in Wenedikts Gedanken, die immer mehr verschwimmen bis in revolutionäre Fantastereien. Und ganz nebenbei wird der sowjetische Alltag und seine verschlissene Ideologie in grotesker Weise entlarvt.

Übersetzung aus dem Russischen: Natascha Spitz 
Bearbeitung: Regina Moths 
Regie: Ulrich Gerhardt 
Darsteller: Rufus Beck 
Produktion: Bayerischer Rundfunk 1992 Länge: 113'29

Wenedikt Jerofejew, geboren 1938 bei Murmansk, gestorben 1990 in Israel. Seine Werke gingen verloren, nur die "Reise nach Petuschki" (1970) fand unter der Hand in Russland große Verbreitung.

 


 

      

 

 

http://www.titanic-magazin.de/heftarchiv00-06.html?&f=1205%2Fspezial1

 


Jerofejew vs. Erofeev  -  Humorkritik-Spezial  (Seite 1 von 3)

Der komische Jerofejew (1938–1980)

 

Eigentlich müßte ich der glücklichste Mensch auf der Welt sein. Mein allerliebstes Lieblingsbuch liegt (bei Kein&Aber) in einer brandneuen Ausgabe vor, und zwar in einer, die sich per Umschlagbanderole äußerst selbstbewußt als die einzig wahre und gültige ausgibt: »Das russische Jahrhundertwerk über eine Fahrt ins vermeintliche Paradies heißt ab sofort: Moskau – Petuki.« 

Bislang kannte ich das Buch in der Übersetzung von Natascha Spitz als »Die Reise nach Petuschki« und den Autor als Wenedikt Jerofejew; der wiederum heißt offenbar ab sofort: Venedikt Erofeev.

Peter Urban, ein ausgemachter Kenner und renommierter Übersetzer russischer Literatur, hat die 170 Seiten nicht nur neu übersetzt, sondern auch um einen ausführlichen Kommentar, ein umfassendes Nachwort und eine kurze biographische Notiz des Autors ergänzt.

Der mir als hochgescheit bekannte Uwe Wittstock zeigte sich in der Welt hochzufrieden: »Urbans deutsche Fassung von ›Moskau – Petuki‹ ist eine philologisch hochseriöse und zugleich für den Leser hochkomische Lektüre.«

Und? Bin ich nun also der glücklichste Mensch auf der Welt? Iwo. Durchaus nicht. Keineswegs. Mitnichten.

In seinem Nachwort spricht Urban eingangs von »einem der größten Bücher der neueren russischen Literatur überhaupt«, und das ist auch schon der einzige Satz, dem ich beipflichten kann. Was folgt, ist der groteske Versuch, einem herausragend komischen Text die Komik abzusprechen: »Als das Buch 1978 in deutscher Übersetzung erschien, wurde es aufgefaßt (...) als ›urkomisches Buch‹. Mit anderen Worten: Der Text wurde allenfalls an der Oberfläche wahrgenommen. (...) Überlesen hatte man wohl (...) die Widmung, in der Erofeev sein Gedicht ausdrücklich ›tragische Blätter‹ nennt.« Wer wird hier so rüde abgewatscht? Kein Geringerer als mein verehrter Kollege Hans Mentz, denn er war es, der als erster hierzulande die Empfehlung ab- bzw. den Befehl ausgab: »Ungewöhnlich komisch! Kaufen! Lesen! Lachen!« (TITANIC 12/1980) Übersehen hat Urban wohl, daß es erstens uneigentliches Sprechen und zweitens Tragikomik gibt, es also durchaus menschenmöglich ist, etwas Komisches zu verfassen und als »tragische Blätter« zu bezeichnen. 

 


 

 

Jerofejew vs. Erofeev
Humorkritik-Spezial
(Seite 2 von 3)


Was aber, wenn nicht seine Komik, soll so groß sein an diesem Buch? Urban verspricht allen Bildungshubern eine schön anstrengende Textarbeit, denn »unkommentiert ist das Buch mit seinen unzähligen Anspielungen und Zitaten selbst russischen Lesern nur bruchstückhaft verständlich (...). Klar ist: Ohne vergleichende Lektüre der russischen und der deutschen Bibel und beider Bibelkonkordanzen ist die Übersetzung dieses Textes nachgerade unmöglich.« Doch nicht allein Mühe hat der wahre Erofeev-Adept aufzuwenden, er muß auch mit Ernst zu Werke gehen, um den süßen Lohn seines sauren Fleißes zu ernten: »Sieht man näher hin und nimmt den Text der ›tragischen Blätter‹ so ernst, wie er verstanden sein will«, dann erst, so Urban, erreicht man die Verständnistiefe eines echten Russen: »Es hat in Rußland an Lesern nicht gefehlt, die Erofeevs Text in seiner ganzen Tiefe, seinen philosophischen, religiösen und literarischen Dimensionen erkannten und die in seinem Autor den sensiblen, hochgebildeten und verletzlichen Denker sahen, der in seiner Wahrnehmung absurder Zustände und Zusammenhänge einer auf den Kopf gestellten, verkehrten Welt« und so fort, kurzum: Wieder einmal wird, wie bei Dostojewski, Kafka, Nabokov, Arno Schmidt längst der leidige Normalfall, Hochkomik auf Biegen und Brechen in Tiefgründelei umgedeutet und jede andere Lesart als oberflächlich verächtlich gemacht. Wer kommt als nächstes dran? Ich tippe auf die »Simpsons«. Die sind auch so intelligent und anspielungsreich, daß in absehbarer Zeit irgendein pneumatischer Schädel einem Urgesetz der Philologie gemäß schlußfolgern dürfte, sie könnten unmöglich komisch sein.
Immerhin gesteht Urban der hiesigen Jerofejew-Fangemeinde mildernde Umstände zu, denn hauptsächlich schuld an ihrer Begriffsstutzigkeit sei die alte Übersetzung: »Für den deutschen Leser begann das Mißverständnis bereits mit der törichten Verbiegung des originalen Titels: Was bei Erofeev eine lakonische, sachlichknappe Fahrplanauskunft ist, mißriet mit der Reise nach Petuschki ins Gemütvoll-Blumige, in die Nähe der Idylle (und lud nachgerade zur falschen Betonung ›Petúschki‹ ein, im Unterschied zum harten: Moskvá – Petukí).« Das hätte selbst ein Beckmesser nicht kleinkarierter sagen können. Grund genug, einen näheren Blick auf Urbans eigene Übersetzungsleistung zu werfen.

 


 

Gute Übersetzung
mit einer Zeichnung von Bernd Pfarr
Leider ist mein Russisch seit je vollkommen aus der Übung, so daß ich zum Vergleich nicht das Original, sondern nur die Spitz-Übersetzung gegenlesen kann. Dort lautet der allererste Satz der Vorrede: »Die erste Ausgabe von ›Moskau – Petuschki‹ war schnell vergriffen, zumal nur ein Exemplar davon vorhanden war.« Bei Urban klingt er so: »Die Erstausgabe von ›Moskau – Petuki‹, da nur aus einem Exemplar bestehend, war schnell vergriffen.« Der Unterschied liegt in einem unscheinbaren, aber nicht unerheblichen Detail: Frau Spitz weiß, wo eine Pointe hingehört, nämlich ans Satzende. Vielleicht formuliert sie weniger originalgetreu, auf jeden Fall aber origineller als Urban. Meist findet sie die ausgefalleneren, lebendigeren Wendungen. Bei Jerofejew/Spitz ist Alexej Blindjajew, Mitglied der KPdSU seit 1936, ein »alter abgetakelter Wirsing« und General Franco ein »verknöcherter Knickstiefel«, bei Erofeev/Urban dieser ein »abgewrackter alter Kacker« und jener ein »alter Kacker«. Der zweijährige Sohn des Erzählers hüpft beim Tanzen der Ferkelchen-Farandella laut Jerofejew herum »wie ein Depp im Kleinformat«, Erofeev zufolge »wie ein Winzling von Ferkel«. Gegen Ende, als sich die Dinge zu verwirren beginnen, wird der Erzähler bei Jerofejew von einem Opa schön kryptisch mit »kleine Nachtschwärmerin« angesprochen, bei Erofeev vergleichsweise fade mit »liebe Pilgerin«.
Manche Stellen hat Urban derart schlampig übersetzt, daß sie ohne Konsultierung der alten Übersetzung nur bruchstückhaft verständlich sind. Da wird der Erzähler Brigadeführer eines fünfköpfigen Arbeitstrupps, der seinen Tag hauptsächlich mit Saufen und dem Kartenspiel Sika zubringt; einmal im Monat schicken sie der Verwaltung eine Liste mit ihren Zielsetzungen im sozialistischen Wettbewerb. Erofeev: »Wir schreiben zum Beispiel: aus Anlaß der bevorstehenden Hundertjahrfeier werden wir es erreichen, daß jeder sechste ein Fernstudium an einer Hochschule abschließt… Aber was konnte von Betriebsunfall und Hochschule für eine Rede sein, wenn wir vor lauter Sika den hellen Tag nicht sehen und wir nur noch fünf Mann sind!« Hä? Was für ein Betriebsunfall? Urban hat einen ganzen Satz vergessen, den wir bei Spitz nachlesen können: »Aus Anlaß der bevorstehenden Hundertjahrfeier verpflichten wir uns, den Betriebsunfällen ein Ende zu machen.«

 


 

 

Jerofejew vs. Erofeev
Humorkritik-Spezial
(Seite 3 von 3)


Im Gegenzug ist Urban hypergenau, sobald er russischen Jargon und sowjetisches Fachvokabular anbringen kann. Wo Spitz klar und leserfreundlich von einem »Trunkenbold«, einem »Lager des Kaufhauses« oder einem »Bezirksfürsorgeamt« schreibt, benutzt Urban Begriffe wie »Alka«, »Selpo-Lager« oder »Rajsobés«, weshalb sein Text in der Tat ohne Kommentar nicht leicht zu verstehen ist.

Der fast achtzig Seiten starke Kommentarteil enthält so manche kundige Fachinformation, nicht zuletzt, weil Urban sich auf zwei bereits vorhandene russische Kommentare stützen konnte. Beispielsweise erfährt man, daß die Schlußnotiz, das Buch sei »bei Kabelarbeiten in eremetjewo, Herbst 69« entstanden, falsch ist. In Wahrheit wurde das Manuskript begonnen »in den letzten Januartagen 1970 und abgeschlossen etwa am zweiten, dritten März«. Und wenn nicht zwei Seiten später zu lesen wäre, Erofeev habe exakt »vom 19. Januar bis zum 6. März 1969« an »Moskau – Petuki« ge-arbeitet, dann wüßten wir’s jetzt also ganz genau.

Aber nur wenige Hinweise im Kommentar sind widersprüchlich. Ein weitaus größerer Anteil ist sorgfältig recherchiert, sachlich richtig, korrekt wiedergegeben und komplett uninteressant. »Und nun geriet alles durcheinander«, schreibt Erofeev an unscheinbarer Stelle, woraufhin Urban anmerkt, der zweite Satz von »Anna Karenina« laute »Bei den Oblonskijs war alles durcheinandergeraten«. Ist im Text von einem Viehhof die Rede, kann Urban vermelden, das Wort schon an anderen Stellen gelesen zu haben, nämlich »in Pukins Versroman Evgenij Onegin 3, I, sowie in Adelsnest, XXXV.« Der Kinderliedvers »Seit Februar hab ich geklagt, und im August Ade gesagt« liefert den Anlaß für die Informa-tion, daß Aleksandr Blok, Nikolaj Gumilëv und Marina Cvetaeva im Monat August gestorben sind. Das mag ja alles sein, steuert aber zum Verständnis des Buchs keine drei Kopeken bei.


Nicht so gute Übersetzung, mit einer Zeichnung von Bernd Pfarr.

Das erklärt sich dem nicht vollends verbildeten Leser zum Glück weitgehend von selbst. In einer grandiosen Nonsenspassage erklärt der ahnungslose Erzähler seinen noch ahnungsloseren Mitreisenden die Welt, etwa so:

»In Sibirien lebt überhaupt niemand, dort leben nur Neger. Man schafft keine Lebensmittel dorthin, sie haben nichts zu trinken, vom Essen zu schweigen. Nur einmal im Jahr schickt man ihnen aus Itomir gestickte Handtücher – und an denen hängen sich die Neger auf.«

Welchen Reim macht sich Urban auf diese Zeilen? Diesen: »nur Neger – wohl im Sinne v. Arbeitssklaven des GULag.« Ach, es ist hoffnungslos. Der Mann kapiert einfach keinen einzigen Witz.

Ich resümiere: Wir besitzen eine vorzügliche Übersetzung von Jerofejews Chef d’œuvre, nämlich die von Natascha Spitz. Peter Urbans Konkurrenzprodukt kann nicht mithalten. Seine Übersetzung ist weniger stimmig, sein Kommentar weitgehend für die Katz, sein Nachwort ein einziges Ärgernis. Die kurze biographische Notiz allerdings – ich muß schon sagen: alle Achtung. Die ist echt spitze.

Klaus Cäsar Zehrer 


 

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Wenedikt Jerofejew  Die Reise nach Petuschki - Moskau—Petuschki - Ein Trinker-Poem