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Das Allzweck-Narkotikum "Hoffnung" beiseite legen

Wien, am 18.01.2014     

https://www.telepolis.de/features/Keine-Rettung-mehr-3363287.html

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Wir sollten damit aufhören, uns immer noch Hoffnungen zu machen, was Auswege aus und Lösungen für die multiplen Krisen unserer Gesell­schaften und uns­eres Planeten anbelangt.  Das <Prinzip> Hoffnung scheint zwar anthropologisch zum Menschen dazuzugehören — und klar: es hat unzählige tödliche Depressionen, Selbst­morde und Rebell­ionen verhindert.

Jedoch sind die ökologischen, politischen, sozialen und psycho-kulturellen Entwicklungen mittlerweile so kaputt und verfahren, dass auch mit viel Optimismus menschen­würdige Lösungen - Lösungen zum Guten - unendlich weit entfernt scheinen. - Zeit also, einige Dinge zu rekapitulieren

   Die ökologische Krise wird bedrohlicher 

Wie nahe am ökologischen Notfallpunkt wir mittlerweile angelangt sind, hat Stephen Emmott in seinem kleinen, die Fakten zusammen­ziehenden Buch <Zehn Milliarden> beschrieben.(1) Suffizienz - also Konsumverzicht - im Westen wäre notwendig: das Gegenteil findet statt. <Mehr Wachstum> ist das Dogma, das auch Linke und Grüne stetig wiederholen, so als hätte ein Virus Politiker und Ökonomen jedweder Richtung nachhaltig und unrettbar im Gehirn infiziert.       wikipedia  Suffizienz  ähnlich wie Effizienz; aber geringer werdender Rohstoffverbrauch   wikipedia  NGO 

Es gibt keinen relevanten gesellschaftlichen Akteur, der eine ökologisch tragfähige Lösung vertritt und damit politische Bildung vorantreibt.(2)  Die politischen Eliten - auch die NGOs - sind zu sehr mit Machterhalt und Selbstreproduktion beschäftigt, um über Alibi-Aktionen hinaus in die Wirklich­keit einzugreifen oder Nachdenken und Umdenken zu fördern. 

Es gibt nur Alibi-Lösungen, wie das Glühlampenverbot, brave Recycling­arbeit, Standby-Ausschalten und eine sehr dürftige Energiewende zum Wohl der Solar- und Windrad-Konzerne. — Das führt zum nächsten Punkt: Politik funktioniert nicht mehr.

  Politik in der repräsentativen Demokratie funktioniert nicht mehr  

Politik ist heute auch in den westlichen Republiken zu einem selbstreferentiellen System der politischen Eliten und der kapitalist­ischen Wirtschaft geworden. Die repräsentative Demokratie funktioniert nicht mehr, das hat letzthin W. Koschnick in einer Essay-Serie in Telepolis ausführlich erörtert. 

Politik und Wirtschaft haben darüber hinaus auch Kunst und offizielle Kultur in eine Kulturindustrie und einen Kunstmarkt (etwa durch politisches Nichtstun) transformiert. Bildungs­institutionen wurden in eine natur­wissen­schaftlich orientierte Ausbildungs- und staatliche geförderte Forschungs­industrie für die Wirt­schaft umgewandelt. Politische Ideenarbeit ist heute in aufmerk­samkeits­orientierte <Public Relations> und in einen dazu­gehörigen Beraterschwall aufgelöst.

Das Beraterunwesen ist nicht nur auf die Politik beschränkt, auch in Unternehmen, der Administration und anderen Organisationen wird nahezu jede Äußerung von Menschen - auch nachrangiger Ebenen - mittlerweile PR-mäßig begleitet und allfällige Aktivitäten werden vorab mit zugekaufter rechts­anwaltlicher Expertise abgesichert. Man hat den Eindruck: Je besser bezahlt handelnde Personen sind, desto aufwendiger stehlen sie sich mit zugekaufter Beratung aus ihrer Handlungs­verantwortung.

Die in Politik und Wirtschaft tätigen Menschen haben auch keine Zielvorstellungen mehr; außer mehr Marktanteil, mehr Macht und mehr Aufmerk­samkeit zu erzielen; also ein mehr vom Gleichen. Drogenabhängige fallen einem dazu ein — ein zwanghaftes, eindimensionales, süchtiges Verhalten. 

Und wenn selbst Exponenten traditionell linker Parteien, wie Helmut Schmidt oder Franz Vranitzky (wikipedia Vranitzky *1937 in Wien, Bundeskanzler in Ö.) Menschen mit Zukunftszielen den Gang zum Arzt empfehlen — "Wer <Utopien hat>, gehört zum Arzt!"(3) —, spricht das für den kompletten Verlust von Zukunft. Das führt zum nächsten Punkt:   

 

    Das <Konzept Zukunft> ist der Gesellschaft verlorengegangen  

Die kulturelle und gesellschaftspolitische <Ressource Zukunft>(4) ist unseren modernen Gesellschaften weitgehend verloren­gegangen. Langfristige gesellschaftliche Ziele existieren heute weder in den Programmen der politischen Parteien, Gewerkschaften oder NGOs, noch in der Kultur und — Kunst; da gibt es im besten Fall nur (mehr) Dystopien. 

In den 1960er bis 1980er Jahren war das noch anders. Der sich langsam entwickelnde Sozialstaat in den europäischen Demokratien versprach ein behäbig-gemächliches — den Avantgarden weit zu bedachtsames — Wachsen in menschen­würdigere: gerechtere und sichere, überschaubare Lebens­möglich­keiten für die Bürger. Da konnte man noch Kinder kriegen. 

Oft wird diese Entfernung von "Zukunft" aus der Gesellschaft mit dem Zusammenbrechen der - als Gegenbild zum Kapitalismus des Westens drohenden - komm­unistischen Staaten im Jahr 1989 verortet. Das mag tatsächlich eine der Ursachen gewesen sein: diese sichtbare ideologische Beschlag­nahme seitens der politischen Kräfte des Westens und der multinationalen Unternehmen, die weltweit nur Nordkorea sozusagen "übrig­gelassen" haben. Hinzu kommen allerdings: 

Wenn das Glück der Menschen in den angebotenen Konsumgütern liegt und der Markt hier kein Ende findet, dann benötigen Gesellschaft und die Einzelnen auch keine anderen Vorstellungen von Zukunft mehr. Insbesondere dann nicht, wenn solche Ideen nur zu einer mühseligen Minderheits­angelegenheit werden. Wer braucht schon Verlierer? Und, das führt zum nächsten Punkt: Wer benötigt noch humanistische Ideen und ähnliche Trübsal?

  Die alten humanistischen Werte wurden mittlerweile abgebaut  

Die große Mehrheit der Bürger in den westlichen Republiken hat sich offenbar von der Idee und dem genuinen Wert der Privatheit verab­schiedet.

deto: wiktionary  genuin  angeboren; echt, ur-, unverfälscht, naturgemäß, rein, glaubhaft, wirklich, ursprünglich, original 

Dass Gedanken und privates Leben frei sind, hatte einmal einen ganz engen Bezug zum Verständnis von Menschenwürde und zu humanistischen Werten. Das ist vorbei. Die matte Resonanz der Medienkonsumenten auf die seit Juni 2013 erfolgten Enthüllungen der NSA-Abhörpraktiken durch Edward Snowden belegt es mehr als einem lieb ist.

Während die (sogenannten) Qualitätsmedien dem Gebot kritischer Berichterstattung hier tatsächlich folgten, blieb hingegen die große Mehrheit der Politik-Eliten und der Bürger müde und erschlafft, gehorsam, bestenfalls defätistisch.

Diese Müdigkeit hat schon eine längere Geschichte, denn das Abhören und Speichern von elektronischer Kommunikation ist nicht neu. <Echelon>, also die umfassende Ausspähung — durch den Staatenverbund: USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland — war seit den 1990er Jahren bekannt. Die Überflutung öffentlicher Plätze mit Videoaufzeichnung und die prophylaktische Speicherung privater Daten hat auch seit Jahren Tradition im EU-Europa.

Transparenz - auch im Privaten - ist heute eine gesellschaftlich anerkannte Angelegenheit geworden. Das belegen nicht nur <Facebook> und <Soziale Netzwerke>, ebenso das PR-Verhalten von Politikern und Stars (Homestories, <Gesellschafts-News>, etc.), sondern vielleicht am typischsten dafür, das Outing von und der proaktive mediale Umgang mit Homosexualität. Ein bisschen die soziale Normen setzen dürfen die Menschen, egal ob Gendern — genügend Neokonformisten sprechen mittlerweile auch das Binnen-I — Vegetarischessen, Sitzpinkeln oder sich <politisch korrekt> ausdrücken. 

deto:  Geschlechternivellierung   wikipedia  Gendering     wikipedia  Gender  

Im Wesentlichen ist die Facebook- und Seitenblicke-Transparenz natürlich Selbstdarstellung, Eigenwerbung, Aufmerk­samkeits­generierung. Jedoch, wenn es ein Gebot ist, intimeren Einblick zu sich zu gewähren, ist eine im Allgemein­interesse angeordnete erzwungene Transparenz kaum mehr stichhaltig in Frage zu stellen. 

Die moderne Transparenzgesellschaft ist auch eine Lebenslanges-Lernen- sowie Leistungs- und Aufmerksamkeits­gesellschaft,6) die den Einzelnen zwingt, sich selbst permanent richtig darzustellen, sich also passend zu vermarkten und eben lebenslang für seine Selbst­darstellungs­fähigkeiten zu lernen, in sie mit eigener Zeit und eigenem Geld zu investieren; jedoch nicht nur in diese Schauspielerei, sondern auch in seine am Arbeitsmarkt verwertbaren Fertigkeiten und Fähigkeiten.

Transparenz und Offenheit, <zum Gemeinsamen gehören>, scheinen verbindlich geworden. Das lässt sich aufs Erste sicherlich auch positiv sehen: Eine liberale Gesellschaft, die offener geworden ist, in der sich Individuen mit ihren individuellen Vorzügen und Fehlern begegnen, ähnelt jedoch Benthams Panoptikum, wo nunmehr alle Aufseher und Gefangene zugleich sind. Möglich wäre das allerdings nur in einer Sozialstruktur, in der die Subjekte in der Art eines interesse­losen Wohlgefallens, in Konvivialität (Ivan Illich) und damit in Vertrauen miteinander umgehen. Nur dort kann einer Schwäche zeigen, wo diese vom Anderen nicht ausgenutzt wird, das ist eine conditio sine qua non.    wikipedia  Condicio-sine-qua-non   Bedingung, ohne die nicht...

Mit schonungslos vorgeschriebener Offenheit lässt sich dagegen — sozusagen im Umkehrschluss auf personaler Ebene — dauerhafter Machtverzicht, Vertrauen und Konvivialität (will man über das unmittelbar familiäre Feld hinausgehen) wohl nicht herstellen. Die vielen Versuche, solche Entwicklungen anzustoßen, sind mehr oder weniger rasch gescheitert.(7) Und nach wie vor gilt: Transparenz mag bei der Erwerbsarbeit als nettes Additiv dienen, die Machtgefälle bleiben da jedoch völlig unberührt davon. 

   Der realistische Schluss  

Der mit seinem Fakten-Buch <Zehn Milliarden> erwähnte S. Emmott fragt zum Abschluss des Buchs einen seiner Mitarbeiter, was er machen würde, wenn er hier und heute nur mehr eine einzige Sache tun könnte. Der junge Kerl antwortet ihm: "Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht." - Das klingt sehr überzeugend. Leider.

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 Ende 

Anmerkungen

1) Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Berlin 2013.

2) Karl Kollmann: Welche Akteure gibt es für echte Klimapolitik? in: Hauswirtschaft und Wissenschaft 3/2012.

3) Vgl. Karl Kollmann: Verbraucher, Verbraucherpolitik und Nachhaltigkeit, in: H.Rogall (Hg): Jahrbuch Nachhaltige Ökonomie 2011, Marburg 2011, S 348.

4) Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013, S. 12.

5) Kollmann: Aktuelle Verbraucherprobleme beim Schutz personenbezogener Daten. Datenschutz aus Verbrauchersicht; i.A. des BuMi für Wissenschaft und Verkehr. Wien 1999

6) Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft. Berlin 2013.

7) Nur als ein paar Beispiele: die norwegische Christiania-Gemeinschaft und die deutsche Reformbewegung Ende des 19. Jahrhunderts; A. S. Neills Summerfield-Schul-Experimente; die im Rahmen der deutschen 68er-Bewegung (zeitlich etwas vorher) entstandene Kommune 1, die Friedrichshof-Kommune des Künstlers O. Mühl, etc.

 

* Illich bei detopia - aus wikipedia-2014: Illich prägte den Begriff der Konvivialität (Conviviality), wobei es ihm um einen lebensgerechten Einsatz des technischen Fortschritts ging. In seinem Werk <Selbstbegrenzung – Tools for Conviviality> schreibt Illich: „Unter Konvivialität verstehe ich das Gegenteil der industriellen Produktivität … Von der Produktivität zur Konvivialität übergehen heißt, einen ethischen Wert an die Stelle eines technischen Wertes, einen realisierten Wert an die Stelle eines materialisierten Wertes setzen.“ Des Weiteren sieht er in der Konvivialität, die „individuelle Freiheit, die sich in einem Produktionsverhältnis realisiert, das in eine mit wirksamen Werkzeugen ausgestattete Gesellschaft eingebettet ist“. 

 

www.detopia.de     ^^^^ 

Karl Kollmann 2014