1. Die Geburt des Samisdat
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Jede wirklich bedeutsame neue Erscheinung des Lebens spiegelt sich unfehlbar in der Sprache wider. So gibt es heute ein neues, allen verständliches Wort, das bereits zum festen Bestand der russischen Sprache gehört und sogar nach und nach auch in andere Sprachen eindringt: Samisdat.1
Der Samisdat hat seine Vorgeschichte. Eine nichtoffizielle Literatur gab es in Rußland schon immer: Alexander Radischtschews Reise von Petersburg nach Moskau (1790) kann man mit Fug und Recht als das erste Samisdatwerk bezeichnen, mit dem Unterschied freilich, daß Radischtschew eine eigene Druckerei im Hause hatte, während die heutigen Samisdatautoren bloß über eine Schreibmaschine mit ihren fünf bis sieben Durchschlägen verfügen.
wikipedia Alexander N. Radischtschew *1749 in Moskau bis 1802
In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zirkulierten in Abschriften eine Reihe unveröffentlichter Gedichte von Puschkin und Lermontow, Gribojedows Komödie Verstand schafft Leiden, von Hand zu Hand ging Belinskijs Brief an Gogol und noch einiges andere. Aber das waren Randerscheinungen, die das Gesamtbild in keiner Weise veränderten, denn im ganzen gesehen stand die oppositionelle Literatur gleichberechtigt neben der orthodoxen: Nekrassow, Belinskij und Saltykow-Schtschedrin hatten ebenso ihre Zeitschriften und Druckereien wie Faddej Bulgarin und Nikolaj Gretsch.
Mehr noch — in der zweiten Hälfte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmte die oppositionelle, progressiv-demokratische Literatur die Hauptrichtung der russischen Kultur, die Verfechter des Fortschritts und der Demokratie gaben in der Gesellschaft den Ton an, sie vermochten den großen Dichter Afanassij Fet zu jahrelangem Schweigen zu zwingen.
wikipedia Afanassi Fet (1820-1892): "Fet wurde von den Radikalen wegen seiner reaktionären persönlichen politischen Gesinnung lächerlich gemacht, war jedoch der Ansicht, dass das Leben eines Dichters wenig mit seiner Dichtung zu tun habe - ein Künstler müsse nicht ernsthaft sein."
Die Uraufführungen der revolutionären Stücke von Maxim Gorkij waren Ereignisse, die von der gesamten damaligen gebildeten Gesellschaft diskutiert wurden. Lew Tolstoj wurde nicht ohne Grund Rußlands zweiter Zar genannt. Anton Tschechow beklagt sich in einem Brief an seinen Verleger Suworin, daß die Zensur ihm aus seinen düsteren Erzählungen einige Sätze herausgestrichen habe — so etwas galt damals als unerträgliche Willkür. Doch die satirische Zeitschrift Grzebins veröffentlichte ungehindert böse Karikaturen auf die Regierenden und sogar auf die Person des Zaren.
Nach der Oktoberrevolution von 1917 setzt die nichtoffizielle Literatur ihre sporadische Existenz fort; die erste bedeutende Äußerung der nachrevolutionären Untergrundliteratur ist zweifellos der Sammelband Is glubiny (De profundis, 1918).2 Es folgen die Gedichte von Nikolaj Gumiljow.
Jewgenij Samjatin veröffentlicht seinen Roman <Wir> im Ausland; viele bedeutende russische Schriftsteller der zwanziger Jahre lassen ihre Bücher in Berlin drucken.
Andrej Platonow, Michail Bulgakow, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam, Michail Soschtschenko sind für lange Jahre gezwungen, »für die Schublade« zu schreiben.
Weite Verbreitung finden Abschriften von unveröffentlichten Gedichten Sergej Jessenins. Es sind sogar Zeitschriften aus den zwanziger und dreißiger Jahren bekannt — z.B. Wassiiki (Kornblumen), Put strannika (Der Weg des Wanderers) oder Semlja i nebo (Erde und Himmel) —, die im kleinsten Kreise als Manuskripte zirkulierten.
Doch der Samisdat als solcher, als Erscheinung im großen Maßstab, entsteht erst nach Stalins Tod, genauer, nach dem XX. Parteitag, der den »Personenkult« verurteilte.
Mit Boris Pasternaks Roman »Doktor Schiwago« (1957) wird eine neue Seite in der Geschichte der russischen Literatur aufgeschlagen. Dieser erste ins Rollen gekommene Stein zieht eine ganze Lawine von nichtoffizieller Literatur nach sich, die ungestüm anschwillt: Zählte im Jahre 1964 die Samisdatliteratur nur ein, zwei Dutzend Titel, so kann man zehn Jahre später, im Jahre 1974, aus dieser Literatur schon eine große Bibliothek zusammenstellen.
Den Anfang machten die auf der Schreibmaschine hergestellten nichtoffiziellen Zeitschriften, die Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre in Moskau, Leningrad und anderen Städten erschienen. Sie enthielten Gedichte, kleine Geschichten und längere Erzählungen, publizistische Beiträge, philosophische Essays, Theaterstücke, Rezensionen von Samisdatwerken. Einige dieser Zeitschriften stellten ihr Erscheinen nach wenigen Nummern (nicht selten schon nach einer einzigen) und nach der Verhaftung der Herausgeber gleich wieder ein, anderen glückte es, der polizeilichen Verfolgung der Autoren und Herausgeber zum Trotz, sich länger zu behaupten.
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Hier einige der bekannteren Samisdat-Zeitschriften:
Sintaksis, Bumerang, Feniks, Kolokol (Die Glocke), Sfinksy (Die Sphinxe), Russkoje slowo (Das russische Wort), Sejatel (Der Sämann), Demokrat, Chronika tekuschtschich sobytij (Chronik der laufenden Ereignisse), Obschtschestwennyje problemy (Gesellschaftliche Probleme), Polititscheskij dnewnik (Politisches Tagebuch), Obosrenije (Rundschau), Literaturnaja chronika (Literarische Chronik), Kaleidoskop, Swobodnaja mysl (Freies Denken), Cocktail, Sirena, Wremena goda (Jahreszeiten), Fonar (Die Laterne), Masterskaja (Die Werkstatt), Scheja (Der Hals), Molodost (Die Jugend).
Einige dieser Zeitschriften wurden in den folgenden Jahren, ganz oder in Auszügen, im Westen veröffentlicht.3) Obgleich der Samisdat in der Folgezeit zu anderen Formen überging (Romane, große Essays, Sammelbände usw.), ist die Tradition der Typoskript-Zeitschriften lebendig geblieben: Ende 1974, Anfang 1975 begannen in Moskau gleich drei neue Zeitschriften zu erscheinen: Semlja (Die Erde)4), Moskowskij sbomik (Moskauer Sammlung) und Dwadzatyj wek (Das zwanzigste Jahrhundert).
Seit Mitte der siebziger Jahre sind ständig neue Untergrundzeitschriften und Almanache aufgetaucht:
Summa, Obschtschenija (Mitteilungen), Golos (Die Stimme), Peterburgskije wstretschi (Petersburger Begegnungen), Chudoshestwennyj archiv (Künstlerisches Archiv), Tschassy (Die Uhr), 37, Poiski (Die Suche), Pamjat (Die Erinnerung), Witjas (Der Recke), Shenschtschina i Rossija (Die Frau und Rußland), Lepta (Das Scherflein), Maria, Moskwa, Mera wremeni (Maß der Zeit) und andere.
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Der Samisdat entstand aus den besonderen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens im Rußland der letzten Jahrzehnte. Nach dem Tod des Diktators, nach der Abschaffung der schlimmsten Stalinschen Gesetze und der Neuorganisation bestimmter Gesellschaftsbereiche, nach der Freilassung von Millionen rehabilitierter Häftlinge aus den Konzentrationslagern erwachte Rußland aus dem tiefen Schlaf der Stalinschen Nacht. Es brach eine neue Epoche in der Geschichte Rußlands an, die sich kraß von der vorausgegangenen unterschied.
Die geistige Gärung, die alle ergriffen hatte, das Bedürfnis, Klarheit in die Erfahrungen der vergangenen fünfzig Jahre zu bringen (jenes Versuchs, eine neue Gesellschaft, eine neue Kultur, eine neue Moral, den neuen Menschen zu schaffen), das Bestreben, aus der kulturellen Isolation, die das Land von der ganzen übrigen zivilisierten Welt künstlich abgeschnitten hatte, herauszukommen und sich die in dieser Zeit vom Westen geschaffenen geistigen Werte anzueignen, das Bedürfnis nach neuen Ideen und nach neuen Formen, sie auszudrücken — all das sprengte ungestüm den engen Rahmen der Zensur und ergoß sich in den Samisdat.
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Das Wort Samisdat bedeutet Selbstverlag und drückt sehr exakt das Wesen dieser Erscheinung aus: spontane Selbstvervielfältigung von nicht erlaubter Literatur. Das auf der Schreibmaschine in mehreren Exemplaren getippte Werk gelangt zuerst in die Hände der engsten Freunde des Autors, diese geben das Manuskript weiter, indem sie es abtippen oder fotografieren; die Zahl der Exemplare wächst auf diese Weise in geometrischer Progression, und nach wenigen Monaten findet man Kopien bereits an den entferntesten Orten und in Kreisen, die nicht das geringste mit den ursprünglichen Bekannten des Autors zu tun haben. Ist das Werk interessant genug, gelangt es auf verborgenen Wegen ins Ausland und wird dort veröffentlicht (die ganze komplizierte Kette dieser geheimen Wege kennt gewöhnlich weder der Autor des Werks noch der Verleger, der es publiziert; auch der Autor dieser Zeilen fungierte einige Male als ein Glied dieser Kette).
Das im Ausland gedruckte Buch wandert dann, wiederum auf verborgenen Wegen, zurück nach Rußland und zirkuliert nun neben den maschinengeschriebenen Kopien des Samisdat. Den Herstellern von Schreibmaschinenkopien und den Herstellern von Fotokopien drohen Verhaftung und schwere Strafen (so erging es z.B. der Sekretärin Vera Laschkowa oder dem Moskauer Arbeiter W. Kosharinow, der sich professionell mit der Herstellung von Fotokopien befaßte und der verhaftet wurde, nachdem der KGB das Versteck entdeckt hatte, wo er die Manuskripte aufbewahrte).
In den letzten Jahren sind auch schon die ersten Samisdatbücher erschienen, die auf typograflschem Wege in Rußland selbst gedruckt wurden — entweder in geheimen Druckereien oder, hinter dem Rücken der Administration, in staatlichen. Auf diese Weise wurden z.B. Solschenizyns »Archipel GULag« und Sacharows Buch »Mein Land und die Welt« gedruckt.
Obwohl sich die Auflagen des Samisdat natürlich nicht mit denen der in zahlreichen Verlagen erscheinenden offiziellen sowjetischen Literatur messen können, so sagt dies doch — wie betont werden muß — absolut nichts über eine geringe Verbreitung oder geringe Popularität des Samisdat und eine größere Popularität der offiziellen Literatur aus, sondern es beweist lediglich die technische Überlegenheit des staatlichen Publikationsapparats über die unzensierte Bücherproduktion im Untergrund.
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Was jedoch die Popularität betrifft, so verhält es sich genau umgekehrt: Eine einzige Abschrift oder Fotokopie eines Samisdatbuchs wird von Dutzenden von Menschen gelesen, wandert von einer Hand in die andere, bis es schier zerfleddert ist. Oft gelingt es, ein solches Samisdatbuch nur für einen Tag oder für eine Nacht zu bekommen, weil Dutzende von anderen Interessenten darauf warten, und hat man es glücklich ergattert, setzt sich die ganze Familie zusammen und liest es die ganze Nacht lang in einem Zug durch; die kostbaren Blätter werden der Reihe nach weitergereicht. Und zur gleichen Zeit verstauben soundso viele sowjetische Bücher, gedruckt in einer Auflage von etlichen tausend Exemplaren, jahrelang in den Regalen der Buchhandlungen, um schließlich in die Makulatur zu wandern.
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Der Samisdat ist nicht bloß ein literarischer Terminus; er ist eine neue gesellschaftliche Erscheinung, ja man kann sagen, eine neue Form der Beziehungen zwischen den Menschen, entstanden als Gegenstück zu den offiziellen Beziehungen und neben diesen bestehend. Der Leser ist zur gleichen Zeit auch Herausgeber, Verbreiter, Kritiker und Propagandist (insofern als das Weitergeben eines Textes in der Regel mit Kommentaren, Empfehlungen und Diskussion verbunden ist), das heißt, er repräsentiert die neuen Ideen ebenso wie eine neue, nonkonformistische Verhaltensweise.
Eben weil der Samisdat eine neue gesellschaftliche Erscheinung ist, konnte er auch erst aufkommen, als sich in der Gesellschaft eine bestimmte Atmosphäre gebildet hatte.
Der Samisdat konnte nicht in den dreißiger Jahren entstehen, zu einer Zeit, wo die gesamte nichtmarxistische Intelligenz in den Konzentrationslagern saß und die neue junge Intelligenz noch blind an den baldigen Anbruch des kommunistischen Paradieses glaubte.
Der Samisdat konnte auch nicht in den vierziger Jahren entstehen, als der Glaube an den Kommunismus zwar schon an Glanz verloren hatte, aber der Terror und die allumfassende Angst noch zu stark waren. Die Erfahrungen, welche die Gesellschaft gemacht hatte, deuteten auf den Zusammenbruch der herrschenden Ideologie, doch die Gesellschaft hatte sich noch nicht zum vollen Bewußtsein dieser Erfahrungen erhoben.
Und erst als sich nach dem Tode des Diktators die Herrschenden in ratloser Verwirrung befanden und zugleich die Gesellschaft zu einem bestimmten Grad des kritischen Bewußtseins gelangt war, da entstand auch der Samisdat, als Folge dieser neuen gesellschaftlichen Situation. Deshalb kann man an eine Untersuchung der freien russischen Literatur auch nicht mit den herkömmlichen Mitteln der Literaturkritik herangehen. Und zwar nicht nur, weil dieses Phänomen weit über den Rahmen des rein Literarischen hinaus zugleich auch eine neue Lebensweise, ein neues Lebensgefühl und eine neue Ausdrucksform darstellt (wobei Ausdrucksform und Lebensweise zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen), sondern auch deshalb, weil der literarische Prozeß selbst in neuen Formen erscheint, die ein traditionelles Herangehen verbieten.
Auch die Schwierigkeit des Sammelns der Texte und Dokumente, die Unmöglichkeit ihrer genauen Datierung und manchmal sogar der Ermittlung des Autors, in jedem Falle jedoch die Unmöglichkeit, das Werk eines einzelnen Autors in seinem ganzen Umfang kennenzulernen, schließen jede traditionelle Form der Untersuchung (wie etwa eine rein monografische oder ausschließlich chronologische) aus. Hier ist ein ganz anderer Ansatz erforderlich, der einen breiteren Kontext mit einbezieht und unterschiedliche Methoden in einer komplexeren Weise miteinander verbindet.
Das vorliegende Buch stellt dabei nur einen ersten Schritt in diese Richtung dar.
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Jurij
Malzew 1981