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1.3 - Nicht können und nicht wollen - die Biologie und Psychologie des Nichtstuns

Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen.
Bertrand Russell (167)

 

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"Gerade jetzt, wo jeder sein Verhalten so dringend ändern müsste, spüre ich immer mehr Resignation und ertappe mich dabei, wieder weniger auf Umweltbewusstsein zu achten; die anderen tun es ja auch nicht", meint eine 41-jährige Grund­schullehrerin. Das Erschrecken angesichts der atemberaubenden Dimensionen der globalen Krise lähmt und führt zu widersprüchlichem Verhalten. Für viele stellt sich die Frage, was denn der eigene kleine Beitrag nützt bei derart umfassenden Problemen.

Eine Umfrage des Emnid-Institutes ergab, dass 44 Prozent der Deutschen bei allem Klimabewusstsein eine Änderung ihrer eigenen Gewohnheiten für zwecklos halten.(168) Für über 92 Prozent der Bevölkerung war jedoch laut der Studie »Umweltbewusstsein 2004« Ökologie ein wichtiges Thema.169 Auch 2014 meinen fast neun von zehn Befragten, dass wir in Deutschland auch für Umweltprobleme in anderen Ländern verantwortlich sind.170 Somit ist fast jeder für Umweltschutz, aber nur wenige tun etwas dafür. Sechs von sieben Deutschen befürworten den ökologischen Landbau, aber der Marktanteil liegt bei unter zehn Prozent (allerdings mit leicht steigender Tendenz). Über die Ausgangsituation wissen viele Menschen gut Bescheid, und doch weigern wir uns, die Konsequenzen dieses Wissens zu begreifen. Zwischen Theorie und Praxis liegen somit Welten. Zum schlechten Gewissen, trotz der Erkenntnisse zu Klimawandel und Ressourcenverbrauch nach Mallorca in Urlaub geflogen zu sein (dies damit ein letztes Mal), meinte noch 2006 ein ärztlicher Kollege: »Was, um so etwas machst Du Dir Gedanken?«

   Wahrnehmungsstörungen  

Billigflüge in den Urlaub mit weiter wachsendem Flugverkehr, höherer Marktanteil von spritfressenden Geländewagen, geringe Änderung der bisherigen umweltschädlichen Gewohnheiten - die Liste des »schizophrenen« menschlichen Verhaltens ließe sich beliebig fortführen. Wir tun das nicht aus Bosheit oder Faulheit. Vieles ist in uns fest verankert und daher nicht ohne weiteres beeinflussbar. »Menschen sind Tiere, und alles was wir tun, liegt in unserem biologischen Potential«, stellte der Paläontologe Jay Gould fest.171 Das knüpft an obige evolutionär-ökologische Überlegungen zu Grundbedürfnissen von Lebewesen, damit auch von Menschen, an.

Dementsprechend ist die Reichweite unseres möglichen Verhaltens einerseits durch unsere Biologie begrenzt, aber andererseits durch das speziell menschliche Bewusstsein, den Intellekt, fraglich erweitert. Dies wird auch durch die Diskussionen zum oft in Frage gestellten freien Willen des Menschen deutlich. In unseren Reflexen, Wahrnehmungen, Begierden, Ängsten und Urteilen äußert sich häufig ein nachweislich uraltes Programm, Ergebnis einer Mutationskette von einigen hunderttausend Generationen, der schon beleuchteten Evolution vom Affenstadium zum Homo sapiens.

Zunächst einmal ist bereits die Wahrnehmung einer Situation eingeschränkt. Gerne vertrauen wir auf unseren »gesunden Menschenverstand«, doch auf den ist nur in mancherlei Hinsicht Verlass. Er funktioniert nur dann, wenn Ereignisse kontinuierlich ablaufen und sich in ähnlicher Weise wiederholen. Unsere cerebrale »Software« ist auf Abläufe und Situationen spezialisiert, die sie als wahrscheinlich ansieht, und das sind Anforderungen, die uns bekannt sind oder an bereits gemachte Erfahrungen erinnern.

Das Nervensystem rechnet in Wahrscheinlichkeiten: was äonenlang und dann auch im bisherigen persönlichen Leben


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wahrscheinlich war, wird wohl auch weiterhin wahrscheinlich bleiben (schließlich geht jeden Morgen die Sonne auf, das wird auch so bleiben, und Tankstellen bieten Benzin schon seit meiner Geburt, also gefühlt bereits »eine Ewigkeit«; das wiederum muss aber nicht so bleiben). Diese uns angeborene Haltung wird aber lebensgefährlich in einer Welt des raschen Wandels, so der Molekularbiologe und Evolutionstheoretiker Hans Mohr.172 Die Fähigkeit zum Abschätzen der weiter entfernten Zukunft und das Vorstellungsvermögen für noch nicht da gewesene Katastrophen sind daher kaum gegeben. Gerd Eisenbeiß, bis 2006 Energievorstand im Kernforschungszentrum Jülich, stellt den Bezug zur schon betrachteten Evolution des Menschen her:

Es kam doch für Mensch und Gruppe über Millionen Jahre nur darauf an, nahe Räume zu überblicken und allenfalls den nächsten Winter zu bedenken. Nahrung bot nur der Nahraum und Langfristentwicklungen waren weder abschätzbar noch überlebensrelevant.173

Umweltgerechtes Verhalten überfordert also den Homo sapiens, was sich aus seiner Stammesgeschichte heraus erklärt.174 Altsteinzeitliche Jäger und Sammler waren nicht gezwungen, über den Schutz ihrer Lebensgrundlagen nachzudenken. Es wäre für sie sogar kontraproduktiv gewesen, die Folgen ihres Handelns in ferner Zukunft zu bedenken: Wer auf der Jagd zu lange nachgedacht hat, ist ohne Beute zurückgekommen. Heute aber ist die menschliche Kurzsichtigkeit eine der Wurzeln der entstandenen Umweltprobleme und ihrer mangelnden Behebung.

 

   Das Hirn liebt einfache Erklärungen  

 

Dementsprechend ist unser Verstand nicht geschaffen dafür, komplexe Sachverhalte und Systeme mit Rückkopplungen wie jetzt bei der ökologischen Krise zu begreifen. Wieso vergiften Bauern trotz bekannter gegensätzlicher Informationen sachkundig ihren Boden einschließlich Grundwasser? Wie vereinbaren Millionen aufgeklärte Zeitgenossen


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ihren steigenden Verbrauch an Energie mit ihrem Widerwillen gegen deren oft gefährliche Erzeugung?

Auch bei der Diskussion der Nahrungsmittelkrise sind wir schon sich selbst verstärkenden Effekten eines global vernetzten komplexen Systems begegnet. Unser Hirn ist - trotz der evolutionär erreichten Größe - nur wenig zum Erfassen nicht-linearer Entwicklungen, etwa des exponentiellen Wachstums, geeignet, denn auch das sind komplexe Sachverhalte. Weltbevölkerungszahlen, Industrieproduktion, Energieverbrauch und zahlreiche andere sozioökonomische Faktoren, aber auch Umweltschäden, sind über längere Zeiträume hinweg exponentiell gewachsen, vor allem seit Beginn der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Industrialisierung (siehe Abb. 1 im ersten Kapitel).175 Während wir also auf einfache, lineare Verhältnisse geeicht sind, sind es aber in erster Linie nicht-lineare Vorgänge, die unser Leben, auch unser Denken und Fühlen bestimmen. Unsere kognitiven Leistungen wurden evolutionär an eine Welt angepasst, in der es keinen Vorteil bedeutete, sich mit nichtlinearen, hochdimensionalen Prozessen zu beschäftigen, so der Hirnforscher Wolf Singer.176

Daher sind dem Nervensystem Monokausalität und einfache Erklärungen für die Wahrnehmung, aber auch für Verarbeitung und Reaktion wichtig. So sehen wir jemanden telefonieren, und nehmen automatisch an, dass es am anderen Ende der Leitung einen Partner dazu gibt. Allgemein gesagt: es gibt automatische, unbedingte Reflexe, etwa des Augenlids, oder das Ducken vor einem Wurfgeschoß. Auch sonst aber ist das menschliche Gehirn geradezu süchtig nach monokausalen Deutungen. Ursachen von Krieg, Krankheiten, Robbensterben, immer wird die eine - aber möglichst nur eine! - Ursache dafür gesucht. So wird gegenwärtig die Überforderung durch den Flüchtlingszustrom beklagt und die menschlich handelnde Kanzlerin dafür verantwortlich gemacht, ohne aber die dahinter stehenden komplexen Ursachen wie Kriege, Klimaextreme oder die ungerechte globale Verteilung von Gütern und Wohlstand zur Kenntnis zu nehmen.

Bedrohliche Situationen lösen oft auch eine Art Angststarre aus (in der Fachliteratur als »freezing-like behaviour« bezeichnet). Forscher sagen, dies sei evolutionär bedingt, blieb man doch durch ausbleibende


 

 

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