1.3 Nicht können und nicht wollen - Die Biologie und Psychologie des Nichtstuns Meißner-2017
"Die Frage heute ist, wie man die Menschheit überreden kann, in ihr eigenes Überleben einzuwilligen." Bertrand Russell (167)
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"Gerade jetzt, wo jeder sein Verhalten so dringend ändern müsste, spüre ich immer mehr Resignation und ertappe mich dabei, wieder weniger auf Umweltbewusstsein zu achten; die anderen tun es ja auch nicht", meint eine 41-jährige Grundschullehrerin. Das Erschrecken angesichts der atemberaubenden Dimensionen der globalen Krise lähmt und führt zu widersprüchlichem Verhalten. Für viele stellt sich die Frage, was denn der eigene kleine Beitrag nützt bei derart umfassenden Problemen.
Eine Umfrage des Emnid-Institutes ergab, dass 44 Prozent der Deutschen bei allem Klimabewusstsein eine Änderung ihrer eigenen Gewohnheiten für zwecklos halten.(168) Für über 92 Prozent der Bevölkerung war jedoch laut der Studie »Umweltbewusstsein 2004« Ökologie ein wichtiges Thema.169 Auch 2014 meinen fast neun von zehn Befragten, dass wir in Deutschland auch für Umweltprobleme in anderen Ländern verantwortlich sind.170 Somit ist fast jeder für Umweltschutz, aber nur wenige tun etwas dafür. Sechs von sieben Deutschen befürworten den ökologischen Landbau, aber der Marktanteil liegt bei unter zehn Prozent (allerdings mit leicht steigender Tendenz). wikipedia TNS_Emnid (bis 2014)
Über die Ausgangsituation wissen viele Menschen gut Bescheid, und doch weigern wir uns, die Konsequenzen dieses Wissens zu begreifen. Zwischen Theorie und Praxis liegen somit Welten. Zum schlechten Gewissen, trotz der Erkenntnisse zu Klimawandel und Ressourcenverbrauch nach Mallorca in Urlaub geflogen zu sein (dies damit ein letztes Mal), meinte noch 2006 ein ärztlicher Kollege: »Was, um so etwas machst Du Dir Gedanken?«
Wahrnehmungsstörungen ^^^^
Billigflüge in den Urlaub mit weiter wachsendem Flugverkehr, höherer Marktanteil von spritfressenden Geländewagen, geringe Änderung der bisherigen umweltschädlichen Gewohnheiten - die Liste des »schizophrenen« menschlichen Verhaltens ließe sich beliebig fortführen. Wir tun das nicht aus Bosheit oder Faulheit. Vieles ist in uns fest verankert und daher nicht ohne weiteres beeinflussbar. »Menschen sind Tiere, und alles was wir tun, liegt in unserem biologischen Potential«, stellte der Paläontologe Jay Gould fest.171 Das knüpft an obige evolutionär-ökologische Überlegungen zu Grundbedürfnissen von Lebewesen, damit auch von Menschen, an.
Dementsprechend ist die Reichweite unseres möglichen Verhaltens einerseits durch unsere Biologie begrenzt, aber andererseits durch das speziell menschliche Bewusstsein, den Intellekt, fraglich erweitert. Dies wird auch durch die Diskussionen zum oft in Frage gestellten freien Willen des Menschen deutlich. In unseren Reflexen, Wahrnehmungen, Begierden, Ängsten und Urteilen äußert sich häufig ein nachweislich uraltes Programm, Ergebnis einer Mutationskette von einigen hunderttausend Generationen, der schon beleuchteten Evolution vom Affenstadium zum Homo sapiens.
Zunächst einmal ist bereits die Wahrnehmung einer Situation eingeschränkt. Gerne vertrauen wir auf unseren »gesunden Menschenverstand«, doch auf den ist nur in mancherlei Hinsicht Verlass. Er funktioniert nur dann, wenn Ereignisse kontinuierlich ablaufen und sich in ähnlicher Weise wiederholen. Unsere cerebrale »Software« ist auf Abläufe und Situationen spezialisiert, die sie als wahrscheinlich ansieht, und das sind Anforderungen, die uns bekannt sind oder an bereits gemachte Erfahrungen erinnern.
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Das Nervensystem rechnet in Wahrscheinlichkeiten: was äonenlang und dann auch im bisherigen persönlichen Leben wahrscheinlich war, wird wohl auch weiterhin wahrscheinlich bleiben (schließlich geht jeden Morgen die Sonne auf, das wird auch so bleiben, und Tankstellen bieten Benzin schon seit meiner Geburt, also gefühlt bereits »eine Ewigkeit«; das wiederum muss aber nicht so bleiben). Diese uns angeborene Haltung wird aber lebensgefährlich in einer Welt des raschen Wandels, so der Molekularbiologe und Evolutionstheoretiker Hans Mohr.172 Die Fähigkeit zum Abschätzen der weiter entfernten Zukunft und das Vorstellungsvermögen für noch nicht da gewesene Katastrophen sind daher kaum gegeben. Gerd Eisenbeiß, bis 2006 Energievorstand im Kernforschungszentrum Jülich, stellt den Bezug zur schon betrachteten Evolution des Menschen her:
Es kam doch für Mensch und Gruppe über Millionen Jahre nur darauf an, nahe Räume zu überblicken und allenfalls den nächsten Winter zu bedenken. Nahrung bot nur der Nahraum und Langfristentwicklungen waren weder abschätzbar noch überlebensrelevant.173
Umweltgerechtes Verhalten überfordert also den Homo sapiens, was sich aus seiner Stammesgeschichte heraus erklärt.174 Altsteinzeitliche Jäger und Sammler waren nicht gezwungen, über den Schutz ihrer Lebensgrundlagen nachzudenken. Es wäre für sie sogar kontraproduktiv gewesen, die Folgen ihres Handelns in ferner Zukunft zu bedenken: Wer auf der Jagd zu lange nachgedacht hat, ist ohne Beute zurückgekommen. Heute aber ist die menschliche Kurzsichtigkeit eine der Wurzeln der entstandenen Umweltprobleme und ihrer mangelnden Behebung.
Das Hirn liebt einfache Erklärungen ^^^^
Dementsprechend ist unser Verstand nicht geschaffen dafür, komplexe Sachverhalte und Systeme mit Rückkopplungen wie jetzt bei der ökologischen Krise zu begreifen. Wieso vergiften Bauern trotz bekannter gegensätzlicher Informationen sachkundig ihren Boden einschließlich Grundwasser? Wie vereinbaren Millionen aufgeklärte Zeitgenossen ihren steigenden Verbrauch an Energie mit ihrem Widerwillen gegen deren oft gefährliche Erzeugung?
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Auch bei der Diskussion der Nahrungsmittelkrise sind wir schon sich selbst verstärkenden Effekten eines global vernetzten komplexen Systems begegnet. Unser Hirn ist - trotz der evolutionär erreichten Größe - nur wenig zum Erfassen nicht-linearer Entwicklungen, etwa des exponentiellen Wachstums, geeignet, denn auch das sind komplexe Sachverhalte. Weltbevölkerungszahlen, Industrieproduktion, Energieverbrauch und zahlreiche andere sozioökonomische Faktoren, aber auch Umweltschäden, sind über längere Zeiträume hinweg exponentiell gewachsen, vor allem seit Beginn der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Industrialisierung (siehe Abb. 1 im ersten Kapitel).175 Während wir also auf einfache, lineare Verhältnisse geeicht sind, sind es aber in erster Linie nicht-lineare Vorgänge, die unser Leben, auch unser Denken und Fühlen bestimmen. Unsere kognitiven Leistungen wurden evolutionär an eine Welt angepasst, in der es keinen Vorteil bedeutete, sich mit nichtlinearen, hochdimensionalen Prozessen zu beschäftigen, so der Hirnforscher Wolf Singer.176
Daher sind dem Nervensystem Monokausalität und einfache Erklärungen für die Wahrnehmung, aber auch für Verarbeitung und Reaktion wichtig. So sehen wir jemanden telefonieren, und nehmen automatisch an, dass es am anderen Ende der Leitung einen Partner dazu gibt. Allgemein gesagt: es gibt automatische, unbedingte Reflexe, etwa des Augenlids, oder das Ducken vor einem Wurfgeschoß. Auch sonst aber ist das menschliche Gehirn geradezu süchtig nach monokausalen Deutungen. Ursachen von Krieg, Krankheiten, Robbensterben, immer wird die eine - aber möglichst nur eine! - Ursache dafür gesucht. So wird gegenwärtig die Überforderung durch den Flüchtlingszustrom beklagt und die menschlich handelnde Kanzlerin dafür verantwortlich gemacht, ohne aber die dahinter stehenden komplexen Ursachen wie Kriege, Klimaextreme oder die ungerechte globale Verteilung von Gütern und Wohlstand zur Kenntnis zu nehmen.
Bedrohliche Situationen lösen oft auch eine Art Angststarre aus (in der Fachliteratur als »freezing-like behaviour« bezeichnet). Forscher sagen, dies sei evolutionär bedingt, blieb man doch durch ausbleibende Bewegung von einem Angreifer unbemerkt.177
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Demnach leitet das Gehirn bei drohenden Stimuli sofort einen Stopp ein. Kraftfahrer, die ins Schleudern kommen, erleben daher oft vor dem Aufprall einen jähen, in Panik mündenden Schwund von Reaktionsfähigkeit. Piloten weisen auf die Gefahr hin, dass beim plötzlichen Ausfall der elektronischen Netzwerke der Kopf mit der Verarbeitung der komplexen Informationen nicht mehr nachkommen kann, nur noch wenige Eindrücke aufgenommen und verarbeitet werden können, bis zur völligen Lähmung von Denken und Bewegung. Solch »artspezifisches Verhalten«, wie man es auch von Tieren kennt (Insekten, die gegen Scheiben fliegen; Fische, die ins Netz, oder Mäuse, die in die Falle geraten) »befördert uns der ökologischen Katastrophe entgegen«, so der Autor Peter Brügge.178 Neben der Angststarre scheint dabei aber wiederum die Überforderung durch Komplexität eine Rolle zu spielen.
In unseren Entscheidungen und Reaktionen sind wir zudem stark abhängig von unseren limbischen Hirnanteilen, dass sind Bereiche weit unter der Hirnrinde, die von außen kommende Reize mit Gefühlsempfindungen und Gedächtniserinnerungen verschalten. Es handelt sich um evolutionär »alte« Hirnanteile, im Gegensatz zur schon diskutierten Großhirnrinde, die sich später zum »Neocortex« erweitert hat. Diese nicht bewusst beeinflussbaren Schichten legen uns tagtäglich Entscheidungen nach einem archaischen Belohnungssystem nahe, das kurzfristige Befriedigung weit höher einschätzt und besser honoriert als langfristigen Nutzen, was auch durch neuere experimentelle Untersuchungen mit dem Kernspintomographen bestätigt wird.179 Dies verschafft dann auch schneller ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, die immer etwas Angenehmes ist.
Die selbst erzeugten und nun spürbaren Turbulenzen der Industrialisierung lassen sich nun aber leider nicht, wie vom Nervensystem eigentlich gewünscht, mit entsprechenden Vorerfahrungen vergleichen; ein Überblick über die immer komplexer werdenden Zusammenhänge lässt sich kaum gewinnen. Also geben sich viele Menschen mit einfachen (und dabei oft populistischen und manipulativen) Deutungsmustern zufrieden, die ihnen von manchen Politikern und Medien angeboten werden. Vielleicht können aber auch die es nicht besser. Der Neurophilosoph Thomas Metzinger spricht von einer »Evolution der Selbsttäuschung«,180 einer evolutionär bedingten mentalen Fehlrepräsentation der Wirklichkeit. Daher seien vor allem neuronal realisierte Muster aus der langen evolutionären Geschichte zentral bei den Faktoren, die zum Entstehen der heutigen Tatsachen geführt haben.
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Bedürfnis nach Cruppenzugehörigkeit und Abgrenzung ^^^^
Unseren evolutionär mitgebrachten genetischen und neuronalen Programmen sind wir jedoch nicht grundsätzlich hilflos ausgeliefert. Genetisch bedingte Sehstörungen können durch die kulturelle Entwicklung von Sehhilfen oder Operationen ausgeglichen werden, genetisch bedingte Mangelerscheinungen wie etwa die schon in der Jugend beginnende Zuckerkrankheit Typ
I können behandelt werden. Auch der Drang nach Absicherung gegen alle Arten äußerer Gefahr entspringt dem genetischen Erbe; die Werbung und entsprechende Angebote - Kultur also - helfen, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Ebenso ist die Sexualität heute kulturell stark beeinflusst, wenngleich noch fest in den evolutionären Prinzipien des Strebens nach Reproduktion und Verbreitung der eigenen Gene verankert.181Des Weiteren ist es nur dem Menschen möglich, sich künftige Bedürfnislagen zu vergegenwärtigen, auch wenn er das in der gegenwärtigen Krise kaum vermag. Er kann grundsätzlich Vorsorge treffen für noch gar nicht vorhandenen Durst, die Behandlung von Krankheiten oder Notfällen jeglicher Art. Auch dies macht sich die Werbung kulturell wieder zunutze, indem sie oft sogar illusorischen Bedürfnissen akute Dringlichkeit verleiht.
Jedoch gibt es allen früheren Annahmen zum Trotz keine von der »Natur« bzw. den Genen festgelegten sittlichen Spielregeln im Zusammenleben etwa wie Altruismus oder Gemeinnutz. Lebewesen, so auch die Menschen, verhalten sich nicht, wie man sich vielleicht wünschen würde, selbstlos zum Wohle der Art.182 Das wäre im Konkurrenzkampf um maximale Fortpflanzung, um Partner, um Brutplätze und Nahrung auch sehr hinderlich gewesen. Allenfalls im Dienst genetisch allernächster Verwandter konnte es die Vermehrung fördern, wenn ein einzelnes Lebewesen als »Held« oder »Arbeiter« auf die eigene Fortpflanzung verzichtete.
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Es gibt somit nicht die Arterhaltung als Gesetz der genetischen Evolution, allenfalls eine Verwandtenauslese. Genetische Vorteile sollen also für das nächste Umfeld gewonnen werden, etwa in einem Wolfsrudel oder Insektenstaat. Dabei werden aber durchaus auch eigene Artgenossen getötet, so wenn befruchtete Hummel-Königinnen sich im Kampf um einen guten Brutplatz gegenseitig tot stechen oder auch Nachwuchs vernichtet wird bei erkennbarer Bedrohung der zu erwartenden Brut oder auch bei Ressourcen-Verknappung. Nicht weit davon entfernt ist das Ergebnis einer Studie, dass die Gefahr, von Stiefeltern misshandelt zu werden, hundertmal so groß ist wie die einer Misshandlung durch die genetischen Eltern.183 Auch der Kampf um bessere Reviere und weitere Weibchen spielt bei der Tötung von Artgenossen bei hoch entwickelten Säugetieren eine Rolle (z. B. Sippenkriege unter Schimpansen).
Entsprechende Analogien gibt es somit auch beim Menschen, trotz aller kultureller Errungenschaften und dadurch erzielter Zivilisierung. Eroberung neuen Lebensraumes, Vernichtung lebensunwerten Lebens oder anderer »Rassen«, Eigennutz von Dynastien, Nationalismus, Versuche einer Gemeinschaftsbildung auch durch Politiker (»Landesvater«), aufkommende Fremdenablehnung, all das hat mittlerweile weniger mit der Bedeutung genetischer Unterschiede zwischen den Völkern zu tun, denn die vermischen sich zunehmend. Vielmehr wirkt hier eine Jahrtausende alte evolutionäre Entwicklung, entsprechend kulturell überbaut, bei der Sorge um die am nächsten stehende Gruppe von Artgenossen nach. Überhaupt nichts jedoch hat es zu tun mit Sorge um den Erhalt der Menschenart an sich.
Die Sozialpsychologin Beate Küpper meint zum dabei wirksamen menschlichen Bedürfnis, sich und andere Menschen irgendwelchen Gruppen zuzuordnen, egal ob es Muslime, Juden, Frauen, Schwule oder Anhänger von Schalke 04 sind:
Wir Menschen kategorisieren unsere Umwelt. Unser Gehirn kann gar nicht anders. Wir kategorisieren auch Menschen anhand von bestimmten Eigenschaften als Mitglieder von Gruppen. Jene, die man diesen Gruppen zuordnet, müssen sich diesen selbst gar nicht zugehörig fühlen. Es reicht, wenn ich selbst glaube, jemand gehört einer Gruppe an. 184
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Diese Kategorien werden dann gerne mit Stereotypen oder Vorurteilen verbunden, was es wiederum leichter macht, in einer komplexen Welt zurechtzukommen. Wir nehmen bevorzugt Informationen auf, die zu diesen vorgefassten Meinungen und Vorurteilen passen. Negative Eigenschaften werden dabei eher Fremdgruppen zugeordnet, positive den eigenen Gruppen. Sorge vor Konkurrenz und finanziellen Verlusten spielen häufig eine zentrale Rolle dabei (»die nehmen uns die Arbeitsplätze weg«), selbst wenn es einem durchaus gut geht. Allein die Angst, dies könnte sich ändern, reicht schon, um in Habacht-Stellung zu gehen und Konkurrenz zu wittern (dazu passt der Befund, dass dabei die Angst vor Verlust unser Handeln viel stärker bestimmt als das oft kritisierte Gewinnstreben185).
Auch das Leben unserer Vorfahren in Kleingruppen war gekennzeichnet von Konkurrenz um bessere Lebensmöglichkeiten und um Ressourcen, so der Bioethiker und Verhaltensökologe Eckart Voland. Signale, die die Zuordnung zu fremder oder eigener Gruppe erleichtern, konnten dabei äußere Körpermerkmale sein oder die Sprache, sind heute aber auch das Kopftuch oder Vereinsfahnen. Dazu passt ein Beispiel von Beate Küpper:
Sogar die willkürliche Einteilung von Menschen in einem Seminarraum in Zitronen und Apfelsinen führt dazu, dass die Beteiligten eine Gruppenidentität entwickeln und das jeweils andere Obst nicht mehr so mögen.186
Solchermaßen gefühlte Zugehörigkeit stärkt zumeist das eigene Selbstwertgefühl - und kann zur Abwertung anderer Gruppen führen. Es sind dann immer »die Anderen« (»die« Flüchtlinge, »die« Pegida-Anhänger, »die« weiter in Urlaub Fliegenden), auf die gezeigt wird. Je eher daher die Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls möglich ist, auch um unabhängig von eigenen Gruppen zu sein und um Elemente »der Anderen« auch in sich selbst erkennen zu können, und je mehr positive Erfahrungen im Kontakt mit anderen Gruppen erlebt werden, umso mehr kann Diskriminierung und Vorurteilen vorgebeugt werden. Zuwendung, Erziehung und Bildung sind also gefordert.
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Im menschlichen Körper wiederum zeigt sich die Sippenwirtschaft im Kampf der Immunzellen gegen alles Fremde, seien es Bakterien oder von Mutationen betroffene eigene Zellen. Sorge für sich selbst mit Abgrenzung nach außen gibt es also auch hier, dafür müssen die daran beteiligten Zellen und Mechanismen aber gut zusammenspielen. Damit kommen wir nochmals zu der Frage, ob auch Menschen im Zusammenleben gut kooperieren können, rein biologisch gesehen.
Der Mensch - von Natur aus kooperativ? ^^^^
Das Ganze ist relativ kompliziert: an sich verhalten sich Lebewesen im Ökosystem oft zwangsläufig kooperativ zueinander, etwa indem sie voneinander abhängig sind bei der Ernährung oder im Sinne von Wirt und Parasit. Auch Menschen sind häufig aufeinander angewiesen und verhalten sich dann zumeist unbewusst entsprechend - das Stillen des Säuglings und die Fürsorge für ihn bedürfen keines gezielten Impulses.
Die Aussage des Urforschers der Evolution, Charles Darwin, dass es einen Krieg der Natur und somit eine Grundeigenschaft aller Lebewesen einschließlich des Menschen gebe, gegeneinander ums Überleben zu kämpfen, darf als widerlegt gelten. Vielmehr weisen neuere neurobiologische Befunde darauf hin, dass es Kern aller menschlichen Motivation ist, zwischenmenschliche Zuwendung, Anerkennung und Liebe zu finden und zu geben, aus diesem Blickwinkel sind wir auf soziale Sicht und Resonanz angelegt. Der Psychiater Joachim Bauer erläutert dazu, dass der Mensch, ebenso wie eine Reihe von Tierarten, über ein neurobiologisches System verfügt, das eine intuitive wechselseitige soziale Einstimmung ermöglicht, nämlich das System der Spiegelnervenzellen.1S7 Dies sorgt demnach dafür, dass ein Individuum das, was es bei einem anderen Individuum der gleichen Art wahrnimmt, im eigenen Organismus nacherlebt, im Sinne einer stillen inneren Simulation. Eigenes Schmerzempfinden bei Verletzungen Anderer oder ansteckende emotionale Stimmungen sind Beispiele dafür.
Der Primatenforscher Frans de Waal wendet sich ebenso gegen klassische Aussagen der Evolution, etwa dass der Mensch des Menschen Wolf sei.188 Dem setzt er entgegen Gefühlsqualitäten wie Mitleid, Ein-
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fühlung, Interesse und Selbstlosigkeit, die er auch bei Menschenaffen erkannt hat. Auch bei Pavianen, so de Waal, kann man Kooperation, Trösten, Dankbarkeit und Gemeinschaftssinn entdecken.
Beim Menschen wiederum belohnt das Gehirn gelungenes Miteinander durch die Ausschüttung von Botenstoffen, vor allem von Dopamin, die gute Gefühle und Gesundheit erzeugen würden, meint Joachim Bauer. Auch er betont das Prinzip der Kooperation in der Evolution, es sei überhaupt die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung von Leben gewesen, dann auch für die Entwicklung komplexerer biologischer Systeme, wofür zahlreiche biologische Strukturen, Moleküle, die in einer Doppelhelix angeordnete Erbsubstanz und etliche Prozesse zusammenspielen (kooperieren) mussten. Darwin hätte seiner Ansicht nach seine Schlussfolgerungen hinsichtlich eines Kampfes um das Dasein getroffen unter dem Eindruck global katastrophaler Bedingungen wie vor über 65 Millionen Jahren, als sich geophysikalische und klimatische Voraussetzungen drastisch veränderten. Bauer führt dann aber aus:
Jedermann weiß allerdings, dass wir, nachdem wir zur herrschenden Spezies der Erde geworden sind und Vernichtungspotenziale bisher ungekannten Ausmaßes entwickelt haben, auch selbst in der Lage sind, ein Horrorszenario herzustellen, wie es sich vor über 65 Millionen Jahren abgespielt haben muss. Dazu keinen Beitrag zu leisten, sollte unsere Sorge gelten.189
Somit stellt sich die Frage, warum wir, wenn doch Kooperation in der Natur das vorherrschende Prinzip sein soll, dann herrschende Spezies der Erde geworden sind, täglich Tierarten vernichten und die erwähnten bedrohlichen Vernichtungspotenziale gegen uns selbst entwickelt haben. Die nötigen Rückkoppelungen durch gegenseitige Abhängigkeiten haben für den Menschen mittlerweile versagt, wir haben die entsprechenden Naturkreisläufe längst verlassen, und damit auch den für Kooperation nötigen Respekt vor den Pflanzen und Kreaturen auf diesem Planeten verloren, aber auch vor Menschen anderer, uns fremder Gruppen.
Denn zumeist beziehen sich Kooperation und Empathie zwischen den Menschen, wie schon erwähnt, vorwiegend auf die jeweils
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nahe stehende Gruppe von Artgenossen, schließlich sind wir stammesgeschichtlich davon geprägt, in kleinen Gruppen zu leben. Hierzu ist seit den 90er-Jahren die Dunbar-Zahl bekannt. Laut Forschungen des Anthropologen Robin Dunbar beschreibt sie die theoretische kognitive Grenze der Anzahl an Menschen, mit denen eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann; sie liegt im Allgemeinen bei 150.190
In solchen Kleingruppen mit großer Verwandtschaft und der Notwendigkeit, langfristig zusammenzuarbeiten, hätte kaum ein Mitglied aus kurzfristigem Gewinndenken heraus ein anderes Mitglied vor den Kopf gestoßen. Dieses Prinzip ist jedoch in der Anonymität der heutigen Lebensweise, beispielsweise an der Börse, außer Kraft gesetzt, meint der Evolutionsbiologe Ulrich Frey.191 In den früheren Jäger- und Sammler-Gruppen gab es zudem keine großen Unterschiede zwischen den Mitgliedern, Lasten waren vermutlich weitgehend fair verteilt, was auch Voraussetzung für kooperatives Handeln ist, so der Evolutionspsychologe Michael Tomasello. Er erläutert günstige Bedingungen für Kooperation aus seiner Sicht:
Unsere Bereitschaft zu helfen, stellt nur den einen Teil unseres Wesens dar. In gleicher Weise achten wir auf unseren Vorteil. Und unterschiedliche Lebensumstände kehren unterschiedliche Aspekte dieses Janus-Charakters hervor. Hat jemand Hunger, wird er mit Nahrung weniger großzügig sein, ganz einfach. Es gibt Bedingungen, die jeweils kooperatives oder egoistisches Verhalten entstehen lassen.
Wir sollten darauf achten, Bedingungen zu schaffen, die Kooperation ermöglichen. Die erste lautet: Menschen sind hilfsbereiter, wenn Nutzen wie Lasten, Rechte wie Pflichten fair verteilt werden. Fairness ist eine Voraussetzung für Zusammenarbeit. Die zweite ist: Die biologischen Wurzeln der Kooperation liegen in der Gruppe - und das hat Folgen. Wenn man sich heutige Jäger-Sammler anschaut, fällt auf, dass sie alle sehr egalitär sind. Die Mitglieder teilen erwirtschaftete Nahrung, privater Besitz dagegen zählt kaum etwas.
Aber seit der Erfindung der Landwirtschaft vor gut 10.000 Jahren haben wir begonnen, in riesigen Städten mit vielen Menschen, Sprachen, Religionen und Kulturen zu leben. Diese Umgebung stellt diese kooperative Grundeinstellung auf die Probe. Je weiter man sich von seiner Kerngruppe wie etwa der Familie entfernt, umso schwieriger wird es, das Miteinander aufrechtzuerhalten. 192
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Es fällt nicht leicht, sich mit diesen Erkenntnissen eine erfolgreiche Kooperation von Menschen und Staaten, wie sie nun weltweit notwendig ist, vorzustellen, zumal offenbar bereits die Furcht vor Hunger zu Konkurrenzverhalten führen kann, wie oben dargestellt. So verweist auch die Hirnforscherin Tania Singer darauf, dass wir unter Stress uns vor allem um uns selbst kümmern.193 Bei Forschungen zu gelingender Kooperation ist man zudem nur an zwei Stellen fündig geworden, zum einen eben in der direkt umgebenden Gruppe, zum anderen dann, wenn Kooperation reziprok erfolgt, etwa unter dem Motto »Eine Hand wäscht die andere«, oder »wie du mir, so ich dir«,194 was letztlich auch wieder mit erwähnter Fairness als günstiger Kooperationsbedingung zu tun hat.
Es zeigte sich auch, dass die Wahrscheinlichkeit für kooperatives Verhalten signifikant größer wird, wenn wir uns beobachtet fühlen, was in der direkt umgebenden Gruppe sicher meist der Fall ist. Den Menschen geht es sehr um ihre Reputation in der Gruppe. So wurde über einem Teeautomaten, an dem man freiwillig zahlen konnte, ein Bild mit zwei Augen angebracht, was zu einer deutlichen Erhöhung des Zahlbetrages führte. Bei einem weiteren Experiment zahlten die Studenten mehr ein für den Erhalt des Klimas, wenn sie wussten, dass jeder erfährt, wer wie viel gespendet hatte. Auch wenn solche Laborsituationen nie die Komplexität von Wirklichkeit und Mensch vollständig abbilden können, können sie zumindest ein Mosaiksteinchen zum Verständnis menschlichen Verhaltens liefern.
Vielleicht müsste somit außer über den Ruf des Einzelnen auch über die Reputation von Nationen oder Staatsverbünden gearbeitet werden. Die Haltung Deutschlands in der Flüchtlingsfrage oder die anfängliche Vorreiterrolle bei der Energiewende haben durchaus einen solchen Effekt gehabt. Auch leidet zunehmend der Ruf von Ländern, die den Klimavertrag von Paris nicht unterstützen - immerhin. Ob dies auch bei der gerechten Ressourcen- und Treibhausgasaufteilung oder beim nötigen Ausgleich der globalen Wohlstandsschieflage in historisch bisher nie da gewesener Situation funktioniert, muss offen bleiben, erscheint aber unwahrscheinlich.
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Die Rolle von Bindung und Beziehungen für Kooperation und Aggression ^^^^
Auch der Psychiater Joachim Bauer betont, dass sich mit gemeinschaftlichem Vorgehen Vorteile im Konkurrenzkampf erzielen lassen würden. Lebewesen würden durchaus um ihr Überleben kämpfen, wenn sie bedroht seien. Sie würden jedoch dort, wo Ressourcen knapp würden, keineswegs immer mit Kampf reagieren, sondern von der Fähigkeit zur Selbstregulation Gebrauch machen, also etwa die Fortpflanzungsraten senken. Dies scheint der Mensch in den westlichen Industriestaaten bereits unbewusst zu vollziehen, wenngleich hier ursächlich auch frucht-barkeitsmindernde Umweltschäden wie etwa chemische Einflüsse diskutiert werden. Selbstregulation könnte beim Menschen aber auch bedeuten, dass die Population durch gravierende kriegerische Konflikte gesenkt wird, wir haben das bei Betrachtung der Entropie schon gesehen.
Zwischenmenschliche Aggressionen entstehen nach Bauer jedoch erst bei dauerhaft gestörten Beziehungen oder dem Verlust von Bindungen, was heute fast schon die Regel ist, sieht man sich die hohe Zahl von gescheiterten Lebensgemeinschaften und Ehen, die Mobilität, soziale Entwurzelung und häufig große Entfernung von Familie und Freunden an. Betroffen ist von instabilen Bindungen dann auch der Nachwuchs, der eine sichere Bindung jedoch zwingend für eine gelingende Entwicklung braucht. Eine primär nicht ausreichend stabilisierte Persönlichkeit ist anfälliger für unsoziale Reaktionen. So weist der Psychiater Stefan Brunnhuber darauf hin, dass über 50 Prozent der Bevölkerung der EU und in den USA ein instabiles und/oder chaotisches Bindungsverhalten aufweisen, was die gesellschaftliche Bedeutung dieses Empathiefaktors unterstreicht.195
Weitere ungünstige und nicht ohne weiteres zu ändernde Bedingungen kommen hinzu. So gibt es Hinweise, dass die Mikrosysteme Partnerschaft und Kleinfamilie besser gelingen, wenn sie in ein größeres
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System, eine direkt umgebende Gruppe von Großfamilie oder Freunden eingebunden sind.196 Ist dies wie heute weniger gegeben, werden die Fokussierung auf die Partnerschaft und die Erwartungen an ein Gelingen, damit aber leider auch die Chance für ein Scheitern umso größer.
Die Bedeutung sozialer Aspekte wie in Gemeinschaft verbrachte Zeit, die zur Gruppenbildung und damit auch zu Kooperation beiträgt, wird heute oft unterschätzt, etwa auch bei der Klage von Arbeitgebern über zu viele Feiertage und Urlaubszeiten, oder durch versetzte Arbeitszeiten, die gemeinsame Aktivitäten in Familie und Freundeskreis erschweren. Es gibt somit auch ökonomisch bedingte Hindernisse für gelingende zwischenmenschliche Beziehungen. Auch im digitalen Zeitalter gelingen diese nur fraglich, wie wir noch sehen werden, fehlen doch trotz vieler sogenannter Freunde, die man im virtuellen Raum haben mag, oft im analogen Leben die Vertrauenspersonen, was in Notzeiten dann besonders auffällt. Auch gibt es Hinweise darauf, dass mit zunehmender Beschäftigung mit Internet und Smartphone die Empathie nachlässt, die Voraussetzung ist für gelingende zwischenmenschliche Beziehungen und auch den Schutz von Tier und Natur.
Zudem haben wir wohl aus der frühen Evolutionsphase einen Drang zu nomadenhafter Lebensweise mitgebracht.197 Die ist jetzt, wo sich über sieben Milliarden Menschen auf der Erde tummeln, nur mehr wenigen Stämmen möglich. Die Fläche ist für das in uns angelegte Sozialverhalten zu klein geworden, es kommt zu »Dichtestress«. Die weite Wildbahn, die wir als Jäger und Sammler brauchten, finden wir nur noch durch Nichtwahrnehmung anderer, etwa indem wir in der Fußgängerzone starr aneinander vorbei laufen, oder im ersehnten eigenen Haus sowie virtuell in den Weiten des Fernsehens und Internets. Ein Jagdausgleich ist allenfalls teilweise durch Sport möglich. Der Dichtestress mit seinen dadurch entstehenden Aggressionen zeigt sich aber besonders anschaulich auf der Autobahn, in langen Schlangen etwa vor Verkaufsschaltern oder in Notzeiten, wenn Waren knapp zu werden drohen, aber auch in der Konkurrenz um rar gewordene Arbeitsplätze.
Idealistische Überlegungen zu von Natur aus gegebener Kooperation mögen daher vielleicht Gültigkeit gehabt haben für die weit überwiegende Zeit des menschlichen Daseins auf diesem Planeten, nämlich für die Jäger- und Sammlerphase mit einem Leben in übersichtlichen Kleingruppen.
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Bei heute oft mangelndem Vertrauen zwischen verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen, großstädtischer Anonymität, global unfairer Unterschiede der Lebensbedingungen sowie erheblichem Bevölkerungs- und Konkurrenzdruck sind die Voraussetzungen für gelingende Kooperation eher ungünstig, so dass die primär prosozial ausgerichteten Motive menschlichen Handelns198 nicht zur Geltung kommen. Der Mensch ist also nicht von vornherein egoistisch oder aggressiv, kann es aber werden, wenn er unter Druck kommt, wenn die äußeren Rahmenbedingungen sich verschlechtern oder diese schon von Beginn seiner Entwicklung an ungünstig waren.
Die oft beschworene Aussicht auf eine große Transformation des Bewusstseins erscheint unter diesem Blickwinkel wenig wahrscheinlich, die vielen durchaus richtigen Forderungen, was nun geschehen müsste, werden das nicht bewirken können. Für den durchaus vorstellbaren Fall eines plötzlichen Zusammenbruchs der Energieversorgung, eines plötzlich beschleunigten Klimawandels oder ähnlicher Erschütterungen, die weite Regionen, mehrere Länder oder die ganze Welt betreffen können, wäre dann der Rückweg von der Luxuszivilisation in die Steinzeit dank des alten Genoms nur eine Frage von Stunden, warnt der Molekularbiologe Hans Mohr.199 Artspezifische Überlebensinstinkte, Eigennutz und schlummernde Brutalität könnten so rasch zum Vorschein kommen.
Unter Stress aber kommen die Gesellschaften durch die ökologische Krise schon jetzt, wenn auch indirekt und schleichend. Zu erwähnen sind etwa zunehmende Flüchtlingsbewegungen, Wetterextreme oder auch Diskussionen um Stromtrassen am eigenen Vorgarten vorbei. Abgrenzungen gegenüber Asylbewerbern und Ausländern mit Angst vor Überfremdung sowie der dabei in den westlichen Ländern zunehmende Hang zum Rechtspopulismus sind wohl schon ein Ausdruck vom unter Stress zunehmenden Kümmern um sich selbst. Für Empathie und Fürsorge sind bessere Bedingungen notwendig als sie sich jetzt abzeichnen.
Die biologische und evolutionäre Menschenbeschreibung ist häufig nicht beliebt, da hierbei auch die großen kulturellen und künstlerischen Errungenschaften des Menschen letztlich auf Naturprozesse zurückgeführt werden und die Fehlentwicklungen unveränderbar erscheinen.
Es gelte, verlangen die Soziobiologen, sich dieser Natur bewusst zu werden, wozu grundsätzlich aufgrund der speziellen menschlichen Fähigkeiten
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die Chance besteht, um diese tief verankerten neuronalen Muster vielleicht doch noch kulturell unter Kontrolle zu bringen und den gebotenen Verstandeskurs aufzunehmen. Allerdings sind noch andere in uns wohnende Eigenheiten zu betrachten, die uns daran hindern, unser Verhalten den gravierenden Problemen entsprechend zu verändern. Teilweise in Überschneidung mit den dargestellten biologischen und evolutionären Aspekten spielen psychische Faktoren eine ganz erhebliche, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle dabei.
Zu wenig spürbar, zu weit weg und zu komplex: Die Psychologie des Nichtstuns ^^^^
Umweltpsychologen haben geholfen, besser zu verstehen, warum wir uns so widersprüchlich verhalten, nämlich die Notwendigkeit zu handeln erkennen, aber selbst kaum etwas tun. So weist Daniel Gilbert auf vier Gründe dafür hin.200 Offensichtlich vollziehen sich demnach die Veränderungen zu langsam und gemächlich, wodurch unsere Sinne sie nicht entsprechend wahrnehmen. Die Temperaturen steigen viel zu langsam, die Meeresspiegel ebenso, die Sturmwinde nehmen nicht schnell genug zu. Stattdessen sehen wir weiter blühende Wiesen im Frühling, blauen Himmel, die Zapfsäulen spenden weiter Benzin, auch aus dem Wasserhahn kommt stetig fließend gutes Trinkwasser, die Supermärkte sind reichlich bestückt, und auf Knopfdruck funktionieren immer noch alle Geräte. Das menschliche Dilemma ist es, dass auf kurzfristige heftige Veränderungen - wie einen einzelnen Sturm, eine Hitzewelle im Sommer oder höhere Benzinpreise - durchaus präzise - etwa durch Vorsichtsmaßnahmen oder weniger Autofahren - reagiert werden kann, aber nicht auf einen schleichenden Wandel wie etwa die globale Erwärmung.
Ein solcher Wandel wiederum verschiebt langsam die Grundkoordinaten unseres Daseins, ohne dass wir es merken. Die gebaute Umgehungsstraße ist dann einfach da, und wird nun auch von ihren ursprünglichen Gegnern benützt. Die Plastikkörner an vielen Stränden weltweit sind ebenso einfach da, und lassen den ursprünglichen Zustand vergessen. Auch oben wurden schon Beispiele schleichender Veränderung
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erwähnt, etwa vermehrte Wetterextreme oder zunehmende Flüchtlingsbewegungen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer erklärt dieses Phänomen, wie man sich derart an schleichende Veränderungen und langsam heraufziehende Katastrophen gewöhnen kann, sehr anschaulich:
Vor einigen Jahren gab es eine kluge Studie, für die man zwei Generationen von südkalifornischen Fischern befragt hat, wie sie Umweltveränderungen wahrnehmen, wie weit hinaus sie fahren, um ihre Fänge zu machen, und was sie von der Veränderungen des Artenreichtums bemerken. Man hat festgestellt, dass das Problembewusstsein bei den Jüngsten am geringsten ausgeprägt war.
Intuitiv würde man das Gegenteil annehmen, weil wir seit Jahren intensive Diskussionen über Umweltprobleme haben. Hier kommen sogenannte Shifting Baselines zum Tragen. Sie verändern den Gewohnheits- und Wahrnehmungsapparat: Die Jüngeren haben schon unter Verhältnissen angefangen, unter denen es gar nicht mehr so viele Fische gegeben hat, während sich die Älteren daran erinnern konnten, dass zu Beginn ihres Berufslebens die Situation ganz anders war. Die konnten in Küstennähe fischen und haben das 20-fache an Arten gefangen.(201)
Diese Shifting Baselines betreffen nahezu die gesamte Lebenswelt und sind nicht per se negativ. So sind heute frühere Zeiten ohne Mobiltelefon und Computer unvorstellbar. Aber man kann sich eben auch an wärmere Temperaturen, häufigere Stürme, weniger Insekten und früher im Jahr beginnende Allergien gewöhnen. Das ist dann einfach so, und damit lebt man, und spätestens für die nächste Generation ist das dann völlig normal.
Zweitens, so Gilbert, bedroht zwar die ökologische Krise momentan noch eher unsere Zukunft, aber die Zukunft erscheint als noch weit weg. Menschen, wie alle Säugetiere, reagieren zunächst auf eine klare und eindeutige Gefahr. Wie wir bei den Verrechnungsmethoden des Nervensystems schon gesehen haben, fällt es uns jedoch noch schwer, die fernere Zukunft so wie die Gegenwart zu behandeln.
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Der Klimaforscher Robert Corell empfahl daher schon im Jahr 2008, nicht immer nur von den Problemen am Ende dieses Jahrhunderts zu sprechen, sondern mehr darüber, was uns schon im Jahr 2015 erwartet.202 Das haben wir nun bereits hinter uns gelassen, aber geändert hat sich im Grunde nichts. Denn das weiter vorausschauende Handeln liegt dem menschlichen Handeln und Denken nicht203, wie dies schon aus biologischer Sicht deutlich wurde.
Noch dazu macht es kein Vergnügen, langfristig zu planen, nur um Katastrophen zu vermeiden und dafür sich beschränken zu müssen. Die Forscher bei Google, amazon und facebook denken zwar durchaus über ihre Quartalszahlen hinaus, aber nur unter dem Aspekt, wie sich die Welt noch mehr technisieren und digitalisieren lässt, dies jedoch nur gewinn-, nicht etwa gemeinwohlorientiert.
Die Menschen generell aber, so auch Politiker und Ökonomen, denken und handeln kurzsichtig und kurzfristig, zudem ist die Krise häufig unkonkret. Würde etwa die Klimaerwärmung uns hie und da ein Auge ausschlagen, so Gilbert, hätten wir sie schon längst im Griff: es wäre ein konkreter und jetzt schon spürbarer Reiz. Dementsprechend verursachen die schon ablaufenden Veränderungen noch keinen oder nur einen geringen direkten Leidensdruck, etwa einen spürbaren Mangel oder Schmerz. Es fehlt also der direkte Erfahrungsbezug, meint auch der Umweltpsychologe Hans Spada.204
Verhaltenspsychologen haben in diesem Zusammenhang auch entdeckt, dass, so lange nichts Schlimmes passiert als Konsequenz des bisherigen Verhaltens, dieses wiederum verstärkt wird durch das trügerische Urteil, dass es ja gut war, wie man bisher alles gemacht hat.205 So wurde auch bei der Finanzkrise 2008 trotz vorheriger Mahnungen erst reichlich spät reagiert. Und noch scheint es ja im Wesentlichen richtig gewesen zu sein, wie unser wachstumsorientiertes Wirtschaften die letzten Jahrzehnte funktioniert hat, es ist ja umweltmäßig anscheinend noch nichts richtig Schlimmes passiert. Zudem sind Menschen in ihrem Alltag eher mit Arbeitslosigkeit, Problemen im Job oder ihrem defekten Auto beschäftigt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bedrohungen nicht klar und eindeutig sind, sondern diffus, komplex, in der Wahrnehmung zu groß für den Einzelnen und in der Öffentlichkeit umstritten.
Nicht abschätzen zu können, welche Konsequenzen diese Bedrohungen doch haben könnten, macht uns zwar immer wieder unruhig,
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aber um dieses unangenehme Gefühl rasch zu beseitigen, neigen wir dann dazu, uns selbst zu beruhigen, unter dem Motto: das schaffen wir schon. Umweltpsychologen nennen das eine »Kontrollillusion«.206 Ein Raucher, danach befragt, ob er denke, Lungenkrebs bekommen zu können, schätzt die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering ein. Ähnlich mit den ökologischen Problemen: so schlimm wird's schon nicht kommen, denken viele, oder: das kriegen wir dann schon noch hin.
Und - drittens - fällt es uns sowieso schwer, sachliche Notwendigkeiten zu reflektieren. Nach Gilbert ist unser Hirn eher darauf spezialisiert, über andere Menschen und ihre Absichten oder von ihnen ausgehende Bedrohungen nachzudenken und sie zu interpretieren, was evolutionäre Wurzeln hat, - aber nicht über Ereignisse. Würde demnach ein brutaler Diktator die Erderwärmung verursachen, stünde sie auf der Agenda ganz oben. Viertens schließlich berühren all diese Probleme nicht unsere moralischen Empfindlichkeiten. Fühlen wir uns beleidigt oder angewidert, handeln wir. Aber die ökologische Krise verletzt weder unser Schamgefühl noch unsere Glaubensvorstellungen, noch ekeln wir uns vor ihr.
Andere tun ja auch nichts -und aileine bin ich machtlos ^^^^
Des Weiteren ist der Zuschauereffekt von Bedeutung.207 Bevor man an die eigene Betroffenheit und Verantwortung denkt und vor der eigenen Haustür kehrt, sollten doch zunächst einmal andere etwas tun, etwa unsere Politiker und Wirtschaftsführer oder auch die Chinesen und Inder, indem die doch bitte, wenn überhaupt, dann gleich umweltfreundliche Autos und Industrien einführen mögen. Die anderen machen es doch auch nicht besser, also muss man selbst ja nichts tun.
Dies wurde auch schon als »umgekehrtes Tritfbrettfahrersyndrom« bezeichnet:208 Jeder wartet darauf, dass der andere handelt. Man überträgt projektiv seine persönliche Verantwortung auf die Gemeinschaft. So wird manchmal ein gesamtes Kollektiv handlungsunfähig. Der Zuschauereffekt zeigt sich im Übrigen auch bei gewaltsamen Übergriffen: je mehr Menschen hierbei zusehen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift. Diese meist halb- bis unbewusste Orientierung am
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Mehrheitsverhalten prägt somit, ebenso wie die erwähnten Shifting Baselines, unsere Normalitätsvorstellungen.209 Es ist bei uns die Regel und damit normal, einen großen ökologischen Fußabdruck zu haben.
Ein weiterer Faktor, der das ökologische Nichtstun psychologisch begründet, ist dabei das Grundbedürfnis, zu einer Gruppe bzw. zur Gesellschaft dazu zu gehören,210 es ist uns schon begegnet. Wer nicht in Urlaub fliegt oder auf das Auto verzichtet, wird da rasch zum Sonderling. Dies auszuhalten oder sogar etwas Positives für sich dabei herauszuziehen, erfordert eine besonders stabile Persönlichkeit, die sich von Meinungen anderer unabhängig machen kann.211
Eine Rolle spielen auch Ohnmachtsgefühle, so einerseits angesichts der großen komplexen Bedrohung, als Einzelner sowieso nichts ausrichten zu können, und andererseits den Launen der Natur ohnmächtig und hilflos ausgeliefert zu sein, wie etwa bei dem Tsunami im Dezember 2004 in Südostasien. Das wiederum stärkt dann die latent vorhandene Überzeugung, dass wir »kleinen« Menschen angesichts einer solchen Naturkatastrophe ja gar nicht in der Lage sind, die globalen Lebensbedingungen zu gefährden. So meinte ein Autor, dass wir uns in unserer globalen Wirksamkeit bitte nicht zu viel einbilden sollten.212 Gerne schieben wir dann die Warnungen von Ökologen oder Systemanalytikern wieder als Alarmismus beiseite.213
Wissenschaftlich wurde auch festgestellt, dass stabile soziale Bindungen - hier begegnen sie uns wieder - einen positiven Einfluss auf das ökologische Bewusstsein ausüben.214 Das leuchtet ein: wer nicht zu stark mit aktuellen Konflikten oder früheren Ärgernissen und seelischen Verletzungen beschäftigt ist, kann sich in Wahrnehmung und Engagement leichter nach außen öffnen, auch für ökologische Fragestellungen. Wie schlecht es aber heute um stabile soziale Bindungen bestellt ist, wurde schon deutlich.
Verleugnung als zentraler Abwehrmechanismus ^^^^
Lange Zeit wurde die Bedrohung im Finanzsektor nicht wahrgenommen, ähnlich wie seit Jahrzehnten bereits im ökologischen Bereich. Verleugnung und Nicht-Wahrhaben-Wollen sind in beiden Fällen die wesentlichen psychologischen Abwehrmechanismen.
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Dabei ist zu klären, was mit »Abwehrmechanismus« überhaupt gemeint ist. Dieser Begriff aus der Psychologie, vor allem der Freudschen Psychoanalyse, bezeichnet unbewusste psychische Vorgänge, die dabei helfen sollen, miteinander in Konflikt stehende Wünsche und Werte so zu bewältigen oder zu kompensieren, so dass das seelische Befinden möglichst ungestört bleibt. Diese Mechanismen haben zunächst eine nützliche Funktion. Würde man allen spontan auftauchenden Triebregungen und Emotionen unmittelbar nachgeben, wäre man selbst und in der Folge auch die Umwelt hoffnungslos überfordert; auch Aufmerksamkeit und logisches Denken funktionieren nur dann optimal, wenn es einer Person gelingt, störende Gedanken und Phantasien zu unterdrücken und zu verdrängen oder unliebsame Wahrnehmungseindrücke zu verleugnen.
Auch Verleugnung ist daher zunächst allgegenwärtig und nicht von vornherein als auffällig zu bewerten. So dienen schon viele Phantasie-und Rollenspiele sowie elterliche Beruhigungsstrategien in der Kindheit dazu, die Wirklichkeit umzuleugnen und sich über Unlust hinwegzusetzen.215 So wird auch dem kleinsten Kind versichert, »wie groß« oder »wie stark« es schon ist, oder dass die frische Wunde »schon gar nicht mehr weh tut«.
Bedrohende oder traumatisierende Ereignisse aber, wie etwa der Tod eines Elternteiles, werden durchaus wahrgenommen, jedoch häufig durch Verleugnung in ihrer Bedeutung auf ein Minimum reduziert, um Traumatisierungen zu vermeiden (das kann bis zur Dissoziation gehen, also der Abspaltung der bedrohlichen Gefühle, an deren Stelle dann später andere Symptome wie Gedächtnis- und Bewegungsstörungen oder Anfälle treten können). Dadurch werden dann auch dazugehörige unangenehme Gefühle wie Trauer, Wut oder Angst nur unbewusst erfahren. Die betreffende Person kann sich zwar später an das Erlebnis erinnern, es fehlt aber die Verbindung zu dem Teil des Gedächtnisses, in dem emotional relevante Eindrücke gespeichert sind, die einen selbst dabei betreffen. Häufig wird die Verleugnung und Abspaltung eines emotionalen Erlebnisbereiches, wie etwa der Trauer, von einem Kind in der Identifizierung mit der elterlichen Verarbeitungsweise trauriger Erlebnisse übernommen, so dass sich generationsübergreifend Verleugnungsmechanismen tradieren können.
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Diese mangelnde emotionale Auseinandersetzung aber kann sich bei der hier diskutierten Umweltsituation als fatal erweisen. Sie sorgt ihrerseits für innere Konflikte und schlechtes Gewissen. Eine Überflutung von dabei lange verdrängten Gefühlen wie Wut, Angst oder Schuld dann, wenn es zu spät ist, wird einer sachgerechten Problembewältigung nicht dienlich sein.
Zunächst aber sind bei der Verleugnung weitere Abwehrmechanismen hilfreich, so etwa die Verkehrung ins Gegenteil. Dazu gehört die Behauptung, es sei ja alles nicht so schlimm, es seien vielmehr die Alar-misten, die gefährlich wären. Weitere Abwehrmechanismen in diesem Zusammenhang sind die Rationalisierung, die der Glättung von Widersprüchen und kognitiven Dissonanzen dient, oder die Projektion, wenn von anderen Personen das erwartet wird, was man selbst nicht bereit ist zu leisten, oder man Gefühle wie Wut oder Ärger für sie empfindet, die mehr mit einem selbst als diesen zu tun haben (so der Ärger über die Unfähigkeit von Politikern, während man selbst auch nicht viel zu einer Änderung der Situation beiträgt; oder die irrationale Wut auf Flüchtlinge, die mehr mit eigenen finanziellen Sorgen zu tun hat).
Es wurde schon deutlich: der Mechanismus der Verleugnung wird von klein auf eingeübt. Studien zeigen, dass die Besorgnis angesichts der Umweltzerstörung mit Eintritt in das Erwachsenenalter abnimmt.216 Hierbei scheint die in jungen Jahren noch vorhandene Sensibilität für die Umweltproblematik unter den Zwängen der Alltagsbewältigung zurückzutreten, so das Umweltbundesamt zum Umweltbewusstsein 2014.217 Das ändert sich erst später wieder: so zeigte eine englische Untersuchung 2015, dass Menschen im Alter von 50+ tendenziell eher »grün« gesinnt sind als wiederum diejenigen, die 20 Jahre älter sind und damit einer völlig anderen Generation angehören.218
Die umweltpfleglichen Einstellungen bei Kindern und Jugendlichen sind somit insgesamt ausgeprägter.219 Offensichtlich ist die erwachsene Haltung nicht nur Folge des dann dominierenden Alltagsdrucks, sondern auch das Ergebnis einer komplexen Abwehrgeschichte, die im Kindesalter noch nicht lückenlos funktioniert. Kinder und Jugendliche nehmen den Zustand der Umwelt noch relativ sensibel wahr und übernehmen erst im Laufe ihrer Entwicklung die erwachsene Abwehrorganisation gegen die Wahrnehmung der Umweltschäden, wohl auch im
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Sinne der beschriebenen Identifizierung mit den elterlichen Strategien. Erst nach Existenzsicherung wird dann in der zweiten Lebenshälfte der Blick frei für Übergeordnetes.
Verleugnung funktioniert besonders gut durch Ablenkung. Gerne flüchten wir uns in Freizeitaktivitäten, Sport, Internet und Fernsehen, also häufig auch in virtuelle Welten (ähnlich den kindlichen Phantasien). Dies betrifft nicht nur Smartphone und Internet. Mehrfach zeigte sich auf Buchmessen bereits der Trend, dass das Sachbuch im Rückzug begriffen ist.220 Mehr denn je sind dafür Kriminalromane, Thriller und Fantasy gefragt, und im Fernsehen verzeichnen Doku-Soaps, triviale Talk-Shows und Big-Brother-Wettbewerbe passable Einschaltquoten.
Dies hat - wie auch die offenbare Weigerung sich auf Themen der Zeit auf sachgemäßem Niveau einzulassen - viel mit der Vorahnung drohender Krisen zu tun. All dies geschieht intuitiv und unbewusst, ist somit meist kein Ergebnis bewusst vorgenommener Handlungen.
Werden die Auswirkungen der Umweltschädigung für viele Menschen konkret spürbar, wie es auch bei der Finanzkrise - ebenso nach längerer Ausblendung der Risiken - irgendwann der Fall war, kann die Verleugnung nicht mehr aufrechterhalten werden. Abgesehen davon, dass die dann eintretende Realisierung der ökologischen Katastrophe zu ihrer Abwendung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu spät geschehen wird, gibt es auch in dieser Situation wieder unterschiedliche psychische Reaktionsweisen.
So können unter dem dann entstehenden Druck Gefühle wie Angst und Panik auftreten, die zuvor noch durch das Ausblenden der Probleme erfolgreich abgewehrt wurden, was nun aber zu hektischem, unüberlegtem Handeln ebenso führen kann wie zu aggressivem Verhalten, zur Rückkehr in alte egoistische Reflexe oder zu fundamentalistischen Haltungen. Dies lässt sich heute schon erkennen in einfachen Denkmustern, in der Ausgrenzung von Minderheiten als den vermeintlich Schuldigen oder in der Fortsetzung des alten Kampfes zwischen »Gut und Böse«, wie das Amerika Anfang dieses Jahrhunderts zuletzt vorgemacht hat.
Die zweite Reaktionsweise weist in die entgegengesetzte Richtung: Die Angst kann, wie schon erwähnt, ebenso zu Lähmung führen, zu einem Starr-Werden, zum Totstellreflex kurz vor dem Aufprall, zu Depressionen oder anderen psychischen Störungen, zu Alkohol- und Drogenkonsum oder zu weiterer Flucht in andere, etwa virtuelle Welten. Auch ein trotz bereits eingetretener Krise anhaltendes Sich-Abschotten von allen relevanten Informationen und Erkenntnissen tritt häufig auf.
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Das ähnelt dem Umgang mit der Todesangst, etwa nach Diagnosestellung einer Krebserkrankung. Die Ärztin Elisabeth Kübler-Ross hat hierfür einen Prozess beschrieben, der fünfPhasen durchläuft und auch hier relevant ist. Er umfasst die Phasen des Leugnens, der Wut, des Verhandeins, der Depression und der Akzeptanz. Das Aufgeben der Verleugnung kann wütend machen, man verhandelt mit den Fakten, etwa ob es denn nun wirklich so schlimm sei, und fühlt sich bedrückt bei Gewahrwerden des Ausmaßes der Situation. Daraus kann dann Akzeptanz entstehen. Die hilft anzunehmen, dass manches wohl aufgegeben werden muss in diesem Trauerprozess (in diesem Fall hier zum Glück nicht gleich das Leben), aber auch ein Weiter, allerdings in anderem Bewusstsein, möglich ist.
Nicht bewusst ist uns noch ein weiterer dem Menschen innewohnender Mechanismus - zumindest wenn man sich am Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, orientiert. Der nämlich hatte dem menschlichen Lebenstrieb noch einen Gegenspieler gegenüber gestellt.
Das Ende unerfüllten Begehrens -zur Rolle des Todestriebs ^^^^
Insbesondere seit 9/11 haben Selbstmordattentate, in den letzten Jahren aber auch Amokläufe erneut eine Diskussion darüber entfacht, ob dem Menschen nicht auch ein Todestrieb innewohnt, der ihn unbewusst destruktiv und aggressiv sein und dem eigenen Ende entgegen streben lässt. Das Konzept ist nicht neu. Sigmund Freud war, wohl auch in Folge der Schrecken des Ersten Weltkriegs und des Todes seiner Tochter Sophie 1919, zur Überzeugung gekommen, dass der Mensch nicht nur das »sanfte, liebebedürftige Wesen« des Sexual- und Lebenstriebs ist, sondern ebenso von Aggressions- und Zerstörungstrieben beherrscht wird; demnach beutet der Mensch aus, quält und tötet seinen Nächsten, und wütet auch gegen sich selbst.221
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Der Todestrieb wirkt nach dieser Vorstellung im Stillen und arbeitet auf das Ende hin. Seine Abkömmlinge, der Aggressions- und der Destruktionstrieb, sind lauter und lärmen, wollen aber das Gleiche: dass endlich Ruhe herrscht und ein schmerzhaftes und unerfülltes Begehren ein Ende hat. Der Psychoanalytiker Andre Green meint dazu:
Es gibt eine Kategorie von menschlichen Handlungen, die sich nach Einschränkungen sehnen. Die sagen: Genug, ich will nichts mehr. Ich will nichts mehr, weil ich diese ganzen Triebe nicht befriedigen kann, wie ich will. [Die sagen:] Gut also, ich lehne das ab. Ich lehne die Menschen, die Objekte ab. Ich lehne möglicherweise meine Pflichten ab. Ich lehne die Lust ab. Ich habe nur noch die Lust zu zerstören.222
Sein Berufskollege Joel Whitebook meint dazu, dass Freuds Theorie der Kultur, Politik und sogar auch des Zerstörungstriebs auf die grundlegende Vorstellung zurückgeht, dass die Menschen hilflos geboren werden. Um diese Hilflosigkeit zu kompensieren, würden sich die Menschen alle Arten von Allmachts- und Größenphantasien schaffen, die, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden, sehr negative Effekte haben könnten.223
Ob ein Trieb zur Selbstvernichtung wie von Freud beschrieben tatsächlich existiert, ist seit der Behauptung desselben umstritten gewesen.224 Eine empirische Basis hatte er nie. Zudem existiert im Tierreich keine vergleichbare Regung. Daher wurde das Konzept in den Bereich des Metaphysischen verwiesen und allenfalls der Aggressivität eine Daseinsberechtigung bei der Untersuchung menschlicher Verhaltensweisen zugestanden.
Andererseits muss man anerkennen, dass es keine andere Tierart zu derart massiven globalen Vernichtungsmöglichkeiten noch dazu solch vielfältiger Art gebracht hat wie der Mensch. Zumindest erscheint es eine Überlegung wert, ob es unbewusst nicht auch kollektiv selbstdestruktive Anteile geben kann, wie sie beim Einzelnen im gesundheitsschädlichen Verhalten trotz besseren Wissens um die dabei bestehenden Gefahren erkennbar sind. Man denke an Zigaretten- und anderweitigen Drogenkonsum, die Raserei auf deutschen Autobahnen oder Übergewicht begünstigende Ernährung, unter dem Motto: »dann lebe ich eben
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kürzer«, oder: »wenn ich sterben sollte, dann ist eben Ruhe«. Ob gerade die speziell menschliche Möglichkeit, ein Bewusstsein der eigenen Endlichkeit zu haben, was nicht immer leicht auszuhalten ist, hier vielleicht sogar eine Rolle spielt? Es mag an dieser Stelle offen bleiben.
Auch die Terrorakte und Selbstmordattentate der letzten Jahre lassen an solche Selbstvernichtungskonzepte denken. Sie werden oft begangen von jungen Männern, die aufgrund Herkunft, Bildung und Lebensumfeld häufig nur geringe Chancen auf Teilhabe am allgemeinen Wohlstand in unseren Ländern haben, die sich jedoch blenden lassen von suggerierten Gefühlen, in entsprechenden Terrorgruppen etwas Besonderes zu sein, als Märtyrer sterben zu können und danach Großartiges erwarten zu dürfen. Von der »Liebe der Unglücklichen zum spektakulären Untergang« hat der Philosoph Peter Sloterdijk in diesem Zusammenhang bereits gesprochen.225
Anderweitig nicht erfüllte oder nicht erfüllbare Ziele und Wünsche können daher durchaus zu diesem selbstzerstörerischen Verhalten beitragen, Aggression bei ungünstiger Motivlage auch zur Autoaggression werden. Eine große Rolle beim Versuch einer Erklärung des selbstdestruktiven Verhaltens der Menschheit spielt die von Freud spekulativ formulierte Theorie des Todestriebes sicher nicht. Sie mag allenfalls in Einzelfällen unsere untersuchte Psychologie des Nichtstuns ergänzen. Zu betrachten sind hierbei aber auch Mechanismen, die eine Rolle spielen, wenn man die Verleugnung durchaus überwunden hat und man der Meinung ist, man tue ja schon etwas, was aber immer noch zu wenig sein kann.
Ein bisschen was tun ^^^^
Vielleicht sogar noch häufiger als das eben angeprangerte »Nichts-Tun« ist das »Etwas-Tun«. Es erfolgt aus bereits grundlegender Einsicht heraus, das Verhalten ändern zu wollen, mit dann aber schnell beruhigtem Gewissen bereits nach wenigen Handlungsschritten. So kann schon der Einkauf von Bio-Lebensmitteln ein gutes moralisches Gefühl bereiten, was nicht daran hindert, die nächste Flugreise zu buchen. Studien zeigen sogar, dass wer meint, etwas Gutes getan zu haben, sich eher zu Fehltritten berechtigt fühlt und weniger hilfsbereit ist.226
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Das Verhalten von Menschen kann sich somit ins Negative verschieben, wenn sie vorher die Chance hatten, sich als sozial engagierte Personen darzustellen (an dieser Stelle melden sich daher Zweifel an der oben als hilfreich dargestellten Reputation, die vielleicht doch eher nur eine kurzzeitige Wirkung hat). Und so verhalten wir uns dann entsprechend widersprüchlich:
Herablassend diskutieren wir bei einem Glas südafrikanischem Bio-Wein über die uneinsichtigen Klimasünder in China, Brasilien und natürlich in den USA. Bei den Ökobauern auf dem Land stauen sich die SUVs ernährungsbewusster Großstädter. Und im Urlaub geht es zum Ökotourismus nach Südtirol, Gomera oder Costa Rica. Niemand denkt über Erze aus Kongo nach, wenn er ein Smartphone anschafft. Und die schöne alte Glühbirne kaufen wir jetzt eben bei Ebay. (...) Kopfschüttelnd liest der Besitzer eines Schwedenofens, des vielleicht bizarrsten Symbols moderner Landlustifizierung, morgens in der Zeitung vom Feinstaub, der durch die deutschen Städte wabert, und schürt abends mit der gleichen Zeitung seinen ökoheimeligen Bullerofen ein. Dabei schleudern die Dinger mehr Feinstaub raus als jeder manipulierte Diesel-Pkw.227
Der Mensch strebt nach innerer Balance, vermutet der Sozialpsychologe Dieter Frey.228 In dem Augenblick, wo man sich in einem Bereich bestätigt habe, erlaube man sich anderswo eher eine Abweichung. Wichtig sei nur, dass die Selbstwahrnehmung als moralisch denkender und handelnder Mensch gleich bleibt. Dumm nur, dass dies gewissermaßen zu einer Doppelmoral führt. Einstellung und Verhalten klaffen somit auseinander, nicht umsonst haben die meist wohlhabenden Öko-Engagierten einen relativ hohen ökologischen Fußabdruck - im Grunde glatter Selbstbetrug! Zum Nachdenken über unser Nicht- oder Wenig-Engagement bleibt uns aber sowieso kaum Zeit. Das Phänomen unserer Überbeanspruchung und Hektik, worüber wir häufig klagen, wird uns nun ausführlicher beschäftigen.
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Die Psychologie des Viel- und Zuviel-Tuns ^^^^
Im Alltag wiederum sind wir häufig mit einem Zuviel an Sorgen und Aufgaben beschäftigt und dementsprechend in hektischer Betriebsamkeit gefangen (wenngleich manchmal ganz leise die Frage anklopft, welchen Sinn dies alles haben mag; schnell werkeln wir weiter, um dem nicht nachgehen zu müssen). Neben der Psychologie des (ökologischen) Nichts-Tuns gibt es also auch eine Psychologie des (persönlichen, ökonomischen und letztlich auch ökologischen) Zuviel-Tuns. So stellen Schlafforscher fest, dass wir immer rastloser werden und weniger schlafen. Waren es im Schnitt vor 100 Jahren neun und vor 30 Jahren noch acht Stunden Schlaf pro Nacht, so sind es jetzt schon nur noch sieben Stunden, Wochenend-, Feiertags- und Urlaubsschlaf eingerechnet. Zu wenig, sagt der Neurobiologe und Wissenschaftsautor Peter Spork, und propagiert einen Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft.229 Die geringer gewordene Schlafdauer mag verschiedene Ursachen haben: freiwillige oder erzwungene Nachtarbeit, Ausgehen bis nach Mitternacht oder zu frühes Aufstehen. Oder zu langes Starren abends noch in Bildschirme, was durch die Abstrahlung blauen Lichts munter macht. Nicht nur ein Mehr am Tun dürfte uns in den letzten Jahrzehnten Schlaf geraubt haben, sondern auch die damit verbundene Anspannung, also alleine schon die Gedanken an das Viele, was zu tun ist oder nicht vergessen werden darf.
So aber fällt nun langsam auch die letzte Bastion gegen einen gefräßigen Kapitalismus, der den Menschen am liebsten rund um die Uhr in seine Verwertungsmaschinerie einspannen will, meint Jonathan Crary, Professor für Moderne Kunst und Theorie an der New Yorker Columbia Universität.230 So solle der Mensch ja eigentlich rund um die Uhr kaufen, kommunizieren und arbeiten. Dass es sich hierbei um einen inneren Dynamisierungszwang moderner Gesellschaften handelt, werden wir gleich sehen.
Zeitnot, Eile, »viel zu tun haben«, monotone Arbeitsabläufe, wenige Momente des Innehalten und Reflektierens, das gab es also in diesem Ausmaß nicht schon immer. Auch hierhin hat uns die Entwicklung über Jahrhunderte geführt, vor allem die Industrialisierung, die sich schon bei Betrachtung der Evolution und Entropie als zweischneidige Revolution unserer Lebensweise darstellte. Bereits der Erfinder der Glühbirne, Thomas Alva Edison, war ein Feind des Schlafs: »Alles, was die Arbeit hemmt, ist Verschwendung«, pflegte er zu sagen.231
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So wird heute von Arbeitslosen gefordert, sich rasch wieder irgendeine Arbeit zu suchen, von Führungskräften wird die Nachfrage nach Teilzeit oder Elternzeit immer noch häufig belächelt und dann negativ beschieden, Überstunden sind bei Vorgesetzten, aber auch gesellschaftlich hoch angesehen; wer pünktlich nach Hause geht, gilt fast schon als faul. Arbeit zu haben und dann auch viel zu arbeiten ist immer mehr zur Prestigesache geworden. Erreichbarkeit am Abend, am Wochenende und im Urlaub wird erwartet.
Und wofür das Ganze? Jeder siebte Arbeitsplatz in Deutschland steht heute in irgendeinem Zusammenhang mit der Autoindustrie,232 die nicht ganz unwesentlich zur aktuellen ökologischen Situation beiträgt, wie wir gesehen haben. Viele Arbeitsplätze in der Verwaltung, aber auch im Gesundheitswesen, dienen heute nur der Bewältigung einer Bürokratie, mit der Ordnung erzeugt werden soll, jedoch nur mehr Unordnung entsteht. Und in der Produktion gibt es reichlich Arbeitsplätze dafür, Konsumgegenstände herzustellen, die häufig nutzlos und rasch nicht mehr von Interesse sind, bald von neuen Moden abgelöst werden und zu Abfällen mutieren: Oft also »zwecklose Arbeit«, umweltschädliches Zuviel-Tun. Es sei an die schon zitierte und sicher etwas drastisch zugespitzte These erinnert: »Arbeit ruiniert die Welt«.
Die Uniformierung von Arbeit und Leben, das Hineinzwängen in einen gleichförmigen maschinellen Rhythmus, hat somit weniger die versprochenen Verheißungen von Freiheit, Freizeit und Selbstbestimmung gebracht, sondern uns eher zu Sklaven eines Stundenplans gemacht, den wir uns nicht ausgesucht haben. Durch die Entwicklung der Glühbirne in der Phase der Industrialisierung wurde noch mehr Arbeit möglich, nämlich auch dann, wenn es eigentlich dunkel ist. Die Nachtschicht wurde geboren, mit all ihren auch psychischen Folgen für die hier Arbeitenden. So kamen dadurch die gewohnten und natürlichen Schlaf- Wach-Rhythmen gewaltig durcheinander. Immer mehr wurde es auch zur Regel, zu bestimmten Zeiten und Schichten in die Arbeit zu gehen und diese streng von der sowieso minimierten Freizeit bzw. dem sonstigen Leben zu trennen.
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Weniger Geselligkeit - mehr Depressionen ^^^^
Das war zuvor durchaus anders. Arbeit und musisches Leben waren häufig ineinander verflochten. Abhängig von Wetter und Licht, aber auch von Stimmung und Laune wurde manchmal mehr, manchmal weniger gearbeitet, gerade von den vorindustriellen Handwerkern. Momente der Muße oder der Unterhaltung waren in das Arbeitsleben ganz selbstverständlich eingestreut, noch ohne sich für eine Pause ausstempeln zu müssen wie dies später eingeführt wurde. Auch jahreszeitliche und religiöse Feste und Feiertage verloren dann an Bedeutung, die Maschinen mussten und müssen weiterlaufen. Die sozialen Rituale, die auch die Funktion haben, mehr Vertrautheit und Verbundenheit in der eigenen Gruppe (Familie, Kirche, Dorf, Stadt, Gesellschaft, ...) zu schaffen, verkümmern zunehmend, und damit auch die Beziehungen innerhalb dieser Gruppe.
Dazu passt der Befund einer regelrechten epidemischen Plage von Depressionen, wie sie schon für das 17. Jahrhundert bekannt ist. Sie wurde mit dem Verschwinden traditioneller Festlichkeiten und gemeinschaftlicher Rituale aus dem Alltag in Zusammenhang gebracht, aber auch mit tief greifenden psychischen Veränderungen. Historiker, die sich mit der europäischen Kultur befassen, sind sich im Wesentlichen darüber einig, dass im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert (überraschend parallel zum oben beschriebenen Wechsel der Energieträger) so etwas wie eine Mutation des menschlichen Charakters stattgefunden hat.233 Man spricht auch vom Aufkommen des Individualismus oder der Entdeckung des inneren Selbst.
Der Historiker Yi-Fu Tuan ergänzt, dass wir einen hohen Preis bezahlen mussten für den ausgeprägten Individualismus, den wir sonst eher mit den glanzvolleren Seiten der Neuzeit in Verbindung bringen, etwa der Renaissance und der Aufklärung. Die Schattenseite der neuen persönlichen Autonomie sind, so auch seine Einschätzung, Isolation, Einsamkeit und Vereinzelung, der Verlust einer natürlichen Vitalität und des unschuldigen Vergnügens an der Welt, so wie sie ist, und ein Gefühl der Last, weil die Realität keinen anderen Sinn hat als jenen, den man ihr selbst gibt234. Hinzu kam, dass man sich den eigenen Sinn, aber auch die eigene Position in der Welt, die eigene politische Haltung, den Beruf und vieles mehr nun selbst suchen musste, man war eben nicht mehr automatisch Bauer oder Bäcker wie der Vater.
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So autonom und selbständig war man damals aber zunächst gar nicht; durch das Leben in einer menschlichen Gemeinschaft war man mehr damit beschäftigt, die Erwartungen der anderen einzuschätzen und zu erfüllen sowie die Reaktionen anderer vorwegzunehmen, was eine ständige Wachsamkeit und Anstrengung erforderte (und heute noch erfordert). Nur glorifizieren muss man also das frühere Leben in Gemeinschaft nicht. Statt um ein Vergnügen (bei Festen und Ritualen) ging es dann aber zunehmend um die Herausforderung, in der Öffentlichkeit eine bestimmte »Rolle zu spielen« (was wir ebenso heute noch gut kennen). Gefürchtet wurden in religiöser Hinsicht dabei auch die prüfenden Blicke und Urteile Gottes.
Und schließlich förderten die Verstädterung und die Ausprägung einer wettbewerbsorientierten Ökonomie des freien Marktes eine Vereinzelung der Menschen und eine Tendenz zur individuellen Vorsorge -die wiederum anfällig für Depressionen machte und zugleich miss-trauisch gegenüber gemeinschaftlichen Vergnügungen.
Im berühmten Werk »The Anatomy of Melancholy« aus dem Jahr 1621 schlägt Robert Burton daher als Mittel gegen die Schwermut neben Gelehrsamkeit und geistigen Übungen vor allem vor, dass man auf die Jagd gehen solle, sich an allerlei Zeitvertreib erfreuen, an Theaterstücken, Spaßmachern und an netter Gesellschaft; amüsante Geschichten oder lustige Spiele, Trinken, Singen, Tanzen und allerlei andere Dinge sollten zur Heiterkeit beitragen.235 Ob dies wirklich heilte? Zumindest konnten Schwermütige dadurch die Vereinzelung (Isolation) überwinden, Momente der Selbstvergessenheit erleben und damit -wenn vielleicht auch nur vorübergehend - aus dem Gefängnis des Selbst ausbrechen. Muße und Zeit für angenehme Aktivitäten und soziales Leben sind durchaus auch heute depressionslindernd.
Ebenso nahm die Selbstmordrate hierzulande zu mit Beginn der Industrialisierung.236 Geselligkeit ergab sich nun weniger von selbst, sondern musste gezielt vom Einzelnen gesucht und organisiert werden (auch etwas, was wir heute noch kennen). Isolation durch Vereinzelung,
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geringere Bedeutung des Lebens in der Gruppe, zunehmender Wettbewerb sowie die auftauchende, noch ungewohnte Notwendigkeit der eigenen Sinndefinition waren somit offensichtlich schon in der beginnenden Neuzeit depressionsfördernd.
Seelische Krankheiten - eine Epidemie des Industriezeitalters? ^^^^
In der vorindustriellen Agrarkultur gab es zwar sicher viele existenzielle Schwierigkeiten, aber die heutige Krankheit der Sinnlosigkeit und Sinnsuche scheint nicht darunter gewesen zu sein, meint der amerikanische Psychiater und Therapeut Irvin Yalom. Die damals dominierende religiöse Weltsicht lieferte umfassende Antworten, zudem war man zu sehr mit den grundlegenden Überlebensbedürfnissen beschäftigt, so dass den Menschen damals der Luxus, nach einem Sinn zu fragen, nicht vergönnt war. Schließlich gab es sinnstiftende Aktivitäten im Alltag, so Yalom:
Sie lebten in enger Verbundenheit mit der Erde, fühlten sich als Teil der Natur und erfüllten einen natürlichen Zweck beim Pflügen des Bodens, beim Säen, beim Ernten, beim Kochen und auf ganz natürliche und unbefangene Weise, indem sie sich durch das Zeugen und Erziehen von Kindern fortpflanzten. Ihre Alltagsarbeit war kreativ, da sie inmitten ihres Viehs, ihrer Saat und ihres Korns an der Schöpfung des Lebens teilhatten. Sie hatten ein starkes Empfinden der Zugehörigkeit zu einer größeren Einheit; sie waren ein integraler Teil der Familie und der Gemeinschaft, und in diesem Zusammenhang waren ihnen Skripte und Rollen gegeben. Darüber hinaus war ihre Arbeit an sich wertvoll. Wer kann die Frage der Nahrungsmittelerzeugung durch die Frage >Wofür?< schließlich in Frage stellen? Nahrung zu erzeugen ist eine Anstrengung, die fraglos einfach richtig ist. Aber all diese Sinngebungen sind verschwunden.237
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Die »alten Zeiten« sind daher nicht unbedingt besser gewesen, sie waren anstrengend, häufig mit Krankheiten und Epidemien verbunden, und der Mensch lebte zwar noch im Rhythmus der Jahreszeiten, war aber den Launen der Natur auch viel stärker ausgeliefert. Die enormen psychischen und ökologischen Probleme der Gegenwart aber zeigen, dass wir heute in anderen Zeiten leben, die nun auch nicht unbedingt besser sind. Die von Yalom angesprochene und für Psyche und Umwelt wichtige Frage nach Sinn und Werten wird später noch eingehend erörtert werden müssen. In Zeiten der fortschreitenden Ökonomisierung und Globalisierung kommen jedoch noch weitere Faktoren hinzu, die zu seelischen Belastungen führen.
So betonen Evolutionspsychologen, dass der homo sapiens von der Anonymität heutiger Trabantenstädte überfordert ist, weil er den überwiegenden Teil seiner Geschichte in der Geborgenheit einer überschaubaren Steinzeitsippe verbracht hat. Zudem findet heute Wettbewerb nicht mehr in einer Gruppe aus hundert Verwandten statt, sondern zwischen mittlerweile über sieben Milliarden Menschen. Ungewohnter Bedeutungsverlust durch Arbeitslosigkeit wirft ebenso unser steinzeitliches Gemüt aus der Bahn.238
Nahezu jeder zweite Bundesbürger erkrankt im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer psychischen Störung, über ein Drittel der vorzeitigen Berentungen erfolgt mittlerweile aufgrund einer psychisch bedingten Erwerbsminderung.239 Während der Krankenstand in der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen 1997 und 2004 insgesamt deutlich abgenommen hat, verzeichneten demgegenüber im gleichen Zeitraum etliche Krankenkassen einen Anstieg der Krankheitstage aus psychischen Gründen um bis zu 70 Prozent.
Bei Untersuchungen zeigte sich, dass sowohl das Primat der Ökonomie als auch die Instabilität in nahezu allen Lebenswelten hierfür entscheidend sind. Die gesamte Gesellschaft ist zum Unternehmen, das Managerverhalten zum Rollenideal geworden.240 Stabile soziale Beziehungen leiden darunter. Die neue globalisierte Arbeitswelt führt zu mehr Wettbewerb und Konkurrenzdruck, Verlust von Solidarität und Arbeitsplatzsicherheit; gefordert sind Flexibilität und Mobilität, ständige Erreichbarkeit über Mail und Handy, wechselnde und lange Arbeitszeiten.
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Dadurch verwischen zunehmend die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben, was nicht vergleichbar ist dem Wechsel zwischen Arbeit und Muße in der vorindustriellen Zeit. Vielmehr wirken heute berufliche Anspannung und Nervosität in die Privatsphäre hinein, Abschalten und Entspannen werden zur Ausnahme. Und: die zunehmende »Unplanbar -keit« der beruflichen Zukunft macht es immer schwerer, privat »Wurzeln« zu schlagen, an einem Wohnort neue soziale Kontakte oder ein Heimatgefühl mit Verantwortungsübernahme zu entwickeln, oder eine Familie zu gründen.
All unser Bemühen um Wachstum und Wohlstand scheint somit nicht unser Wohlbefinden zu vermehren. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Zufriedenheit bei steigendem Wirtschaftswachstum nicht gleichermaßen zunimmt, sondern irgendwann gleich bleibt. Weshalb sich wiederum die Frage stellt: »Wozu das Ganze?«241 Immer mehr stellt sich heraus, dass die massiven Veränderungen von Arbeitswelt und Gesellschaft eine Zunahme psychischer und psychosomatischer Störungen bewirken.
Es sind weniger akute Krisen, sondern eher chronische Stressoren und Belastungen, mit denen es der Mensch heute zu tun hat. Dementsprechend kommt die körperliche Stressreaktion, so nötig sie bei akuter Bedrohung und Aufregung ist, nicht mehr zur Ruhe. Anhaltende Angst und Unruhe halten das Alarmsystem weiter auf Trab, häufiger und länger wirkende Stresshormone führen zu Reaktionen wie Burnout, Tinnitus, Reizdarm, Rückenschmerzen, Herzrasen oder Depressionen.242 Was wohl fast jeder schon einmal erlebt hat - etwa zu früh aufzuwachen und vor lauter panikartigem Grübeln nicht mehr einschlafen zu können -erlebt der stressgeplagte Mensch nun immer häufiger. Wenn die Probleme nicht sofort oder scheinbar gar nicht zu lösen sind, wird allzu oft mit einem Totstellreflex reagiert, ein Gefühl der Lähmung breitet sich innerlich aus - ein Phänomen, das sich auch im Angesicht der ökologischen Krise zeigt.
Dies wird gleich noch näher zu betrachten sein. Zunächst soll noch ein weiteres »Zuviel« beleuchtet werden, womit auch Anspannung, innere Unruhe und das Gefühl, »das alles nicht mehr zu schaffen«, häufig zusammenhängen. Nicht immer ist uns das bewusst.
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Folgen der Beschleunigung ^^^^
Allzu schnell werden heute Stress und Burnout auf die allgegenwärtige Beschleunigung zurückgeführt, ohne dass überlegt wird, woher dieses Gefühl der zunehmenden Hektik und Zeitnot eigentlich kommt. Im Hinblick auf die Veränderung der Arbeitswelt durch die Industrialisierung waren wir darauf schon gestoßen. Allein schon das geforderte Wachstum trägt dazu bei. Die Gesellschaft muss sich offenbar steigern, um zu bleiben wie sie ist, so der Soziologe Hartmut Rosa.243 Dies sei ein Strukturprinzip moderner Gesellschaften. Gesellschaftsformen hätten sich zwar immer schon geändert, heute müssten sie dies aber, es bestehe ein innerer Dynamisierungszwang dazu. So komme ökonomische Aktivität da in Gang, wo es Aussicht auf Steigerung, auf Gewinn gebe. Auch Geld werde nur da angelegt, wo es wachsen könne. Aber auch unser Privat- und Freizeitleben ist von dieser absurden Steigerungslogik erfasst.
Aber der Tag hat weiterhin nur 24 Stunden, das Jahr nur 365 Tage, stellt Rosa trocken fest. Zeit kann nicht vermehrt werden, also bleiben nur die Verdichtung, das Multitasking, das Beschleunigen, beruflich wie auch privat. So besaß um 1900 ein mitteleuropäischer Haushalt etwa 400 Objekte, heute sind es 10.000. Die Zahl der Optionen ist somit entropisch explodiert, der Mensch kann heute zu jedem Zeitpunkt des Lebens mehr Dinge tun als jemals zuvor, zu jedem Zeitpunkt alle Freunde erreichen, Tausende Webseiten ansehen. Und was nicht gemacht wird, bereitet Stress und schlechtes Gewissen. Wann hat man zuletzt sein Instrument gespielt, das dort im Eck steht, wann das Teleskop genutzt, das man sich doch irgendwann einmal so sehr gewünscht hatte? Im Grunde, meint Rosa, stelle sich die Frage, ob nicht Zeit der knappste Rohstoff der Moderne sei.
Eigentlich aber soll doch der technische Fortschritt dem Einsparen von Zeitressourcen dienen, sollte man meinen. Das heute mögliche schnelle Überbrücken von Raum und Zeit erscheint zunächst als äußerst effizient. Zu jedem Zeitpunkt befinden sich heute zwei Millionen Menschen in der Luft, erläutert Rosa, Finanz- und Datenströme jagen in Sekundenschnelle um die Welt. Der Schweizer Sozialpsychiater Luc Ciompi spricht aber bereits Anfang der 90er-Jahre von den entstehenden Verlusten durch die Raum-Zeit-Gewinne:
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Wir erleben Zeit und Raum immer weniger in der uns gemäßen Weise, das heißt in kontinuierlichen, rhythmischen Veränderungen im Einklang mit dem uns umgebenden Naturgeschehen. Vielmehr werden unsere angestammten Eigenzeiten und -räume pausenlos zerhackt und zertrümmert. Eine Folge davon ist möglicherweise die auffällige chronische Gespanntheit und Gereiztheit, die trotz beispiellosem materiellen Überfluss gerade in den höchstentwickelten Ländern viele Menschen charakterisiert. Verantwortlich für die ständige Zeit- und Raumzerhackung sind in erster Linie die Maschinen aller Art, die den modernen Alltag beherrschen. Praktisch alle Maschinen dienen ja in irgendeiner Weise der sogenannten >Überwindung< und >Gewinnung<, das heißt gewissermaßen der Überlistung (kursiv im Original; A. M.) von Raum und Zeit. Nähere Betrachtung zeigt allerdings, dass dies großenteils ein Trugschluss ist, obwohl wir merkwürdig unfähig scheinen, ihn klar zu erkennen.(244)
Auch Rosa weist auf die Überforderung bei Personen hin, die nicht unbegrenzt beschleunigungsfähig sind. Immer mehr gilt, dass nicht mehr auf dem Laufenden ist, wer nicht schnell genug agiert. Denn zur technischen Beschleunigung gesellt sich die soziale Beschleunigung. Nicht nur Transport und Produktion werden immer schneller, sondern auch die Kommunikation. Und für die Beschleunigung ist immer Energie zu investieren, physische Energie, aber auch politische Energie, und letztlich psychische Energie. Problematisch wird es aber dort, so Rosa, wo der Dynamisierungszwang auf Widerstände trifft, wo es eben nicht schneller geht. Nicht nur kann die Zeit nicht vermehrt werden, sondern auch die Rhythmen der Natur, etwa das Wachstum eines Waldes, können nicht beschleunigt werden.
Auch demokratische Findungs- und Ent-Scheidungsprozesse brauchen Zeit, gerade heute eigentlich, wo die Gesellschaft komplexer ist denn je. Aber Politik ist nicht mehr Schrittmacher der Entwicklung, sondern Feuerlöscher, sie hinkt zwangsläufig hinterher. Ein »Basta« eines Gerhard Schröder oder die vermeintliche »Alternativlosigkeit« einer Angela Merkel zeugen von dieser politischen Gehetztheit, wie Rosa treffend zuspitzt.
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Überforderung im persönlichen Bereich zeigt sich seiner Ansicht nach darin, dass es keine Muße mehr gebe, keinen Feierabend, kein Zur-Ruhe-Kommen der Anforderungen der Welt oder an die Welt. Kein Tagwerk ist vollbracht, wenn es dunkel wird, wie es früher für Bauern selbstverständlich war. Achtsamkeit und Auszeiten im Kloster würden versuchen, diesen Zustand künstlich herzustellen, so Rosa. Doch danach gehe es rasch weiter im heute normalen Rhythmus.
Und wenn nicht bald eine Revolution komme, werde die Entwicklung sich so fortsetzen. Vielleicht stünden wir erst am Anfang der Beschleunigungsära. »Erst kommt die Google-Brille, dann der Chip im Gehirn«, so Rosa. Das Gefühl überwiegt, schneller und besser werden zu müssen, was ja auch Unternehmenschefs häufig fordern. Genau dieses Gefühl des Zwangs, sich immer steigern zu müssen, führe zum Burnout. Das Versprechen einer Zeitersparnis durch all den technologischen Fortschritt aber werde dabei letztlich nicht erfüllt, stellt auch Hartmut Rosa fest.
Ciompi hat ergänzend zu seiner schon zitierten allgemeinen Betrachtung dieses Phänomens dazu ein Beispiel beschrieben, das dies wunderbar veranschaulicht. Er schildert die Situation, als er sich für das Schreiben an einem Buch in eine entlegene Schweizer Alphütte zurückgezogen hatte, ohne elektrisches Licht, mit schönem Sternenhimmel, beeindruckenden Gebirgsformationen, Gletschern und Gewässern. Schon bald aber bemerkt er gelegentlich einen Überschallknall eines trainierenden Schweizer Militärflugzeugs, oder die kreischende Motorsäge im Wald. Dann erzählt er die folgende Begebenheit:
... und nachmittags vor meiner Hütte plötzlich ein Höllenspektakel: Der Bauer braust mit seinem geländegängigen Motorrad kreuz und quer durch die Weiden: er sucht nach seiner verlorenen Kuh! Hie und da spreche ich mit ihm. Seit es ein geteertes Alpsträßchen gibt, bewirtschaftet er gleichzeitig ein >Heimet< (schweizerische Bezeichnung eines kleinen Bauernguts; A. M.) weit unten im Tal und führt hier oben die Alp. Täglich fährt er per Auto oder Motorrad zwei- bis dreimal hin und her - und klagt bitter über den Zeitmangel! Er krampfe wie ein Wilder, denn er müsse die Maschinen abzahlen, ohne welche keine Landwirtschaft mehr rentiere. Es sei >kein Leben< mehr, seit er so herumhetze ...245
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Derart beschleunigtes Leben verstehen Eltern und Großeltern nicht mehr, alte Gewissheiten lösen sich auf. So ist das, wie es war, für die nächste Generation nicht mehr selbstverständlich so. Heute jedoch kann das, was ist, schon am nächsten Tag ganz anders sein. So ist es unsicher, ob der Arbeitsplatz oder die Wohn- und Familiensituation oder die Kontakte sich morgen noch so gestalten wie heute, so Rosa. Also wird gerne ein Anker gesucht, der dann auch im fundamentalistischen Bereich liegen kann. Dieser scheint immun zu sein gegen Beschleunigung. Oder es wird der Burnout oder gar die Depression als ungünstiger Ausweg gewählt, es kommt zum Stillstand, zum Erlöschen aller Resonanzachsen, der Verbindungen zum Leben und zur Welt, etwa zu Familie und Arbeit. Die heutige Entwicklung von (oft vermeintlich) Effizienz steigernden Maschinen ist von der Digitalisierung maßgeblich bestimmt. Den gerade wiedergegebenen Überlegungen zur technologisch mitbedingten Beschleunigung zufolge müsste demnach auch sie Depressionen Vorschub leisten. Bieten aber nicht gerade die neuen sozialen Medien und die Digitalisierung unseres Alltags insgesamt große Chancen, der vorhin behaupteten Vereinzelung und geringeren Geselligkeit entgegenzuwirken?
Folgen der Smartphoneverbreitung und Digitalisierung ^^^^
Es erscheint vermessen, wenn ein Psychiater in einem Buch zur ökologischen Krise nun auch noch auf wenigen Seiten die Folgen der Digitalisierung abhandeln will. Auch dieses Gebiet hat mittlerweile einen Komplexitätsgrad erreicht, den der einfache Geist eines Laien kaum mehr zu erfassen vermag. Entwicklungen hier vollziehen sich derart rasant, dass sie bei Erscheinen dieses Buches längst überholt sein werden. Und dennoch müssen wir uns ihnen kurz widmen, tragen sie doch erheblich zu Beschleunigung, Entfernung von der Natur sowie zu psychischen Veränderungen bei.
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3,7 Millionen Mails gehen pro Sekunde um die Welt, 2014 gab es so viele Handys wie Erdbewohner, bis 2020 werden 90 Prozent der Weltbevölkerung über sechs Jahre mit Smartphones ausgestattet sein.246 Über eine Milliarde Menschen weltweit kommunizieren über Whatsapp und nützen Facebook.247 Google und Facebook sind dabei, das Internet in jeden Winkel dieser Welt zu bringen. Alle zwei Jahre verdoppelt sich das weltweite Datenvolumen, allein 2015 wurden Daten von 1,8 Zettabyte generiert.248 Im Jahr 2015 wurden etwa so viele Informationen neu abgespeichert wie in den letzten 30.000 Jahren zuvor.249 Immer neue Speichermedien und Übertragungstechniken müssen daher erfunden und installiert werden. Amazon und andere Lieferdienste bemühen sich, Bestellungen nun schon am selben Tag auszuliefern, auch hier wird die neue Technik genutzt.
Über »Big Data« wird eifrig diskutiert, also darüber, was mit all den Daten passiert, die wir Bürger und Konsumenten Konzernen und Versicherungen, aber auch Überwachungsdiensten und dem Staat zur Verfügung stellen. Das selbstfahrende Auto wird kommen, Computer- und internetgesteuert, mit vielfältigen Sensoren ausgerüstet, ähnlich wie das intelligente Haus, in dem der Kühlschrank automatisch Nachschub ordert und auf dem Heimweg von der Arbeit schon einmal die Heizung hochgefahren werden kann. Selbst Gartenarbeit kann nun schon digital koordiniert werden. Die harmlosesten Gebrauchsgegenstände etwa zur Morgentoilette, in der Küche oder im Kinderzimmer werden mit einem Anschluss ans Internet ausgestattet.250 Die Google-Brille wird uns an ferne Urlaubsziele führen, ohne dass wir uns aus dem Wohnzimmer wegbewegen müssen (als Ersatz für Flugreisen wäre das ja direkt umweltfreundlich!). Das müssen wir dann ebenso wenig tun für Kino-, Konzert- oder Ausstellungsbesuche. Vermutet wird, dass 200 Milliarden Gegenstände bis 2020 ans Netz angeschlossen werden.251 Der Weg in die virtuelle Realität ist bereitet.
Natürlich ist es ein Leichtes, im Angesicht dieser drohenden Totaldi-gitalisierung mit all ihren Risiken, gerade was Cyberangriffe, den Verlust von Privatheit (die z. B. für Entstehung von Kreativität benötigt wird252), mögliche Überwachung und den »gläsernen Bürger« betrifft, nun in ein kulturpessimistisches Lamento auszubrechen. Sorgen machen dem Psychiater noch ganz andere dabei auftretende Phänomene, nämlich eine zunehmende Suchtentwicklung in diesem Bereich, die Veränderung der
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zwischenmenschlichen Kommunikation und damit wieder die Frage gelingender Beziehungen, sowie verkümmernde Fähigkeiten im Alltagsleben. Hinzu kommt wiederum ein »Mehr«, ein Mehr an Technik, Geräten, Gebrauchsanweisungen, herunterzuladenden Apps, Filmen und Dateien (also auch ein Mehr an Möglichkeiten, Ressourcenverbrauch und damit ein Mehr an Entropie). Vor wenigen Jahren kannte man Smartphones, Tablets, Smart-Watches, Google-Brillen oder Drohnen nicht. Nun muss man sich auch noch um all diese Dinge kümmern, neben all den 10.000 Gegenständen, über die ein durchschnittlicher deutscher Haushalt ja heute schon verfügt.
All das kostet Zeit, die anderswo fehlt. »Hast du etwas Zeit für mich?«, gerade für Kinder gewinnt die Liedzeile eines Songs aus den 1980er-Jahren neue Bedeutung. Smartphone bedienende Mütter auf dem Kinderspielplatz, beim Schreiben einer SMS nicht zu störende Väter, nebeneinander sitzende und gleichzeitig tippende Familienangehörige, all das sind Bilder, an die wir uns bereits gewöhnt haben. 41 Prozent befragter deutscher Kinder finden, dass ihre Eltern das Mobiltelefon zu häufig nutzen, in Brasilien meinen das sogar 87 Prozent.253 Jedes vierte deutsche Kind wünscht sich, dass sich die Eltern nicht mehr vom Handy unterbrechen lassen während der gemeinsamen Unterhaltung. Kinderpsychologen warnen bereits, dass handysüchtige Eltern eine Generation emotional gestörter Kinder großziehen, die nicht genug Aufmerksamkeit und direkte Ansprache bekommt.
Logische Folge davon ist, dass gerade verhaltensauffälligen Kindern zunehmend nun selbst ein Smartphone in die Hand gedrückt wird. Der moderne Schnullerersatz stellt sie zuverlässig ruhig. In den USA haben 75 Prozent aller Vier- bis Achtjährigen regelmäßig Zugang zu einem Smartphone, schätzen amerikanische Kinderärzte.254 In einkommensschwachen Familien hat sogar der gleiche Anteil der erst unter Vierjährigen ein eigenes Handy, stellt eine aktuelle Studie fest.255
Bücher über auch von diesem Technikgebrauch ausgehende »Kollateralschäden« erscheinen in immer kürzeren Abständen. Von »digitaler Demenz«, »digitalem Hamsterrad«, »digitalem Burnout«, »digitaler Depression« und »Digital Junkies« ist die Rede.256 Von Handysucht darf man wohl tatsächlich inzwischen sprechen. Alle 18 Minuten greifen erwachsene Smartphone-Besitzer zu ihrem Gerät, berichtet Christian
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Montag, Professor am Lehrstuhl für Molekulare Psychologie in Ulm.257 Es ist ein Zeitvernichter. Drei Stunden täglich verbringen seinen Forschungsergebnissen zufolge die Nutzer damit, ein Drittel der Zeit davon sind sie auf sozialen Netzwerken unterwegs. Angetrieben werden sie dabei von der konstanten Erwartung, etwas Nettes zu erleben und wiederum zugehörig zu sein. Dies führt zu einer Konditionierung des Verhaltens mit unbewusst ablaufenden, automatischen Mechanismen. Montag weist dabei auch auf Symptome aus der Suchtforschung hin, .etwa eine Toleranzentwicklung, die dazu führt, immer länger am Handy bleiben zu müssen, um den gleichen Glücksmoment zu erfahren. Auch gibt es Entzugserscheinungen, also Nervosität und die Sorge, etwas zu verpassen, wenn das Handy vergessen wird. Dieses Phänomen wird mittlerweile schon mit dem Kürzel FOMO (englisch für »Fear of Missing Out«) bezeichnet. Jüngere Menschen sind davon stärker betroffen als ältere, Männer stärker als Frauen, selbstunsichere Personen mehr als glückliche und selbstsichere.258
Das geht soweit, dass die Hälfte der 18-29-jährigen Deutschen am sogenannten Phantomklingeln leidet. Die vermeintliche Vibration am Oberschenkel und der Klingelton sind dabei nur Einbildung.259 Auch die Angst, sein Mobiltelefon nicht zur Verfügung zu haben, wurde mittlerweile mit einem Begriff belegt: »Nomophobie«, eine Wortschöpfung aus »no mobile phone« und »Phobie«. Nach einem Bericht in »Psychology Today« schlafen demnach zwei Drittel der Nutzer mit oder neben dem Smartphone, um nichts zu versäumen, ein Drittel hat sich schon während intimer Kontakte an seinem Smartphone gemeldet, mehr als die Hälfte kann es nicht ausschalten260, womit noch ein Faktor gefunden wäre bei der Suche nach Ursachen einer heute geringeren Schlafdauer. Montag stellt zusammenfassend fest:
Vieles, was wir am Smartphone machen, ist unnötig. Es kommt zwar unserem Urbedürfnis entgegen, sozial eingebunden zu sein - deswegen sind die Social-Media-Anwendungen auch so erfolgreich. Aber die drei Stunden am Tag fehlen uns für echtes Miteinander. Wir bringen.uns damit um sehr schöne Momente.261
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Die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Sherry Turkle fürchtet daher, dass das direkte Gespräch aussterben könnte. »Wir sind zusammen allein«, stellt sie nüchtern fest.262 Früher hätten die Menschen miteinander gesprochen, heute würden sie tippen, chatten und mailen. Nun könnte man meinen, dass sich durch soziale Netzwerke mehr Kontakte ergeben als sonst im Leben. Turkle weist aber auf wichtige Aspekte von Geselligkeit hin, die über das Austauschen von Fotos und kurzen Nachrichten hinausgehen, etwa die Fähigkeit, ruhig dazusitzen und jemandem geduldig zuzuhören. Auch die Möglichkeit, ein Für und Wider in Ruhe zu erörtern, zu diskutieren und zu verhandeln, geht dabei verloren. An jedem Ort ist es nun möglich, mit all seinen gespeicherten Kontaktadressen zu kommunizieren. Das Bedürfnis, jemanden anzurufen oder zu sehen, muss da fast nicht mehr entstehen, da es unmittelbar befriedigt werden kann. Zunehmend eingeschränkt wird dabei auch die Fähigkeit, alleine sein zu können und mit sich selbst etwas anzufangen, so Turkle:
Erst das Alleinsein ermöglicht, sich selber zu finden und mit Anderen eine Bindung einzugehen. Können wir das nicht, wenden wir uns den Anderen zu, um uns nicht zu ängstigen, ja um uns überhaupt lebendig zu fühlen. Die Anderen werden zu einer Art Ersatzteillager für das, was uns fehlt. Einer Generation, die Alleinsein als Vereinsamung erfährt, mangelt es an Autonomie. Diese zu entwickeln ist für Heranwachsende aber lebenswichtig.263
Insgesamt scheinen wir uns mit unserer Techniknutzung wieder kindlichem Verhalten zu nähern, der Psychiater könnte fast von Regression sprechen. Denn allein sein können auch Kleinkinder häufig schlecht, sie brauchen den direkten zwischenmenschlichen Kontakt, um eine sichere Bindung aufzubauen. Erstaunlich ist auch, wie viele Erwachsene täglich das Smartphone als Spielapparat nutzen. Fast die Hälfte der Deutschen über 14 Jahre zockt regelmäßig, darunter immer mehr Frauen. Weltweit spielen fast 100 Millionen Menschen »Candy Crush«, ein infantiles Spiel mit den bunten Süßigkeiten, die es zu sortieren gilt.264 Und auch die immer geringer werdende Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, erinnert an Kleinkindverhalten. Von immer schneller ausgelieferten Bestellungen und stets sofort verfügbaren Freunden war schon die Rede.
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Damit korreliert in paradoxer Weise, dass Smartphone-Nutzer, wie schon erwähnt, immer jünger werden. Die Geräte prägen hierzulande spätestens von der fünften Klasse an die Kindheit.265 Ohne klare Regeln der Eltern ist das riskant. Die aber sind ja selbst mit diesem Medium ausgiebig beschäftigt, wie wir gesehen haben, und somit kein passendes Vorbild. Dass man etwa Whatsapp nicht installieren darf, wenn man das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist meist überhaupt nicht bekannt.
Die beschriebene Handysucht hat noch weitere Folgen. So werden eine gesteigerte Impulsivität und ein deutlicherer Materialismus berichtet.266 Studien zufolge ist auch die Empathiefähigkeit von Studenten in den letzten 20 Jahren um 40 Prozent gesunken.267 Schon eine 2010 veröffentlichte Untersuchung hatte gezeigt, dass Jugendliche umso weniger Empathie für Eltern und Freunde haben, je mehr sie Bildschirmmedien gebraucht hatten.268 Hier sprechen wir inzwischen von durchschnittlich 7,5 Stunden, die ein deutscher Jugendlicher täglich vor einem Bildschirm verbringt (Fernsehen, Spielkonsole, Video, Computer, Tablet, Smartphone).269 Die Meldungen, dass in zwei Fällen, als in Internet-Cafes Nutzer nach mehrtägigem ununterbrochenen Spielen verstarben, derweilen aber andere Computerspieler in beiden Fällen völlig gleichgültig reagiert hätten, mögen die nachlassende Empathie als drastisches Beispiel illustrieren. Die Mahnung aus den 1980er-Jahren, »Wir amüsieren uns zu Tode«, bekommt hier eine völlig neue Bedeutung.270
Der Medienwissenschaftler Neil Postman hatte damals eigentlich auf Einschränkungen in der Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie hingewiesen. Waren wir damals »nur« den Manipulationen durch Film und Fernsehen ausgesetzt, kommt nun die Meinungsbildung im Internet, insbesondere in den sozialen Netzwerken, hinzu. Gerade in der aktuellen Flüchtlingskrise konnte man hier eine Verrohung der Ausdrucksweise beobachten, was durch die anonymen Äußerungsmöglichkeiten begünstigt wird. Auch lenken die Medien erfolgreich von unangenehmen Problemen, wie eben auch der ökologischen Krise ab, was langfristig ebenso das Diktum Postmans Wirklichkeit werden lassen könnte.
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Spannend wird es auch sein, zu beobachten, wie sich die menschlichen kognitiven Fähigkeiten verändern. Noch gibt es keine eindeutigen Studien dazu. Aber was früher einfach mit dem Kopf gemacht wurde, erledigen heute Computer, Smartphones, Organizer und Navis. Das ist solange kein Problem, solange die Technik funktioniert und der Akku nicht wieder einmal leer ist. Insgesamt aber drohen Orientierungssinn, Gedächtnis und die Fähigkeit zur Lösung komplexer Probleme unter dieser Abwälzung der geistigen Anforderungen auf die Technik zu leiden, weshalb bereits von einer »digitalen Demenz«271 die Rede ist. Geprägt haben den Namen dieses Krankheitsbildes südkoreanische Ärzte, nachdem sie bei jungen Erwachsenen immer häufiger Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie emotionale Verflachung und allgemeine Abstumpfung als Folge von intensiver Nutzung moderner Informationstechnik verzeichneten.272
Wenngleich dies zugespitzt erscheinen mag, ebenso wie die Befürchtung von Sherry Turkle, die Menschen könnten durch die technikgestörte Kommunikation nun gleich zu Autisten werden, wirken aber die üblichen Empfehlungen, man müsse eben den Umgang damit lernen, eher wie hilflose Floskeln. Auch gibt es wenig Anlass zur Hoffnung, dass nun die neuen Medien und die Digitalisierung wesentlich zur Lösung der ökologischen Probleme beitragen werden. Es ist zwar dadurch in neuer Weise alles mit allem verbunden, neue Daten und Informationen stehen in Sekundenschnelle weltweit zur Verfügung, so dass sich nun auch Landwirtschaft GPS-gesteuert betreiben lässt, doch ändert dies wenig an Ressourcenschwund, Klimawandel oder Artensterben. Rasch kann zwar durch die sozialen Netzwerke zu Aktionen und Protesten mobilisiert werden, wie sich dies teilweise auch im Arabischen Frühling 2011 zeigte, doch verhallen die Effekte auch hier wieder schnell. Gerne lassen zudem undemokratische Regime unliebsame Webseiten sperren und behindern Facebook & Co.
Die zunehmende Nutzung virtueller Welten vermischt außerdem analoge und digitale Realitäten, was die Frage aufwirft, ob nicht auch das, was im Computer passiert, in gewisser Weise wirklich ist. »Man sollte vielmehr alles als wirklich verstehen, was Wirkung hat«, so der Philosoph Tobias Holischka.273 Nun ja, auch »alternative Fakten« des Trumpschen Zeitalters haben Wirkung, nämlich etwa eine beruhigende, wenn man Klimaleugnern auf den Leim geht. Und etwas umformuliert könnte man auch schlussfolgern, dass eben etwas erst als wirklich verstanden wird, wenn es eine (spürbare) Wirkung hat, so etwa die Umweltkrise.
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Durch die veränderte und eher oberflächliche Art der Kommunikation, die sozialen und kognitiven Folgen der Smartphonesucht, die Beschäftigung mit technischen Details, die Flucht in virtuelle Welten und die dadurch noch größer werdende Entfernung von Natur und Umweltthemen jedenfalls ist eher ein weiteres Schwinden des Interesses an ökologischen Fragen zu befürchten.274
Auch diese Technik wird in den Dienst der Verleugnung und damit der Vermeidung unangenehmer Gefühle gestellt.Lähmung und Resignation einerseits, Konflikte und Widersprüche andererseits -die ökokrise aus psychiatrischer Sicht ^^^^
Die Ökokrise muss bei Aufgeben der Verleugnung nicht gleich direkt zu behandlungsbedürftigen Symptomen führen (wenngleich die Lebensweise, die zur Ökokrise führt, gleichwohl auch zu psychischer Erkrankung führen kann, wie wir oben gesehen haben). Noch beklagt kaum ein Praxisbesucher schlaflose Nächte, Depression und Verzweiflung wegen Klimawandel und Ölverknappung, auch wenn in der Literatur schon von »ökopsycho-somatischen Beschwerden«275 oder einem »psychosozialen Leiden an der Umweltkrise«276 die Rede ist. Erstaunlicherweise leiden wenige Menschen darunter so intensiv, dass sie sich in psychiatrische oder psycho-therapeutische Behandlung begeben müssten, obwohl im Grunde alle Menschen mehr oder weniger von der Bedrohung durch die Umweltschäden betroffen sind.277 Zu Suiziden, wie sie bei der spürbar gewordenen Finanzkrise aufgetreten sind, ist es dadurch jedenfalls noch nicht gekommen.
Nehmen wir für eine nähere Betrachtung das Beispiel des heute vordringlichen Klimawandels. Die Psychiaterin Lise van Susteren weist darauf hin, dass dessen physikalische Folgen zwar gut untersucht sind, nicht jedoch die psychologischen Schäden.278
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Da gibt es zum Einen die direkt von Stürmen und Überschwemmungen Betroffenen, die das Risiko einer schweren Traumatisierung erleiden, was in bis zu zehn Prozent der Fälle in eine posttraumatische Belastungsstörung münden279 oder andere psychische Folgeerscheinungen auslösen kann. Auch fühlen sich manche Menschen schuldig, wenn es andere schlimmer getroffen hat als sie selbst.
Zum Anderen aber, so van Susteren, leiden diejenigen besonders emotional, die sich »klar und leidenschaftlich« der Gefahren, denen wir gegenüberstehen, bewusst sind. Gefährdet sind daher Umweltaktivisten, durch langes Engagement auszubrennen, wenn Erfolge ausbleiben oder sich nur in geringem Maße zeigen.
Wenn die Umwelt direkt um einen herum sich in einer als sehr negativ empfundenen Weise verändert, können auch Gefühle von Heimweh und Melancholie entstehen. Man muss sich dafür also gar nicht von der Heimat entfernen. Der Philosoph und Nachhaltigkeitsforscher Albrecht Glenn bezeichnet diese emotionale Konstellation als »Solastalgia«.280 Durch die Beschäftigung mit Bewohnern einer ursprünglich intakten Landschaft Australiens, die mit Verzweiflung auf den Bau von Kohleminen reagierten, kam er auf die Wortkombination aus dem lateinischen Wort »solacium« (Trost) und der griechischen Wurzel »-algia« (Schmerz). Mancher hat sicher ähnliches schon empfunden beim Bau einer neuen Umgehungsstraße oder bei anderweitiger Versiegelung einer nahegelegenen brachliegenden Fläche.
Auch wird zunehmend eine antizipatorische und damit dann auch lähmende Angst bei Klimaaktivisten gesehen durch den Blick auf zukünftig zu erwartende Verschlechterungen unserer Lebensbedingungen, so van Susteren. Sie erreicht ihrer Einschätzung nach in manchen Fällen bereits das Level einer »prätraumatischen Störung«. Die Umweltengagierten haben zudem das Problem, dass sie einerseits an der Front verzweifelt versuchen, der Bevölkerung die Situation zu vermitteln, wozu im Medienzeitalter oft drastische Aktionen und Begrifflichkeiten verwendet werden müssen, um die nötige Aufmerksamkeit zu erzielen. Andererseits aber müssen sie dabei vorsichtig sein, um die Bevölkerung wiederum nicht mit Angst zu lähmen.
Denn man weiß inzwischen, so haben neuere Forschungen ergeben, dass Angstbotschaften zwar durchaus wirken. So können sie helfen, Einstellungen und Handlungsweisen zu verändern, besonders wenn klar
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geschildert wird, wie die jeweilige Bedrohung vermieden oder behoben werden kann (was in unserem Fall erkennbar schwierig ist). Auch nehmen Frauen eher solche Appelle auf. Doch zumeist sind die Effekte gering und nur kurzfristig anhaltend.281 Der permanente innere Alarmzustand kann sogar schädlicher sein als die beschworenen Gefahren selbst. Als Nebenwirkung wird zudem weniger das gewünschte Wohlverhalten als vielmehr ein Gefühl der Unzulänglichkeit erzeugt. Man kennt das auch von Erziehungsversuchen bei Kindern, doch nicht mehr so laut zu sein, oder von öffentlichen Ratschlägen, wie man gesünder zu leben hätte.282 Etwa gar als schlechter Mensch dazustehen, weckt Minderwertigkeitsgefühle.283
Die Autorin und Therapeutin Mary Pipher beschreibt das Dilemma, wie sie ihre ökologischen Ängste der Umwelt mitteilen könnte, treffend für den Zeitpunkt, nachdem ihr klar geworden war, dass sie sich zwar um gesundes Essen und regelmäßiges Zähneputzen bei ihren Enkelkindern kümmert, bisher aber nichts getan hatte, um für sie eine Zukunft sicherzustellen mit sauberer Luft und Wasser und gesunden Ökosystemen:(284)
Ich wollte verzweifelt die Welt retten und wusste nicht, wie ich das meinen engsten Freunden mitteilen kann.
Sie drohte mit ihren Sorgen allein zu bleiben und damit genau in die Ohnmachtsfalle zu laufen (sie schildert jedoch in ihrem Bericht, wie sie dann doch Freunde angesprochen und mit ihnen eine Initiative zur Bekämpfung der Pipeline ins Leben gerufen hat, die aus kanadischen Sanden gewonnenes Öl nach Nordamerika transportieren sollte).
Die Gesellschaft wiederum, die somit pfleglich mit Katastrophenszenarien zu behandeln ist, ist dann aber einem kollektiven Gefühl der Traurigkeit, des Ärgers und der Niederlage ausgesetzt, wenn sie konfrontiert ist mit den unvermeidbaren Umwelteffekten der globalen Erwärmung bei gleichzeitigem Gewahrwerden, dass es nicht gelingt dem vorzubeugen.
Natürlich kann man eine unangenehme Entwicklung auch absichtlich ignorieren. Der Soziologe Stanley Cohen hat das zur Wahrnehmung des Holocaust im Deutschland während des Dritten Reichs in »States of
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Denial« beschrieben,285 wo dieses Phänomen weit verbreitet war. Er sprach dabei von wechselnden Zuständen des Wissens und Nicht-Wissens in ablaufenden traumatisierenden Situationen. Weder ist hier völlige Verleugnung möglich noch aber auch ein angemessener Umgang damit. Von dieser These nicht weit entfernt meint Kari Norgaard, ebenso Soziologin, dass die Verleugnung des Klimawandels sozial konstruiert sei.286 Die Nationale Politik gegenüber der Umweltzerstörung agiere gemäß dem Motto: »Frage nicht! Erzähle es nicht!« Auch von oben her bleiben die ökologischen Probleme daher gerne unerwähnt. Bei oft beklagter Realitäts- und Bürgerferne von Politikern scheinen hier die wechselseitigen Beziehungen zwischen beiden durchaus zu funktionieren, »allerdings auf eine Art, die man nicht unbedingt beruhigend finden muss«, so ein journalistischer Kommentar unter der Überschrift »Klima? Jetzt nicht!«287
Renee Lertzman wiederum, Leiterin einer Nachhaltigkeit unterstützenden Marketingagentur, die seit über 25 Jahren versucht, Brücken zwischen psychologischen und ökologischen Themen zu schlagen, nennt durch Umweltmeldungen erzeugte Lähmung und Apathie einen Mythos (»Myth of Apathy«288). Allein damit lässt sich demnach nicht erklären, warum trotz der seit über vier Jahrzehnten wiederkehrenden Mahnungen zu Umweltschäden gerade auch die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft bisher so wenig unternommen haben. Viele Menschen würden sich, so meint sie, durchaus sehr um die Umwelt sorgen, aber die Gefühle seien so durcheinander gekommen, und sie selbst so sehr von inneren Konflikten besetzt, dass sie nicht angemessen handeln könnten. Sie seien nicht apathisch, sondern »psychologisch still gelegt« (»They aren't apathetic, but rather shut down psychological«). So taucht im Alltag oft genug das Dilemma auf, umweltgerecht handeln zu wollen, es aber real dann nicht zu können. Resignierend nimmt man dann wieder die Gurken aus Spanien, die mit dem Auto gefahrenen Kilometer oder das vermeintlich dringend nötige neueste Smartphone in Kauf. Die Vielzahl der heute nötigen Abwägungen kann leicht überfordernd sein.
Und es ist eben nicht so, dass Menschen grundsätzlich rational, selbstbestimmt und durchschaubar sind, so dass sie den richtigen Motivationen und Reizen folgend immer die richtigen Entscheidungen treffen würden. Vielmehr sind wir komplexe Wesen, oft genug geprägt von
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Widersprüchen, Ambivalenz und Paradoxien, wie oben schon deutlich wurde. Zudem verhalten wir uns in unterschiedlichen Rollen und Situationen ebenso unterschiedlich, und auch widersprüchlich. Als Umweltschützer kämpfe ich für Wandel, als Familienvater plane ich den Urlaub, und für den Haushalt kaufe ich Lebensmittel, und bin ich dann noch müde und genervt, nehme ich die in Plastikverpackung. Also konzentriere ich mich möglichst auf Anforderungen, die mir am leichtesten fallen. So aber wird durch ausgewählte Praktiken leicht eine »symbolische Nachhaltigkeitsfassade« aufgebaut, wie der Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech das bezeichnet hat289.
Die Wirkung von Widersprüchen und Dilemmatas lässt sich auch an der aktuellen Klimapolitik gut zeigen. Oliver Geden von der <Stiftung Wissenschaft und Politik> warnt zu Recht vor einem Klimabluff nach der Pariser Gipfelkonferenz von 2015. In einer komplexen Welt sei es illusorisch, ein konsistentes Handeln der Staaten zu erwarten:
Es spricht vieles dafür, dass Experten und Öffentlichkeit hier von einer kulturellen Norm in die Irre geführt werden, von der nicht hinterfragten Vorstellung, dass Sachpolitik konsistent sein sollte. Die Vorstellung, dass reden, entscheiden und handeln nicht im Widerspruch zueinander stehen sollten, findet sich in allen Politikfeldern, nicht nur in der Klimapolitik. Was dabei jedoch unberücksichtigt bleibt, ist die Eigenlogik des Politikbetriebs.
Wer Konsistenz als Norm voraussetzt, präsentiert Ziele als bewusste Auswahl zwischen anzustrebenden Endzuständen, begleitet von einer frühzeitigen Abwägung der geeigneten Instrumente und gefolgt von einer Serie von geeigneten Maßnahmen. Selbstverständlich kann nicht immer alles wie geplant laufen, es kommt immer wieder zu Fehlern. Aber sachrationale Organisationen werden sicher in der Lage sein, daraus für das nächste Mal zu lernen.
Das Problem in der internationalen Klimapolitik ist jedoch, dass bislang fast nichts so läuft wie einst geplant. Das liegt an der zumeist übersehenen Tatsache, dass Politiker und Diplomaten Entscheidungen als eigenständige Kategorie begreifen, die nicht notwendigerweise mit entsprechendem Handeln verknüpft sein muss.290
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Das betrifft nicht nur Politiker, führt aber hier zu umso gravierenderen Konsequenzen, da sie an wichtigen Schalthebeln sitzen. Das Ringen um den deutschen Klimaschutzplan schon ein Jahr nach der Pariser Konferenz verdeutlichte die Überlegungen. Man mag das Verhalten der Politiker als inkonsistent kritisieren, aber übersehen wird dabei, so Geden, dass sie sich im Alltag stets darum bemühen müssen, Unterstützung in der Bevölkerung für die gefassten Beschlüsse zu erhalten, dabei aber Ansprüchen einer Vielzahl von Interessengruppen ausgesetzt sind, die meist nicht miteinander vereinbar sind.
Auch hier zeigt sich wieder die Widersprüchlichkeit menschlichen Seins.
Es ist daher nicht einfach zu verstehen, warum Menschen die von ihnen verursachten Schädigungen der für sie existenziellen natürlichen Lebensgrundlagen nicht wahrnehmen, und somit auch nicht angemessen handeln. Neben allein schon neuronal gebahnten Verarbeitungsmustern spielen psychische Effekte wie Lähmung, Resignation und unlösbare innere Konflikte eine entscheidende Rolle. Die Wahrnehmung der Situation wiederum kann, wie deutlich wurde, zu erheblichen psychischen Beeinträchtigungen führen. Ganze Weltbilder können zusammenbrechen, wenn deutlich wird, wohin uns Bevölkerungsexplosion und technischer Fortschritt gebracht haben.
Auch andere Symptome deuten auf die Nachwirkungen der zweischneidigen Entwicklung der Industrialisierung hin. Da ist die 28-jährige Personalsachbearbeiterin, die in der Stadt generell angespannter ist als auf dem Land, wo sie aufgewachsen ist, und dadurch nun umso leichter zusätzlich Angstzustände erleidet; da ist die 43-jährige Krankenschwester, die den Dichtestress vor allem in vollen Großkinos als Panikattacken erlebt; da ist der 48-jährige Gärtner und Florist, dessen Computerphobie schon vermehrt zu Zittern und Nervosität führt, wenn er nur an Bürofenstern vorbei geht, und der daher Kollegen bitten muss, nahezu unvermeidbar gewordene Bildschirmarbeiten für ihn zu erledigen, und der nun Angst vor den Reaktionen des neuen Vorgesetzten hat. Da ist des Weiteren der 52-jährige Angestellte, der durch die Wechselschicht regelmäßig an Migräne leidet.
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Und schließlich gibt es den jugendlichen Schüler, der durchaus am Zustand dieser Welt leidet, der die Sinnlosigkeit des Daseins und die Unfähigkeit der Entscheidungsträger, die globalen Krisen zu bewältigen, beklagt und dies mit problematisch gewordenem Alkoholkonsum zu kompensieren versucht.
Alleine und ungeschützt sich die Krankheiten dieser Welt zu betrachten, kann bedrückend und bedrohlich sein. Denn tatsächlich ist die Menschheit insbesondere in den Industrieländern, zugespitzt, psychiatrisch erkrankt: abhängig von fossilen Energien und moderner Technik, burnout-geplagt von den Anforderungen eines kontinuierlichen Wachstums und zu vieler Freizeit- und Konsummöglichkeiten, anpassungsgestört hinsichtlich der eingetretenen Situation, ohnmächtig-depressiv im Anblick der anstehenden Herausforderungen sowie narzisstisch gekränkt von den ökologischen Grenzen menschlichen Handelns, jedoch weiter größenwahnsinnig überzeugt von den eigenen technischen Möglichkeiten steuert sie autodestruktiv, fast schon suizidal, schwierigen Zeiten entgegen.
Das unbeirrbare Festhalten an der Meinung, wie gut der heutige Konsum- und Wachstumskurs für die Welt ist, hat - etwas zugespitzt - aus psychiatrischer Sicht fast schon wahnhafte Züge (definitionsgemäß liegt ein Wahn vor bei unkorrigierbarem Überzeugtsein von nicht-realen Tatsachen). Durch das bisherige starre Festhalten daran kommt es zu einer Anpassungsstörung, die es als Evolutionsbegriff gibt wie im obigen Kapitel aufgeführt, aber eben auch als psychiatrische Diagnose. Auch dieses pathologische Verhalten der Industriegesellschaften gehört zur psychiatrischen Betrachtung der Ökokrise. Sie leiden im Kollektiv somit an etlichen psychischen Störungen, was im Einzelfall die Unterscheidung zwischen normal und anormal nicht immer einfach macht. Wie soll man psychisch kranke Menschen behandeln und wieder funktionsfähig für ihr Umfeld machen, wenn die Welt außen herum so offensichtlich verrückt geworden ist? Es ist zumindest nicht leicht, in derart absurden und komplexen Verhältnissen, wie wir sie jetzt erleben, noch einen klaren Kopf zu behalten. Wir werden noch sehen, was dafür hilfreich sein kann.
Schließlich sind noch ganz andere Umweltängste zu erwähnen, die sich bei manchen Menschen entwickeln. Sie haben große Sorgen vor Gefährdungen, die von bestimmten Schadstoffen aus ihrem Umfeld ausgehen könnten.
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Beeinflusst wird dies meist von gerade aktuellen Diskussionen dazu. So ist glutenfreie Ernährung auch bei nicht von der eigentlichen Unverträglichkeit Betroffenen angesagt. Befürchtet werden auch in häufig übersteigerter und daher dann behandlungsbedürftiger Weise etwa die Schädigung durch Duftstoffe, Baumaterial (Sick-Building-Syndrome), Amalgam oder andere chemische Substanzen (Multiple-Chemical-Sensitivity-Syndrome291). Nachweisen lassen sich solchermaßen befürchtete Schäden nur äußerst selten, weder durch Blutuntersuchung noch durch Kernspin oder Ultraschall. Eher zeigen sich bei den Betroffenen, die einen hohen Leidensdruck haben, oft Persönlichkeitsakzentuierungen mit verborgenen unbewussten Konflikten, an die aber nicht gerührt werden darf, könnte doch der hierdurch erzeugte Schmerz um ein Vielfaches unerträglicher sein als die wahrgenommene und nach außen verlagerte Beeinträchtigung durch die Umwelt.
Interessant ist auch, wie wenig solchermaßen gesundheitsbesorgte oder auch ernährungsbeflissene Menschen dann Probleme haben, wieder ein Auto zu benutzen, in den Flieger zu steigen oder an Silvester Böller in die Luft zu jagen, was etwa beim Jahreswechsel 2016/2017 in manchen Regionen (wie in München) zu extrem hohen Feinstaubbelastungen geführt hat.
Auswirkungen einer »Naturdefizitstörung« ^^^^
Insgesamt bleibt festzustellen: Hinweise auf psychische und vielleicht gar psychiatrische Folgen unserer kulturellen Evolution, die auch zur gegenwärtigen ökologischen Situation geführt hat, gibt es bereits genügend. Als Schlagworte dazu seien nochmals genannt Depressionen durch Vereinzelung und weniger Geselligkeit, Suizidalität in anonymen Großstädten und Burnout-Syndrome durch zunehmenden Leistungsdruck sowie auch durch ein Zuviel an Möglichkeiten im Technik-, Freizeit- und Urlaubsbereich und die dabei entstehende Beschleunigung.
Und diskutieren kann man durchaus, ob nicht auch die immer häufiger diagnostizierte Krankheit des Aufmerksamkeits-Defizits-Syndroms in Form der Hyperaktivität indirekt Folge der Industrialisierung ist.
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Sie zwang lebhaftere und übermäßig kreative Kinder im Zuge der eingeführten allgemeinen Schulpflicht dazu, sich nun in einen Sozialverband gleichaltriger Kinder einzufügen, still zu sitzen und einem Lehrer aufmerksam zu folgen, bei gleichzeitiger Einschränkung motorischer Bewegungsmöglichkeiten auch im außerschulischen Lebensbereich, während zuvor ein Leben in altersgemischten und nicht derart reglementierten Gruppen über Jahrtausende üblich war.(292)
Eine genetische Veranlagung zu Hyperaktivität kann durch eine solche Einengung zumindest leichter mit entsprechend auffälligen und im engen schulischen Rahmen dann auch störenden Verhaltensweisen zum Vorschein kommen. Die Verdoppelung der Verordnungen des bei ADHS eingesetzten Mittels Methylphenidat in den Jahren 2000 bis 2007 in Hessen mag hierfür ein beispielhafter Hinweis sein.
Der Aufenthalt in der Natur wiederum kann, wie Studien ergeben haben293, bei der Störung als Mittel zur Therapie eingesetzt werden, alleine oder mit Medikament. Eine signifikante Linderung der Symptome, eine geringere Impulsivität und eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit wurden beobachtet.
In Hinblick darauf, dass Kinder und Jugendliche heute bereits über sieben Stunden täglich vor Bildschirmen verbringen, dass sie die Außenwelt oft nur noch vom Autorücksitz wahrnehmen (»backseat generation«294), sofern nicht Bildschirme auch hier ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber auch in Hinblick darauf, dass Übergewicht in den Industrieländern bereits epidemisch verbreitet ist und dass auch Erwachsene die hilfreiche Wirkung von Grün immer weniger kennen, wird nicht ohne Grund bereits von einer »Naturdefizitstörung« gesprochen.295 Bereits vorher einzuschätzen, dass ein Weg zu Fuß zurückgelegt das Wohlbefinden verbessern kann, fällt heute vielen Menschen schwer.296 Kein Wunder also, dass die Semmeln am Samstagmorgen oft mit dem Auto beim nahen Bäcker geholt werden.
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So unangenehm es ist, auf biologische Funktionen reduziert zu werden oder von der Psyche zu sprechen: beide Bereiche müssen berücksichtigt werden, um das geringe Gegensteuern gegen die ökologische Krise verstehen und dann auch adäquate Bewältigungsansätze entwickeln zu können. Im Vordergrund steht die Verleugnung der drohenden Gefahr.
Dazu gesellt sich die Vorliebe des Zentralnervensystems, bei der Suche nach einfachen Lösungen vor allem auf schon bekannte und gespeicherte Erfahrungen bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken zurückzugreifen, was wenig hilft in der nun neuartigen komplexen Situation.
Industrialisierung und Individualisierung haben uns psychisch nicht gerade gestärkt. Ebenso nicht die omnipräsent werdende Digitalisierung. Ein zunehmendes Primat der Ökonomie, aber auch ein Zuviel an Möglichkeiten im technischen und privaten Bereich bei gleichzeitig brüchiger werdenden zwischenmenschlichen Beziehungen führt heute vermehrt zu seelischen Störungen, chronische Stressoren bewirken körperliche Beschwerden oder führen zu Lähmung und Depression.
Den gleichen Effekt hat die chronisch gewordene ökologische Krise, die seit Jahrzehnten diskutiert wird und dennoch immer weiter voran schreitet. Als Ausweg aus der Misere wird immer wieder auf die Kultur, den Verstand und die Vernunft verwiesen (was später noch zu diskutieren ist). Sie seien die entscheidenden Unterschiede zur Tierwelt. Sie würden uns die Möglichkeit eröffnen, gegenzusteuern. So ist es sicher nötig, sich der Natur im Menschen bewusst zu werden, etwa auch des egoistischen Handelns unter Druck, um endlich »vernünftig« auch gegen unsere Natur reagieren zu können, gemäß dem Motto: »Segler, die mit dem Wind vertraut sind, können mit Hilfe des Windes bekanntlich sogar gegen den Wind kreuzen.«297
Diese Appelle an eine effektive Nutzung unserer Großhirnrinde bleiben jedoch völlig wirkungslos, wenn psychische Aspekte dabei übersehen werden, so etwa die enormen Verleugnungsmechanismen, die es uns erlauben, über die bedrohlichen Entwicklungen hinweg zu sehen. Erst die akute Krise kann diese Mauer durchbrechen, aber das wird kaum mehr reichen, die globalen ökologischen Veränderungen noch entscheidend abzuwenden.
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Meißner-München-2017