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Vorwort

1988 von Neil Postman

 

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Die beiden Länder, in denen ein Schriftsteller am besten leben kann, sind Amerika und Rußland. Beide sind dynamische Großmächte, die immer wieder Fehler machen. In der Schweiz möchte ich nicht leben. Die Schweiz macht keine Fehler, so daß es dem Schriftsteller an Anlässen fehlt, Einspruch zu erheben. Je lastender die Gesellschaft, desto besser für den Schriftsteller. Es gilt aber auch das Umgekehrte: Je lästiger der Schriftsteller, desto besser für die Gesellschaft.

Gewiß, in Rußland werden Schriftsteller, die ernsthaft Einspruch erheben, blockiert, indem man sie einsperrt, während man sie in Amerika in einer Fernseh-Talkshow auftreten läßt, wo nur ihre Argumentation blockiert wird. Dieser Unterschied ist bedeutsam. Aber wie dem auch sei: Ein Anlaß zum Einspruch steht am Ursprung aller Prosa, die Aufmerksamkeit beanspruchen darf. Der Schriftsteller, der nicht Einspruch erhebt, wird zum Festredner, der eine zwar angenehme, aber stereotype Rolle zu spielen hat. Was soll man denn noch sagen, wenn man zwei Strophen von God Bless America gesungen hat?

Ich muß allerdings gleich hinzufügen: Einspruch zu erheben ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für gute Prosa. Immerhin gibt es Unterschiede zwischen Schreiben und Lamentieren. Diese Unterschiede sind leicht zu erkennen, aber sie lassen sich nur schwer beschreiben. Zumindest soviel können wir allerdings sagen: Ein guter Schriftsteller ist einer, der in seinem Lamentieren eine unverwechselbare und besonnene Form gefunden hat, nein zu sagen.

Mit »unverwechselbar« meine ich eine Form, die dem Wesen dieses Schriftstellers angemessen ist — immer vorausgesetzt, daß er vernünftig ist. Mit »besonnen« meine ich eine Form, die dem Wesen des Einspruchs angemessen ist — immer vorausgesetzt, daß dieser Einspruch vernünftig ist. Wenn man diese Definitionen zugrunde legt, ist niemals eine bessere Klage zu Papier gebracht worden als die amerikanische Unabhängigkeits­erklärung und niemals eine schlechtere als Mein Kampf.

Zu denen, die in ihren Darlegungen einen Triumph im Neinsagen errungen haben, gehören nach meinem Verständnis: George Orwell, der seine Form in einem nüchternen, kristallklaren understatement fand; H. L. Mencken, der die seine in einem frechen, bissigen und gleichwohl phantasievollen Sarkasmus fand; und Russell Baker, der seine Form in einer distanzierten Verschroben­heit findet.

 wikipedia  Henry_L._Mencken  *1880 in Baltimore bis 1956             en.wikipedia  Russell_Baker  1925-2019   

Während Orwell — soweit ich sehe — sehr wenig gelesen wird, und wenn, dann nur in der Schule, wird Mencken überhaupt nicht gelesen. Es ist dies bedauernswert und durchaus ein Grund zur Besorgnis im Hinblick auf das Wohlbefinden des Gemeinwesens.

Zum Glück ist Baker verfügbar und unerschöpflich. Ich stelle ihn mir immer vor wie einen Bürger Roms im vierten Jahrhundert, der belustigt und fasziniert den Zusammenbruch des Imperiums verfolgt, aber immer noch genug Verantwortungs­bewußtsein aufbringt, um seinen Spott über die Dummheiten auszugießen, die den Untergang beschleunigen. Er ist meiner Meinung nach eine wertvolle nationale Energiequelle, und solange er nicht seine eigene Fernseh­sendung bekommt, wird Amerika stärker sein als Rußland. 

detopia-2022: ... weil Kritik (Bakers) durch das Fernsehen (Talkshow) entschärft wird.

Ich möchte mich mit den eben genannten Großmeistern des Negativismus nicht vergleichen. Möglich, daß man in den hier versammelten Essays nicht mehr als ein kraftloses Lamentieren erblickt. Darüber werden, wie immer, die Leser entscheiden. Aber sie haben das Recht zu erfahren, was ich mir hier vorgenommen habe. 

Dieses Buch ist beispielsweise kein Prosa-Eintopf, der den Lesern die Abfälle aus meiner Autorenküche auftischt. So bekannt bin ich nicht — und so angesehen schon gar nicht —, daß ich auf diese Weise Aufmerksamkeit wecken könnte. Vielmehr sind die folgenden Essays durch ein Thema oder, genauer gesagt, durch drei Themen verbunden, die sich meiner Meinung nach nicht voneinander trennen lassen und zusammen ein Ganzes bilden.

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Seit dreißig Jahren stehen sie im Mittelpunkt meiner wissenschaftlichen Interessen. Es fällt mir schwer, Überlegungen zu einem dieser Themen anzustellen, ohne mit zu bedenken, was sich daraus für die anderen ergibt. Aber solche Zusammenhänge, wie ich sie wahrnehme, leuchten anderen vielleicht nicht ohne weiteres ein, und deshalb sollen die Themen hier kurz umrissen werden, vor allem deshalb, weil ich ihnen in diesem Buch nicht drei gesonderte Abschnitte widmen wollte.

Zunächst: 

Einige Aufsätze handeln von den Triumphen der einäugigen Technik, insbesondere davon, wie diese Triumphe einige der schöpferischsten (und reizvollsten) Formen unseres Denkens verwüstet haben. Ich nenne die Technik »einäugig«, weil sie, wie die Zyklopen, nur das sieht, was direkt vor ihr steht. Ich bin, das möchte ich betonen, kein Nachfahre der Maschinen­stürmer. Ich klage die Maschine nicht an, weil sie tut, wozu sie bestimmt ist. Wer wollte denn im Ernst von einer Maschine erwarten, daß sie ihre Nebenwirkungen bedenkt, daß sie sich um die gesellschaftlichen und psychischen Konsequenzen ihres Daseins kümmert? 

Maschinen stellen keine Fragen, sie haben keinen Blick für ihre Umgebung und keine Tiefen­wahrnehmung. Sie erfassen die Zukunft aus der starren Perspektive ihrer technischen Möglichkeiten. Auf diesen Punkt konzentrieren sich einige der Essays in diesem Buch.

Wir alle kennen das Sprichwort: Unter den Blinden ist der Einäugige König. In Amerika und in wachsendem Maße auch in Europa ist die Technik ein solcher einäugiger König, der inmitten von idiotischem Hurrageschrei, ohne auf Widerstand zu stoßen, sein Regiment ausübt. Gegen diesen Zustand erheben einige meiner Essays Einspruch. Und indem sie das tun, verfolgen sie kein höheres Ziel, als die lebhaften Debatten darüber zu unterstützen, wohin wir durch die ungehemmte Entfaltung der Technik getrieben werden und in wessen Interesse das geschieht. 

Mit anderen Worten, es ist klar, daß die Ingenieure und nicht die Poeten die heimlichen Gesetzgeber unserer Zeit sind. Vielleicht sollte das auch so sein. Aber ohne das Gegengewicht einer starken Opposition ist die Tyrannei der Technik unausweichlich. Der Mensch lebt nicht von der Verkabelung allein — diese Selbstverständlichkeit muß Teil aller Pläne sein, die wir für die Zukunft schmieden.

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Ein zweites Thema dieser Essays könnte man unter die Überschrift <Die Erniedrigung des Wortes> stellen. Es steht natürlich in engem Zusammen­hang mit dem ersten.

Der Ausdruck ist einem Buch von Jacques Ellul entliehen. Ich gebrauche ihn hier und werde ihn auch künftig hoffentlich noch einige Male gebrauchen können, weil er provokant und zugleich sehr genau eine der bedrückendsten Folgeerscheinungen dessen bezeichnet, was Ellul die technologische Gesellschaft nennt: daß nämlich in ihr das Wort erheblich an Macht, Nutzen und Ansehen verloren hat.

Ellul schreibt diesen Verfall dem Aufstieg und der Allgegenwart visueller Kommunikations­formen zu. Er meint damit nicht nur die Film- und Videotechnik, sondern auch Plakate, Schautafeln. Cartoons, Kunst­reproduktionen, Photographie und, natürlich, die Werbung in all ihren Erscheinungs­formen.

Elluls Klage ist im Grunde die gleiche, die Daniel Boorstin vor einem Vierteljahrhundert in seinem bekannten Buch Das Image oder Was wurde aus dem amerikanischen Traum? angestimmt hat. Und noch früher hatte sie Rudolf Arnheim in seinem Buch Film as Art erhoben. 

Andere haben sich über die Erniedrigung des Wortes ähnliche Sorgen gemacht wie Ellul, Boorstin und Arnheim.

Harold Innis zum Beispiel hat in einem seiner letzten Essays, A Plea for Time, argumentiert, daß die modernen Medien mit ihrem Tempo, ihrer Reichweite und ihrem anonymen Charakter die Traditionen des mündlichen Austauschs zerrütteten und damit die Möglichkeiten zu einem reichhaltig entfalteten gesellschaftlichen Leben schwächten.

Und heutzutage, da man Lügen als Versprecher oder Desinformation umschreibt, darf George Orwell nicht unerwähnt bleiben, der zu dem Schluß kam, daß im Zeitalter der Reklame und der Public Relations die »Neusprache« zum Regelfall des öffentlichen Diskurses werde.

Seit vierzig Jahren ist zwischen unseren am weitesten vorausschauenden Gesellschafts­kritikern ein Gespräch im Gange. Sein Thema ist die alarmierende Beobachtung, wie sehr das gesprochene und das geschriebene Wort als Instrumente eines zivilisierten Diskurses entwertet sind. Einige meiner Essays sollen zu diesem Gespräch beitragen — wenn auch vielleicht mit weniger Optimismus, als mir normalerweise zu Gebote steht. Mich bedrückt der Gedanke. der Verfall der Sprache könnte bereits so weit fortgeschritten sein. daß die meisten Menschen ihn gar nicht mehr als Problem erkennen.

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Ein Vergleich mag verdeutlichen, was ich meine: Man hat gesagt, das Gehirn sei das einzige Organ unseres Körpers, das keinen Schmerz wahrnimmt und deshalb nicht bemerkt, wenn es verletzt wird. Das Gehirn sieht im Hirnschaden kein Problem. Sofern wir die Sprache als das Gehirn einer Zivilisation ansehen, könnte es sehr wohl sein, daß eine schwere Beschädigung der Sprache von der Gesellschaft nicht als Problem wahrgenommen wird. 

Mit anderen Worten, es ist möglich, daß wir uns an die Desinformation, an die Neusprache, an den Public Relations-Schwindel, an die Bildwelten, die Tiefsinn vortäuschen, an die Bildzeitungen und Magazine, an die als Entertainment offenbarte Religion, an die Politik in Gestalt halbminütiger Werbespots längst gewöhnt haben.

Und indem wir diese Gewöhnung vollziehen, akzeptieren wir schließlich die gegenwärtige Situation als unumstößliche Normalität und kommen mit Dr. Pangloss zu dem Schluß, daß wir in der besten aller möglichen Welten leben.

Aber vielleicht ist es so weit noch nicht gekommen. Meine Aufsätze zu diesem Thema geben in dieser Frage noch nichts verloren. Außerdem wächst in unserem Land die Besorgnis über den Analphabetismus, die Unwissenheit und den beständigen Niedergang der Urteilsfähigkeit bei den jungen Menschen. Es gibt sogar — während ich dies schreibe — eine breite Bewegung, die der Vermittlung von kritischem Denken an den Schulen höchste Priorität einräumen will.

Damit komme ich zum dritten Thema dieser Essays: der Erziehung.

Dieses Thema ist mir fast immer gegenwärtig, weil es eng verknüpft ist mit den Problemen, die Technik und Sprache aufwerfen. Meiner Ansicht nach kam es zu einschneidenden Konflikten innerhalb des abendländischen Erziehungswesens erstens: im 5. Jahrhundert v. Chr., als Athen einen Wandel von der mündlichen Kultur zu einer auf dem Alphabet gegründeten Schriftkultur erlebte; zweitens: im 16. Jahrhundert, als sich im Gefolge der Erfindung des Buchdrucks in Europa ein radikaler Wandel vollzog; drittens: heute, im 20. Jahrhundert, aufgrund der elektronischen Revolution und namentlich der Erfindung des Fernsehens.

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Der große amerikanische Erziehungshistoriker Lawrence Cremins hat einmal gesagt, immer dann, wenn Amerika eine Revolution nötig habe, verordne es sich in seinen Schulen einen neuen Lehrplan. Das heißt, daß unsere Schulen stets das Operationsfeld von Bemühungen waren, neue kulturelle Situationen zu begreifen und den Umgang mit ihnen zu bewältigen.

Ich halte das Bildungswesen gerade deshalb für eine Heraus­forderung, weil niemand genau weiß, wie es heutzutage beschaffen sein sollte. Nur eines ist gewiß: Was wir gegenwärtig tun, ist falsch. Eine unwider­stehliche Chance für den, der Einspruch erhebt.

Von diesen Themen also handeln meine Essays. Ich möchte noch kurz erläutern, wie die einzelnen Aufsätze miteinander verbunden sind.

Bevor ich die Essays für sich selbst sprechen lasse, ist noch auf drei Dinge hinzuweisen.

Erstens, einige von ihnen wurden für einen mündlichen Vortrag konzipiert, aber ich habe sie in ihrer ursprünglichen Form belassen. Nach mehreren Versuchen, sie mit den herkömmlichen Standards schriftlicher Darlegung in Einklang zu bringen, mußte ich einsehen, daß die Aufgabe, die eigenen Überlegungen einem ganz bestimmten Zuhörerkreis zu vermitteln, mich zu einer Sparsamkeit des Ausdrucks genötigt hatte, die durch nachträgliche Retouchen leicht verlorengegangen wäre.

Zweitens habe ich jedem Essay (in einigen Fällen auch einer Gruppe von Essays) eine kurze Notiz voran­gestellt, in der die Umstände oder die Fragen erläutert werden, die den Anlaß für diesen Text bildeten. Mit anderen Worten, ich habe versucht, den Kontext anzudeuten, der meinen Einspruch ausgelöst hat. Ich möchte nicht, daß sich der Leser durch diese kurzen Erläuterungen bevormundet fühlt. Ich weiß, daß die Aufsätze für sich selbst stehen müssen, aber die jüdische Mutter in mir bestärkte mich in dem Glauben, daß ein paar Worte über ihre Abkunft ihnen auf ihrem Weg in die Öffentlichkeit vielleicht behilflich sein könnten.

Schließlich noch ein Wort über die Pflicht zum Einspruch.

Manchmal macht es großen Spaß, Klage zu führen, und in Amerika kann es sogar lukrativ sein. Aber solange die Klagen, die man vorbringt, nicht auf einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem eigenen Land oder gegenüber einer wertvollen humanen Tradition gründen, haben sie ernsthafte Aufmerksamkeit nicht verdient. Wenn nichts sonst, dann habe ich immerhin dies bei Orwell, Mencken und Russell Baker gelernt.

Ich schreibe also als engagierter Patriot, der das Beste fördern will, indem er das Schlimmste zur Sprache bringt. Wie gesagt, die Leser werden entscheiden, ob ich eine unverwechselbare und besonnene Form gefunden habe, dies zu tun. 

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Neil Postman

 

 

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