Wilhelm Raabe Ein Umweltautor vor 1900
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wikipedia.Autor *1831 in Niedersachsen bis 1910 (79) DNB.Autor (2000 Treffer) detopia: Rieseberg (Raabe-Fan) Schopenhauer Eduard von Hartmann Platonow ('russischer Raabe') Hermann.Hesse |
Raabe 1910
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2015 Vorbei an dem Raum und an der Zeit Der verkannte Utopist Wilhelm Raabe Wilhelm Raabes "Pfisters Mühle" von 1884 gilt als erster Umweltroman der deutschen Literatur. Mitten im wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerzeit thematisierte der vermeintliche Philister Raabe mit utopischer Kraft die Ambivalenz von Veränderung und die Opferung der Idylle für den Fortschritt. Von Katrin Hillgruber Das verbindet ihn über die Jahrhunderte hinweg mit Thomas Hettches Roman "Pfaueninsel", ausgezeichnet mit dem Wilhelm-RaabeLiteraturpreis 2014. Die vom Abriss bedrohte niedersächsische Mühle und das künstliche preußische Arkadien in der Havel namens Pfaueninsel sind hybride Orte, an denen sich revolutionäre Momente verdichten und beide Schriftsteller die Zeit selbst als Akteurin auftreten lassen.
Zum 100. Todestag von Wilhelm Raabe Von Klaus Modick dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1319503 BÜCHERMARKT 15.11.2010
Als Wilhelm Raabe am 15. November 1910 starb, war er der seltsame Fall eines berühmten, aber kaum noch gelesenen und gründlich missverstandenen Autors. Hermann Hesse, der sich häufig auf ihn berief, prognostizierte ihm jedoch posthumen Ruhm. "Hätte
Raabe mehr Kritik, So äußerte sich kein Geringerer als Theodor Fontane über seinen Zeitgenossen und Schriftstellerkollegen Wilhelm Raabe. Der hatte, abgesehen von Studienjahren in Berlin, sein Leben in der Provinz verbracht und sich schließlich in Braunschweig niedergelassen, weitab von Berlin oder Wien, den Zentren der literarischen Moderne im ausgehenden 19. Jahrhundert, und also fehlten ihm Kontakte zu den damals maßgeblichen Literaturkritikern. Zwar galt der 1831 in der Kleinstadt Eschershausen geborene Raabe als respektabler Autor und wurde mehrfach ausgezeichnet, aber sein Erfolg und sein Ruhm gründeten sich auf frühe Werke, insbesondere den Debütroman <Die Chronik der Sperlingsgasse> von 1856 und <Der Hungerpastor> von 1864. In einer biografischen Skizze, die Raabe kurz vor seinem Tod verfasste, notierte er in einer merkwürdigen Mischung aus Resignation und Selbstbewusstsein:
Die breite Leserschaft hatte Raabe für seine melodramatischen, oft auch harmlos beschaulichen, frühen Bücher gelesen und geliebt, in deren Idyllen das biedermeierliche Bürgertum sich ähnlich idealisiert fand wie in den Bildern Ludwig Richters oder Carl Spitzwegs. Spätestens seit der Reichsgründung von 1871 und dem sich anschließenden Boom der Gründerjahre begann Raabe jedoch damit, die zur Ideologie gewordene Gemütlichkeit zu unterlaufen und als Kulisse und Dekor zu entlarven, hinter denen sich Fabrikschlote und Eisenbahnen, neureiches Parvenüwesen und aggressiver Imperialismus breitmachten. Mit <Pfisters Mühle> schrieb er etwa 1884 eine Erzählung über Umweltzerstörung durch die rücksichtslose Industrialisierung der Landwirtschaft - ein erstaunliches Werk, in dem erstmals Literatur wurde, was man heute als ökologisches Bewusstsein bezeichnen würde. Im gleichen Jahr erschien mit "Zum wilden Mann" auch eine Erzählung über die Zerrüttung zwischenmenschlicher Beziehungen durch die Macht spekulativ erworbenen Reichtums. Das auf Erbauung und Verklärung versessene Publikum wollte mit diesem skeptisch-realistischem Scharfblick nichts zu tun haben und lief seinem ehemaligen Lieblingsautor davon. Und je kritischer und skeptischer Raabes Weltsicht wurde, desto raffinierter und vielschichtiger setzte er seine literarischen Mittel ein. Der betuliche Chronist, der, um seine sechsköpfige Familie durchzubringen, auch manches unausgegorene Buch auf den Markt hatte werfen müssen, entwickelte immer komplexer werdende, höchst intrikate Erzählstrukturen mit doppelten und dreifachen Böden und gab damit in seinen Spätwerken selbst den paar Liebhabern, die ihm als Publikum geblieben waren, härteste Lesenüsse zu knacken. Sein Frühwerk sah er nur noch als "Quark" und "Kinderbücher" an, und er machte die lakonische Bemerkung: "Was wirklich etwas wert ist, das kauft kein Mensch." Zu den seinerzeit kaum verkäuflichen Kostbarkeiten zählen insbesondere <Stopfkuchen> von 1891, <Die Akten des Vogelsangs> von 1896 und das Fragment gebliebene, erst 1911 posthum veröffentlichte <Altershausen>. Es ist sehr erfreulich, dass gerade diese drei Werke anlässlich Raabes hundertstem Todestag in Neuausgaben erscheinen. <Stopfkuchen>, mit dem durchaus reißerischen Untertitel "Eine See- und Mordgeschichte", erzählt die Geschichte des in seiner Jugend verkannten und wegen seiner monströsen Fresssucht als Stopfkuchen gehänselten Heinrich Schaumann, eines gesellschaftlichen Außenseiters par excellence, der seiner provinziellen, bornierten Umwelt intellektuell hoch überlegen ist. Ihm gelingt es, das Vertrauen eines Bauern und seiner verwilderten Tochter zu gewinnen, die auf einem abseits gelegenen Gehöft ein verfemtes Dasein führen, da der Bauer im Verdacht steht, einen reichen Viehhändler erschlagen zu haben. Schaumann heiratet die Tochter des Bauern, macht mit Geduld und List den wahren Mörder ausfindig, behält sein Wissen aber einstweilen für sich. Erst als sein Jugendfreund Eduard, ein weit gereister Schiffsarzt, der inzwischen in Südafrika lebt, Schaumann besucht, rückt dieser mit der Wahrheit heraus. Diese extrem vergröberte Inhaltsangabe sagt freilich nichts darüber aus, mit welcher geradezu Ehrfurcht gebietenden, kompositorischen Meisterschaft Raabe hier zu Werke ging. Denn die Geschichte wird von Schaumann keineswegs linear erzählt, sondern in Rückblicken und Vorausdeutungen, in Abschweifungen und Exkursen, unterbrochen von Kommentaren seiner Frau. Und aufgeschrieben wird der ganze, vertrackte Kasus schließlich auf hoher See von Eduard bei dessen Rückreise nach Südafrika. Was zu Anfang umständlich und verwirrend wirkt, erweist sich als ein vielfach verspiegeltes Erzähllabyrinth, in dem die Spannung leise, aber umso mächtiger gesteigert wird. Es ist unmöglich, die enorme Vielschichtigkeit des Werks auf eine Kernaussage zu reduzieren, aber Stopfkuchen entfaltet die für Raabe typische Einsicht, dass unter der scheinbaren Behaglichkeit des Spießbürgertums Abgründe lauern und unterm provinziellen Alltag Abenteuer zu finden sind, von der sich so mancher Weltreisende keine Vorstellungen macht. In seinem Nachwort zur Neuausgabe bemerkt Arno Geiger:
In seinem letzten Roman <Die Akten des Vogelsangs> knüpfte Raabe an die Struktur von <Stopfkuchen an", drehte sie aber gewissermaßen auf links. Die Geschichte des scheinbaren Spießers und Stubenhockers Stopfkuchen erzählte der weit gereiste Weltbürger, wobei dessen Selbstgewissheit untergraben wurde. In <Die Akten des Vogelsangs> erzählt ein gutbürgerlicher, alter Herr, der im Lande geblieben und als Beamter Karriere gemacht hat, die Lebensgeschichte seines Jugendfreunds, dem Besitz nichts bedeutet und der mit hochfliegenden Idealen ins Abenteuer aufbricht, wo er es, gemessen an bürgerlichen Maßstäben, zu nichts bringt. Raabe kontrastiert diese beiden Lebensentwürfe, individuelle und geistige Freiheit auf der einen, bürgerliche Ordnung und Wertmaßstäbe auf der anderen Seite. Aber indem er vom Scheitern des idealistischen Weltenbummlers erzählt, erkennt der Stubenhocker schmerzlich seine bürgerliche Begrenztheit, die auf Familie, Besitz und berufliche Karriere konzentriert blieb.
So gelassen reagierte der siebzigjährige Raabe, der sich inzwischen als Schriftsteller außer Dienst bezeichnete, auf eine Anfrage nach einem neuen Werk. Vom Seil war er jedoch keineswegs, sondern schrieb an der Erzählung <Altershausen>.
Man wundert sich heute noch, ist doch "Altershausen" nicht nur Raabes letzter, sondern auch sein größter Geniestreich. Erzählt wird von der Rückkehr eines 70-jährigen, weltberühmten Arztes ins Städtchen seiner Kindheit, eine Suche nach der verlorenen Zeit, die manches Motiv Prousts vorwegnimmt. Anders als im Frühwerk geht es nun nicht mehr nur um die Mitteilung von Erinnerungsinhalten, sondern um die Realisierung des Erinnerungsprozesses in der Erzählung selbst. Die Genialität Raabes erweist sich unter anderem darin, dass im dichten Geflecht von Ambiguitäten und raffiniert konstruierten Unschärfen nie eindeutig klar wird, ob man es mit einer realen Reise zu tun hat oder mit einem Tagtraum, einer Halluzination, die Gegenwart und Gewesenes untrennbar ineinander schiebt. Hatte Raabe mit <Stopfkuchen> und <Die Akten des Vogelsangs> endgültig Anschluss an die literarische Moderne gefunden, so schuf er sich mit <Altershausen> seine höchst persönliche Postmoderne avant la lettre. ( wikipedia / Avant_la_lettre ) Die letzten Worte des Fragments lauten:
Raabe nahm ihn nicht wieder auf. Als er am 15. November 1910 starb, war er der seltsame Fall eines berühmten, aber kaum noch gelesenen und gründlich missverstandenen Autors. Hermann Hesse, der sich häufig auf ihn berief und ihn kurz vor seinem Tod besucht hatte, prognostizierte ihm jedoch posthumen Ruhm:
Und in der Tat steht Wilhelm Raabe uns Heutigen im hellen Licht seiner späten Werke als der vor Augen, den bereits Fontane in ihm sah: Absolut Nummer eins.
Wilhelm Raabe: "Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte", Nachwort von Arno Geiger, Manesse Verlag, Bibliothek der Weltliteratur, München 2010, 395 Seiten, 21,95 Euro. Wilhelm Raabe: "Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte", dtv, Bibliothek der Erstausgaben, München 2010, 330 Seiten, 8,90 Euro. Wilhelm Raabe: "Die Akten des Vogelsangs", Erzählung, Insel Taschenbuch, Frankfurt/M. 2010, 229 Seiten. 8,50 Euro. Wilhelm Raabe: "Altershausen", Erzählung, Nachwort von Andreas Maier, Insel Bücherei, Frankfurt/M. 2010, 96 Seiten, 12,90 Euro. |
Raabe mit Hut und Bart unten links
Raabe als Maler:
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(aus Wikipedia 2013) Raabe beobachtete besonders stark die irreparablen Risse zwischen Altem und Neuem, zwischen Geborgenheit und technischer Industrialisierung, welche sich auf Kosten der Natur und der Gemütskultur vergrößerten und vertieften. Als einer der ersten Umweltromane gilt sein Werk <Pfisters Mühle>, in dem er das Schicksal eines idyllischen Ausflugslokals der Wasserverschmutzung durch eine Zuckerrübenfabrik gegenüberstellte. Das Lokal musste dann dem Neubau einer Fabrik weichen. Raabe sah also die dunklen Seiten des Daseins und nahm die Haltung eines Pessimisten an. Für diese Lage empfahl er: Sieh auf zu den Sternen. Gib Acht auf die Gasse. (Die Leute aus dem Walde). In diesem Grundzug wurzelt auch Raabes Humor. So war Raabe kein Mensch der Idylle, obwohl er oft so gelesen bzw. interpretiert wurde, sondern blieb vielmehr ein entschiedener Kritiker seiner Zeit. In Raabes Gesamtwerk kommt ein guter Teil der deutschen Geschichte vor, zumal der Krieg. Dabei gelingt es ihm, durch die Einführung von realen Charakteren und deren Schicksalen seine Werke gegenwärtig zu machen. Doch durch Kunstgriffe der Erzählperspektive und des Stils hält er einen beobachtenden Abstand. Viele Betrachtungen und Abschweifungen - auch die seiner Zeit noch unauffälligere Fülle der Zitate von der Antike bis zum zeitgenössischen Volksmund - erschweren heute das Lesen von Raabes Werken. Flüchtiger Lektüre scheint es bisweilen, als hätten seine Texte einen unzulänglichen Aufbau und fehlten gelegentlich wichtige Zusammenhänge, doch gerade diese arbeitete er mit großer Sorgfalt und Feinheit heraus. Die Wertungen von Raabes Dichtungen haben sich seit seinen Lebzeiten verschoben. Er selbst urteilte sehr hart über einige seiner frühen Werke, die er zum Teil als „Jugendquark“ bezeichnete. Während früher die sogenannte „Stuttgarter Trilogie“ (Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump) als Hauptwerk galt, wird heute anderen Erzählungen und Romanen der Vorzug gegeben (u. a. Stopfkuchen, Horacker, Das Odfeld, Hastenbeck, Die Akten des Vogelsangs).
(aus Wikipedia 2013) |